Ein gesunder Rücken ist auch Kopfsache - Catrin Marnitz - E-Book

Ein gesunder Rücken ist auch Kopfsache E-Book

Catrin Marnitz

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Beschreibung

Ein leicht zugänglicher Ratgeber, der die Wechselwirkung zwischen Rückenschmerzen und psychischer Belastung beleuchtet.  Rückenschmerzen kennt fast jede:r, sie sind weltweit die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Was viele nicht wissen: Häufig liegt dem Schmerz nicht nur Verschleiß, eine falsche Haltung oder ein Bandscheibenvorfall zugrunde. Auch die Psyche spielt eine wesentliche Rolle bei der Heilung. Catrin Marnitz, Psychologin am Rückenzentrum Am Michel in Hamburg, erlebt jeden Tag, was die Forschung längst bewiesen hat: Körperliche und seelische Faktoren wirken immer im Zusammenspiel. In deutlich mehr als 50 Prozent aller Fälle sorgen psychische Belastungen wie Stress, Trauer oder Einsamkeit dafür, dass der Schmerz dauerhaft bleibt oder wiederkehrt. Wer schon bei unzähligen Ärzt:innen war und nicht mehr weiterweiß, dem gibt Catrin Marnitz das nötige Wissen an die Hand, um endlich wieder Mut zu fassen. Anhand von konkreten Beispielen erklärt sie, warum Schmerz chronisch wird, wie wir resilienter werden und lernen können, selbstwirksam mit Schmerz besser umzugehen – damit wir ihn nach Möglichkeit ganz loswerden.  

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Seitenzahl: 260

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Catrin Marnitz

mit Tina Epking

Ein gesunder Rücken ist auch Kopfsache

Wie Stress und Schmerz zusammenhängen

 

 

 

Über dieses Buch

Ein leicht zugänglicher Ratgeber, der die Wechselwirkung zwischen Rückenschmerzen und psychischer Belastung beleuchtet

Rückenschmerzen kennt fast jede:r, sie sind weltweit die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit. Was viele nicht wissen: Oft liegt dem Schmerz nicht nur Verschleiß, eine falsche Haltung oder ein Bandscheibenvorfall zugrunde. Auch die Psyche spielt eine wesentliche Rolle bei der Heilung. Catrin Marnitz, Psychologin am Rückenzentrum Am Michel in Hamburg, erlebt jeden Tag, was die Forschung längst bewiesen hat: Körperliche und seelische Faktoren wirken immer im Zusammenspiel. In deutlich mehr als 50 Prozent aller Fälle sorgen psychische Belastungen wie Stress, Trauer oder Einsamkeit dafür, dass der Schmerz dauerhaft bleibt oder wiederkehrt.

Wer schon bei unzähligen Ärzt:innen war und nicht mehr weiterweiß, dem gibt Catrin Marnitz das nötige Wissen an die Hand, um endlich wieder Mut zu fassen. Anhand von konkreten Beispielen erklärt sie, warum Schmerz chronisch wird, wie wir resilienter werden und lernen können, selbstwirksam mit Schmerz besser umzugehen – damit wir ihn nach Möglichkeit ganz loswerden.  

Vita

Catrin Marnitz hat Psychologie in Münster studiert und am Institut für Verhaltenstherapie-Aus-, Weiter- und Fortbildung Hamburg (IVAH) die Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin erworben. 2010 schloss sie die Weiterbildung im Bereich der Speziellen Schmerzpsychotherapie ab. Heute ist sie die leitende Diplom-Psychologin am renommierten Rückenzentrum Am Michel in Hamburg. Bevor sie vor 20 Jahren dorthin wechselte, war sie in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf tätig.

 

 

 

Tina Epking hat Deutsche Literatur- und Medienwissenschaften sowie Spanisch in Düsseldorf und Hamburg studiert und ist Absolventin der Axel-Springer-Akademie in Berlin.Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Redakteurin, Journalistin und Autorin für Titel wie Brigitte, Zeit Online und Die Welt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Illustrationen Birgit Jansen

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Yvonne Schmedemann

ISBN 978-3-644-02348-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Einleitung: Wäre ohne Rückenschmerzen eigentlich alles okay?

Mein Name ist Catrin Marnitz, ich bin Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Schmerz-Psychotherapeutin. Außerdem bin ich Mutter von zwei Töchtern. Ich habe einen 30-Stunden-Job, eine Scheidung hinter mir und manchmal Rückenschmerzen. Warum ich Ihnen das erzähle? Weil ich auch nur ein Mensch bin. Ich komme oft an meine Grenzen, und ich weiß, wie anstrengend das Leben sein kann. Ich weiß, wie schwierig es oft ist, Arbeit, Alltag und eigene Erwartungen unter einen Hut zu bekommen. Auch finde ich es genauso nervig wie alle anderen Menschen, wenn mein Rücken wehtut, aber ich komme damit klar. Es ist schließlich mein Beruf, anderen dabei zu helfen, mit Stress und Schmerzen zu leben und richtig damit umzugehen. Darum gibt es dieses Buch. Tatsächlich hatte eine meiner Patientinnen aus dem Rückenzentrum, eine Journalistin, nicht nur Schmerzen, sondern auch die Idee, dass wir dieses gemeinsam schreiben sollten. Deshalb stehen zwei Namen auf dem Cover. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis wir dazu kamen, das Projekt umzusetzen. Umso mehr freue ich mich, dass alles, was ich schon so oft erzählt habe und was mir wichtig ist, jetzt hier gedruckt steht, weil Tina es mit mir aufgeschrieben hat.

Dabei war auch sie zunächst ganz schön skeptisch. Wie viele Betroffene dachte sie: «Aber ich habe doch Rückenschmerzen. Wie soll mir denn da eine Psychologin helfen?» Die Antwort ist ganz einfach: Die Forschung hat längst bewiesen, dass körperliche und seelische Faktoren immer im Zusammenspiel wirken. Schmerzen können schließlich nicht nur von Verschleiß oder schweren Bandscheibenvorfällen kommen, sondern hängen häufig mit unserer Psyche zusammen. Ich sehe jeden Tag Beispiele dafür in meiner Praxis. Denn selbst wenn körperliche Veränderungen zu sehen sind, sind bei deutlich mehr als 50 Prozent der Betroffenen psychische Belastungen wie Stress, Trauer oder Einsamkeit die eigentliche Ursache für viele Beschwerden. Körper und Geist sind schließlich ein Team, und die Themen Rücken und Psyche sollte man immer gemeinsam behandeln. Das ist in den Köpfen der Menschen nur noch nicht so angekommen, wie ich es mir wünschen würde. Zu viele Schmerzgeplagte werden häufig noch behandelt, als hätte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Da, wo ich arbeite, machen wir es anders.

Ich leite die psychologische Abteilung des Rückenzentrum Am Michel in Hamburg, mein Team und ich sind Teil der interdisziplinären Schmerzbehandlung dort. Das bedeutet, dass bei uns Ärzte, Physiotherapeutinnen, Sportwissenschaftler und Psychologinnen eng zusammenarbeiten und sich austauschen. Wir wissen seit mehr als 20 Jahren, dass Schmerz, wenn er anhält, nach drei Monaten von verschiedenen Fachleuten betrachtet werden sollte. Nur funktioniert das in der Praxis leider nicht, weil Orthopäden und Orthopädinnen oft nicht mit Psychologinnen oder Physiotherapeuten in direktem und andauerndem Kontakt stehen.

Zu mir kommen meistens Menschen, die schon sehr lange Schmerzen haben und in der Regel die ganze Maschinerie der Behandlung bereits durchlaufen haben. Sie waren bei mehreren Ärztinnen und Ärzten, bei der Physiotherapie, bei der Osteopathie, haben Spritzen bekommen – und nichts davon hat geholfen. Manches hat es sogar schlimmer gemacht. Sie sind enttäuscht von den bisherigen Behandlungen. Sie gehen davon aus, dass es irgendeine körperliche Ursache gibt, die noch nicht gefunden wurde. Sie denken, dass ihre Wirbelsäule kaputt sei. Oder dass die Physiotherapie, die nach langer Zeit immer noch nicht gegriffen hat, vielleicht nie greifen wird. Viele sind deswegen skeptisch und haben ihr Vertrauen verloren. Deswegen klären wir wirklich alles ab, was man abklären kann. Die Orthopäden gucken sich MRTs und Röntgenbilder an und machen alle nötigen Untersuchungen. Unsere Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten schauen sich genau die Struktur und die Funktionen der Muskeln, Sehnen, Bänder und Nerven an. Am Schluss gucken mein Team und ich dann, was die psychologischen Risikofaktoren sein könnten.

Die Menschen, die zu uns kommen, sind oft zu einseitig behandelt worden oder haben ihr Problem einseitig betrachtet. Sie hatten widersprüchliche Diagnosen und Behandlungsansätze und sind davon frustriert. Der Orthopäde hat ihnen gesagt, sie sollen ein Schmerzmittel nehmen. Die Osteopathin fand, dass ohne Mittel die Ursache gefunden werden muss. Der eine Physiotherapeut war überzeugt davon, dass man über die Schmerzgrenze gehen müsse, während die nächste Physiotherapeutin meinte, man müsse auf jeden Fall mit dem Training aufhören, wenn es wehtut. Wem soll man da glauben? Was ist wahr und was hilft?

Ich möchte vor allem vermitteln, dass keine Konkurrenz zwischen Körper und Psyche herrscht. Es gibt kein «rein körperlich» oder «rein psychologisch», denn es existieren ganz klare neurowissenschaftliche Zusammenhänge. Die versuche ich meistens gleich am Anfang zu erklären. Was ist Schmerz? Was bedeutet «chronisch»? Wie funktioniert das Rückenmark? Dann schließen sich die psychologischen Themen an. Es geht darum zu verstehen, dass der Schmerz nicht eingebildet, sondern wirklich da ist, aber der Kopf sich so in Gefahr fühlt, dass es zu psychologischen Problemen kommen kann. Das ist eine Folge, nicht die Ursache. Sie kann allerdings dazu führen, dass der Schmerz nicht mehr weggehen will.

Bei Knieproblemen zieht man übrigens in der Regel keinen psychologischen Rat hinzu, es gibt auch kein interdisziplinäres Hüftzentrum. Das hat seine Gründe. Im Unterschied zum Knie- und Hüftgelenksschmerz spielen beim Rückenschmerz nämlich psychische Komponenten eine große Rolle. Denn im Rücken befindet sich das Rückenmark, das Teil des zentralen Nervensystems ist. Es ist unmittelbar und direkt mit dem Gehirn verknüpft. Rückenschmerzen werden vom Gehirn gesteuert und können andersrum das Gehirn steuern – also Gedanken und Gefühle.

Bei Hüfte und Knie werden die Schmerzen dagegen vom äußeren Nervensystem vermittelt. Wenn unser Gehirn gestresst ist, reagiert aber unser zentrales Nervensystem. Wir spüren das in der Regel zuerst über Verspannungen in den Muskeln. Und wo haben wir wohl am meisten davon? Genau. Die größten Muskelpakete sitzen am Rücken.Wenn wir gestresst sind oder uns anspannen, tun wir das vor allem mit unserer Nacken- oder unserer Rumpfmuskulatur. Darin ist die Wirbelsäule nun mal verpackt. Wenn wir also zu viel sitzen oder uns gestresst fühlen, sind unser Rücken und unser Nacken die optimale Sollbruchstelle. In 80 Prozent der Fälle sind Kreuzschmerzen vor allem muskulär bedingt.[1]

Schmerz ist ein gutes und extrem wichtiges Warnsignal dafür, dass wir körperlich überlastet sind oder eine Verletzung haben. Wir haben als Menschen in der freien Natur nur überlebt, weil unser Gehirn es geschafft hat, uns zu schützen. Es sorgt dafür, mögliche Gefahr schon präventiv so einzuordnen, dass wir sie vermeiden. Im U-Boot hat man schließlich auch ein Sonar, das Bescheid gibt, bevor das Boot gegen einen Eisberg fährt, und nicht erst dann, wenn es bereits zu spät ist. Sobald es die Möglichkeit einer Gefahr gibt, fährt unser Gehirn also ein Alarmsystem hoch – und wir spüren Schmerz. Manchmal tut es uns auch schon weh, wenn wir Angst vor einer starken Verletzung haben. Das Gehirn unterscheidet nicht zwangsläufig zwischen Realität und Fiktion.

Schmerz entsteht zwar im Gehirn und nicht im Rücken, aber er ist deswegen nicht eingebildet. Es gibt klassische körperliche Reflexe, gegen die wir nichts tun können. Wenn wir einen sehr spannenden Krimi sehen, reagieren wir auch nicht nur mit Angstgefühlen, sondern mit unserem ganzen Körper: Wir ziehen die Schultern hoch, wir sind schreckhaft oder bekommen vielleicht eine Gänsehaut. Das Gehirn verarbeitet die Informationen und unterscheidet nicht zwischen dem Film auf dem Bildschirm und meiner Realität. Wenn sich zwei Menschen, die hungrig sind, über leckere Pastarezepte unterhalten, bekommen sie schließlich auch Speichelfluss – dagegen können sie gar nichts tun. Das Gehirn reagiert einfach so.

Was ich sagen will, ist, dass Schmerz nicht schlimm sein muss, sondern eine natürliche Reaktion des Körpers ist. Zumindest, wenn er nicht länger als zwölf Wochen dauert. Aber dazu kommen wir später etwas detaillierter.

Ich versuche, meine Patientinnen und Patienten erstmal mit überraschenden biologischen Fakten abzuholen. Dabei geht es meistens darum, wie Medizin und Psychologie zusammenhängen. Wussten Sie etwa, dass wir bei Stress das Hormon Cortisol ausschütten und dieses langfristig schmerzverstärkend wirken kann? Wenn meine Patientinnen und Patienten die Basics kennen, sprechen wir darüber, was genau ihren Kopf in Alarm versetzt. Was stresst sie? Was belastet sie? Was kostet sie besonders viel Energie?Was passiert in ihrem Leben, das Schmerzen verstärkt? Und wie ist ihre Stimmung? Ich versuche, in meiner Praxis ein persönliches Profil zu erstellen, in Einzelgesprächen und in Gruppen, in dem klar wird, was gerade in ihrem Leben los ist – daraus leiten wir ab, inwiefern es ihr Schmerzgedächtnis beeinflusst.

Und ich frage auch noch andere, konkretere Dinge. Zum Beispiel: «Fahren Sie gern zur Arbeit?», «Fahren Sie danach gern wieder nach Hause?», «Wie können Sie am besten entspannen?», oder: «Was sind Ihre Kraftquellen?» Eine entscheidende Frage ist auch: «Wäre eigentlich ohne die Rückenschmerzen alles okay?» Meistens lautet die Antwort übrigens «nein». Zumindest, wenn man genau nachfragt.

Es kommen keinesfalls nur stark depressive Menschen, Topmanager, Fünffachmütter oder Extremsportlerinnen zu mir. Wir alle wissen, dass die meisten Über-30-Jährigen Erfahrung mit diesem Thema haben. Wenn sie nicht selbst schon Rückenschmerzen hatten, kennen sie mindestens eine Freundin, einen Kollegen oder Verwandten, die oder der von Verspannungen, einem Hexenschuss oder Bandscheibenvorfall erzählen kann.

Rückenprobleme sind ein Volksleiden. Ein Drittel der Deutschen – das sind mehr als 26 Millionen Menschen – leiden darunter.[2] Wir alle wissen, dass ein normales Leben schon ziemlich anstrengend sein kann. Ganz ohne echte Katastrophen oder extreme Belastungen. Meistens sind es eben nicht die riesigen und offensichtlichen Probleme, die uns zu schaffen machen. Vielen Patienten und Patientinnen, die letztlich bei mir in Einzelgesprächen oder in der Gruppe landen, geht es von außen betrachtet sogar sehr gut. Sie sind grundsätzlich zufrieden. Sie haben einen Job, den sie mögen, eine Familie, Freunde, Hobbys. Und sie haben trotzdem Schmerzen.

Manchmal hilft es schon, dass wir ihnen bewusst machen, dass eine glückliche Familie trotzdem immer mit viel Verantwortung verbunden ist, dass 20 Überstunden die Woche auch in einem tollen Job zu viel sind und ihnen wahrscheinlich manchmal der nötige Stressausgleich fehlt. Viele Schmerzpatientinnen und -patienten stehen unter einem enormen Druck, den sie gar nicht bemerken – oder über den sie sich nicht beschweren wollen, wenn sie ihn spüren. Manche Menschen, die sehr erfolgreich im Job sind, haben zum Beispiel ständig ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Familie vernachlässigen. Manchmal laufen die Dinge von außen betrachtet sehr gut, gehen aber trotzdem zulasten der psychischen Gesundheit. Leben bedeutet ja keinen Stillstand: Manchmal kommen Belastungen dazu oder positive Dinge fallen weg, dann kippt das System zwischen Entlastung und Stress, zwischen Ausgleich und Ruhe. Die Waage kommt ins Ungleichgewicht. Was man dagegen tun kann, erkläre ich später in diesem Buch.

Zu mir kommen ganz grob gesagt vor allem zwei verschiedene Schmerztypen. Es gibt die, die sich in der Regel überfordern. Sie versuchen, den Schmerz erstmal zu ignorieren. Dann gibt es die, die sich unterfordern, ängstlich reagieren und ihre Gesundheit infrage stellen. Sie fangen sehr schnell an, sich zurückzuziehen, und trauen sich Dinge nicht mehr zu. Am Ende landen beide beim selben Problem: Sie kommen nicht mehr mit dem Schmerz klar. Er übernimmt die Kontrolle.

Das versuchen mein Team und ich zu verändern. Es geht bei der Überforderung um Dosierung, bei der Unterforderung um Aktivierung. Mein Ziel ist es, aus Menschen, in deren Leben Schmerzen einen großen Raum eingenommen haben, Bewältigerinnen und Bewältiger zu machen, die versuchen, ihr Leben trotz Schmerzen so normal wie möglich weiterzuführen. Menschen, die nicht aufgeben, sondern versuchen, Dinge zu tun, die sie stärken und ihnen guttun. Langfristig – und auch dann, wenn die Rückenschmerzen gar nicht mehr akut sind. Denn natürlich sind viele genetisch vorbelastet und müssen sich dementsprechend verhalten, damit sie schmerzfrei bleiben. Auch dazu erzähle ich später noch mehr.

Viele meiner Patientinnen und Patienten sagen nach ein paar Stunden mit mir übrigens ganz offen: «Frau Marnitz, ich weiß das eigentlich alles, aber ich kann es trotzdem nicht ändern.» Ich antworte dann immer: «Wir haben alle kein Intelligenzproblem. Wir sind nicht zu blöd, um unsere Probleme nicht zu kennen. Es sind emotionale Blockaden, die uns im Weg stehen.» Warum fällt es uns wider besseres Wissen so schwer, Dinge zu ändern? Hier wird es individuell. Sicher haben wir alle schon mal gehört, dass wir «Nein» sagen müssen. Warum können es viele von uns trotzdem nicht? Da stellt sich die Frage, was wir in unserem Leben gelernt haben und nach welchen Wertvorstellungen wir leben. Kann ich meine Wünsche äußern? Kann ich mich abgrenzen? Kann ich gut kommunizieren? Oder denke ich, dass ich es allen recht machen und mich anpassen muss? Habe ich vor allem gelernt, immer gut zu funktionieren?

Klar ist, je höher die Ansprüche an sie selbst sind, desto mehr geraten Menschen unter Druck, diese erfüllen zu müssen. Wir kommen da sehr schnell zu Lebenserfahrungen und Beziehungsmustern, auf sehr emotionale tiefgreifende Themen, bei denen es insgesamt viel um Gefühle geht. Wir sprechen dann über Dinge, die nicht nur dem Rücken, sondern vor allem der Seele wehtun. Spätestens an diesem Punkt erkennen Patientinnen und Patienten, dass beides zusammenhängt. Denn beides verursacht Schmerzen. Auch darum geht es in einem Kapitel.

Ich habe mich immer schon dafür interessiert, warum Menschen denken und handeln, wie sie es tun. Ich bin neugierig darauf, was Menschen mir erzählen. Ich mag es, wenn ich bei der Lösung ihrer Probleme helfen und einen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass ihr Leben sich verbessert.

Ich stelle für meine Patientinnen und Patienten außerdem gern komplexe Sachverhalte einfach dar – das möchte ich auch in diesem Buch versuchen. Es macht mir Spaß zu erklären, warum ich das Wort «chronisch» schwierig finde und lieber durch «erlernt» ersetze und dass DIMs und SIMs keine Figuren in Computerspielen sind, auch wenn sie so klingen. Ich glaube, aufzuklären ist der erste Schritt. Denn erst, wenn man versteht, was körperlich und psychologisch mit einem los ist, erschließt sich, warum man wieder aktiv handeln muss, um den Schmerz loszuwerden oder mit ihm zurechtzukommen. Erst dann kann man wieder Grenzen überschreiten, zum Beispiel in eine schmerzhafte Bewegung trainieren oder sich mit unangenehmen beruflichen oder privaten Themen auseinandersetzen. Klar muss sein: Wenn Betroffene nicht mitarbeiten und selbstwirksam werden, dann können sie selbst nichts ausrichten. In dem Moment, in dem Menschen zu mir kommen, waren alle Passivmaßnahmen bei Ärzten, Osteopathinnen und oder bei der Physiotherapie nicht mehr wirksam. Damit ich aber mir selbst helfen und an meine Grenzen gehen kann, muss ich verstehen, wofür und weshalb ich das mache. Ich glaube, dass diese Bereitschaft nur da sein kann, wenn Betroffene über die Zusammenhänge aufgeklärt sind. Ich möchte mit Mythen und gefährlichem Halbwissen aufräumen.

Dieses Buch soll konkret dabei helfen, Ihr Leben zu verbessern. Natürlich kann ich in einem Buch kein persönliches Profil erstellen oder die Lektüre ein 50-minütiges Gespräch ersetzen. Aber in unserem Vier-Wochen-Programm, das wir im Rückenzentrum anbieten, schaffen wir auch keine tiefgreifende Psychotherapie. Wir versuchen, in jedes Thema kurz einzutauchen und einen Überblick zu geben, was bei ständigem Schmerz eine Rolle spielen kann. Wir sprechen Themen an, gucken damit über den Tellerrand und versuchen, Dinge anzustoßen. Was könnte man verändern? Welche gedanklichen Übungen gibt es? Welche Verhaltensübungen könnten passen? Was müssten und könnten die Patientinnen und Patienten ausprobieren? Nur, weil man ein Kochrezept liest, kann man auch nicht sofort kochen, aber es ist der erste Schritt zu einem leckeren Essen, denn man bekommt zumindest schon mal eine Anleitung. Dieses Buch soll wie ein Rezept sein, nicht das fertige Essen. Die Initiative und die tatsächlichen Veränderungen müssen am Ende von Ihnen selbst kommen.

Ich kann nur Infos geben oder Fragen stellen, die in die richtige Richtung führen. Dieses Buch kann nicht die Behandlung durch Profis ersetzen, aber vielleicht kann es sie positiv ergänzen. Es soll Ihnen Mut machen, sich selbst zu helfen, sodass Sie merken, dass Sie aus eigenen Mitteln und Kräften Ihr Problem lösen können. Der erste Schritt ist übrigens schon der Kauf dieses Buches. Herzlichen Glückwunsch dazu an dieser Stelle!

Auch wenn es hier vor allem um die psychologische Perspektive geht, widerspreche ich keinesfalls allen oft guten Thesen und Lösungsansätzen, die es schon zum Thema gibt und die sich bereits etabliert und bewiesen haben. Denn natürlich müssen wir uns alle bewegen und unsere Muskeln am Rücken stärken. Ich möchte nur zeigen, dass wir dabei unsere Psyche nicht vergessen oder vernachlässigen dürfen, wenn wir Schmerzen langfristig und immer wieder loswerden wollen. Denn machen wir uns nichts vor: Ein Leben ohne Schmerzen gibt es nicht. Genau deswegen müssen wir lernen, damit klarzukommen, wenn wir welche haben, um mit dem Thema entspannter umzugehen.

Apropos Entspannung: Dieses Buch soll Sie im Idealfall unterhalten. Es soll ein Buch sein, dass Sie anschließend Ihrer Freundin oder Ihrem Arbeitskollegen empfehlen. Sie sollen es ohne Schwierigkeiten in der Bahn oder abends im Bett lesen können – und vor allem wollen. Das muss nicht an einem Stück sein. Jedes Kapitel steht für sich, und ich habe versucht, alles so verständlich und unkompliziert zu erklären, dass keine Frage-, sondern Ausrufezeichen im Kopf entstehen. Ich wünsche mir viele «Ahas!» und am besten gar keine «Häs?» mehr. Damit es schön praktisch und hoffentlich kurzweilig wird, werde ich auch über Patientinnen und Patienten sprechen und an konkretem Beispiel zeigen, inwiefern Rücken und Psyche zusammenhängen und was man gegen hartnäckige Schmerzen mit Verhaltensänderungen tun kann. Am Ende jeden Kapitels sind die wichtigsten Fakten noch mal für alle Eiligen oder zum späteren schnellen Nachlesen in einem Shortcut zusammengefasst.

Ich fände es toll, wenn Sie sich, nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, besser fühlen und etwas zum Positiven ändern möchten. In allen Bereichen des Lebens. Es soll das Buch sein, das man liest, bevor man verzweifelt zu Hause sitzt oder in der Rücken-Reha landet. Es ist für alle, die gerade nicht mehr weiterwissen, weil der dritte Physiotermin es nicht gebracht hat, die Orthopädin keinen Rat mehr wusste, der Osteopath beim letzten Besuch auch nicht helfen konnte und die Tabletten nicht mehr gegen die Schmerzen wirken. Es ist für alle, die wegen ihrer Schmerzen traurig und gereizt sind und nicht nur mit Rücken-, sondern auch mit Bauchschmerzen ins Büro gehen. Es ist auch für alle, die mal wieder Tischtennis spielen oder joggen möchten, ohne darüber nachzudenken, dass morgen ihr Rücken wehtut. Für alle, die nachts wach liegen und denken, dass alles so schön sein könnte, sie aber trotzdem dauernd über ihre Beschwerden grübeln. Im besten Fall macht es Menschen zufriedener. Auch solche, die gar nicht dauernd furchtbare Rückenschmerzen haben. Denn die meisten von uns hatten wohl schon einmal im Leben einen verspannten Nacken oder Schmerzen im Rücken nach einem harten Tag im Büro, zu viel Gartenarbeit oder wenn einfach mal wieder alles zu viel wurde.

Noch eine kleine Sache zum Schluss: Natürlich sieze ich meine Patientinnen und Patienten in der Praxis. Aber dann fiel mir auf, dass die Frage «Wie geht es dir?» etwas ganz anderes in Menschen auslöst als die Frage «Wie geht es Ihnen?». Deswegen habe ich mich entschieden, ab hier «du» zu sagen. Wir kennen uns ja jetzt schon ein bisschen. Ich hoffe, das ist okay, und wünsche ganz viel Spaß und viele «Ahas» beim Lesen!

Teil 1:Explain Pain – Weißt du, was Schmerz ist?

Ich glaube daran, dass Wissen Macht ist: Je mehr Betroffene über ihre Rückenschmerzen erfahren, desto besser können sie mit ihnen umgehen. Deswegen versuche ich in meiner Praxis so viel zu erklären wie möglich. Ein Fachbuch, das vor allem die Menschen kennen, die sich beruflich mit Schmerzen beschäftigen, heißt Schmerzen verstehen[3] (im Original Explain Pain) – und ist praktisch die Basis für alles, was ich in meinem Job tue. Es vermittelt neurophysiologische Grundlagen einfach und verständlich für alle und beantwortet Fragen wie: Wo kommt der Schmerz eigentlich her? Was will er? Warum brauchen wir ihn?

Sicher ist: Jeder Mensch hat Schmerzen, sie gehören zum Leben dazu. Der Schmerz hat nur ein Imageproblem. Leider. Weil er sich mies anfühlt und Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst und Ohnmacht auslöst. Er macht uns außerdem reizbar. Das sind alles Emotionen, die wir lieber nicht haben wollen. Wenn wir Schmerzen haben, sind wir nicht mehr funktionstüchtig, wir sind nicht mehr leistungsfähig. Schmerz bremst uns aus, schränkt uns ein, lässt uns die Freude an Dingen verlieren.

Akuter Schmerz ist keineswegs schlecht für uns, sondern schützt uns vielmehr davor, ernsthaften Schaden zu nehmen. Ohne Schmerzempfinden würden wir in freier Natur nicht überleben, denn es bewahrt uns vor Krankheiten oder sogar dem Tod. Wenn wir es nicht hätten, würden wir mit einem gebrochenen Fuß weiterlaufen oder eine innere Verletzung nicht bemerken – und dann vielleicht infolgedessen unseren Körper weiter schädigen oder an einer Blutvergiftung sterben. Mein Vater hatte mal einen Fahrradunfall und hat sich den Meniskus und ein Kreuzband gerissen. Er stand so unter Schock, dass er den Schmerz nicht mehr gespürt hat, weil das Gehirn ihm gesagt hat, er muss jetzt erstmal nach Hause kommen. Deswegen ist er mit dem Rad noch 20 Minuten dorthin gefahren. Dabei hat er sich das verletzte Knie strukturell weiter kaputt gemacht, weil in einer Akutsituation unter Schock das Überleben wichtiger ist als ein einzelnes Gelenk.

Schmerz ist ein zentraler Warnmechanismus. Ohne ihn hätten wir kein gelerntes Risikoempfinden und wären längst ausgestorben. Außerdem lernen wir durch Schmerz: Die meisten Kinder möchten zum Beispiel unbedingt wissen, ob eine Herdplatte heiß ist. Da können die Eltern tausendmal sagen, dass das wehtut. Irgendwann versuchen die Kinder es in der Regel doch selbst. Das Lernergebnis: «Das tut weh, das mache ich nicht noch mal.»

Schmerzen sind im Körper auch an Heilungsprozesse gekoppelt. Gewebe muss neu aufgebaut werden, bei einem Armbruch muss der Knochen wieder zusammenwachsen, bei einem Schnitt im Finger muss die Wunde heilen. Das alles passiert durch viele biochemische Prozesse, die gleichzeitig auch einen Schmerzreiz auslösen.

Die Alarmanlage deines Körpers: Nervensystem und Gefahrenmelder

Damit teure Häuser oder Autos nicht gestohlen oder beschädigt werden, bauen Menschen Alarmanlagen ein. Auch unser Körper hat ausgeklügelte Mechanismen, um sich zu schützen. Zum Beispiel ein eigenes Warnsystem. Es besteht aus freien Nervenendigungen, sogenannten Rezeptoren, die erregt werden, wenn Gewebe von außen verletzt wird. Das kann durch Druck passieren, wenn wir uns zum Beispiel mit dem Hammer auf den Finger hauen. Es passiert durch Thermik – zu viel Kälte oder Hitze – oder durch entzündliche Prozesse im Körper. In dem Moment, in dem diese Alarmmelder ausgelöst werden, entwickeln sie einen elektrischen Impuls und sagen damit: «Es gibt eine mögliche Gefahr.» Für alle, die beim nächsten Gespräch zum Thema «Rücken» Eindruck schinden möchten, habe ich hier folgenden überraschenden Fakt: Oft wird der Ausdruck «Schmerzrezeptor» verwendet, der aber nicht ganz korrekt ist. Der richtige Ausdruck lautet «Nozizeptor». Nozizeption ist nicht dasselbe wie Schmerz, sie bezeichnet nur die Aufnahme von potenziell gefährlichen Reizen. Schmerz, wie wir ihn empfinden, entsteht immer im Gehirn und ist immer subjektiv. Nozizeptoren sitzen in der Muskulatur, auf den Bändern und den Faszien um das Knochensystem herum, fast überall im Körper. Wenn ein Muskel zum Beispiel bei einem Hexenschuss extrem verkrampft, werden diese Rezeptoren im Gewebe erregt und Signale ans Rückenmark und – falls nötig – auch ans Gehirn weitergeleitet.

Wenn die Alarmanlage am Haus oder Auto losgeht, muss das nicht immer gleich einen Einbruch oder Diebstahl bedeuten. Manchmal ist nur jemand zu nah ans Auto gekommen oder hat vergessen, das System auszuschalten, nachdem er die Wohnung betreten hat. Bei der Alarmanlage im Körper verhält es sich ähnlich: Wenn sie losgeht, checken Hirn und Rückenmark deswegen zuerst, ob wirklich etwas vorgefallen ist, das uns verletzt und gefährlich ist. Das Rückenmark ist in der Lage, das Signal zu verstärken, wenn es uns schadet – oder aber es zu bremsen, wenn klar ist, dass es nicht wirklich gefährlich ist. Wenn man sich zum Beispiel den Musikknochen am Ellenbogen stößt, tut das extrem weh. Der Reiz ist stark, das Signal kommt sofort an. Gleichzeitig werden direkt körpereigene schmerzhemmende Prozesse angeregt, weil das Gehirn gelernt und entschieden hat, dass das sehr weh tut, aber eben nicht unsere Gesundheit gefährdet. Deswegen haben wir bei dieser Art Stoß auch keine Angst – denn unser Gehirn entscheidet, dass es nicht gefährlich ist.

Schmerz funktioniert immer nach demselben Prinzip, egal ob er im Rücken, Fuß oder Kopf seinen Ursprung hat. Um den Rücken herum haben wir allerdings die größte Muskulatur. Wenn wir uns bewegen, muss die Rumpfmuskulatur außerdem sehr viel aushalten. Beim Gehen, beim Springen oder beim Bücken. Fast jede Bewegung landet im Rücken. Daher sind Rückenschmerzen unter anderem so ein weit verbreitetes Leiden.

Auch Hormone spielen eine Rolle bei unserem Schmerzempfinden. Das Beispiel meines Vaters zeigt das, aber es ist vergleichsweise harmlos: Es gibt Schwerstverletzte nach Unfällen, die vor einem stehen und seelenruhig erklären, wie sie heißen und wo sie wohnen. Sie haben einen Adrenalinschock und schütten so viel von dem Hormon aus, dass ihr Schmerzempfinden im Gehirn blockiert ist, damit es sich auf das in dem Moment Wesentliche konzentrieren kann – nämlich die Tatsache, dass es jetzt ums Überleben geht.

Das Hormon Cortisol zum Beispiel wird bei Stress ausgeschüttet und kann ihn verstärken. Das ist aber nicht nur negativ. Wir brauchen Cortisol und Adrenalin, damit wir bei erhöhtem Stress leistungsfähig bleiben. Sie können dann wahre Wunder bewirken und uns beschützen. Manche Menschen sagen, dass sie in extremen Situationen ihre Rückenschmerzen vergessen oder gar nicht bemerken. Das ist allerdings nur kurzfristig so. Denn wenn der Stress nachlässt, kommen die Schmerzen in der Regel wieder. Man bricht deswegen meist nicht während der Prüfung oder des Wettkampfs zusammen, sondern erst danach.

Auch alle, die Marathon laufen, stehen oft so unter dem Einfluss der Hormone Adrenalin, Endorphine und Testosteron, dass sie gar nicht merken, wie sie über ihre körperlichen Grenzen gehen. Wäre das nicht so, könnten sie nicht so leicht 42,195 Kilometer laufen.

Shortcut:

• Schmerz gehört zu unserem Leben dazu.

• Er entsteht im Gehirn und ist nicht eingebildet.

• Die Alarmanlage in unserem Körper schützt uns davor, uns selbst zu schaden.

• Hormone wie Cortisol und Adrenalin wirken sich auf unser Schmerzempfinden aus.

Alles entsteht im Kopf?

Die meisten denken, sie haben es im Rücken und nicht im Kopf – dabei ist beides sehr eng verbunden. Die westliche schulmedizinische Art, auf Krankheiten und Schmerzen zu sehen und dabei Körper und Geist zu trennen, ist nämlich längst veraltet. Diese Trennung ist künstlich, die beiden gehören zusammen und sind dementsprechend als eins zu betrachten – vor allem, wenn es um Schmerz geht. Das ist mittlerweile auch allgemein anerkannt. Damit will ich nicht sagen, dass nur durch Stress Rücken «kaputtgehen» oder dass Schmerzen einzig und allein einen psychischen Ursprung haben. Das würde ich so nie gegenüber meinen Patientinnen und Patienten behaupten. Das wäre Quatsch und würde wahrscheinlich dazu führen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen. Zu Recht. Denn meist liegt dem Schmerz eine physische Ursache zugrunde, die unumstritten vorhanden ist und wirklich wehtut. Der Umgang damit macht den Unterschied.

Das Rückenmark bildet zusammen mit dem Gehirn das zentrale Nervensystem, deswegen haben wir sozusagen Gefühle im Rücken. Es ist somit auch ein Teil unseres emotionalen Daseins, unserer persönlichen Bewertungen einer Situation. Damit bietet der Rücken viel mehr psychische Angriffsfläche, als es etwa ein Knie oder eine Hüfte tun. Schmerzen dort lassen wir in der Regel nicht so sehr an uns heran, auch wenn sie uns mürbe machen können. Knieschmerzpatientinnen und -patienten brauchen in der Regel trotzdem keine Schmerzpsychotherapie. Sie haben meistens eine ganz klare somatische und letztlich rationale Theorie zu ihrem Problem: zum Beispiel, dass das Knie wehtut, weil der Knorpel kaputt ist. Sie werden in der Regel nicht depressiv oder haben Schwierigkeiten, mit ihrer Diagnose und den daraus resultierenden Schmerzen zurechtzukommen. Wie man Rückenschmerz empfindet, hat dagegen viel mit der Persönlichkeit zu tun. Jeder Mensch geht unterschiedlich mit Problemen und Schmerz um. Manche Menschen verdrängen oder akzeptieren ihn. Andere reagieren sensibler, emotionaler und ängstlicher darauf, weil sie insgesamt verletzlicher sind.

Der Schmerz und die Art, wie wir mit ihm umgehen, kann verändern, wie unser Gehirn reagiert. Wenn man in einem Moment auf eine Reißzwecke tritt, dann feuert der Schmerz einmalig dorthin. Wenn man ihn aber dauerhaft bleiben lässt und nichts gegen ihn unternimmt, sorgt er dafür, dass im Gehirn eine Fläche entsteht, die immer größer wird. Wenn du immer denselben Nerv reizt, dann kommt es zu einer Überpräsenz. Das kann man sogar im Bild des MRTs sehen. Man kann sich das vorstellen wie einen Brand, der sich ausbreitet. Am anschaulichsten versteht man den «Brand im Gehirn» übrigens am Beispiel von Kindern. Die lernen bekanntlich sehr schnell: Wenn sie über einen länger andauernden Zeitraum Schmerzen haben, entwickeln sie in einem extremen Tempo ein riesiges Schmerzgedächtnis. Deswegen ist es so wichtig, dass die Jüngsten dementsprechend behandelt werden – und zum Beispiel beim Zahnarzt nichts «aushalten» müssen. Sonst kann es passieren, dass sie ihr Leben lang Angst davor haben, dorthin zu gehen. Ihr Schmerzgedächtnis hat sich das schließlich als unangenehme Erinnerung gemerkt. Und die meisten Erwachsenen, die extrem ungern ihre Zähne checken lassen, haben ein unangenehmes Erlebnis in ihrer Kindheit gehabt, das sie nachhaltig geprägt hat.

Dieser «Brand im Gehirn», den Kinder bekommen können, kann auch bei erwachsenen Menschen mit