Ein guter Mensch - Jürgen Bauer - E-Book
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Ein guter Mensch E-Book

Jürgen Bauer

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Beschreibung

Wie schon in den Jahren zuvor wird Mitteleuropa erneut von einer Hitzewelle heimgesucht. Wasserknappheit, zunehmend schlechte Stromversorgung und steigende Kriminalität bringen die sozialen Strukturen der Großstadtgesellschaft ins Wanken. Die Politik steht der Situation hilflos gegenüber, die Südgrenzen werden geschlossen, der Polizeiapparat wird erweitert und das kostbarste Gut Wasser streng kontrolliert, rationiert und über ein ausgeklügeltes Versorgungssystem zugeteilt. Marko versucht mit seinem Freund Berger als Tankwagenfahrer einen Beitrag zu leisten und die schweigende Mehrheit, die sich mit der Situation abgefunden hat, mit Wasser zu versorgen. Wie den meisten fehlte auch Marko das nötige Geld, um das Land Richtung Norden zu verlassen, zudem er sich auch noch um seinen kranken Bruder kümmert, der den alten Familienhof nicht aufgeben will. Er gibt den Glauben an ein erträgliches Leben auch dann nicht auf, wenn Berger längst an dieser Möglichkeit zweifelt. Gemeinsam arbeiten sie dafür, sich eine lebenswerte Perspektive zu erhalten. Das plötzliche Auftauchen einer mysteriösen, schnell wachsenden Bewegung bringt die Kräfteverhältnisse allerdings durcheinander. "Die dritte Welle" feiert dekadent auf den nicht zu vermeidenden Kollaps zu und setzt der Rationierung und dem Haushalten die Verschwendung entgegen und stellt somit das gültige System infrage und zwingt beide dazu, ihre Haltungen zu überdenken.

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Seitenzahl: 597

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Leseproben

Jürgen Bauer - Was wir fürchten

Jürgen Bauer - Das Fenster zur Welt

Gudrun Büchler - Koryphäen

Paul Auer - Kärntner Ecke Ring

Marlen Schachinger - Martiniloben

Peter Rosegger - Weltgift

Shusaku Endo - Skandal

José Luís Peixoto - Friedhof der Klaviere

Mare Kandre - Bübins Kind

Nona Fernández - Die Straße zum 10. Juli

Jürgen Bauer, Ein guter Mensch

© 2017, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Wir bedanken uns für die finanzielle Unterstützung bei:

Land Burgenland und Stadt Wien.

Lektorat: Elvira Gross

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © 2017, Jürgen Schütz

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-55-2

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-64-9

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Jürgen Bauer

geboren 1981, lebt in Wien. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky. Seine journalistischen Arbeiten zu Theater, Tanz und Oper erscheinen regelmäßig in internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Jürgen Bauer nahm mit seinen Theaterstücken zwei Mal am Programm »Neues Schreiben des Wiener Burgtheaters« teil. Debütroman: Das Fenster zur Welt(Septime, 2013) 2014 wurde ihm das Aufenthaltsstipendium für junge deutschsprachige Autorinnen und Autoren des Literarischen Colloquiums Berlin zugesprochen.2015 erschien sein zweiter RomanWas wir fürchten. 2016 wurde er zum »Festival Neue Literatur« in New York sowie zum »Festival Zeitgeist« in Washington, D.C. eingeladen. 

Klappentext

Wie schon in den Jahren zuvor wird Mitteleuropa erneut von einer Hitzewelle heimgesucht. Wasserknappheit, zunehmend schlechte Stromversorgung und steigende Kriminalität bringen die sozialen Strukturen der Großstadtgesellschaft ins Wanken. Die Politik steht der Situation hilflos gegenüber, die Südgrenzen werden geschlossen, der Polizeiapparat wird erweitert und das kostbarste Gut Wasser streng kontrolliert, rationiert und über ein ausgeklügeltes Versorgungssystem zugeteilt.Marko versucht mit seinem Freund Berger als Tankwagenfahrer einen Beitrag zu leisten und die schweigende Mehrheit, die sich mit der Situation abgefunden hat, mit Wasser zu versorgen. Wie den meisten fehlte auch Marko das nötige Geld, um das Land Richtung Norden zu verlassen, zudem er sich auch noch um seinen kranken Bruder kümmert, der den alten Familienhof nicht aufgeben will. Er gibt den Glauben an ein erträgliches Leben auch dann nicht auf, wenn Berger längst an dieser Möglichkeit zweifelt. Gemeinsam arbeiten sie dafür, sich eine lebenswerte Perspektive zu erhalten.Das plötzliche Auftauchen einer mysteriösen, schnell wachsenden Bewegung bringt die Kräfteverhältnisse allerdings durcheinander. »Die dritte Welle« feiert dekadent auf den nicht zu vermeidenden Kollaps zu und setzt der Rationierung und dem Haushalten die Verschwendung entgegen und stellt somit das gültige System infrage und zwingt beide dazu, ihre Haltungen zu überdenken. 

Jürgen Bauer

Ein guter Mensch

Roman | Septime Verlag

fürBernhard

Make it beautiful now.

Scott Matthew

2. – 3. April

»In Zeiten wie unseren hast du drei Möglichkeiten. Du kannst schreien, abhauen oder in die Hände spucken und mitanpacken.« Marko dreht den Zündschlüssel: Hoffentlich säuft der Motor nicht wieder ab. Er tritt das Gaspedal durch und lenkt den Tankwagen aus der Garage auf den schmalen Weg hin zum vergitterten Tor. »Gut für dich, dass du dich richtig entschieden hast.« Die Wachen werden erst auf ihn aufmerksam, als er mit der Faust auf die Hupe drischt. »So fühlt es sich doch an, nicht?« Der Uniformierte sieht hoch, blättert gelangweilt in seiner Mappe und gibt Marko schließlich ein Zeichen mit der Hand. »Es fühlt sich doch richtig an?« Anstatt sofort auf das Tor zuzusteuern, verlangsamt Marko das Tempo und dreht sich zur Seite.

Sein Beifahrer lehnt mit dem Kopf an der Seitenscheibe, als wäre er eingeschlafen. Die verschwitzten Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht, Sabber rinnt aus seinem Mundwinkel, die Sonnenbrille ist verrutscht.

»Berger? Alles in Ordnung?«

Berger sieht wie eine Marionette aus, der man die Fäden durchgeschnitten hat: kein bisschen Kraft mehr in seinem Körper. Bitte nicht, denkt Marko. Nicht jetzt. Nicht heute. Er schlägt seine Faust auf Bergers Brust: »Jetzt mach schon den Mund auf!« Nur ein Gedanke in seinem Kopf: Fünf Minuten. Lange hast du nicht durchgehalten.»Gabriel!« Berger hasst seinen Vornamen wie die Pest. »Komm schon. Reiß dich zusammen!«

Panisch saugt Berger die heiße Luft in sich hinein, ohne wieder auszuatmen. Seine Atemzüge klingen wie ein undichtes Ventil. 20.000 Liter Wasser wollen nach vorne, als Marko schließlich auf die Bremse springt. Die Beläge kreischen trotz der langsamen Geschwindigkeit wie ein Schwein, das geschlachtet wird. Verdammter Kowalski, denkt Marko, muss immer recht haben. Der Tankwagen kommt noch vor dem ersten Tor zum Stehen, hinter dem Stacheldraht sieht Marko schon die Ausfallstraße Richtung Stadt.

Knapp. Verdammt knapp.

Berger hängt schlaff in seinem Gurt. »Was? Ja, ja. Klar. Alles in Ordnung. Nur so heiß.« Seine Stimme klingt metallen, sein Mund ist schief und die Worte fallen ihm links von den Lippen. Schlaganfall, denkt Marko, doch dafür ist Berger zu jung, außerdem hat Marko den Gesichtsausdruck oft genug gesehen, um sich noch täuschen zu lassen. »Fahr einfach weiter«, lallt Berger. Es klingt wie »Farnfachwter«. Seine Lippen zwei dünne Striche ohne Farbe.

Der Uniformierte am Wachposten zuckt ungeduldig mit den Schultern und hebt seine Waffe: Was jetzt? Marko deutet ihm: Mach das Tor wieder zu, wir brauchen noch kurz.

»Hast du deine Ration dabei?«, fragt er von der Seite.

»Mrsoeis«, stammelt Berger als Antwort. »Mir ist so heiß.«

Stell dich hinten an, denkt Marko. Er würde auch lieber in der gekühlten Zentrale sitzen als in einem Tankwagen, der nach tagelangem Einsatz nach Schweiß und Kotze stinkt. »Du hast einfach zu wenig getrunken.« Anfängerfehler, mehr nicht. Marko fühlt Bergers Stirn: Seine Haut brennt, aber der Schweiß ist – eiskalt.

Panik steigt in ihm hoch. Ein schneller Griff. Er fischt seine eigene Wasserflasche aus der Mittelkonsole. Der Schraubverschluss klemmt. Keine Chance. Die verschwitzten Finger rutschen ab. Immer wieder. Scheiße.Die Kappe sitzt einfach zu fest. Jetzt bloß schnell sein. Marko klemmt die Plastikflasche zwischen seine Beine. Ein Rülpsgeräusch, als er sie endlich aufbekommt. Marko nimmt selbst einen Schluck, erst dann setzt er die Öffnung an Bergers Lippen und lässt ein paar Tropfen in den offenen Mund laufen. Langsam kippt er die Flasche und leert die Flüssigkeit in Bergers Rachen. Sein Beifahrer trinkt hastig und überstürzt. Zu hastig. Er verschluckt sich, hustet und spuckt das kostbare Wasser wieder aus, sein Kopf schnellt nach oben, Wasser und Spucke rinnen seinen Hals hinunter, in den offenen Kragen seines Hemdes.

»Langsam, verdammt. Hörst du mich? Schön langsam.« Marko beugt sich zu Berger und streicht über seinen Kopf, um ihn zu beruhigen. Sein Freund stinkt noch stärker, als er es gewohnt ist, ein bestialischer Geruch nach verwesendem Fleisch. Früher hatten nur Bettler diese Ausdünstung, wenn ihnen die Haut vom Körper faulte. Lange her. Säure kriecht Markos Speiseröhre nach oben. Reiß dich zusammen. Er streicht Berger weiter über den Kopf und drückt ihm die Flasche in die Hand. »Kotz mir bloß nicht den Wagen voll. Sonst müssen wir zurück in die Zentrale, und das können wir uns echt nicht leisten.«

Wie ein kleines Kind umfasst Berger die Flasche mit beiden Händen. Eigentlich wollte Marko mit der Ration den ganzen Tag auskommen, aber bevor Berger ihm schon beim ersten Einsatz zusammenbricht … Jede Minute, die sie hier in der prallen Sonne stehen, heizt die Fahrerkabine unbarmherzig auf. Ohne Fahrtwind ist es nicht auszuhalten.Körperverletzung, mindestens.

Der Uniformierte steht im Schatten, sieht zu ihnen herüber, die Hand wie eine Schildkappe über den Augen. Nur nicht auffallen, denkt Marko und nimmt ein Taschentuch, wischt Berger den Schweiß von der Stirn. Er riecht nach ranziger Butter und Chemie.

»Du musst vor dem Einsatz genug trinken. Das hast du in der Ausbildung doch gelernt. Dafür sind die zusätzlichen Rationen da. Was hast du mit dem Wasser denn gemacht?«

»Muss wohl verdunstet sein.« Berger stößt ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. »Weißt doch, wie das ist bei der Hitze.«

»Verarschen kann ich mich selber.«

Blöde Witze. Gutes Zeichen.

»Den Klacks Wasser habe ich schon runtergestürzt, als ich den Wagen fertig gemacht habe«, sagt Berger. »Hab nicht daran gedacht, mir noch eine Flasche mitzunehmen. Tut mir leid.« Ein Gesicht wie ein geschlagener Hund. »Kommt nicht wieder vor.«

Ein Rauschen, dann krächzt die Kennnummer des Wagens durch das Funkgerät und ihr Vorgesetzter meldet sich aus der Zentrale: »Was ist los mit euch, Draxler?« Kowalskis Stimme, schneidend und schrill. »Alles in Ordnung?«

»Ja klar. Brauchen noch einen Moment. Problem mit dem Motor. Wie immer.«

Berger richtet sich auf, sein Gesicht nimmt langsam wieder Farbe an. Eine Mischung aus Hellrosa und Gelb, aber immerhin. »Hättest mir ruhig verraten können, dass du mich in einer Sauna herumkutschierst. Ich Trottel habe geglaubt, die Tankwägen wären gekühlt«, sagt er. »Komplett daneben, wie immer.«

»Alles nur Märchen«, sagt Marko. »Für sowas ist kein Geld da. Gekühlt sind nur die Tankwägen für den Süden.«

Berger drückt sich das Plastik der Flasche gegen die Stirn, als wäre es kühles Glas. Dann nimmt er noch einen Schluck.

»He, lass noch was übrig«, sagt Marko. »Mehr habe ich nicht mitgenommen. Konnte ja nicht wissen, dass …«

»Come on. Wir können doch …«, sagt Berger und macht mit seinem Kopf eine Bewegung nach hinten, Richtung Tank.

»Du spinnst wohl«, blafft Marko ihn an. »Das gehört nicht uns.«

Berger seufzt, sein Kopf sinkt nach unten. Vor sich auf dem dreckigen Boden entdeckt er schließlich den Verschluss, fischt ihn mit zwei Fingern nach oben und schraubt ihn behutsam auf den Hals. Als wäre die zerquetschte Flasche ein rohes Ei.

»Du musst dich schon beherrschen, wenn du mir helfen willst«, sagt Marko bestimmt. »Sei froh, dass du Arbeit hast. Und hörauf zujammern, das bringt nichts.« Er beugt sich nach vorne, sein Hemd klebt wie Plastikfolie am Rücken fest. Jedes Kleidungsstück ist eines zu viel, doch das weiße Hemd ist Vorschrift. Die Luft auf der Straße flimmert, als könnte sie sich jeden Moment entzünden und das Kunstleder des Lenkrads schmilzt beinahe unter Markos Fingern. Er greift nach der Mappe, fischt den ersten Einsatzbericht heraus und fächert sich mit dem Rest etwas Luft zu. »Du hast jetzt Verantwortung, verstehst du? Die Menschen zählen auf uns. Da können wir nicht einfach schlapp machen.« Als Berger nichts erwidert, packt Marko seine Schultern und dreht ihn zu sich. »Mensch, du kannst jetzt endlich etwas Vernünftiges tun. Das ist doch, was du wolltest, oder nicht? Ich habe mich für dich eingesetzt, also blamier mich nicht. Wie oft habe ich dir schon aus der Scheiße geholfen? Du musst anfangen, auf eigenen Beinen zu stehen. Oder muss ich dich wieder mit Gewalt aus der Wohnung zerren, weil du dein Leben nicht in den Griff bekommst? Nicht einmal ein Jahr ist das her, also reiß dich zusammen.«

Marko zieht das Funkgerät nah an seinen Mund: »Draxler hier. Eine Sekunde noch. Sind gleich so weit.« Er beobachtet Berger von der Seite. Sein Beifahrer ist noch nicht mal vierzig, doch jetzt sieht er sogar älter aus als er. »Na? Alles wieder in Ordnung? Sobald wir losfahren, wird es besser. Versprochen.«

»Ich mach das allein für dich, das weißt du.« Marko will etwas erwidern, doch Berger lässt ihn nicht zu Wort kommen: »Ich weiß, ich weiß. Ich soll es für die Menschen tun. Für die ganze verdammte Gesellschaft. Für die Zukunft. Für was auch immer. Hast du mir oft genug erzählt, musst du nicht wiederholen. Aber wenn ich ehrlich bin, ja, dann tue ich es für dich. Weil du mich aufgenommen hast, als kein Schwein sich um mich gekümmert hat. Darum schwitze ich mir hier den Arsch ab.Fürdich.«

»Du schuldest mir nichts«, sagt Marko und legt den Gang ein, ein Krachen begleitet das Zittern des Hebels, dann steigt er auf das Gaspedal, hupt einmal, zweimal, dreimal und lenkt den Wagen schließlich zum Tor, am finster dreinblickenden Uniformierten vorbei. »Wenigstens tust du das Richtige. Egal, aus welchem Grund.« Mit einem Quietschen schieben sich die Flügel des Tores zur Seite.

Die Ausfallstraße ist leer, das Fahrverbot gilt noch bis zum Abend. Marko bleibt dennoch stehen, bevor er abbiegt, nicht alle halten sich an die neuen Verordnungen. Immer wieder sind Autos unterwegs, manchmal aus Dummheit, meistens aus Protest. Der Tankwagen hüpft auf, als die Reifen von Schotter zu Asphalt wechseln. Obwohl der Straßenbelag in tiefe Furchen gerissen ist, drückt Marko stärker auf das Gaspedal und genießt die Geschwindigkeit, selbst wenn es noch zu heiß ist, um die Fenster zu öffnen. Die unebene Straße, die früher ein kaum befahrener Feldweg war und erst vor einigen Jahren für die neu errichtete Zentrale der Wasserversorgung zu einer richtigen Straße verbreitert wurde, führt abschüssig Richtung Stadt. Marko muss aufpassen, mit den Rädern nicht in eines der Schlaglöcher zu geraten, die die Straße wie Pockennarben übersähen. Der Weizen links und rechts der Böschung ist in diesem Jahr viel zu früh und viel zu hoch gewachsen, nun senken sich die ausgetrockneten Halme bereits müde Richtung Boden, als drückte die Sonne sie nach unten. Auch auf den Maisfeldern stehen nur wenige Pflanzen aufrecht. Bald liegt Popcorn auf den Feldern.

Einige Minuten fahren sie in völliger Stille, vorbei an leerstehenden Betrieben, das ausgetrocknete Flussbett entlang Richtung Stadt, dann dreht Marko das Radio auf. Make it beautiful now, heult es aus den Lautsprechern.

»Was soll der Scheiß? Willst du, dass ich losheule?«

Marko fummelt am Regler herum und sucht nach etwas Fröhlichem. Schon nach wenigen Sekunden hält er ein, lauscht. Life comes at you fast. Gotta stay strong. »Da. Vertreibt alle schlechte Gedanken«, übertönt er das Lied. »Kommt nur auf die Lautstärke an.«

An einer riesigen Plakatwand neben der Straße klebt das Bild einer nackten Schauspielerin. Das Plakat ist ausgeblichen und zerrissen. Die linke Brust hängt in Streifen zu Boden, doch die Schrift kann Marko noch entziffern. Wassersparen reicht nicht. Esst weniger Fleisch. Er zwinkert der Frau zu, wie immer. Mittlerweile haben die Felder noch trostloseren Brachflächen Platz gemacht, die Sträucher neben der Straße sind allesamt tot, die Bäume auf der Böschung ohne Blätter.

Plötzlich bricht die Musik ab und ein dunkler Bass meldet sich zu Wort. Eine Information des Instituts für Notfallbewirtschaftung. Die heutigen Wasserabschaltungen betreffen folgende Zonen.

Veränderungen kommen langsam und sind schon von Weitem zu erkennen. Das dachte Marko immer. Veränderungen passieren nur in der Zukunft. Doch auf einmal war diese Zukunft da.

Der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten wird empfohlen, die Anweisungen zu befolgen, um eine reibungslose Versorgung sicherzustellen. Die bisherige Kooperation ist vorbildlich.

Abwarten, bis der Sommer kommt, denkt Marko. Die größte Hitze steht erst bevor und der letzte Regenschauer ist über ein Jahr her. Damals konnte der ausgetrocknete Boden das Wasser nicht aufnehmen, er erinnert sich noch an die überfluteten Felder, Sturzbäche überspülten dieStraßen. Binnen Stunden war dann die Trockenheit wieder zurück. Mittlerweile sind selbst weiter im Westen die Talsperren nur mehr schlecht gefüllt.

Hinter sich spürt Marko die Wassermassen im Tank von links nach rechts und wieder zurückschwappen, als er auf eine größere Straße Richtung Zentrum wechselt. Mit jeder Bewegung des Lenkrads rutscht sein Körper auf dem abgewetzten Leder des Sitzes hin und her. Wir müssen uns einfach mehr anstrengen, denkt er. Noch mehr Einsatz zeigen. Noch einmal einen Lastwagen fahren? Darüber hätte er nach seinem Unfall nur gelacht. Die Zeiten waren vorbei. Doch es kam eben ganz anders.

Hinter einer Polizeiabsperrung am Straßenrand sind schon die ersten Ausläufer der Stadt zu erkennen. Marko schlägt gegen den Regler des Radios und bringt den Nachrichtensprecher zum Schweigen. Mit einem lauten Klack kommt die Musik zurück.

Berger kaut unruhig auf seinen Lippen herum, seine Finger trommeln auf das Armaturenbrett. Trp-trp-trp. Er will wohl etwas sagen, wie er so mit dem Kopf hin und her wippt, doch er bringt die Worte nicht über die Lippen, also lässt Marko sich von der Musik berieseln. Ein Moment der Ruhe, bevor der Einsatz wirklich losgeht.

»Das ist doch für den Arsch.« Mit einem Mal macht Bergers Arm einen großen Bogen, der die ganze Landschaft umschließt. »Geht doch sowieso alles kaputt. Egal, was wir tun.«

Verstreut stehen leere Karosserien wie eben erst verlassen am Straßenrand. Überhitzt. Kein Benzin. Oder die Klimaanlage ist ausgefallen. Dahinter alte Fabriken. Alle geschlossen. Manche nur für die Hitzeperiode, die meisten für immer. Der Zaun um die Motorenwerke ist besonders löchrig, durch die eingeschlagenen Scheiben sieht man Maschinen, die seit einigen Monaten nicht mehr in Betrieb sind. Sie wirken, als wären sie jahrzehntelang nicht benutzt worden. Nur auf dem Gelände der Zellstofffabrik arbeiten noch Menschen. Ein einstöckiges Ziegelgebäude, durch dessen Metallschiebetür Bewegungen auszumachen sind. »Nicht darüber nachdenken«, sagt Marko. »In die Hände spucken und anpacken. Dann erarbeiten wir uns ein klein wenig Hoffnung.«

»Glaubst du das jetzt wirklich?«, fragt Berger und sticht seinen Finger gegen das Fenster, zeigt nach draußen. »Wenn du dir das Ende dieses Sommers vorstellst? Dass wir es bis dann auch nur ein klein bisschen lebenswerter gemacht haben?«

»Das glaube ich nicht nur, darauf wette ich sogar.«

Berger streckt den Arm aus.

Marko schluckt. Dann löst er seine Hand mit einem leisen Ratsch vom schwarzen Leder und schlägt ein.

Für den ersten Einsatz des Tages müssen sie ans andere Ende der Stadt. Selbst im Zentrum, durch dessen enge Gassen Marko den Tankwagen lenkt, bleibt es trostlos: verlassene Häuser, wohin man auch schaut. Nur hin und wieder gepflegte Anwesen, wie einzelne weiße Zähne in einem verfaulten Mund. Häuser von Menschen, die es sich leisten können, ihre Pflanzen grün zu halten, ihre Anwesen sauber. Nach einer halben Stunde Fahrt haben sie das Zentrum durchquert.

»Dort vorne, siehst du?« Berger deutet auf die freie Fläche vor ihnen, zu der ein kleiner Weg zwischen zwei Fabrikanlagen hindurch führt. Marko muss die Augen zusammenkneifen, um in der Helligkeit der Mittagssonne überhaupt etwas zu erkennen. In einiger Entfernung kann er schließlich eine schwarze Linie in der Landschaft ausmachen und dann, als der Schmerz in seinen Augen nachlässt, einen Zug.

Die Menge bleibt regungslos stehen, auch als Marko den Tankwagen auf die freie Fläche neben den Waggons lenkt. Er hat Aufregung erwartet, Gerangel und Streit, doch die Gesichter der Menschen sindmüdeund matt.

»Dreh das Radio ab«, sagt er, und Berger bringt die Musik sofort zum Schweigen. Der Wagen hüpft auf dem lockeren Erdboden auf und ab, bevor er endgültig zum Stehen kommt. Hoffentlich schaffen wir es mit der alten Karre auch wieder von hier fort.

Die Bahn sollte den Berufsverkehr entlasten, doch sind es nur mehr ein paar Dutzend Fahrgäste, die versorgt werden müssen. Die Waggons stehen genau an jener Stelle, an der die Gleise in einer Kurve hinaus aus der Stadt biegen, sie neigen sich zur Seite, als könnten sie jeden Moment auf das Feld kippen. Im Schatten dahinter haben sich die Passagiere gesammelt. Einige tragen Anzug, zwei Männer haben auch in der größten Hitze ihre Krawatten angelassen, Marko spürt die bleierne Schwere, die sich über die Szenerie gelegt hat, die lähmende Resignation. »Los, worauf wartest du?«, sagt er zu Berger, der sofort aus dem Wagen springt, während er selbst noch den Einsatz an die Zentrale durchgibt:. »Wagen 1721 am Ziel.« 1721 klingt wichtig, es klingt nach einem Plan und einer wahren Flotte, dabei sind heute höchstens zehn Tankwägen im Einsatz, die nicht mehr als sieben Fahrten pro Tag schaffen. »Sollte nicht länger als zwanzig Minuten dauern«, gibt er durch und wartet auf eine Antwort von Kowalski. Als nichts kommt,hängt er das Funkgerätin die Halterung, bindet sich ein Tuch um den Kopf und stößt die Fahrertürauf. Er zuckt sofort zusammen: Das Metall der Waggons reflektiert die Mittagssonne, das Licht ist unnatürlich grell. Schnell fischt er seine Sonnenbrille aus der Brusttasche, setzt sie sich auf die Nase. Er kneift die Augen zusammen und entdeckt den Zugführer in der Menge vor sich, der wütend an seinem Funkgerät herumdreht.

»Sind die Aggregate nicht angesprungen?«, ruft er ihm zu.

»Keine Ahnung«, grummelt der Mann, ein Körper wie ein Bär, bullig und schwer. »Das Umstellen auf die reguläre Versorgung hat wohl wieder mal nicht geklappt.« Er winkt ab und dreht sich zur Seite. »Aber eigentlich habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, was schon wieder passiert ist. Interessiert mich auch einen feuchten Dreck, um ehrlich zu sein.« Er schlägt mit der Faust gegen die Wand des Waggons, die ein dumpfes Donnern von sich gibt. »Schon das dritte Mal diesen Frühling. Verdammte Scheiße auch.«

Marko sieht sich um, Berger steht auf der kleinen Metallplattform an der Rückseite des Tankwagens. Sein Beifahrerlässt sichoffenbar durch die herandrängenden Menschen nicht irritieren. Gut so, denkt Marko. Nur die Ruhe.Berger führt die erste Wasserausgabe des Tages alleine durch, die Fahrgäste bitten gesittet um ihre Rationen, die Hitze hat sie wohl mürbe gemacht.

Mit ein paar Schritten holt Marko den Zugführer ein, der zurück zum Triebwagen trottet. Die Farbe seiner Uniform ist ausgeblichen, der Kragen schmierig und fett. »Das funktioniert bald wieder«, sagt Marko. »Und in der Zwischenzeit sind ja wir da.«

Der Zugführer schnaubt und stellt einen Fuß auf die Plattform vor der Waggontür. Mühsam zieht er sich nach oben. Erst im Führerstand beginnt er loszumaulen: »In der Zwischenzeit. Bald. Gleich. In ein paar Tagen. Ich kann die Scheiße schon nicht mehr hören. Es wird Zeit, dass Dinge einmal jetzt passieren. Jetzt sofort.« Noch bevor Marko etwas erwidern kann, knallt die Tür vor ihm zu.

Marko macht auf dem Absatz kehrt, um zurück zum Tankwagen zu laufen, da sieht er einen alten Mann im Schatten neben dem Triebwagen sitzen, den Kopf zwischen den Beinen, eine Aktentasche neben sich. Der Mann sieht aus, als würde er schlafen. Marko packt ihn an den Schultern und rüttelt, bis jener endlich den Kopf hebt und ihn ansieht.

»Aufstehen. Los, kommen Sie«, sagt Marko zu ihm. Ein rotes Netz von Äderchen zieht sich über die weiße Augenhaut. In den Ohren und Nasenlöchern verklebte Haare. »Sie müssen sich Wasser holen. Sonst kippen Sie noch um.« Der Mann sagt kein Wort. Ein Gesicht wie ein Passfoto: kein Ausdruck, keine Emotion. Marko streckt ihm die Hand entgegen, doch der Mann schüttelt nur langsam den Kopf, wie in Zeitlupe. »Na gut, dann warten Sie eben hier.«

Schnell drängt Marko sich durch die Traube an Menschen und füllt eine herumliegende Flasche mit Wasser. Zurück im Schatten hält er dem Mann das Plastik vors Gesicht. »Riecht nicht gut, ich weiß.« Das Wasser ist keimfrei und gechlort. »Schmeckt auch so, um ehrlich zu sein. Sie müssen es trotzdem trinken.«

Vorsichtig greift der Mann nach der Flasche und riecht am Verschluss, verzieht das Gesicht, nimmt dennoch einen großen Schluck. »Verdammte Hitze«, murmelt er schließlich kaum vernehmbar. »Ich habe immer gedacht, in Ihrem Land wäre es angenehmer.«

Marko stutzt. »Woher kommen Sie?«

»Türkei«, sagt der Mann, ohne Marko anzusehen.

»Ne zamandır buradasınız?« Die Worte fühlen sich fremd an in Markos Mund. Er muss sie tief aus seinem Gedächtnis graben, wird ein anderer Mensch, sobald er sie ausspricht.

»Türkçe konuşuyor musunuz?«, fragt der Mann, und mit einem Mal beleben sich seine Augen.

»Meine Frau kommt aus der Türkei«, sagt Marko. »Aber ich habe die Sprache nie gelernt. Immer nur ein paar Fetzen, mehr nicht.«

»Neden değil?«, fragt der Mann.

»Mein Kopf ist für solche Sachen nicht gemacht.« Marko wedelt mit seiner Hand neben dem Gesicht, wie um zu zeigen, dass sich die Gedanken in seinem Gehirn nicht festsetzen können.

Entschlossen streckt der Mann ihm seinen Arm entgegen: »Berat Arslan.« Ein erstaunlich kräftiger Händedruck.

Marko setzt sich neben Berat in den Schatten, obwohl er Berger bei der Wasserverteilung helfen sollte. Der vertraute Klang der türkischen Sprache und die Melodie der Worte ziehen ihn an, halten ihn hier, bei diesem Mann, bei Berat. Ein Ziehen im Rücken, als er sich gegen die Räder des Zuges lehnt, ein Brennen bis in die Zehenspitzen. »Ich bin einfach zu dumm für andere Sprachen«, sagt er, als der Schmerz verschwunden ist.

»Ich habe Sie verstanden«, sagt Berat.

»Wie haben Sie es nur bis hierher geschafft?«

Berat wiegt den Kopf bedächtig hin und her, als müsste er die Antwort genau überdenken. »Ich habe mich einfach rechtzeitig auf den Weg gemacht«, sagt er schließlich leise. »Vor den Pufferzonen und Sicherheitslinien. Vor den Zäunen und Abkommen und wie die Schikanen jetzt wieder heißen.« Der Schatten, den der Zug wirft, wird schmäler und schmäler. »Ich weiß nicht viel«, fährt Berat fort und fixiert dabei einen unsichtbaren Punkt am Horizont. »Aber ich weiß, wann es Zeit ist, zu gehen. Und trotzdem vermisse ich mein Land. Das klingt verrückt, nicht? Çılgınca değil mi? Hier ist es doch besser.«

Marko denkt an seine Frau. Daran, wie die Sprache aus ihrem Mund klingt. In dieser Mischung aus Deutsch und Türkisch, die er so liebt, weil sie sanft hin und her wabert. Die Sprache bringt ihr Gesicht zurück, ihren schmalen Körper, ihren süßlichen Geruch.

»Was soll ich sagen: Ich vermisse mein Land einfach.« Berat lächelt schief, als er das sagt. »Am liebsten würde ich zurückgehen.«

»Was soll der Unsinn?«, fährt Marko ihn an, Nehirs Bild mit einem Mal verzerrt in seinem Kopf, ihr Gesicht eine wahre Fratze. »Sie sind hier. Wo alle hinwollen, egal, was es kostet. Zurückgehen? Das ist doch der reinste Schwachsinn.«

Berat reißt den Kopf nach oben und streckt den Hals durch: »Ich bin hierhergekommen, damit es endlich wieder gut wird. Verstehen Sie? Anlıyor musunuz?«

»Aber es ist doch besser. Das haben Sie selbst gesagt.«

»Ja, besser.« Berat packt den Türgriff des Waggons und zieht sich mit einem Ruck nach oben. »Aber nicht gut.«

Auch Marko richtet seinen Oberkörper auf, streckt die Füße nach vorne und blickt Berat nach, der einige Schritte in die Sonne wankt. »Kommen Sie zurück. Das hält Ihr Kreislauf doch nicht aus.«

Doch Berat steht bereits auf offenem Feld, hinter ihm nichts als Bahngleise, die Richtung Norden führen. »Es ist alles so aufgeregt und unruhig«, ruft er und streckt die Arme von sich. Im Augenwinkel erkennt Marko, wie die Menschentraube auf Berats Worte aufmerksam wird. »So hysterisch. Wie ich. Sehen Sie mich nur an. Das kommt von der Hitze. Wir bräuchten mal wieder eine Abkühlung und Regen. Vielleicht sogar eine dicke Schneedecke. Lachen Sie nicht. Absolute Leere. Und einen klaren Gedanken.« Dunkle Flecken bilden sich auf seinem Hemd, sein Körper bebt. »Suskunluğa ihtiyacımız var«, ruft er laut auf Türkisch, als hätte er nicht mehr die Kraft, die Worte auf Deutsch zu suchen. »Tekrar düşünebilmek için.« Die Sonne wandert höher und höher, es gibt kaum mehr Schatten rund um den Zug, der schwarze Streifen ist schmal und scharf geworden. Auch der Schatten Berats ist zu einem winzigen Punkt zu seinen Füßen geschrumpft. »Egal, wo, es wird immer schlechter. Bu yaşamak değil ki. Das ist doch kein Leben.«

Mühsam kämpft Marko sich auf die Beine, wuchtet seinen Körper nach oben. Ein leichter Taumel befällt ihn, dann steht er wieder fest. »Kommen Sie«, sagt er und streckt den Arm aus. In der Ferne hört er das Heulen der Martinshörner. Er greift Berats Hände, die Haut an den Fingern rau wie Sandpapier, und zieht ihn zu den Stufen, die ins Innere des Waggons führen.

»Bu dünyaya alışamayacağız«, seufzt Berat. »Wir werden uns an diese Welt nicht gewöhnen. Sie werden schon sehen.«

Markohält seine Arme, währendder alte Mann sich langsam setzt. Er spürt das Gewicht des Körpers in seinen Schultern, in seinem Rücken. »Das werden wir auch noch überleben«, redet er ihm gut zu.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, bekommt er als Antwort. »Yaşlıyım.«

»Sie sind nicht alt«, sagt Marko, als er plötzlich die Stimme Bergers hinter sich hört: »Wir müssen weiter. Nächster Einsatz.«

»Gehen Sie nur«, sagt Berat und winkt ab. »Sie werden gebraucht.«

Neben dem Zug haben bereits die Kollegen des technischen Notdienstes Aufstellung bezogen. »Halten Sie durch«, sagt Marko noch und reicht Berat die Hand. »Das wird alles wieder.«

»Warten Sie noch ein paar Monate«, sagt der alte Mann. »Göreceğiz.«

Die Luft in der Fahrerkabine ist zum Schneiden, als Marko sich nach oben zieht. »Alles gut gelaufen?«, fragt er Berger, nachdem er sich in der Zentrale gemeldet hat, doch von seinem Beifahrer kommt keine Antwort. Die weiteren Einsätze an diesem Tag verlaufen ohne Zwischenfälle. Berger und er verteilen die Wasserrationen streng nach Plan. Das Funkgerät bleibt still: keine Notfälle. Es gibt auch so genug zu tun. Mittlerweile sind die Tankwägen in der ganzen Stadt unterwegs. Für eine regelmäßige Betreuung aller Gebiete fehlt schlicht das Geld, also befüllen die Transporter überall dort notdürftig Tanks, wo die reguläre Versorgung gerade nicht funktioniert. Allerorts werden Nachbarschaftszentren hochgezogen, die Wasser und medizinische Versorgung für die Bevölkerung bieten. Ein solches Nachbarschaftszentrum ist der letzte Punkt ihres Einsatzes. Als Marko den Wagen in die Zufahrt steuert, ist der Sicherheitsdienst schon da. Die Mitarbeiter tragen keine Uniformen, keine Waffen, sind rein äußerlich von den anderen Anwesenden nicht zu unterscheiden, und trotzdem bemerkt man sofort, dass sie mit unbestimmter Autorität für Ruhe bei der Zuteilung sorgen. Es sind Privatpersonen, keine Polizisten, kein Militär. Menschen, die sich durch ihren Einsatz ein wenig Geld dazuverdienen. Die Jobs sind begehrt, trotz der Übergriffe bei den immer wieder ausbrechenden Streitereien, trotz der schlechten Bezahlung. Die Zentren selbst heißen Rückzugshafen und Kältekammer und Nachbarschaftsinsel, aber alle schönen Namen können über die Trostlosigkeit der Orte nicht hinwegtäuschen. Dixiklos stehen vor dem Eingang, es stinkt nach Chlor, Scheiße und Schweiß. Berger befüllt wie schon zuvor die Tanks, während Marko vom Eingangsbereich aus nach drinnen schielt. Im großen Raum stehen Tische und Stühle, an die Wand gelehnt die Matratzen, die in der Nacht auf dem Boden ausgelegt werden. Einfache Schilder weisen den Weg zur Essensausgabe und zum Arzt. Die Räume hier sind gekühlt, und auch wenn der Strom manchmal stundenweise ausfällt, bleibt es hinter den dicken Wänden länger erträglich als in den Neubauten, die in den letzten Jahren für die Versorgung aus dem Boden gestampft wurden. Noch vor dem Eingangstor stellen sich die Neuankommenden in drei Schlangen an.

Essen / Medizin / Wasser.

Und darunter: Food / Medicine / Water.

Eine Handvoll Menschen hat heute ihren Weg hierher gefunden, nicht mehr. An der Wand vor dem Eingang hängt ein Brett: Arbeit gesucht. Unzählige Zettel hängen in mehreren Lagen darunter, Marko reißt einige davon ab.

Suche Arbeit. Mache alles.

Biete Hilfe. Besonders günstig.

Und auf einem zerrissenen rosa Blatt:

Mitfahrer gesucht.

Ausreisegruppe bietet Gesellschaft.

Mach dich nicht alleine auf den Weg.

Marko knüllt das Papier zusammen und wirft es auf den Boden, als er zusammenzuckt, weil etwas Feuchtes auf seine Wange klatscht. Schnell fährt er mit seinen Fingern über die Haut, hält sie vor sein Gesicht. Im Eingangsbereich des Zentrums entdeckt er einen jungen Mann, fast noch ein Kind. Kurze Hosen in grellem Grün, ein T-Shirt in Rot. Woher hat der Junge die riesengroße Wasserpistole, die er in der Hand hält? Langer Lauf in Gelb, dahinter der Wasserbehälter zum Pumpen. Wäre das Gerät nicht so bunt, könnte man es für eine echte Waffe halten. Water-Fun, steht auf dem Griff. Immer wieder pumpt der Junge, spritzt dann wahllos in die Menge der Wartenden.Die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sehen zu, ohne dazwischenzutreten. Schultern werden gezuckt, Augenbrauen nach oben gezogen, Hände fragend in die Luft gereckt. Der Junge umkreist die Wartenden wie ein Schäferhund die Herde, lacht hysterisch, johlt wie ein Betrunkener. Schließlich greift doch noch einer der Sicherheitsmänner ein. Geht ein paar Schritte auf ihn zu, schon läuft der Junge prustend davon, direkt am Tankwagen vorbei. Marko versucht seinen Arm zu erhaschen, doch er zuckt zurück, als er noch eine Ladung Wasser abbekommt. Die Pupillen des Jugendlichen sind riesengroß, in gewisser Weise sieht er sogar glücklich aus. »Bleib stehen«, ruft Marko ihm hinterher, doch da ist der Jungelängst zu weit weg, um ihn noch zu hören. Dem ist wohl die Hitze zu Kopf gestiegen, denkt Marko.

Die Heimfahrt zur Zentrale dauert keine zwanzig Minuten. Als endlich die Sonne hinter den Hügeln verschwindet, kurbelt Marko das Fenster nach unten, und obwohl von draußen nur heiße Luft nach innen strömt, tut ihm der Fahrtwind gut. Er ist entspannt, der Einsatz vorbei, er hat nur eine Hand am Lenkrad, als plötzlich ein Mensch aus dem verdorrten Buschwerk auf die Straße springt. Marko knallt den Fuß auf das Bremspedal. Ein kreischender Ton. Der Wassertank drückt von hinten gegen die Fahrerkabine. Berger schreit auf und krallt sich die Halteschleife über seinem Kopf. Gerade noch rechtzeitig schaffen es die Bremsen, den Wagen zum Stehen zu bringen. Ein Surren durchschneidet die Luft.

»Was zur Hölle …«, stottert Marko.

Vor ihnen steht eine verwirrte Gestalt. Ausgezehrtes Gesicht, tief eingefallene Augen. Im ersten Moment erkennt Marko nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Dann sieht er die herunterhängenden Hautlappen der Brüste unter dem braunen Leinensack, den sie um ihren Oberkörper geschlungen hat, die dünnen, weißen Haare. Das Gesicht der Frau gleicht einem Totenschädel. »Scheiße, spinnt die«, flucht er und knallt die Faust auf die Hupe. Die Augen der Frau flackern hinter der dreckigen Windschutzscheibe, sie bewegt sich keinen Millimeter von der Mitte der Straße fort.

Berger saugt die Luft durch den schmalen Spalt zwischen seinen Zähnen ein und stößt sie wieder aus. Ein leises Zischen, immer schneller.

»Beruhig dich«, sagt Marko. »Wir haben sie nicht erwischt.«

Um ihren Hals hat die Frau ein Tuch geschwungen, an den Füßen trägt sie Sandalen, ihre Unterschenkel hat sie zum Schutz vor der Sonne mit Erde eingerieben, wie die Obdachlosen im Park. Um ihren Oberkörper schlingt sich der Riemen einer Tasche. Marko schafft es nicht, sich aus dem Fahrersitz zu heben. Er drückt immer und immer wieder auf die Hupe, doch ohne Erfolg.

»Ich habe sie schon einmal gesehen«, sagt Berger schließlich.

Marko zeigt auf die Gestalt auf der Straße, die noch immer regungslos verharrt: »Du kennst die Irre?«

»Sie steht manchmal bei den Durstigen im Stadtpark. Ich habe mal ein paar Worte mit ihr geredet.«

»Was machst du bei den Durstigen?«

Langsam lehnt die Frau den Oberkörper nach vorne, doch bevor sie umkippt, reißt sie die Beine nach oben und springt ein paar Schritte auf den Tankwagen zu, fährt mit den Fingern über ihr Gesicht, schiebt die gelbliche Haut über der Stirn zusammen. Ihre Augen sitzen tief in den Höhlen, die Hände sind zerstochen. Mit einem Sprung steht sie vor dem Wagen und donnert mit beiden Händen auf die Motorhaube. Tok, tok, tok. Immer und immer wieder. Wie ein Beben spürt Marko die Schläge als Zittern in der ganzen Fahrerkabine. Ganz schön viel Kraft, denkt er.

Bergerlässt das Funkgerätklicken, dochMarko nimmt es ihm sofort aus der Hand. In der Zentrale sitzt nur Kowalski, und es hat keinen Sinn, ausgerechnet Kowalski um Hilfe zu bitten. Der würde nur auf das Gaspedal drücken und losbrausen: Mission erfüllt.

»Dann eben keine Verstärkung«, blafft Berger. »Aber irgendwie müssen wir sie wohl von der Straße kriegen. Komm, lass mich mit ihr reden.«

»Spinnst du?« Marko hält Berger zurück, noch bevor dieser die Tür öffnen kann. »Mit Worten brauchst du so jemand erst gar nicht zu kommen.« Ein paar Mal steigt er auf das Gaspedal, ohne einen Gang einzulegen. Der Motor heult auf, doch die Frau lässt sich davon nicht beeindrucken.

»Funktioniert ja wunderbar«, ätzt Berger.

Marko spürt Wut wie Magensäure in sich aufsteigen. Sie kriecht tief aus seinem Körper nach oben, durch die Speiseröhre bis in seinen Mund. Doch er schluckt sie einfach hinunter.

»Água«, schreit die Frau schließlich, und noch einige andere Wörter, doch Marko versteht nur dieses eine: Água. Natürlich will sie Wasser, was sonst? Ihre Stimme ist rau und brüchig, aber sie röhrt wie ein verletztes Tier.

Marko blickt sich um. Dürres Gestrüpp säumt die Straße, die sich Richtung Zentrale windet, weiter nichts. Keine Rückzugsmöglichkeiten. Nur freie Flächen, kilometerweit keine Häuser, in einiger Entfernung die ersten Überreste von Fabriken. Nirgends ein Hinweis auf Komplizen, keine Habseligkeiten, die auf eine Gruppe Durstiger hinweisen. Die Frau ist alleine. Dumm, denkt Marko. Sehr dumm.Alleine hast du keine Chance, alleine bist du verloren. Die Überfälle der letzten Monate wurden von Gruppen ausgeführt, mehrere Mann starken Verbänden. Sie hatten nur Erfolg, wenn sie organisiert vorgingen.

»Das ist doch lächerlich«, sagt er. »Kompletter Wahnsinn.«

»Sieht eher nach Verzweiflung aus«, antwortet Berger.

Wie als Beweis dafür zieht die Frau mit einer schnellen Bewegung ein Messer aus der Gürtelschlaufe. Eine kleine Klinge, die im Licht glänzt. Marko zuckt mit seiner Hand nach oben, doch anstatt endlich zu verschwinden, beginnt die Frau mit dem Messer auf die Motorhaube einzustechen. Das stumpfe Messer prallt auf das Metall. Es reicht, denkt Marko. Bis hierher und nicht weiter. Er öffnet das Sicherheitsschloss der Fahrertür, obwohl Berger ihn zurückhält, ihm das Funkgerät in die Hand drückt, doch für Verstärkung ist keine Zeit. Marko sieht auch keine Notwendigkeit dafür. Noch nicht.Während er aus der Kabine nach unten springt, zieht er seinen Taser aus der Seitentasche. Seine Füße wirbeln eine kleine Wolke Staub auf. Er hält den Taser nach oben, sodass er im Abendlicht wie ein Schmuckstück blitzt.

Zwing mich bloß nicht, das Ding zu benutzen.

»Blöde Idee«, ruft er der Frau zu. »Can you hear me? Think twice.« Er hält den Taser zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Frau zieht das Messer ganz nah an ihren Körper, macht keinen Schritt von Marko weg. Reglos steht sie vor ihm. Ein paar Kratzer, mehr Schaden hat das Messer nicht angerichtet. Die Klinge hätte auch den Wassertank niemals durchstoßen.

»This ends here and now, you understand?« sagt er mit Nachdruck.

Doch die Frau stammelt nur »Água.«

»Ich kann dir nichts geben.«

»One bottle. Nur eine Flasche.«

»Keine Chance. No chance. Water is not for you.«

Die Frau zieht eine zerquetschte Flasche hervor und hält sie Marko entgegen: »Obregado. Era só uma garrafa de água, se faz favor!«

Das bisschen Wasser, denkt Marko. Könnte im Tank verdunstet sein. Aber nicht so. Nicht für dich.Es gibt genug Menschen, die es ebenso dringend brauchen. Die es sich verdient haben. Denen ich jeden Tropfen gönne.

Die Frau wiegt den Kopf hin und her, reißt den Hals nach hinten und stößt einen Schrei aus. Im Augenwinkel sieht Marko, wie Berger in der Fahrerkabine zusammenzuckt. Die Arme der Frau fliegen nach oben, sie verzieht den Mund zu einem Grinsen. Ihr ganzer Körper ruft: Na gut, dann eben anders, dann eben so. Blitzschnell reißt sie die Haut ihrer Unterarme mit dem Messer auf. Zuerst links, dann rechts. Die stumpfe Klinge schafft keinen klaren Schnitt, vom Handgelenk aufwärts bis zur Armbeuge hängt die Haut in Fetzen am Fleisch. Sofort schießt Blut aus den Venen. Dickes, kirschrotes Blut. Scheiße. Verdammte Scheiße.Marko lässt den Taser sinken. Noch immer grinst die Frau ihn an, doch nun wirkt sie klar und ruhig. »Hospital«, sagt sie und betont dabei jede Silbe des Wortes. »Hospital, now.« Dann erst legt sie sich auf den Boden, langsam und kontrolliert, streckt die Arme seitlich aus, überkreuzt die Beine.

Markos Blick bleibt an ihrem Blut kleben, das in kurzen, schnellen Stößen auf den Asphalt spritzt. Wie ferngesteuert klettert sein Körper zurück in die Fahrerkabine. Er kann nicht denken, nicht atmen.

»Worauf wartest du?« Berger schüttelt seinen Körper durch. »Ruf die Rettung, jetzt. Sofort.«

Unendlich langsam greift Marko nach dem Funkgerät. Was geht hier eigentlich vor? Er stammelt ein paar Worte, doch Kowalski in der Zentrale versteht nicht. Erst als Berger das Funkgerät an sich reißt, setzen sich die Dinge in Bewegung. Ich muss etwas tun, denkt Marko. Irgendetwas. Ohne Plan springt er zurück auf die Straße.

Der Gestank von Pisse, Scheiße und Blut schlägt ihm entgegen, als er sich zur Frau nach unten beugt. Er versteht die Worte nicht, die sie stammelt. »Vão ver como é. Não passamos de animais.« Luftbläschen zerplatzen auf ihren Lippen. »Sem nenhum futuro. Sem nenhuma esperança.«

Es dauert keine fünf Minuten, bis der Rettungswagen eintrifft, doch Markos Kleidung ist vom Blut bereits völlig durchnässt, als er die Sanitäter an die Frau heranlässt. Die Ärztin kennt Marko schon seit Schulzeiten, er muss dennoch überlegen, bis er ihren Namen auf seinen Lippen formen kann: Kali. Sie arbeitet so nah an der verletzten Frau, dass ihre beiden Körper wie einer aussehen.

»Was passiert mit ihr?«, will er von ihr wissen.

»Wir nähen sie zusammen und dann werfen wir sie wieder raus.« Kali zieht die Latexhandschuhe ab, wirft sie auf die Trage und schiebt diese nach drinnen. »Schau mich bloß nicht so an. Wir haben alle unsere Vorschriften. Oder ist euer Tank um eine Flasche leerer?« Sie sieht Marko tief in die Augen und nickt. »Hätte ich auch nicht gedacht.«

Der Rettungswagen heult auf, die Reifen quietschen auf dem Asphalt, Marko knallt die Fahrertürhinter sich zu. Er presst seinen Rücken gegen den blutverschmierten Sitz.

»Du hättest ihr doch etwas Wasser geben können«, sagt Berger, ohne ihm eine Sekunde Zeit zu lassen. »Der Tank ist sowieso fast leer.«

»Ich habe viel gesehen«, murmelt Marko im Versuch, die wirren Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. »Wirklich viel. Betteln. Dealen. Erpressen. Sogar Überfälle. Aber sich die Pulsadern aufschlitzen? Drehen jetzt alle durch?« Erst langsam kommt er wieder zu Atem. »Wir können hier nicht länger bleiben«, sagt er. Der Tankwagen ist auf den Seitenstreifen gerutscht, völlig schief steht er zur Straße. »Wir müssen los, bevor noch so jemand …« Er hält den Zündschlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger, jedoch ohne ihn zu drehen.

»Warum hast du ihr kein Wasser gegeben?«, insistiert Berger.

»Weil es einen Plan gibt, verdammt.« Marko fischt ein Taschentuch aus der Verpackung. Sogar unter seinenNägeln klebt Blut. Zäh und ekelhaft. »Hängt überall aus.«

»Du und dein fucking Plan. Ist alles, was du kennst.«

»Klar, ichhätte ihr Wasser geben können. Wäre naheliegend gewesen, nicht wahr? Ganz einfach. Problem erledigt. Aber sie bekommt ihre Ration zugeteilt. Wie alle anderen auch. Das ist der faire Weg. Der einzige Weg.«

»Was redest du von fair?«, blafft Berger ihn an. »Es ist doch so scheiß wichtig, was wir tun. Menschen helfen und das ganze Gelaber. Die hat sich aufgeschlitzt. Die war doch ganz offensichtlich verwirrt. Und verzweifelt. Wir hätten ihr helfen können.«

Marko beugt sich zu Berger, bis seine Lippen beinahe dessen Gesicht berühren. »Die war nicht verwirrt«, zischt er. »Bist du so naiv? Die hat uns erpresst. Weil es im Krankenhaus Wasser gibt. Und etwas zu fressen.«

»Und das nimmst du ihr übel?« Bergers Augen zucken. Das tun sie nur, wenn er kurz davor ist, zu explodieren.

»Nein«, sagt Marko. »Aber ich lass mich nicht erpressen. Wenn jeder das so macht, bricht alles zusammen. Das Ganze hier kann nur funktionieren, wenn sich alle an die Regeln halten.« Mit einem Zug knallt er seine Faust auf das Armaturenbrett. Ein dumpfes Donnern hallt durch die Kabine, auf dem Plastik bleibt ein brauner Fleck zurück. »Ich wäre auch gern anders, das kannst du mir glauben.« Er hält seine Hand flach vor Bergers Gesicht: Die Finger zittern. »Glaubst du, dass ich so sein will? Dass es vorhin einfach für mich war? Ich bin kein Arsch. Aber es ist dein erster Einsatz. Reden wir in einem Monat weiter. Was manche Leute probieren. Gerade die Durstigen kennen keine Grenzen.« Endlich startet er den Wagen und fährt los, ein Rumpeln, als die Reifen zurück auf den Asphalt rollen. »Sollen doch im Lager bleiben. Dort liefern wir genug Wasser hin.«

»Weißt du, wie es da drinnen aussieht?«

»Nein, aber du auch nicht.«

Die Lager wurden seit Jahren nicht mehr kontrolliert.

»Man hört so Dinge«, sagt Berger.

»Ja, Gerüchte. Wie stille Post. Heraus kommt nur Unsinn.«

»Ich habe gehört, dass sie manchmal Flaschen aus den Geschäften stehlen oder sogar Wassertanks anzapfen. Mittags, wenn keine Sau unterwegs ist. Und wenn man sie erwischt, laufen sie nicht einmal weg. Sie gehen nur die Straße entlang, wie Zombies, bis man sie verhaftet. Oder zusammenschlägt. Je nachdem, an wen sie geraten. Und denen willst du nicht helfen?«

»Glaubst du wirklich, das hat noch niemand versucht?«, sagt Marko. »Wasser verteilen, am Plan vorbei? Kommen sich vor wie Robin Hood und sind doch nur kleine Banditen. Es gibt immer ein paar Idioten, die sich bestechen lassen. Aber damit darfst du gar nicht erst anfangen. Du weißt ja selbst, wie du manchmal bist. Wie beeinflussbar. Und schau mich bloß nicht so an. Du erinnerst dich genau. Du musst auf mich hören, sonst wird das hier nichts.«

Bergers Augen zucken wieder.

Die Luft über dem Asphalt zittert.

»Du kannst ja wirklich ein richtiges Arschloch sein«, schnaubt Berger.

Zurück,denkt Marko. Einen Schritt zurück. Er wartet eine Sekunde, dann drückt er Daumen und Zeigefinger aneinander, formt ein großes Loch und hält es Berger vors Gesicht: »Ja. Und manchmal sogar ein riesengroßes. Wenn es denn sein muss.«

Berger zieht seine Augenbrauen zusammen, bis sie sich über der Nase beinahe berühren. »Ein kurzer Tag, und schon habe ich keine Ahnung mehr, wer du eigentlich bist.«

»Du übertreibst mal wieder maßlos.« Marko lacht trocken. » Hättest du ihr denn wirklich Wasser gegeben?«

»Wahrscheinlich«, sagt Berger. »Manchmal braucht man doch das Gefühl, dass man jemandem helfen kann, oder nicht?«

Ein Tankwagen brettert an ihnen vorbei, ohne zu bremsen. Die Druckwelle bringt die Fahrerkabine zum Vibrieren.

»Wir helfen, so gut wir können. So gut wir dürfen«, versucht Marko den Lärm zu übertönen. »Ich bin doch trotzdem ein guter Mensch?«

Berger legt den Kopf schief: »Klar. Sind wir doch alle.«

Nach dem Einsatz schleppt Marko sich die Stufen zur Zentrale hinauf. Bergerlässt er zurück, umdas Wageninnere von Blut und Schweiß zu reinigen. Es kommt ihm seltsam vor, seinen Freund wie einen der Zugeteilten zu behandeln, die für die Drecksarbeit zuständig sind. Er weiß, dass das alte Plastik nicht sauber zu bekommen ist. Es sind ausgemusterte Tankwägen, die die Versorgung sicherstellen, Molkereien und Brauereien haben sie der Stadt zur Verfügung gestellt. Auf dem Lack erkennt man noch die Logos der Firmen. Auf Markos Motorhaube prangt eine bunte Kuh, ergänzt durch das Logo der Versorgungseinheit: ein blauer Wassertropfen auf weißem Grund. Der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Das Logo ziert auch den langgezogenen Gebäudeteil, der direkt an die Garage anschließt und in dem sich die Zentrale befindet. Eine geschwungene Auffahrt führt zum Haupteingang, hinter dem sich das enge Treppenhaus öffnet. Marko freut sich auf die kühle Luft, auch wenn sie ihn krank macht, seinen Atem rasseln lässt. Es ist der einzige gekühlte Ort, zu dem jemand wie er Zutritt hat, also beschwert er sich nicht. Die Zentrale ist ein Provisorium, das überdauert hat. Von hier aus erfolgt die Wasserversorgung, auch wenn die meisten Tanks direkt bei den Rückhaltebecken stehen. Die langen Gänge sehen auf allen Stockwerken gleich aus: weiße Wände, weiße Türen. Nimmt man eine falsche Abzweigung, geht man für immer verloren. Wie sich die Schüler hier einst zurechtgefunden haben, ist Marko ein Rätsel. Auch nach all den Jahren sucht er die Gänge noch nach dem bronzenen Schild ab, das ihm bestätigt, dass er richtig ist: Leitstelle, Prov. 1. Stock (ehem. Lehrerzimmer).

Er stößt die Tür mit seiner Schulter auf.

»Um Himmels willen, Draxler! Du siehst ja aus wie die Figur in diesem alten Horrorfilm.«

Hinter der Wand aus Bildschirmen sieht Marko nur die zwei Augen und die feucht schimmernde Glatze Kowalskis. Er pfeffert die Mappe mit den Aufträgen auf den Stapel.

»Dieser Schinken. Du weißt schon.« Kowalski lässt das Mikro des Headsets in seiner Faust verschwinden. »Das Mädchen. Der Schulball. Das Schweineblut. Verdammt, ich habe es gleich.«

Marko kratzt das verkrustete Blut von seinem Hemdkragen. »Wenn du eine Duschmarke …«, doch Kowalski unterbricht ihn sofort: »Carrie. Scheiße. So heißt der Film. Uralt.«

Die Kühle des Raumes nutzt Markos Körper, um endlich Hitze abzugeben. Er fühlt sich an wie ein Heizstab, den man in kaltes Wasser taucht. »Lass nur«, sagt er. »Ich nehme mir schon selbst.«

Kowalski kippt im Sessel nach vorne. »Wie hat er sich denn gemacht, dein kleiner Freund?« Weil seine Nase dauernd verstopft ist, atmet Kowalski nur durch den Mund, er sieht aus wie ein Goldfisch. »Alles in Butter?«

»Klar. Habe ich dir doch versprochen«, sagt Marko. »Und halte ich nicht immer mein Wort?« Er sieht die Anzeigewand hinter den Monitoren blinken, doch Kowalski ignoriert die Anfragen wie ein Profi: »Ich habe gehört, dass er einfach im Wagen sitzen geblieben ist«, sagt er. »Dir nicht geholfen hat.«

»Ist das eine Frage?«

»Nur eine Bemerkung.« Kowalski klopft mit seinem Bleistift auf der Tischplatte herum, irgendein seltsamer Rhythmus. Wahrscheinlich ein Lied, das er gerade im Kopf hat. Das Geräusch macht Marko wahnsinnig.

»Lass Berger meine Sorge sein.«

Kowalski verzieht den Mund, als hätte er auf Aluminium gebissen. »Wenn ich das nur könnte, Draxler. Wenn ich das nur könnte. Apropos. Die Wachen haben einen Vorfall beim Tor durchgegeben.« Er legt den Kopf schief wie ein Hund, der Beute riecht. »Ihr seid zu spät abgefahren. Aber keine Angst, ich habe nichts an den Boss weitergeleitet«, flüstert er und deutet mit einem Nicken zur großen Holztür auf der linken Seite des Ganges. »Die Leute reden halt gern. Du musst achtgeben.«

»Ein Problem mit dem Wagen, weiter nichts«, sagt Marko.

Kowalski wippt mit seinem Stuhl vor und zurück und kaut auf einem Stift herum. Ein Speichelfaden hängt an seiner Unterlippe und pendelt hin und her, wird immer länger, ohne abzureißen. »Ein Problem mit dem Wagen also. Mhm.« Er schmatzt, als hätte er Klebstoff zwischen den Zähnen.

»Die alten Karren werden ja nicht mehr gewartet«, sagt Marko. »Du selbst hast dagegen gestimmt. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Also kein Problem mit Gabi?«

»Nein, kein Problem. Und nenn ihn nicht so, er heißt Gabriel.« Marko packt die Einsatzmappe des nächsten Tages vom Stapel. Er kritzelt seinen Namen an die Tafel neben der Tür und verschwindet.

»Du weißt, dass du jederzeit jemand anderen haben kannst?«, ruft Kowalski ihm nach. »Jemand, der mit einer Waffe umgehen kann?«

»Brauch ich nicht«, antwortet Marko im Gehen. »Will ich auch nicht.«

»Deine Verantwortung. Ganz alleine deine Verantwortung.«

Als Marko endlich den Zündschlüssel seines Wagens dreht, bekommt er bloß ein Röcheln als Antwort. Dabei ist ermüde und will nur nach Hause. Vielleicht ist Nehir ja … Nein, er sollte sich nichts vormachen. Zurück in der Dienstgarage gelingt es ihm, mit einem herumliegenden Schlauch etwas Benzin aus einem der Tankwägen abzuzapfen. Das ist zwar verboten, macht aber jeder so, sogar Kowalski. Marko ist oft genug zu Fuß nach Hause gegangen, heute schafft er den Weg nicht mehr. In der Garage ein Ticken, als hingen hunderte Uhren an der Wand. Das Geräusch kommt von dem Metall der Tankwägen, das langsam abkühlt.

»Solltest du nicht längst weg sein?«

Marko erschrickt, als er Bergers Stimme hinter sich hört. Er reißt den Oberkörper herum. »Was? Scheiße, klar. Ich bin eigentlich schon… Was machst du noch hier? Hast du den Wagen noch nicht sauber gekriegt?« Benzin liegt als dünner Film auf seinen Lippen, er hat kein Wasser zur Hand, um nachzuspülen.

»Scheiß dich nicht an«, sagt Berger und deutet auf den Kanister zu Markos Füßen. »Ich verrate dich schon nicht. Wir halten zusammen, du kannst mir vertrauen.«

»Ja, klar«, sagt Marko. »Vertrauen, immer. Danke.« Er krallt sich seine Jacke, die er vor einigen Tagen an den Haken neben der Tür gehängt hat. Berger sieht ihn verwundert an. »Ich ziehe sie nicht an«, sagt Marko und wirft sich das schwere Leder über die Schulter. »Habe sie nur gerne dabei. Fühlt sich normal an. Vertraut, verstehst du?«

Berger pfeffert den dreckigen Fetzen in einen Kübel und kommt ein paar Schritte auf ihn zu: »Wollen wir heute Abend zum Fluss? Du solltest mal wieder rausgehen, bisschen runterkommen. Tut dir nicht gut, so alleine herumzuhocken. Vor allem jetzt. Du weißt schon.«

Komm mir bloß nicht damit, denkt Marko. Nicht nach dem heutigen Tag. Er hebt die Hand, um das Gespräch zu beenden.

»Ein paar Freunde sehen, auf andere Gedanken kommen.«

Berger hat keine Freunde, ist in den zehn Jahren, die er jetzt schon hier wohnt, ein Außenseiter geblieben, doch das sagt Marko ihm nicht. »Mal sehen«, ruft er stattdessen über die Schulter und tritt auf den Vorplatz. Verdammter Benzingeschmack, könnte kotzen.Zumindest springt der Wagen wieder an, nachdem er den Inhalt des Kanisters in den Tank geleert hat.

Marko hat Hunger, doch die Fenster der Raststation sind dunkel. Wegen Wassermangel vorübergehend geschlossen, liest er im Vorbeifahren. Es war das letzte Lokal, das er ohne Umweg erreichen konnte. Die ganze Stadt ist mittlerweile mit diesen Schildern tapeziert. Manche von ihnen hängen schon seit Jahren in den Fenstern, andere sind erst in den letzten Wochen dazugekommen. Auch der Laden zwei Seitenstraßen weiter hat die Rollläden längst nach unten gezogen. Noch besser planen, denkt Marko, noch mehr Arbeit.

Er könnte im Stehen einschlafen, als er endlich zu Hause ankommt. Im Schuppen neben dem Grundstück hat er noch einen Kanister Benzin gehortet, der muss ihn die nächsten Tage über die Runden bringen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis die Flüssigkeit gluckernd im Tank verschwunden ist. Ein paar Stufen und er schließt das Gartentor auf. Es ist ein kleines Haus, Marko kann gleichwohl froh sein, dass er es noch erhalten kann. Das Holz an den Wänden ist abgesplittert und morsch, die Fliesen auf den Treppen wackeln. Er setzt jeden seiner Schritte genau, um nicht eine weitere vom Absatz zu lösen. Er bräuchte ein paar Wochen Urlaub, um das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Zeit und Geld. Und doch fühlt er nichts als Liebe für das Haus, von dem er jede Ecke kennt wie seinen eigenen Körper, auch wenn Nehir mit dem Ergebnis nie zufrieden war.

Ein Quietschen zerreißt die Luft, als er die schwere Eingangstür aufdrückt. Im Vorbeigehen schnappt er den Müllbeutel, der seit Tagen im Vorzimmer steht. Das schwarze Plastik bewegt sich, als er es hochhebt, verändert seine Form. Er packt den Beutel zwischen Daumen und Zeigefinger, aus dem Inneren hört er ein Rascheln und Schaben. Ohne hinzusehen, knallt er den Müll auf die Terrasse. Wenn das Plastik reißt, hat er die Maden zumindest nicht im Haus. Er hängt die Jacke an die Garderobe, streift sich die Schuhe von den Füßen.

In den Küchenschränken findet er nur getrocknete Früchte und hartes Brot. Der Kühlschrank bleibt dunkel, als er die Tür öffnet. Schnell greift er nach dem ersten Ding, das er zwischen die Finger bekommt und knallt die Kühlschranktürwieder zu, damit die kühle Luft nicht entweicht. Ein Blick auf die Verpackung: Linsen mit Speck. Marko isst hastig und ohne Freude, die verschmierte Plastikschüssel wischt er mit Zeitungspapier sauber, um nicht noch mehr Ungeziefer zu züchten. Die Gabel wirft er in die Spüle. Ein Klacken, Metall auf Metall. Aus dem Abfluss Gestank wie schlechter Atem, noch beißender als die Tage zuvor. Markofährt mit der Zungeüber seine Zähne. Es ist wieder mal an der Zeit.

Er muss sich an der Wand abstützen, während er ins Badezimmer wankt. Dort versucht er, nicht in den Spiegel zu sehen, als er den Wasserhahn aufdreht. Aus den Leitungen kommt nur ein erbärmliches Röcheln. Hätte gestern die Wanne volllaufen lassen sollen. Das ist doch peinlich. Ausgerechnet ich. In der Tür des Kühlschranks findet er noch eine Flasche Mineralwasser. Viel zu teuer. Marko nimmt sie dennoch, geht damit zurück ins Badezimmer und steckt sich die Zahnbürste in den Mund. Die Borsten reißen sein trockenes Zahnfleisch auf, die Zahnpasta brennt in den Wunden. Er schmeckt das Blut, metallen und warm. Die Flüssigkeit prickelt unangenehm, als er damit ausspült und in ein Glas spuckt: Wasser, Zahnpasta und Blut. Er steht vor dem Klo und pinkelt. Ein Gefühl, als müsste er Kieselsteine durch seinen Schwanz drücken. An den Schmerz wird er sich nie gewöhnen, er kann nur die Zähne zusammenbeißen. If it’s yellow let it mellow. If it’s brown flush it down.Das alte Metallschild an der Wand unter dem Fenster, erleuchtet vom Licht des Mondes, das mittlerweile durch die Milchglasscheibe scheint. Noch ein paar Tropfen Urin fallen in die Schüssel, dunkel wie Bernstein. Dann greift Marko das Zahnputzglas und leert die Flüssigkeit in die Muschel, seine Pisse und die Zahnpasta ergeben eine beißende Mischung. Er beobachtet, wie sie am Porzellan entlang nach unten läuft, fischt ein Handtuch vom Stapel und reibt seinen Körper trocken. Seine Haut brennt. Vorsichtig löst er kleine Fetzen von der Nase, von den Schultern. Aus dem Wäschekorb neben der Toilette zieht er ein paar T-Shirts hervor, riecht daran und zieht sich schließlich jenes über den Kopf, das am wenigsten muffelt: Hollywood. Ein aufgebügelter Sonnenaufgang, mittlerweile ausgeblichen.

Die Linsen saugen alles Blut in Markos Magen, doch bevor er sich ins Bett legen kann, muss er noch die Übungen für seinen Rücken machen. Er kommt sich lächerlich vor, wie er da am Boden liegt, die Beine angewinkelt, und langsam von links nach rechts schaukelt, wie er das Becken hebt, sich einrollt, einen Katzenbuckel macht und den Rücken durchstreckt, Arme und Beine langgezogen. Er fühlt sich krank, alt und schwach. Aber er vollführt die Übungen mit einer stoischen Haltung. Wenn er sich heute nicht dazu zwingt, kommt er morgen nicht auf die Beine. Mühsam richtet er seinen Körper wieder auf, schlurft endlich ins Schlafzimmer. An den Fußsohlen spürt er das zersplitterte Holz des Bodens. Er nimmt den Wasserkrug vom Nachtkästchen und gießt etwas abgestandene Flüssigkeit in den Topf der Pflanze, die neben dem Kopfpolster steht. Ein im Grunde hässliches stacheliges Ding mit braunen Spitzen. Das bisschen Wasser wäre in seiner Kehle besser aufgehoben als im trockenen Boden, aber er hat das Ding irgendwie durch die letzten Hitzewellen gebracht, er kann jetzt nicht einfach aufhören, sich darum zu kümmern. Innerhalb von Sekunden ist er eingeschlafen.

Im Halbschlaf nimmt Marko die Figur am Fußende des Bettes wahr. Sie zieht an seinen Beinen, streicht mit den Fingern langsam über seine Fußsohlen. Er reißt die Augen auf und ruft fragend ihren Namen, doch sie spricht kein Wort, sieht ihn nur an wie ein Metzger ein Stück Fleisch. Abwägend und kalt. Ihre dunkle Haut hat einige rote Flecken und Insektenstiche. Das Muttermal kommt ihm vertraut vor, ebenso die Narbe über der Oberlippe. Marko will etwas sagen, doch seine Zunge klebt am Gaumen fest, er bekommt die Worte nicht über die Lippen. Sei mir nicht böse, denkt er. Wir konnten beide nicht anders.

Von einer Sekunde auf die andere beginnt die Frau mit ihren Fäusten gegen das Fußende des Bettes zu schlagen. Wie die Durstige auf die Motorhaube des Tankwagens. Wahnsinnig, immer schneller und schneller. Tok-tok-tok. Das Gesicht der Durstigen verschmilzt mit dem Gesicht der Frau vor ihm. Augen, Nasen und Münder wachsen ineinander,während das ganze Bett bebt. Blut spritzt aus den Fäusten der Frau.

»Hör auf«, wimmert Marko endlich. »Ich kann doch nichts dafür. Du hast nie mit mir gesprochen. Kein einziges Mal. Bırak!«

Endlich wacht er auf. Schweißüberströmt liegt er in völliger Dunkelheit, nicht einmal die Wände des Schlafzimmers kann er erkennen, er befindet sich im absoluten Nichts. Ich bin blind, denkt er, bis endlich das kleine rote Licht seines Weckers aufleuchtet und ihm etwas Orientierung spendet. Die Dinge, die tagsüber klar und deutlich vor ihm liegen, verlieren im fahlen Licht der Nacht ihre Konturen. Leise und verschämt ruft Marko den Namen seiner Frau: »Nehir!« Keine Antwort. Natürlich nicht, was habe ich mir gedacht. Die Flügel des Ventilators flattern wie eine zwischen die Fahrradspeichen gesteckte Spielkarte.Marko greift nach dem Telefon neben dem Bett, zieht das Ladekabel heraus und wischt über das Display. Er wählt die Nummer, nach wenigen Sekundenhört er die gewohnte Nachricht.Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist derzeit leider nicht erreichbar. Ein Plop, und das Telefon gleitet zurück auf den Boden. Marko spürt ein Ziehen im Rücken, es beginnt in seinem Nacken und läuft nach unten, bis in seine Zehenspitzen, als er die Beine aus dem Bett dreht. Einige Sekunden bleibt er still sitzen, dann drückt er die Fäuste in die Matratze und richtet sich auf.

Im Wohnzimmer klappt er den Laptop auf. Er will die Zeit nutzen, solange Strom durch die Leitungen fließt. Zwei Klicks, und der Suchverlauf baut sich vor ihm auf. Marko kann ihn mittlerweile auswendig, und doch beruhigt es ihn, die Worte vor sich zu sehen. Sie zu lesen ist zu einem Ritual geworden, einem Ritual, das er gewissenhaft ausführt, ohne seinen eigentlichen Zweck zu kennen. Zumindest verlangsamt es seinen Puls, gibt ihm Ruhe. Er spricht jeden Suchbegriff laut aus: Brunnen. Verteilungsplan. Kochrezepte. Güzergâh. Manche Begriffe stammen von ihm, die meisten von Nehir. Videos Süden. Gemüse haltbar machen. Verkauf. Tauschbörse. Der Suchverlauf konserviert die Zeit mit Nehir. Und dann, ganz am Ende: Sinir. Ülkeden. Çikiş. Aile birleşimi. Mit einer schnellen Bewegung klappt er den Laptop zu, genau diese Geschichte von ihr will er heute nicht hören.

Die Luft auf der Terrasse ist immer noch warm und stickig, der Himmel schwarz und sternenklar. Rund um das Haus herrscht absolute Stille, Marko