Portrait - Jürgen Bauer - E-Book

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Jürgen Bauer

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Beschreibung

Ein großer Unbekannter steht im Mittelpunkt von Jürgen Bauers neuem Roman. Drei Menschen erzählen Georgs Biografie, drei Stimmen geben ein ganzes Leben wieder, doch wie viel kann man von einem anderen Menschen eigentlich wirklich wissen und welche Aspekte bleiben dem Blick von außen verborgen? Seine Mutter Mariedl erinnert sich an die Geburt ihres Sohnes in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, an das Aufwachsen auf einem ärmlichen Bauernhof und an einen Jungen, der so gar nicht in die harte Umgebung passen wollte. Sein Geliebter Gabriel erinnert sich an einen Mann, der ihn im turbulenten Wien der siebziger Jahre von der Straße auflas, an erbitterte Auseinandersetzungen zwischen politischen Kämpfen und einem Rückzug ins Private. Seine Ehefrau Sara schließlich, eine gescheiterte Opernsängerin, erinnert sich an einen Mann, den sie nach ihren Vorstellungen formen und dessen Karriere sie gestalten konnte, bis Georg eines Tages selbst aktiv wurde. Doch wer ist dieser Georg wirklich? Können eine Mutter, ein Liebhaber und eine Ehefrau das Portrait eines Menschen schaffen, oder erzählen wir letztendlich doch immer nur von uns selbst, wenn wir von anderen erzählen?

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Seitenzahl: 535

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

MARIEDL

GABRIEL

SARA

Leseproben

Jürgen Bauer - Das Fenster zur Welt

Jürgen Bauer - Was wir fürchten

Jürgen Bauer - Ein guter Mensch

Gefördert von der Stadt Wien Kultur.

© 2020, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-80-4

Lektorat: Stefanie Jaksch

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagbild: Portrait, Öl auf Leinwand © 2020, Jürgen Bauer

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-93-9

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Jürgen Bauer

geboren 1981, lebt in Wien. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky. Seine journalistischen Arbeiten zu Theater, Tanz und Oper erscheinen regelmäßig in internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Jürgen Bauer nahm mit seinen Theaterstücken zwei Mal am Programm »Neues Schreiben des Wiener Burgtheaters« teil. Debütroman: Das Fenster zur Welt(Septime, 2013) 2014 wurde ihm das Aufenthaltsstipendium für junge deutschsprachige Autorinnen und Autoren des Literarischen Colloquiums Berlin zugesprochen.2015 erschien sein zweiter RomanWas wir fürchten. 2016 wurde er zum »Festival Neue Literatur« in New York sowie zum »Festival Zeitgeist« in Washington, D.C. eingeladen. 

Klappentext:

Ein großer Unbekannter steht im Mittelpunkt von Ju¨rgen Bauers neuem Roman. Drei Menschen erzählen Georgs Biografie, drei Stimmen geben ein ganzes Leben wieder, doch wie viel kann man von einem anderen Menschen eigentlich wirklich wissen und welche Aspekte bleiben dem Blick von außen verborgen? Seine Mutter Mariedl erinnert sich an die Geburt ihres Sohnes in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, an das Aufwachsen auf einem ärmlichen Bauernhof und an einen Jungen, der so gar nicht in die harte Umgebung passen wollte. Sein Geliebter Gabriel erinnert sich an einen Mann, der ihn im turbulenten Wien der siebziger Jahre von der Straße auflas, an erbitterte Auseinandersetzungen zwischen politischen Kämpfen und einem Rückzug ins Private. Seine Ehefrau Sara schließlich, eine gescheiterte Opernsängerin, erinnert sich an einen Mann, den sie nach ihren Vorstellungen formen und dessen Karriere sie gestalten konnte, bis Georg eines Tages selbst aktiv wurde. Doch wer ist dieser Georg wirklich? Können eine Mutter, ein Liebhaber und eine Ehefrau das Portrait eines Menschen schaffen, oder erzählen wir letztendlich doch immer nur von uns selbst, wenn wir von anderen erzählen?

Jürgen Bauer

PORTRAIT

Roman | Septime Verlag

»Denn kein Mensch kann für längere Zeit sich selbst das eine und der Menge ein anderes Gesicht zeigen, ohne am Ende in Verwirrung zu geraten, welches das echte ist.«

Nathaniel Hawthorne

MARIEDL

Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Schau mich an, wie alt ich geworden bin, und da soll ich nochmal Erinnerungen hervorholen? Damit es dem feinen Herrn besser geht? Du hast nix mehr mit mir zum tun haben wollen, und jetzt soll ich mich bemühen und mir was zusammendenken, von früher. Ich werd dir schon sagen, wer du bist. An meinen Sohn, an den kann ich mich schon noch erinnern, auch wenn ich auf die Neunzig zugeh, seinen Sohn vergisst man nicht. Und wenn ich was erzähl, dann nur aus einem Grund. Jetzt bist du nämlich dort, wo ich dich einmal haben hab wollen. Wo ich immer schon gewesen bin. Im Vergessen. Wer denkt denn jetzt noch an dich? Doch nicht deine studierten Freunde. Jetzt denk nur mehr ich an dich. Die, die du zurückgelassen hast. Freilich, es reden auch andere, zerreißen sich das Maul, aber das hat nichts zu sagen, hörst du? Die kennen dich nicht, nicht wirklich. Erzählen soll ich, hat sie gesagt, deine Frau, und natürlich erzähl ich dir was, ich hab dich ja immer noch lieb, bin immer noch deine Mutter.

Neun Monate hab ich dich in meinem Körper getragen, schwanger bin ich in den Stall. Schwanger aufs Feld. Ohne deinen Vater. Im Mutterleib hast mich schon getreten, als tätest du radeln, immer und immer wieder, hast gestrampelt wie ein Wilder. Hast mir Schmerzen gemacht, nicht zum Aushalten. Dein Bruder hat die Hand auf meinen Bauch gelegt und gesagt: Mama, dein Bauch explodiert. Und ein Gschau hat er gehabt dabei, da hab ichmüssen lachen. Nein, hab ich ihm gesagt, mein Bauch explodiert nicht, aber das da drinnen, das wird ein Wildfang, wirst schon sehen, mit dem kleinen Ding werden wir noch was Ordentliches zum tun haben. Immer wieder hat dein Bruder dann die Hand auf den Bauch gelegt, weil es da drinnen so umeinander rumort hat, das hat ihm halt gefallen. Da hat es draußen schon gekracht und alles ist zusammengebrochen. Die Flieger sind über uns drüber und ich hab mir nur gedacht: Lass mich das überleben, die Bomben da draußen und die Geburt von dem Buben. Ich habnämlich von Anfang an gewusst, dass du ein Bub wirst, weil so viele Scherereien machen nur die Männer. Lass es wirklich einen Buben sein, hab ich mir gedacht, immer wenn es besonders wehtan hat. Bitte, noch einen Buben, der mithelfen kann, wenn der Vater nicht zurückkommt. Zu dritt, ja, zu dritt, da schaffen wir das irgendwie. Nur kein Mäderl, um das man sich kümmern muss. Weil dass ein Mäderl so eine wird wie ich, eine die anpackt, das kannst ja nur hoffen, aber nicht erwarten. Und dann ist es so weit gewesen. Warst ja nicht mein erstes Kind, ich hab mir gedacht: Das wird schon gehen. Aber was red ich? Von Anfang an hast mir nur Schmerzen bereitet, ich hätt mir freilich denken können, dass das keine leichte Geburt wird.

Die Wehen haben im Stall angefangen, bei den Kühen. Ich bin auf dem Schemel gesessen, wie es zum stechen angefangen hat. Da hab ich gewusst, was passiert. Nur bist halt zu früh gekommen. Nicht viel, aber trotzdem zu früh. Na ja, ich bin ja verhungert gewesen, am Ende vom langen Krieg, kein Fett mehr am Körper hab ich gehabt, keinen Bauch mehr und keine Brüste, gar nix, wahrscheinlich bist deswegen so früh raus. Wirst dir gedacht haben: Da drinnen krieg ich nix Gscheites zu essen, probiere ich es einmal heraußen. Und recht hast gehabt. Nur dass es heraußen auch nicht viel mehr gegeben hat, aber woher hättest du kleiner Wurm das wissen sollen? Überrascht bin ich halt trotzdem gewesen, wie die Wehen losgegangen sind, die Schmerzen sind von jetzt auf sofort gekommen, nicht wie bei den anderen Kindern. Ich hätt wissen können, dass es bald losgehen wird, schon Tage vorher hab ich dich nicht mehr gespürt in mir. Wahrscheinlich ist das die Ruhe vor dem Sturm gewesen, hast dich noch einmal gut ausgeruht, bevor es auf die Welt geht. Hab ich eine Angst gehabt, ganz ohne deine Treterei? Ah geh wo denn. Ich bin ganz ruhig gewesen, hab gewusst, so ganz tief in mir drinnen, dass du nicht tot bist, dass du dich nur vorbereitest, auf was auch immer da auf dich zukommen sollt. Ich bin also auf dem Schemel gesessen und hab die Kuh fertiggemolken, trotz der Schmerzen, die Kuh kann ich ja nicht büßen lassen, weil du es so eilig hast, den Schmerz hab ich schon ausgehalten, zäh bin ich immer gewesen, kannst ja nicht überleben anders. Dann bin ich aufgestanden, hab noch die Milch weggebracht, den Schemel genommen und bin raus aus dem Stall, in den Hof, Richtung Stube.

In die Winterküche bin ich gestapft, so schnell es irgendwie gegangen ist. In die Winterküche, weil die Sommerküche noch zu kalt gewesen ist im März. Dort hab ich nach deinem Bruder gerufen, der ist irgendwo auf den Feldern gewesen, wie am Spieß hab ich brüllen müssen, bis er mich endlich gehört hat, auf dem Acker hinterm Hof. Ich hab ihn dann weggeschickt, zur Tante, dass die kommt und mir hilft. Eine halbe Stunde hat die Tante weggewohnt, so lange werd ich dich schon drinnen halten können, hab ich mir gedacht. Und so bin ich dagelegen und hab gewartet, auf der Eckbank, das frisch überzogene Bett hab ich nicht wollen dreckig machen. Raufgeschaut hab ich, auf den Herrgott im Winkerl. Auch so ein Bankert, das ohne Vater auf die Erde gekommen ist. Ich hab noch wollen zusammenräumen, falls die Hebamme kommen muss, aber das hab ich nicht mehr geschafft, also hab ich die Holzbalken an der Decke angestarrt und gehofft, dass die Tante bald kommt, auch wenn ich sie nicht hab leiden können und sie mich genauso wenig, aber die Tante ist die einzige Frau gewesen, die mir auf die Schnelle eingefallen ist. Gekommen ist dann aber der Onkel, weil die Tante in der Stadt gewesen ist, ausgerechnet. Ich hab schon nach der Hebamme geschickt, hat er gesagt, haltest noch durch, Mariedl, so halt doch noch durch. Immer und immer wieder, mehr Angst hat er gehabt als wie ich. Gell, haltest eh noch durch, Mariedl? Wie ein Pascha ist er dagesessen, aber ein Pascha, der auf einmal nimmer weiß, was er machen soll. Und da hab ich nur gesagt: Was scheißt dir denn in die Hose? Den Rindern hast früher die Kälber hinten rauszogen, wenn wir dich braucht haben, und vor mir hast Angst? Jetzt reiß dich zsamm, sonst setzt es was, so viele Wehen kann ich gar nicht haben. Der Onkel hat geschaut und gelacht, der Onkel mit seinem hatscherten Fuß und der Hand mit den abgerissenen Fingern. Die hat es ihm im 14er Krieg zertrümmert. Und wie ich so dalieg und dein Onkel so dasitzt und ich auf seine Hand schau, auf die rote Wulst, wo früher einmal seine schönen Finger gewesen sind, da hör ich plötzlich ein Geräusch von draußen, vor der Tür. Ich hab ja nicht rausgesehen von der Kuchlbank aus, aber das Tor ist versperrt gewesen, da hat keiner reinkönnen, also wer soll das sein, der da so schnauft? Der Onkel hat rausgeschaut, durch das kleine Glasfenster in der Tür, vor dem die selbst gestickten Vorhänge gehangen sind, er hat rausgeschaut und ist kasweiß geworden. Jessas, hat er geflüstert, der Bulli. So ein Blödsinn, sag ich, was soll denn der Bulli vor der Kuchltür? Aber wirklich, wie ich mich aufrappel und mich mit den Armen nach oben stemm, da steht er leibhaftig da. Scheinbar ist er die paar Holzplanken vor der Tür hinaufgetrippelt wie eine Ballerina und ist einfach dagestanden: Nasenlöcher, Augen, Nebel vom Atem, mehr hast nicht sehen können durch das Fenster. Unser einziger Stier, ein Riesenviech. Friedlich hat er ausgeschaut, aber lass dich von dem Ausschauen ja nicht täuschen, in einer Sekunde hätt dich der umgebracht, da kennt so ein Viech nix. Und wie das Glas von seinem Schnaufen beschlagen hat, da ist es mir eingefallen. Ich muss das Gatter offen gelassen haben, aber beim Bulli, da war eigentlich immer versperrt, muss er also durch sein Gatter durchgebrochen sein und dann raus durch das offene bei denKühen. Ich bring ihn zurück in den Stall, hat dein Onkel gesagt. Der Pascha, auf einmal wieder mutig. Macht dem so ein riesiger Stier weniger Angst als wie meine Wehen. Na so sind die Männer. Also raus aus der Kuchltür und nach hinten. Wie er weg ist, da lug ich nach draußen. Lass dich wegen dem blöden Vieh nicht umbringen, hab ich nur gedacht, ich brauch dich noch. Aber der Onkel nimmt den Stier bei denHörnern, ganz langsam, fast wie man ein Kind nimmt, wenns noch ganz klein ist, das hat er können, obwohl er selber noch fast ein Kind gewesen ist, wie er das letzte Mal in einem Stall gearbeitet hat, und dann führt er den Bulli weg. Und der rennt ihm nach wie ein Katzerl, das man selber mit der Milch aufgezogen hat. Und wie ich das seh, da werd ich ganz ruhig, ich schau auf den riesigen Bulli, wie der mit langsamen Schritten neben deinem Onkel herlauft, und es ist mir, als gäb es nix Schöneres auf der ganzen Welt. Ein bisserl später fangen die vermaledeiten Wehen wieder an. Ich hab gebrüllt wie am Spieß, da ist dein Onkel schon wieder in die Kuchl gekommen und hat die Tür zum Schlafzimmer aufgestoßen, aber dort hab ich nicht wollen rein. Ich hab erst müssen den Stier einsperren, hat er gesagt, es tut mir leid, Mariedl, und das Gatter reparieren, zumindest mit zwei Brettern, dass der Bulli nimmer rauskann. Na ist schon gut, hab ich gesagt, aber jetzt gehts halt los, ich kann nix mehr machen. Und wie ich mich zurückleg, ein Schreien nimmer in der Gurgel halten kann, da steht auf einmal dein Bruder in der Kuchl, und ein Gesicht hat er gehabt wie ein Geist, wie ein kleines Kind hat er ausgeschaut, nicht wie der elfjährige Bub, der er ja schon gewesen ist. Noch bevor ich was sagen kann, hat ihn dein Onkel gepackt und in die Speis gesperrt, Tür zu, Schlüssel umgedreht, der Bruder hat geschrien da drinnen, er muss sich ja gedacht haben, der Onkel sticht mich ab wie die Sau. Gebrüllt hat er hinter der Speistür: Lass die Mama in Ruh, tu der Mama nicht weh! Das Herz hat’s mir zerrissen, aber es ist gut gewesen, dass der Onkel ihn eingesperrt hat, so wie ich ausgeschaut hab. Und immer wieder: Tu der Mama nicht weh, ich bitt dich, tu der Mama nicht weh. Er hat sich halt schon immer gesorgt um mich, dein Bruder, nicht wie du. Und ich hab mich wollen zusammenreißen, wie ich ihn da schreien hab hören hinter der Tür, damit er sich nicht solche Sorgen macht um mich, aber ich hab’s nicht geschafft, beim besten Willen nicht. Ich hab gebrüllt aus Angst, nicht wegen der Schmerzen, die Schmerzen hab ich können aushalten, Schmerzen machen mir nix. Ich hab gebrüllt vor lauter Angst: Was passiert, wenn was schief geht? Mit deinem Bruder, mit dem Hof? Und ewig hat es gedauert, bis endlich die Hebamme gekommen ist, da ist es draußen schon dunkel gewesen.

Ich denk nicht gern an die Geburt zurück, das kannst mir glauben. Du hast mir alles zerrissen da drunten. Sie haben mich zusammengenäht wie einen Braten, sogar zum Arzt hab ich deswegen müssen. Gleich wie du auf die Welt gekommen bist, bist in Scheiße und Blut gelegen wie alle anderen auch. Es hat gestunken, dreckig ist es gewesen, und da kannst später noch so auf Saubermann im Anzug machen, so bist halt auf die Welt gekommen. Und dann hab ich dich auf der Brust gehabt, voller Blut und Schleim und grauslich hast ausgeschaut, aber so ist das bei den kleinen Kindern, und geatmet hast. Deine Augen hast schon offen gehabt, genau wie deinen Mund. Und gebrüllt, nicht auszuhalten. Kalt ist es gewesen, ich hab dich in eine Windel von deinem Bruder gewickelt und mir nur gedacht: Lass den Buben überleben, weil zwei zusätzliche Hände können wir sicher gebrauchen in den Jahren, die jetzt kommen werden. Und gestreichelt hab ich dich, da kannst mir noch so sehr vorwerfen, dass ich dich nicht liebgehabt hab. Und in deine Augen hab ich geschaut, ganz dunkel sind sie gewesen und irgendwie unheimlich. Und dann hab ich es laut gesagt, zu deinem Onkel: Hoffentlich überlebt er, der Bub. Vor dem Krieg hab ich ja zwei Kinder verloren gehabt, am Friedhofshügel sind sie gelegen, der eine nur ein Jahr alt geworden, der andere notgetauft. Das kann man sich heute ja gar nimmer vorstellen, heute stirbt man nimmer so schnell, heute leben alle so unendlich lang. Vier Kinder hab ich auf die Welt gebracht, aber nur du und dein Bruder haben überlebt. Dabei hab ich immer eine große Familie wollen. Immerhin zwei Kinder, zwei Burschen, Gott sei Dank. Nach dir hab ich keine Kinder mehr kriegen können, es wär eh keiner da gewesen, der mir welche gemacht hätt. Aber jetzt hab ich dich erst einmal gehalten, ich hab dich angeschaut und mir gedacht: Was soll nur aus dir werden, in der schlechten Zeit? Ich hab dich dann nach deinem Onkel genannt, weil ohne deinen Onkel, dahätt ich das alles nichtüberlebt, das kannst mir glauben.

Der Onkel ist der Bruder gewesen von deinem Vater. Ein großer, ein bärenstarker Mann, bis es ihn im Krieg erwischt hat, aber selbst dann hätt sich keiner mit ihm angelegt, da hat die Hand noch so hin sein können. Er ist ein herzensguter Mensch gewesen, tief drinnen, auch wenn sie nachher gesagt haben, in seiner Fabrik wär es nicht mit rechten Dingen zugegangen, er hätt die Leute schlecht behandelt. Dauernd ist wer da gewesen und hat in den Fabriken herumgestierlt, aber gefunden haben sie nichts, und die Arbeiter haben immer gesagt, dass das ein Blödsinn ist, den die Leute erzählen, dass es ihnen gut geht, dass sie ihm dankbar sind, und warum hätten die sollen lügen? Wie er dann schon lang tot gewesen ist, da sind noch andere Gerüchte aufgekommen, dass was mit dem Geld nicht stimmt, dass er da was Illegales gedreht hat, lauter so Sachen halt, die immer aufkommen, wenn den Großkopferten fad ist und sie zu wenig Arbeit haben. Mir wär sowas nicht eingefallen, einen guten Menschen so zu verleumden, ich hab mir was Besseres zu tun gewusst mit meiner Zeit. Aber sie werden sich halt immer das Maul zerreißen, das ist schon zu Anbeginn der Zeiten so gewesen, es wird auch immer so bleiben. Über dich haben sie später ja auch geredet. Genug Wahres, aber auch genug Blödsinn. Wer deinen Onkel gekannt hat, der kann dir sagen, dass das nur ein feiges Nachtreten auf einen Toten gewesen ist. Er hat sich gerade in der ersten Zeit gut um mich gekümmert, später dann mehr als nur gut um dich, oder nicht? Ohne ihn hätten wir das nicht durchgestanden, hätt ich den Hof nicht derhalten, hätt ich dich in keine Schule schicken können. Er hat dich mir weggenommen, wenn man so will, aber ich bin ihm nicht bös. Nicht mehr. Wie er gestorben ist, da hat er gesagt: Mariedl, der Bub hat wegmüssen von da, der ist anders als wie wir, sei mir nicht bös. Und da hab ich ihm vergeben, über zwanzig Jahre bin ich bös auf ihn gewesen, ganz tief drinnen, und das muss reichen, ich bin ja kein nachtragender Mensch. Außer deinem Onkel hab ich niemand gehabt, wie du auf die Welt gekommen bist. Meine Eltern sind schon lange tot gewesen, tief drunten in der Erde.

Ich komm aus einem Dorf, musst wissen, das hat noch ein paar Jahre vor meiner Geburt nur eine HandvollHöfegezählt, und einer von denen der unsrige, die Nummer zwei, so alt sind die Gemäuer gewesen. Heute steht er schon lang nicht mehr, eine Schand ist das, aber was willst machen. Nichts als arbeiten hab ich müssen, schon als kleines Kind, die Viecher versorgen, damit hab ich mich ausgekannt, auf die Geschwister hab ich müssen aufpassen, auch auf die älteren, für die Schule ist ja keine wirkliche Zeit gewesen. Aber mich hat’s nicht gestört, ich hab das gern gemacht. Da bin ich hergeboren, da gehör ich hin, so hab ich mir das immer gedacht. Man muss halt wissen, wo sein Platz ist. Hättest ruhig besser aufpassen sollen, wie ich dir das derzählt hab, dann wär’s dir besser ergangen. Oder hast es nur vergessen? Meine Eltern hätten den Hof verkaufen können, da bin ich noch ein kleines Mäderl gewesen, und gern hätten sie es getan, sind ja nicht froh gewesen über die viele Arbeit. Aber verkaufen und dann in einem kleinen Zimmer sitzen und sich gegenseitig auf die Nerven gehen, das haben sie auch nicht wollen. Mich haben sie weggeschickt, in die Stadt, da bin ich keine zehn Jahre alt gewesen, obwohl sie mich hätten brauchen können am Hof, aber sie haben mich weggeschickt, dass einmal was Besseres wird aus mir. Was Besseres als was? Ich hab das nicht verstanden. Ich bin doch schon gut genug, oder nicht? Aber gearbeitet hab ich trotzdem, bei den reichen Herren zur Aushilfe, in den Fabriken, wo ich halt was gefunden hab, wo ich gebraucht worden bin. Sie haben mich in der Stadt sogar zur Arbeit genommen, wenn sie eigentlich einen Burschen gesucht haben, so fleißig bin ich gewesen. Aber Spaß hat es mir keinen gemacht, ich hab wollen zurück auf den Hof, aber das haben die Eltern nicht erlaubt, nicht ums Verrecken, trotz meiner tüchtigen Hände. Du weißt ja nicht, was du redest, haben sie mir gesagt, wenn ich auf Besuch gekommen bin. Bleib in der Stadt, wo die Arbeit einfach ist. Das haben sie halt geglaubt, dass die Arbeit in der Stadt einfach ist, das hast ihnen nicht können erklären, dass du in den Fabriken genauso schuften musst, dass mir die Händegeblutet haben, der Rücken wehtan hat von der Arbeit, nur halt eingesperrt statt draußen in der Natur. Immer wieder bin ich zurück auf den Hof, wenn ich können hab. Meine Eltern haben das nicht verstanden, warum ich heim hab wollen, auf einen Bauernhof, weil ich ja schon ins neue Jahrhundert reingeboren bin, aber die neue Zeit hat mich nicht interessiert, keinen Deut. Immer haben sie wollen, dass ich zurück in die Stadt geh. Du kannst nicht hier versauern, haben sie gesagt. Los, geh in die Stadt, mach dir ein Leben, such dir einen Mann, wir schaffen das schon, sind ja noch genug Kinder da am Hof. Elf Geschwister hab ich gehabt, von denen sieben lebendig geblieben sind, vier Brüder, drei Schwestern. Hans, Wolfgang, Heinz, Manfred, Karin, Brigitte und Christa. An die Namen von den Gestorbenen kann ich mich nimmer erinnern. Aber was ist gewesen mit den Überlebenden? Keiner ist ihnen geblieben, den Eltern. In die Stadt sind sie alle gegangen, der älteste Bruder Hans sogar nach Australien, in die Hitze. Ich hab mir oft vorgestellt, wie er durch die Wüste marschiert, die komischen Viecher von da unten neben ihm. Gehört hab ich genauso wenig von ihm wie später von dir. Ist mir also nur mein Schädel geblieben, um mir was vorzustellen vom Leben in Australien.

Den Hof von meinen Eltern hat mein zweitältester Bruder geerbt, wie die Eltern gestorben sind, gleich hintereinander, der eine hat es ohne die andere nicht ausgehalten. Der Sargbauer hat uns den zweiten Sarg sogar billiger gegeben, so knapp hintereinander haben wir sie begraben müssen. Aber der Bruder hat ihn verkauft, den Hof, kein Jahr sind sie da unter der Erde gewesen. Obwohl ich ihn übernommen hätt, aber nix, es ist kein reden gewesen mit ihm. Vom Geld hab ich keinen Groschen zu sehen gekriegt, ich hab mich aber auch nicht drum gekümmert, wozu? Ums Geld ist es mir ja nie gegangen. Die neuen Besitzer haben ihn weggebaggert, den Hof, und ein Haus draufgestellt, später sogar mit Pool zum Schwimmen, wo früher der Kuchlgarten gewesen ist. Schön ist es geworden, das neue Haus, kannst nix sagen, aber eben nicht mehr unser Hof. Ich bin nur einmal hin und dann nimmer, ich hab mir das nicht wollen anschauen, hat nur wehtan. Aber das kannst du sicher nicht verstehen. Einer, der einfach weggeht und dem das nicht wehtut, wie soll der kapieren, was einem ein paar alte Mauern bedeuten können?

Ich bin eh auf einem Hof gewesen, wie die Eltern gestorben sind, aber nicht auf dem unsrigen, sondern auf dem, den die Eltern von deinem Vater besessen haben. Überhaupt dein Vater, wie soll ich dir das erzählen? Ohne ihn wär ich vielleicht wirklich in der Stadt geblieben, ein Alptraum, dafür bin ich ihm noch immer dankbar, trotz allem, was später passiert ist. An einem Wochenende bin ich daheim gewesen am Land, endlich raus aus der Stadt, die Fahrt mit der Bahn und dem Bus abgespart von dem bisserl Geld, das ich in der Fabrik verdient hab. Deinen Vater hab ich da schon gekannt, noch aus der Schule. Der älteste Sohn vom Stallerhof ist er gewesen, aber wir haben nie viel miteinander geredet, zum Schöne-Augen-Machen hab ich keine Zeit gehabt, auch wenn er ein fescher Bursch gewesen ist, das ist mir schon aufgefallen, freilich. Nach der Kirche am Sonntag ist er also zu mir gekommen und hat mich einfach gefragt, ob ich ihn haben will. Ob ich dich gern hab? Na ob du mich haben willst, als Mann? Da bin ich baff gewesen! Ein einziges Mal sind wir gemeinsam spazieren gegangen, bevor er mich das gefragt hat, aber selbst das ist schon mindestens zwei Jahre her gewesen, also hab ich nur gesagt: Wartest noch eine Woche. Und die Woche hab ich gut überlegt, und dann bin ich wieder nach der Kirche auf ihn zu und hab gesagt: Ja, gern will ich dich haben. Und schön zweideutig ist das gewesen, das hat mir gefallen und ihm auch, weil er hat gelacht und mich gepackt und so ist das passiert mit uns. Die Aussicht auf einen Hof hat er gehabt, anständig ist er gewesen, na und so schlecht ausgeschaut hat er auch nicht. Ein großes Mundwerk halt, das hat jeder gewusst im Dorf, er hat sich nix gefallen lassen von den Obrigen, das hat mich beeindruckt. Und dann haben meine Eltern gesagt, Marie, haben sie gesagt, du musst selber wissen, was du tust, aber komm dann nicht dahergerannt und heul uns was vor, wenn es schwierig wird, wenn dein Mann wieder wo mit dem Schädel gegen die Wand will, wennst die Schufterei nimmer derpackst, weil der Stallerhof ist größer als unserer, da kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel Arbeit auf dich wartet, und die Stallerleut, von denen reden wir nicht, aber nimm dich in Acht. Und das hab ich mir gemerkt und geheult hab ich nie, darauf bin ich stolz, obwohl ich viel hätt heulen können in den Jahren danach.

Hochzeit gefeiert haben wir in der Dorfkirche, an einem Donnerstag, das ist damals noch so Brauch gewesen. Ich im Kleid von meiner Mutter, ein neues hab ich mir nicht können leisten, hat mir die Mutter also ihres umgeschneidert, weil ich viel kleiner gewesen bin als sie, die Brust hat die Körberl gar nicht ausfüllen können. Schön ist es gewesen in der Kirche, aber lang. Der Pfarrer hat nicht aufhören können zum predigen. Gefreut hab ich mich, wie es endlich geheißen hat: Mann und Frau. Verheiratet also, so wie wir’s verstanden haben. Und gut haben wir’s verstanden, die ersten Jahre. Hochzeitsmahl hat es im Wirtshaus im Dorf gegeben, meine Eltern haben ein ganzes Schwein spendiert, damit es ordentlich was zum essen gibt, sogar eine Musik haben wir gehabt, keine Selbstverständlichkeit damals. Die Kranzljungfrau hat mit dem Kranzlbub alle ledigen Paare geehrt, mir haben sie den weißen Schleier abgetanzt, bevor dann gemaskert worden ist. Reingestürmt sind sie, wie wir noch gegessen haben, verkleidet, die Freunde von deinem Vater, und gepackt haben sie mich, Braut entführen. Erst zu Mitternacht ist worden entmaskiert, es ist ein solcher Spaß gewesen. Und trotzdem sind meine Eltern nur dagesessen und haben sich nicht gefreut, das hast du sofort gesehen, welche Gesichter die gezogen haben. Die ganze Hochzeit hätten sie mir verdorben, wenn ich mir nicht einfach gedacht hätt: Marie, lass sie schauen, es ist dein Leben und deines allein, das kann niemand für dich erledigen.

Aber meine Eltern sind nicht die Einzigen gewesen, die ein Schnoferl gezogen haben. Die seinigen haben auch nicht wollen, dass er mich heiratet, eine Dahergelaufene. Die haben einen Hof gehabt, nicht so alt wie der unsrige, aber fünfmal größer, drum haben sie sich für was Besseres gehalten. Aber ich Dahergelaufene hab gearbeitet wie keine andere am Hof. Ich hab ihnen gezeigt, dass ich was gelernt hab, zuhaus bei meinen Eltern, später bei den Herren und in den Fabriken. Trotzdem, die Schwiegereltern haben sich einen feuchten Dreck um uns geschert. Der Bruder von deinem Vater ist der Einzige gewesen, der uns angeschaut hat nach der Hochzeit. Da hat er die erste Fabrik gerade aufgemacht gehabt. Er hat wollen, dass sein Bruder und ich dort arbeiten, aber das ist gar nicht in Frage gekommen, für wen anderen arbeiten, wenn man das eigene Land haben kann, die eigenen Viecher. Na ja, gehört hat er uns damals noch nicht, der Hof, aber wir haben halt gedacht: irgendwann. Derweil hab ich weiterarbeiten dürfen, als wär ich immer noch eine Magd. Gehört hat der Hof immer noch den Eltern von deinem Vater. Den wird er einmal erben, hat es immer geheißen, wenn die Eltern einmal nicht mehr können. Aber das hat lang gedauert, das Nichtmehrkönnen. Nicht und nicht haben sie wollen übergeben. Aber dann endlich ist er der unsere gewesen, sind die Großeltern ins Ausgedinge, und ich hab mich einen Tag gefreut drüber und dann den Rest von meinem Leben Angst gehabt, weil so ein Hof, der ist nicht leicht zum derhalten. Den Zubau für die Viecher hab ich noch vor dem Krieg mit deinem Vater selber gebaut, alles ausgehoben, den Beton selber zusammengemischt, Zement, Sand, Wasser, immer und immer wieder, noch vor dem großen Krieg ist das gewesen. Die Ziegel hab ich geschleppt, damit wir ein bisserl was dazuverdienen können mit noch mehr Viechern. Mein Rücken ist hin geworden, der Doktor hat mich Jahrzehnte später in die Röhre schieben wollen und nachschauen, aber wozu, ich hab ja gewusst, was passiert ist, der Zubau ist passiert, der Hof und die ganze Plackerei. Aber ein schöner Hof ist es gewesen, das kannst mir glauben. Wir haben immer viel Arbeit gehabt, hier was ausgebessert, dort was dazugebaut. Ein schöner Hof. Das ist mir wichtig, weil er dir nie gut genug gewesen ist. Weil du immer weg hast wollen, das Gesicht hast verzogen, wenn du zurückgekommen bist und geglaubt hast, ich merk es nicht. Das hab ich dir bis heute nicht verziehen. In der Kuchl von meinem schönen Hof, auf dem ich gearbeitet hab wie ein Viech, in der Kuchl bist auf die Welt gekommen, hättest in der Kuchl ruhig alt werden können. Wär dir ein Zacken aus der Krone gefallen? Für den Gabriel ist es ja auch gut genug gewesen, wie du ihn mitgebracht hast, oder nicht? Der hat sich gefreut über die Gemäuer und das Land, warum hast du dich nie drüber freuen können wie er?

In den ersten Tagen nach deiner Geburt hat mich der Onkel zu sich geholt, als ich nicht hab stehen können, mir alles wehtan hat. Er hat Leute besorgt, die sich um den Hof gekümmert haben, um die Viecher. Geld hat er ja gehabt, dank seiner Fabrik und seinen Arbeitern, die er hat einteilen können, wie er wollen hat. Ich hab mir alles berichten lassen, sogar vom Bett aus hab ich die Zügel in der Hand behalten, nicht dass du glaubst. Die Arbeit haben die trotzdem nicht so gemacht, wies mir recht gewesen wäre, aber ich hab nicht können jammern. Die Tante hat mich so schnell wie möglich weghaben wollen aus ihrem Haus, und den Gefallen hab ich ihr getan.

Kalt ist es gewesen am Hof, immer noch, obwohl es draußen schon wärmer geworden ist, ich hab gar nicht so viel Holz hacken können, dass sich die Mauern aufgewärmt hätten, aber ja, Holz gehackt hab ich, was wär mir auch anderes übriggeblieben, der Onkel hat sich nicht die ganze Zeit kümmern können. Und gezittert hast du. Manchmal hab ich dich ganz dick eingewickelt und Steine im Ofen heiß gemacht, Ziegel in das Backrohr gegeben und die heißen Steine und Ziegel dann zu dir ins Bett, in Decken verpackt, damit dir in der Nacht nicht kalt wird, du dich aber auch nicht verbrennst. Ich hab dich tagsüber sogar ins warme Backrohr gelegt, wie einen Laib Brot, da bist dann gelegen und ich hab mir gedacht: wenn das nur was wird. Windeln hab ich keine gescheiten mehr gehabt, schon dein Bruder ist in Windeln aus altem Bettzeug groß geworden, du auch. Zum Trinken hab ich dich zwingen müssen. Geplärrt hast die ganze Zeit, aber gesoffen hast nix. Meine Brust hab ich dir hingehalten, die hat schon wehtan vor lauter Milch, ganz entzunden ist sie gewesen, aber du hast nix wollen, Stunden hat das gedauert, bis ich dich satt gekriegt hab. Hast dich halt schon damals wie ein feiner Pinkel aufgeführt, dem meine Milch nicht gut genug gewesen ist. Dagesessen bin ich und die Brust hingestreckt hab ich dir, da hab ich Zeit gehabt zum Nachdenken, und dann hab ich eine Angst gekriegt. Angst, dass ich es nicht derpack. Ich hab ja selber nix gehabt zum fressen. Die meisten Lebensmittel hab ich müssen abliefern, mehr als die anderen, wegen der Geschichte mit deinem Vater, sie haben mich immer noch gestraft, und dann hat es dauerndlästige Kontrollen gegeben, Schwarzschlachten hab ich mich alsonicht getraut. Melden hab ich alles müssen, sonst wär ich vors Gericht gekommen. Und dann? Zukaufen hab ich auch nix können, das Geld ist ja nix mehr wert gewesen. Also hab ich mich irgendwie durchgeschlagen, mit dem bisserl Gemüse, das schon gewachsen ist, dem Kraut, das ich noch eingelagert hab, den paar Sachen, die der Onkel mir hat können besorgen. Wie das Holz dann aus gewesen ist, da hab ich eines geholt von einem zerbombten Stadel, eine Stunde bin ich hinmarschiert, eine Stunde wieder zurück, während du im lauwarmen Ofen gelegen bist, der Bruder davor, als Aufpasser. Die Nachbarn haben zwei Polen gehabt, zur Hilfe, aber ich nicht, wie denn auch, mir hätten sie die als letztes zugeteilt. Dabei hätt ich sie sicher besser behandelt, die Polen. Aber jede schlechte Zeit geht vorbei, auch wenn man es nicht glaubt. Und so ist auch der Krieg vorbei gegangen.

Ein paar Wochen bist erst alt gewesen. Die Tiefflieger sind über uns drübergesaust. Und ich in den Keller vom Hof, zu den Erdäpfeln, aus schweren Ziegeln sind die Mauern gewesen. Da bist du sicher, egal, was passiert, das hat dein Vater immer gesagt. Aber dann hab ich es doch mit der Angst gekriegt, mit zwei kleinen Kindern im Keller, ganz allein. Hier findet dich keiner, hab ich mir gedacht, hier gräbt dich keiner aus, wenn die Ziegel doch über dir zusammenstürzen, also bin ich irgendwann halt in den Luftschutzkeller von der Kirche, weil die Bomber schon tief über uns waren, wenn sie irgendwo anders was bombardiert haben. Hinterm Altar bist runter, zwischen die Betonpfeiler im Keller, überall Krempel, Gebete und Singen. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Na, mit uns hätt er sein sollen, der Herr, nicht mit der Maria, was hat die Maria denn für Hilfe nötig gehabt? Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Und ich hab gedacht: Hoffentlich geht’s auch meiner Frucht gut, die da zusammengekauert und in eine Decke eingewickelt zwischen meinen Beinen liegt, dein Bruder gleich neben dir. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Und wie wir alle »Todes« sagen wie aus einem Mund, da hörst ein Schluchzen im Raum, aber was nützt alles Heulen, wenn die Stunde des Todes kommt, können wir eh nix machen. Dann lass es zumindest schnell gehen, ich will das nicht noch mitkriegen, wie es zu Ende geht. Zusammengepfercht haben sie uns, immer mehr, und so bin ich mit euch beiden in der Ecke gesessen und die bösen Blicke sind zu uns hergeschossen, das hat schon wehtan, das kannst mir glauben. Am liebsten hätten sie uns rausgeschickt, zu den Fliegern, zu den Bomben, zu den Russen, die schon nähergekommen sind. Ich hab mir mein Platzerl gesucht, mit einer Decke, hab mich im Finsteren um dich gewickelt, dein Bruder ist vor mir gesessen, als würd er mich beschützen, und ich hab gewartet, hab jeden bösen Blick ausgehalten ohne Murren, ich hab ja nix dafürkönnen, für euren Vater.

Gib das Kind weg, haben die Eltern von deinem Vater gesagt, nach dem Krieg. Mit dem Kind schaffst das nicht, dein Erster ist schon groß genug, der kann mithelfen, aber mit einem Kleinkind derpackst du das nicht. Der Vater kommt nimmer zurück, der Hundling, und besser ist es. So haben die über den eigenen Sohn geredet, aber alt sind sie gewesen, steinalt, ich hab nicht zurückgeredet, hab nicht wollen, dass sie mich vom Hof schmeißen, wie sie es oft angedroht haben. Aber wie werd ich denn das Kind weggeben? Meine Kinder sind ja das Einzige, was mir geblieben ist von ihm. So hab ich gedacht, heimlich und ganz bei mir, und gehofft, dass ich bleiben darf.

Getauft haben wir dich erst, da ist der Krieg schon vorbei gewesen. Den ersten Namen hast vom Onkel gekriegt und den zweiten vom Heiligen Georg. Da hat es nämlich so ein Bild gegeben in der Kirche, das hat mir schon als Kind gut gefallen. Ein ganz ein dunkles Holz als Rahmen und die Farbe schon so finster, dass du fast nix erkannt hast. Nur wenn sie die Kerzen drunter angezündet haben, dann hast können sehen, was da alles gemalt gewesen ist. Der Heilige Georg mit seinem Fuß auf dem Drachen, einem grauslichen grünen Viech voller Schuppen, sein Speer an der Gurgel. So hab ich mir vorgestellt, dass du einmal wirst. Ein starker Bursch, der jeden verscheucht, der mir blöd kommt, mir und dem Hof. Also sind wir in die Kirche für die Taufe. Eingewickelt warst in einen alten Fetzen, weil das schöne Taufgwand von deinem Bruder hab ich nicht wollen nehmen, du hast ja dauernd gespuckt, wie du so klein gewesen bist, und ich hab die Sorge gehabt, dass ich das aus dem Stoff nimmer rausbekomm. In der Kirche hast dann geschrien und ich hab mich geschämt vor dem Pfarrer, geschämt nicht wegen der Schreierei, sondern weil dein Vater nicht dabei gewesen ist und weil sie im Dorf blöd geredet haben. Weil sich das mit der Zeit nicht ganz ausgegangen ist. Aber ich hab es besser gewusst, nur hab ich das nicht können erzählen, ich hab mich nicht getraut, was zu verraten, noch nicht. Noch sind ja die alten Feinde überall gesessen, also hab ich nichts gesagt, aber das hat es noch schwieriger gemacht. Ohne deinen Onkel hätt dich der Pfarrer nicht einmal getauft. Aber dein Onkel hat Geld gehabt, und mit Geld geht alles in der Welt. Erst wie dir der Pfarrer das Wasser über den Kopf geschüttet hat, da bist ganz ruhig geworden. Still hast mich angeschaut, mich und den Onkel, der dich im Arm gehalten hat. Und vom Chor runter hat die Tante gesungen: Du hast zu deinem Kind und Erben, mein lieber Vater, mich erklärt. Leiden hat sie mich nicht können, die Tante, aber ganz ohne Musik hat sie dich nicht auf die Welt kommen lassen wollen. Laut hat sie gesungen und schön: Du hast die Frucht von deinem Sterben, mein treuer Heiland, mir gewährt; du willst in aller Not und Pein, o guter Geist, mein Tröster sein. Und da hab ich mir gedacht: Na ich hoff, dass er das wirklich ist, ein Tröster. Weil vom Vater kannst leicht singen, das ist in denBüchern leichter als wie im echten Leben, sogar in der Bibel.

Der Onkel ist dein Taufpate gewesen, der hat die Feier danach auch bezahlt, die ich gar nicht haben hab wollen, aber bei deinem Onkel, da hat es keine Widerrede gegeben, wenn der sich mal was in den Schädel gesetzt hat. Ein großes Essen hat er ausgerichtet im Wirtshaus, Schnitzel und Schweinsbraten, obwohl im ganzen Dorf noch der Hunger geherrscht hat, für mich hätt das alles nicht sein müssen. Es ist ja auch keiner dabei gewesen, nur wir drei, der Onkel und die Tante. Meine Eltern sind da schon lange tot gewesen und die Eltern von deinem Vater sind nicht gekommen, obwohl ich sie eingeladen hab. Persönlich habe ich geredet mit ihnen, obwohl es mich Überwindung gekostet hat, aber im Wirtshaus haben sie sich nicht blicken lassen. Und ich hab gehofft: Jetzt kommt dein Papa zurück, werdets schon sehen, ihr werdets alle noch sehen, jeden Moment. Und wenn er zurück ist, dann wird alles anders, dann wird er es euch schon zeigen, dann wird er euch bestrafen, dass ihr mich geschnitten habts. Also hab ich gewartet. Gewartet und gearbeitet.

Und Arbeit hat es wirklich genug gegeben, auf dem Hof. Ich hab ja nicht die Geräte gehabt, die es heute gibt. Und selber hab ich arbeiten müssen, ganz allein, grade in der ersten Zeit, mir haben sie keine Zwangsarbeiter zugeteilt. Und Tagelöhner hab ich mir nicht leisten können, wo denkst hin, nur hin und wieder hat mir dein Onkel ein paar bezahlt, wenn ich es allein gar nicht mehr geschafft hab. Um vier in der Früh sofort in den Stall, die Petroleumlampen angezündet. Zuerst hab ich den Kühen das Futter gegeben, Hafer, ein wengerl was von den Rüben, was ich halt gehabt hab. Dürfts halt nicht wählerisch sein, hab ich ihnen gesagt, wenn ich gefüttert hab, ich bin’s ja auch nicht. Noch während sie gefressen haben, war das Melken dran, ich hab keine Zeit gehabt zum warten. Und nach dem Melken noch das Saufen. Mit jedem Kübel Wasser bin ich zu den Rindviechern, literweise, das kannst dir nicht vorstellen. Gott sei Dank hab ich eine Wasserpumpe im Stall gehabt, aber was sag ich, deinem Vater sei Dank, nicht Gott. Auf der einen Seite ist das Jungvieh gestanden, auf der anderen die Milchkühe. Und ganz hinten der Bulli. Fliegen sind herumgeschwirrt im Kuhstall, obwohl es noch gar nicht Sommer gewesen ist, da ist es dann überhaupt unerträglich geworden, gesurrt hat es überall. Wenigstens hat es so früh im Jahr noch keine Bremsen gegeben. Das war ja für die Rinder auch furchtbar, nicht nur für mich. Im Sommer hab ich die Kühe mit einer Birkenrute gebürstet, gegen die Fliegen und Bremsen, davonscheuchen hab ich sie aber immer nur ganz kurz können, ganz wild bin ich geworden, aber das hat dazugehört. Noch ist es nicht so weit gewesen, kein Hochsommer in Sicht, also weiter mit der Stallarbeit. Ausmisten, Stroh holen, einstreuen. Dann die Milch in den Keller, zum Kühlen. Und dann Holz hacken, für den Ofen. Und nach der ganzen Arbeit im Stall erst Kaffeeessen, nie vorher. Zuerst die Viecher, dann ich. Einen Gerstenkaffee, ein bisserl ein Brot, nur nicht zu viel in der Früh. Vielleicht eine Brennsuppe oder Milch und Brot, oft auch gleich als Mittagessen. Nach dem Kaffeeessen dann raus auf den Acker und nach der Arbeit am Acker wieder in den Stall. Die ganze Zeit hin und her, nach dem Heuen wieder zu den Kühen, aus dem Stall gleich wieder raus. Und du? Na, dich hab ich mit aufs Feld genommen, der Bruder hat schon am Hof gearbeitet, kleine Sachen. Boden wischen, Gemüse im Kuchlgarten zusammenschneiden. Dich hab ich im Leiterwagerl hinter mir hergezogen. Später dann, im Sommer, da haben dich die Bremsen sekkiert, aber im Frühling, da hab ich dich noch in den Schatten gestellt und im Wagerl schlafen lassen. Hab ja arbeiten müssen, bis die Sonne untergangen ist. Müd bin ich gewesen, freilich, wenn ich mich zu Mittag endlich in die Stube gesetzt hab mit ein bisserl was Gekochtem, einem Stück Brot, einer Strohsuppe mit Erdäpfeln, die hab ich gern gegessen. Ich hab mir oft gewünscht, dass ich einmal früh ins Bett gehen kann, ausschlafen, wenn mir alles wehtan hat, der Rücken, die Hände, die Füße. Aber an das ist nicht einmal zum denken gewesen. Das Erdäpfelanbauen hab ich schon erledigt gehabtfürdas Jahr, wochenlang hab ich noch im Krieg den Samen gerichtet, die Erdäpfel zerschnitten, die schlechten fürdie Sau vom Nachbarn aufgehoben, dann Furchen gezogen, mit jedem Schritt einen Erdapfel in die Furche gelegt. Jetzt haben halt andere Sachen gewartet. Der Kukuruz zum Beispiel, den hab ich erst müssen anbauen. So hab ich gearbeitet, bis der Hochsommer vor der Tür gestanden ist und alles zum wachsen angefangen hat. Auch das Unkraut ist rausgesprossen, als wär der Teufel über die Felder gegangen, so haben wir früher immer gesagt. Schauen hab ich müssen, dass die Frucht recht groß wird, genau wie du. Nur ist es mit der Frucht leichter gegangen, das kannst mir glauben. Weil saufen hast du immer noch nicht recht wollen, klein und schwach und noch lang kein Heiliger Georg. Sorgen hat mir das gemacht, aber die Arbeit hat abgelenkt. So ist die erste Zeit vergangen, jeden Tag die gleiche Arbeit, bis die Gräser geblüht haben, dann ist die Heuzeit gekommen, mit der Hand hab ich müssen mähen, was gemäht werden musste, den Klee vor allem. Dann das Futterholen für die Kühe, Getreide, den gemähten Klee. Und endlich auch am Wochenende auf den Markt, immer Gemüse verkaufen, damit ein Geld zusätzlich reinkommt, anders wär es nicht gegangen. Und wenn man nicht genug verkauft hat, mit dem ganzen Zeug wieder zurück auf den Hof. Und dann die Angst, dass es nicht reicht. Also die Scheune vollgestopft mit der Ernte. Aber einen freien Tag hab ich gehabt, einen einzigen im ganzen Jahr, Kirtag. Mitten im Sommer schon, im August, wo es ja genug Arbeit gegeben hätt. Aber ich hab Kittelschürzen gebraucht, Socken, ein bisserl was von dem, was ich mir selber nicht hab machen können oder was mir sogar mit den Leuten, die mir dein Onkel geschickt hat, zu viel Arbeit gewesen wär. Den Kirtag hab ich von allen Tagen im Jahr am liebsten gehabt. In der Sonne bin ich hingegangen, die vielen Leute, kein anderer Feiertag hat mir so gut gefallen, nicht Ostern und nicht einmal Weihnachten. Die Standeln, das schöne Zeug, was man sich alles hätt kaufen können, wenn man Geld gehabt hätt, nicht viel, bisserl ein Kramuri, aber das hab ich damals ja nicht gewusst, mir ist es schon viel vorgekommen, nach den ganzen Entbehrungen. Eine schöne Zeit ist das gewesen, ein schöner Tag. Gleich nach dem Feiertag haben dann schon bald die Erdäpfel aufs Ausnehmen gewartet, ein paar Wochen lang hat die Arbeit gedauert und ins Kreuz ist es gegangen. Von allein kommt halt kein Erdapfel aus der Erde. Am Vormittag also raus auf den Acker. Die Erdäpfel in die Säcke und diejenigen, die nicht aus der Furche raus haben wollen, mit dem Rechen anschubsen, damit nix in der Erde bleibt. Alles in Körbe und Säcke packen, am Nachmittag dann schon. Runter in den Erdäpfelkeller, zum Abladen. Die Säcke beim Abladen auf der Schulter. Kreuz und Schulter, überall hats wehtan. Säckeweise hab ich sie heimgeschleppt, den Keller bis oben hin angeschüttet. Später im Jahr den Kukuruz ernten, im Oktober erst. Die Kolben ausbrechen. Runterreißen, in die Körbe, auf die Wagerln, dann heimführen, in den Schupfen, zum Auslösen, wenn ich Glück gehabt hab mit Unterstützung von dem Onkel seinen Arbeitern, da haben wir zusammengehalten, aber sonst hab ich alles alleine derpackt, auch wenn ich im ganzen Körper Schmerzen gehabt hab. Die Kukuruzstängel aushacken. Eine Arbeit war das, dass ich froh gewesen bin, dass ich die Weingärten schon am Anfang vom Krieg aufgegeben hab, das wär dann auch im Oktober losgegangen, aber das hätt ich beim besten Willen nicht geschafft. Ich hab ja alles mit der Hand gemacht, sogar den Steinacker ohne Gerätschaften derhalten, nur mit der Sense gemäht. Einfache Arbeit ist das keine gewesen, mit dir am Rücken, aber wer hätte sie denn sonst gemacht? So ist es durchs Jahr gegangen, alleweil was zum tun, und am Abend im Bett kein Platz im Schädel für einen anderen Gedanken als wie an den Hof, egal ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter, die Sorgen, die immer gleichen.

Einmal hab ich auf dem Steinacker gearbeitet, beim Erde umgraben, da hab ich eine Metallhülse gefunden. Die muss von den Schießereien noch übergeblieben sein. In der Hand hab ich sie gehalten und gespürt, wie sie sich anfühlt auf der Haut. Ich hab die Hülse in die Kittelschürze eingesteckt und daheim aufgehoben. Munition muss das gewesen sein, von einem Soldaten oder einem Flieger dagelassen. Ich weiß auch nicht, warum ich die immer noch hab.

Wenn es dann stark geregnet hat, im Herbst, im Winter, dann ist das Wasser im Stall durch das Dach gekommen, das Stroh und die Schindeln sind ja schon sehr alt gewesen. Und wenn ich das Wasser gesehen hab, dann hat es mich verzagt gemacht, aber das hab ich mir sofort verboten, das Verzagtsein. Und irgendwann hat der Onkel das Dach austauschen lassen, dann ist es besser gewesen, aber ein bisserl leid hat es mir schon auch getan, weil das alte Dach ja der Vater und ich immer gemeinsam repariert haben, aber das ist jetzt nicht mehr gegangen, zu viel schon kaputt.

Erst vor Weihnachten ist es ein bisserl ruhiger geworden. Aber ist das besser gewesen? Ich weiß es nicht, ich hab die Arbeit immer gerngehabt, lieber als das Nixtun. Es ist nämlich nicht gut, wenn man Zeit hat zum Nachdenken. Im ersten Winter ist das so gewesen, da hab ich stundenlang nix zum tun gehabt auf dem Hof. Also bin ich spazieren gegangen, raus aus dem Dorf, und geniert hab ich mich. Was sollen die Nachbarn denken? Da geht sie, das faule Trumm, als hätt sie Geld wie eine Städterin. Aber ich bin einfach weitergegangen und hab gar nicht mehr aufgehört zum gehen, eine richtige Angst hab ich gekriegt vor mir selber, du bist ja zuhaus gelegen, nur mit dem Bruder neben dir, aber ich hab nicht können aufhören. Vorbei am Gemeindeamt, an der Stelle beim alten Greißler, zum Feld, wo im August immer der Kirtag zu Gast gewesen ist. Und keiner redet mit mir, obwohl ich an genug Leuten vorbeirenne. Wegen deinem Vater, weil ja alle geredet haben über ihn, aber nie mit mir. Immer weiter bin ich gegangen, bis nix mehr um mich gewesen ist, nur mehr niedergetretenes Gras und ein paar feste Eisbrocken, die in der Sonne noch nicht geschmolzen sind. Gleich nach dem Dorf ist ein Anstieg, wie ich da rauf bin, ist es dunkel geworden, aber die Hügel hast noch gesehen in der Entfernung, die kleine Kapelle. Und nach dem Anstieg ist es weiß gewesen, voller Schnee dort oben, und der hat so schön geglitzert, das kann ich dir gar nicht beschreiben. Mir ist trotzdem heiß gewesen, der Schweiß ist mir den Rücken runtergeronnen, ich hab müssen Rast machen. Ja Herrgott nochmal, Marie, hab ich mir gedacht, stehst den ganzen Tag im Stall oder auf den Feldern und jetzt geht dir die Luft aus? Fuchsteufelswild bin ich geworden mit mir, also weiter. Zwischen den Fichten durch, weiter ins Offene raus. Und da stehen dann auf einmal ein paar Kühe, wunderschöne Viecher, ich hab nicht den Deut einer Ahnung gehabt, wem die gehören und was die da machen, mitten im Winter. Groß, mit hellbraunen Flecken, die Haut hat ganz nass geglänzt, sie haben sich überhaupt nicht gerührt, als wär ich gar nicht dagewesen, als hätt es mich gar nicht gegeben auf derer Erden. Die Zähne hab ich zusammengebissen, weil ich hab ja gewusst, dass es mich gibt, trotz allem. Und immer weiter. Vorbei an dem Acker, wo sie noch vor dem Krieg einen am Baum aufgehängt haben, weil der ihnen nicht gepasst hat, weil er nicht dazugehört hat, wie sie gesagt haben. Ich hab mich noch erinnern können, schiach ist es gewesen, das Aufhängen, aber nix zu machen. Die Bilder sind zusammengeprallt in meinem Schädel, ich hab mich gar nimmer ausgekannt, ganz schwindlig ist mir geworden.

Die Metallhülse, zuhause in der Schatulle.

Der abgebrochene Ast von dem Baum, wo der Mann aufgeknüpft gewesen ist.

Die schönen Kühe, die mit ihren blöden großen Augen durch mich hindurchgeschaut haben.

Was lässt du dich so durcheinanderbringen, hab ich mir da selber gesagt. Denk lieber an den kleinen Körper daheim, der nicht richtig saufen will, immer noch nicht. An die viele Arbeit, die auf dich wartet. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, eine Ausflüglerin aus der Stadt? Geh heim und tu weiter. Also bin ich zurück zum Hof, hab den Kopf eingezogen und niemanden angeschaut und mit niemandem geredet, wie niemand mit mir geredet hat.

Verzweifelt bin ich manchmal gewesen, so ganz allein, dafür braucht man sich nicht genieren. Hin und wieder darf man sich so eine Verzweiflung schon auch gönnen. Man muss nur rechtzeitig wieder aufhören und sich zusammenreißen, damit man nicht zu weit geht in der Verzweiflung. Das ist wie bei Pferden. Manchmal darfst ihnen die Zügel lassen, aber du musst wissen, wann du sie wieder anziehen musst.

Und dann ist Weihnachten gekommen. Ich hab noch schnell Futter zu den Viechern gebracht, dann den Boden aufgewaschen, am Nachmittag hab ich dich mit dem Bruder zum Onkel geschickt, eine Kerze aus der Kredenz geholt, damit wir es zumindest ein bisserl festlich haben. Dann hab ich uns ein paar Geschenke unter den Herrgottswinkel gelegt, selber gestrickte Socken, nicht die gekauften vom Kirtag, ganz kleine für dich. Und dann hab ich euch vom Onkel wieder abgeholt. Das Jesuskind ist dagewesen, hab ich gesagt, am Weg zurück, aber du hast ja noch nix verstanden. Und unterm Herrgottswinkel haben wir dann ein Vaterunser gebetet, dein Bruder und ich, und du hast uns angeschaut mit deinen großen Augen. Wobei ich beim Beten weniger an den Vater da oben gedacht hab, sondern mehr an den, der aus dem Krieg immer noch nicht zurückgekommen ist. Ich wünsch dir eine leichte Sterbestunde, hab ich mir gedacht, so ganz im Geheimen, wenn du nicht schon längst wo liegst, tot und verscharrt. Aber gesagt hab ich nix, nur Amen.

Im Frühjahr ist die Arbeit wieder voll losgegangen und die Zigeuner sind gekommen, wie jedes Jahr, wie das Amen im Gebet. Mit ihren Wagen und den bunten Tüchern. Haben die Zelte aufgeschlagen, sind ein paar Wochen geblieben und dann wieder weggefahren. Angst hab ich gehabt die ganze Zeit, dass sie was stehlen, mir dich und deinen Bruder wegnehmen. Drum hab ich euch eingesperrt in der Nacht. Pass auf, haben sie damals immer gesagt, die Kinderverzahrer kommen. Die Leute haben sich ja dauernd so Geschichten erzählt, aber hat man es wirklich wissen können? Heute darfst das nimmer laut sagen, aber damals hat es ein jeder so gedacht. Eine Angst hab ich halt gehabt, das wirst mir ja nicht vorwerfen. Aber es war ja noch was anderes. Neidisch bin ich nämlich auch gewesen, weil die Zigeuner weggehen haben können, wenn es ihnen nicht mehr gepasst hat. Wer hat es denn schon so leicht gehabt wie die? Einfach alles auf einen Wagen packen und verschwinden? So gern ich den Hof gehabt hab, so gern wär ich manchmal mit ihnen mitgegangen.

Jedes Jahr ist es ein bisserl besser geworden. Sogar Tanzfeste sind wieder organisiert worden, im Wirtshaus. Ich bin nicht hin, mit wem hätt ich auch hingehen sollen, aber manchmal hab ich mich vor die Fenster gestellt und durchgeschaut, wie sie wieder getanzt haben und gelacht und gesoffen, vor allem gesoffen. Und da hab ich an deinen Vater denken müssen, ein wengerl, wie wir bei der Hochzeit da drinnen getanzt haben, obwohl die Eltern so grantig dreingeschaut haben, wie er mich gepackt hat an denHüften und wie ichherumgewirbelt bin und was das gemacht hat in meinem Kopf und in meinem Bauch. Aber was soll ich heulen, ich mag es ja nicht, das Heulen, also hab ich mich davongemacht und mir geschworen: An sowas denkst nie wieder.

Manche Tage greifen sich an wie Jahre. Wie dein Bruder gestorben ist, das ist so ein Tag gewesen, ewig hat der gedauert. Und manche Jahre fließen dahin, dass es sich anfühlt wie ein einziger langer Tag. Du bist aufgewachsen und älter geworden, und mit jedem Jahr hab ich weniger daran geglaubt, dass dein Vater zurückkommt, und mit jedem Jahr hab ich mehr gewusst, dass ich das allein derpacken muss. Und mit jedem Jahr hast du mir mehr können helfen. Du bist keine fünf Jahre alt gewesen, da hast schon mitgetan bei den Kühen im Stall, mit den Fingern hast die Milch aus den Eutern gedrückt, als hättest nie was anderes gemacht. Mit einer kleinen Schaufel den Mist weggebracht, den Misthaufen wachsen lassen. Beim Setzen von den Pflanzen hast mitgeholfen, im Kuchlgarten das Gemüse bekümmert. Aber geredet hast nix. Du hast alles gemacht, was ich dir angeschafft hab, aber keinen Mucks von dir gegeben. Ewigkeiten später, da hast schon in der Stadt gelebt wie ein feiner Pinkel, da hast mir vorgeworfen, wie grauslich das alles für dich gewesen ist. Aber ich hab dir ja nix gegeben, was ich in deinem Alter nicht auch hab machen müssen. Und woher hätt ich denn was wissen sollen, wennst nichts redest? Wird dir schon nicht geschadet haben, im Gegenteil.

Wütend bin ich auf dich gewesen, schon damals, obwohl du mir geholfen hast. Je älter du geworden bist, desto mehr hast nämlich ausgeschaut wie dein Vater. Die roten Haare vor allem, die auf dem Schädel gesprossen sind wie Unkraut. Jesusmaria, der Teufel, hat deine Großmutter angeblich noch gesagt, wie dein Vater auf die Welt gekommen ist und sie sein Büschel gesehen hat. Dein Bruder ist immer mehr nach mir geraten, aber du nicht. Dich hab ich angeschaut und gedacht: Der Vater steht wieder in der Stube. Das hat man schon gesehen, da bist erst ein paar Jahre alt gewesen. Und natürlich hat mich das gefreut. Aber es hat mich auch fuchsteufelswild gemacht, weil an deinen Vater hab ich nicht mehr wollen denken, und das hab ich dich sicher spüren lassen, aber kannst mir das übelnehmen? Am liebsten hätt ich sie dir angemalt, die blöden Haare, nur dass ich nicht mehr an deinen Vater denken muss.

Genau wie dein Vater bist gerne in die Kirche gegangen, vor allem der Jesus am Kreuz hat dir gefallen. Überm Altar ist ein großes Kruzifix gehangen, aus schwerem, ganz dunklem Holz. Und da ist er draufgehängt, der Heiland. Schön ist er nicht gewesen, ein Tischler aus dem Ort hat ihn geschnitzt, vor hundert Jahren. Ganz ausgezehrt, mit einer schwarzen Haut, viel zu echt. Aber du hast immer hingeschaut mit deinen großen Augen. Und ich hab alleweil müssen sagen: Nicht angreifen, weil du ihn immer mit deinen Fingern hast berühren wollen. Raufgestreckt hast dich, damit du die Zehen anfassen kannst, ganz fasziniert hat dich das. Zuhause ist ja auch ein Kruzifix im Herrgottswinkel gehängt. Das hast stundenlang können anschauen. Aber nur in der Kirche hast wollen immer hingreifen, ich weiß auch nicht, warum. Auf die Nägel, die in denFüßen und Händen gesteckt sind, die anderen Leute haben gezischt und bös geschaut, wenn sie das gesehen haben, ich hab dich immer schnell weggezogen.

Nur wie Jahre später die erste Kommunion ansteht, in die Schule bist schon gegangen, da kriegst auf einmal eine Angst und willst nicht mehr hingehen. Ja was fürchtest dich denn so, hab ich gefragt, gehst ja sonst so gern in die Kirche. Weil der Pfarrer erklärt hat, dass bei der Kommunion der Leib Jesu gegessen wird. Endlich einmal hast den Mund aufgemacht. Ich hab müssen lachen, aber du hast zum Kreuz raufgeschaut und gesagt: Ich will den Herrn nicht essen. Und die Tränen sind dir runtergekullert, ein Anblick ist das gewesen, das Herz hätt einem können brechen. Zur Erstkommunion hast natürlich trotzdem gehen müssen, was hätt ich denn sollen machen? Aber wie du dann da so gestanden bist, vor dem Herrn Pfarrer, in deinem schwarzen Anzug, den der Onkel spendiert hat, die Ärmel zu lang, die Schultern zu groß, da hast ein Gesicht gezogen und ich hab mir schon gedacht: Jetzt passiert gleich was. Und dann hast den Pfarrer gebissen, wie er dir die Oblate auf deine Zunge hat legen wollen. Ein Geschrei ist losgegangen in der ganzen Kirche, ich hab dich nur geschnappt und rausgezogen, und erst draußen hab ich dich abgewatscht. Es wird doch schon genug geredet über uns, hab ich dich angeschrien, was musst denn so einen Blödsinn veranstalten? Geniert hab ich mich vor dem neuen Herrn Pfarrer, den ich gerngehabt hab. Ich hab mich nicht können beherrschen. Hätt ich dich nur nie gekriegt, hab ich gesagt, aber das hast sicher nicht gehört, so laut hast du geplärrt.