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Die junge Jane Hart ist überglücklich! Die Familie verbringt die Saison in London und hat das Haus in der Clarges Street 67 gemietet, wo ihre schöne Schwester Euphemia in die Gesellschaft eingeführt werden soll, um eine möglichst gute Partie zu machen. Aber nach ihrer Ankunft verdonnert die Frau Mama Jane dazu, im Haus zu bleiben - es ist ja ausgeschlossen, dass sich jemand für das unscheinbare Mädchen interessieren könnte. Doch dann nehmen Butler Rainbird und die Dienerschaft des Hauses Jane unter ihre Fittiche und verwandeln das hässliche Entlein in einen wunderschönen Schwan ...
"Die ungleichen Schwestern” ist der zweite Band der zauberhaften Regency-Romanreihe "Ein Haus für die Saison" von Marion Chesney, die als M.C. Beaton vor allem für ihre Cosy-Krimis bekannt ist. In ihren Liebesromanen erweckt sie die Zeit des englischen Biedermeier zum Leben - für Fans von Georgette Heyer, DOWNTON ABBEY und der Netflix-Serie BRIDGERTON.
"Marion Chesney ist eine der besten Regency Autorinnen." Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
EIN HAUS FÜR DIE SAISON:
Tage der Sehnsucht
Liebe und Eifersucht
Der galante Herzensbrecher
Spiel der Intrigen
Ein gute Partie
Die junge Jane Hart ist überglücklich! Die Familie verbringt die Saison in London und hat das Haus in der Clarges Street 67 gemietet, wo ihre schöne Schwester Euphemia in die Gesellschaft eingeführt werden soll, um eine möglichst gute Partie zu machen. Aber nach ihrer Ankunft verdonnert die Frau Mama Jane dazu, im Haus zu bleiben – es ist ja ausgeschlossen, dass sich jemand für das unscheinbare Mädchen interessieren könnte. Doch dann nehmen Butler Rainbird und die Dienerschaft des Hauses Jane unter ihre Fittiche und verwandeln das hässliche Entlein in einen wunderschönen Schwan ...
Marion Chesney war eine schottische Schriftstellerin, die sich vor allem durch ihre zahlreichen historischen Liebesromane und Krimis einen Namen gemacht hat. Als M.C. Beaton feierte sie mit ihrer Krimi-Reihe um die Detektivin Agatha Raisin ihren größten Erfolg. Die Autorin starb im Alter von 83 Jahren in Gloucester.
Marion Chesney
Ein Haus für die Saison
Die ungleichen Schwestern
Ein Regency-Liebesroman
Aus dem Englischen von Claudia Rackwitz
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1986 by Marion Chesney
Titel der Originalausgabe: »Plain Jane«
Originalverlag: St. Martin’s Press, New York
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG
unter Verwendung von Motiven © krugli / AdobeStock; Boonyachoat / iStock / Getty Images Plus; Kathy / AdobeStock;
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-1743-4
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Für Raja
Zu Beginn des Jahres 1808 hatte der Nebel London in eine Alptraumstadt verwandelt. Nun war Nebel in London keine Seltenheit. Was ihn aber so merkwürdig, so düster und so niederdrückend machte, war, dass er so lange dauerte.
Eine zum Ersticken dichte gelb-graue Decke lag über der Hauptstadt und machte den Tag zur Nacht. Nie waren die Fackelträger so begehrt gewesen, waren sie doch in der Lage, ihre Schützlinge durch den würgenden Nebel zu geleiten und ihnen den Weg zu weisen, auch wenn ihre lodernden Fackeln in der undurchdringlichen Finsternis nicht größer als rote Lichtpunkte zu sein schienen.
Selbst die elegantesten Straßen im West End hatten ihren unbeschwerten und leichtlebigen Charakter eingebüßt – die Kutschen schwammen wie große Tiere aus grauer Vorzeit durch den dunklen Morast, und menschliche Gestalten tauchten wie ein Spuk auf und verschwanden wieder.
Wer an der Clarges Street Nummer 67 vorbeikam, schreckte beim Anblick der beiden großen Eisenhunde, die an die zur Eingangstür hinaufführenden Stufen gekettet waren, zusammen, da die wabernden Nebelschwaden die Tiere wie lebendig aussehen ließen.
Im Haus Nummer 67 hatten die Diener das Gefühl, dass ihnen der Nebel buchstäblich in die Seele gekrochen sei, so grau und elend erschien ihnen das Leben.
Ein neues Jahr hatte begonnen, und schon stand die nächste Londoner Saison bevor. Aber der Unstern, unter dem das Haus in der Clarges Street stand, schien nicht weichen zu wollen; es sah so aus, als würden sie keine Mieter bekommen, was bedeutete, dass ihre Hungerlöhne auch nicht durch Trinkgelder aufgebessert würden.
Der Eigentümer des Hauses war der zehnte Duke of Pelham, ein junger Mann, der so viele Häuser besaß, unter anderem auch ein großes Stadthaus am Grosvenor Square, dass er sich kaum bewusst war, dass ihm auch dieses Haus gehörte. Er überließ die Verwaltung des Hauses, seine Vermietung und die Bezahlung der Dienerschaft seinem Agenten Jonas Palmer, der ein Betrüger und Lügner war und dem es Spaß machte, die Diener zu schikanieren.
Napoleons Armeen hielten ganz Europa in ihrem eisernen Griff und bedrohten auch die Sicherheit Englands. Die Zeiten waren hart. Ohne Referenzen konnten Diener nicht auf neue Stellungen hoffen. Und Palmer hatte gesagt, er werde keinem der Diener von Nummer 67 je eine Referenz schreiben, im Gegenteil, jedem, der gehen wolle, ein schlechtes Zeugnis ausstellen. So war es ihm möglich, die Dienerschaft weiterhin sehr schlecht zu bezahlen, während er seinem Herrn die regulären Löhne in Rechnung stellte und den Differenzbetrag in die eigene Tasche steckte.
Deshalb war ein guter Mieter die einzige Hoffnung der Diener. Ein großzügiger Bewohner des Hauses würde vielleicht ihre Löhne während der Dauer seines Aufenthaltes aufstocken und sie selbst eventuell sogar mit den notwendigen Referenzen versehen. Ihre Hoffnung auf einen neuen Mieter für das Haus war jedoch sehr gedämpft.
Nummer 67 galt nämlich als unheilbringende Adresse.
Der neunte Duke hatte sich hier erhängt. Im Jahr darauf hatte die Familie, die das Haus für eine Saison gemietet hatte, ihre schöne Tochter Clara verloren, und die nächsten Mieter büßten durch die Spielschulden des Sohnes ihr gesamtes Vermögen ein. Die dritten Mieter – ein schottischer Gentleman, Mr Roderick Sinclair, und sein Mündel Fiona, die er als seine Tochter vorgestellt hatte – waren großzügig zur Dienerschaft gewesen, und das Haus schien endlich wieder vom Glück begünstigt zu sein. Aber Fiona Sinclair hatte den Earl of Harrington geheiratet und war auf ihrer Hochzeitsreise mit ihm ins Ausland gereist. Seitdem waren sie spurlos verschwunden, und man befürchtete, sie seien tot.
Wieder einmal wurde das Haus in den Tageszeitungen annonciert.
EIN HAUS FÜR DIE SAISON
Herrenhaus, Clarges Street 67,
Mayfair. Möbliertes Stadthaus.
Gut geschultes Personal.
Miete: 80 Pfund Sterling.
Näheres bei Mr Palmer, 25 Holborn.
In einem gewöhnlichen Stadtviertel konnte man ein Haus gut und gerne für achtzig Pfund Jahresmiete bekommen. Aber für Mayfair, wo man im Allgemeinen mit einer jährlichen Miete von mindestens tausend Pfund für ein unmöbliertes Haus ohne Dienerschaft rechnen musste, war die Summe von achtzig Pfund für die Saison äußerst bescheiden. Die meisten hoffnungsvollen Mamas kamen schon einige Zeit bevor die Saison begann nach London, um den Boden für die Einführung ihrer Töchter in die Gesellschaft vorzubereiten. Deshalb wusste jeder, der in der großen Welt zu Hause war, dass man ein Haus bereits zwei Monate vor und mindestens einen Monat über die Saison hinaus mietete. Die Saison begann Ende April und dauerte bis Ende Juni, wenn der Großteil der erschöpften Gesellschaft dem Prince of Wales nach Brighton folgte.
Mr John Rainbird, der Butler von Haus Nummer 67, stand auf den Eingangsstufen und starrte düster in die infernalische Finsternis vor dem Haus. Das Leben hatte in der letzten Saison so vielversprechend ausgesehen. Die Mieter waren so freigiebig gewesen, dass Rainbird schon geplant hatte, ein kleines Gasthaus in Highgate zu kaufen und seine »Familie« – die übrige Dienerschaft – mitzunehmen. Aber während sie alle auf Fiona Sinclairs Hochzeit waren, war ihr Geld gestohlen worden. Sie hatten ausnahmslos Jonas Palmer verdächtigt, doch sie hatten keinen Beweis. Deshalb waren sie, statt sich eines Lebens in Freiheit und Unabhängigkeit zu erfreuen, nach wie vor an das Stadthaus gekettet – so wie die Eisenhunde zu Rainbirds Füßen an die Stufen gekettet waren.
Der lange Krieg gegen Napoleon wütete weiter, ein Vierpfundbrot kostete einen Shilling und neun Pence, und täglich verhungerten arme Leute buchstäblich auf der Straße. Die Diener, die sich mit Müh und Not über Wasser halten konnten, machten alle erdenklichen Nahrungsquellen ausfindig. Heute Morgen erst war Angus MacGregor, der Koch aus dem schottischen Hochland, aufs Land bei Kensington gegangen, um nach Feuerholz zu suchen; Mrs Middleton, die Haushälterin, hatte all ihren Mut zusammengenommen und war auf den Covent Garden-Markt gegangen, um zu sehen, ob sie dort etwas Gemüse auftreiben konnte; und die kleine Lizzie, die für die Stiegen und den Abwasch zuständig war, war beim Bäcker, um zu sehen, ob es einen Laib altbackenes Brot zu kaufen gab.
Das Stubenmädchen Jenny und das Hausmädchen Alice waren im Haus und putzten und polierten lustlos die leeren Räume, denn Jonas Palmer liebte überraschende Besuche und pflegte mit weißen Baumwollhandschuhen von Zimmer zu Zimmer zu gehen und über alle Kanten zu streichen, um sich zu vergewissern, dass auch nirgends ein Stäubchen lag.
Rainbird seufzte, und ein kalter Schauer überlief ihn. Joseph, der hochgewachsene Lakai, kam die Außentreppe herauf und blieb neben ihm stehen. Die beiden Männer schauten schweigend in die schleichenden Nebelschwaden. Joseph war groß, blond und gutaussehend, seine runden blauen Augen waren von dünnen hellen Wimpern umgeben, die sein stiller Kummer waren. Rainbird war viel kleiner als Joseph und hatte den sehnigen Körperbau eines Akrobaten und das Gesicht eines Komödianten. Er hatte kluge, funkelnde graue Augen, die gewöhnlich gute Laune ausstrahlten, aber in letzter Zeit so lustlos und traurig wie das Wetter waren.
Eine große Schneeflocke fiel langsam kreisend vom Himmel und landete auf Josephs Nase. Er wischte sie weg. »Zum Teufel mit dem Wetter«, sagte er affektiert mit seiner hohen Stimme. »Es schlägt einem ja aufs Gemüt.«
»Vielleicht würdest du dich nicht so schlecht fühlen, wenn du dich dazu aufraffen könntest, etwas zu tun«, sagte Rainbird in schneidendem Ton. »Hast du das Silber schon geputzt?«
»Nein«, antwortete Joseph schmollend. »Ich hab’s satt, das verdammte Zeug für nichts und wieder nichts zu putzen.«
»Dann mach es jetzt«, befahl Rainbird ärgerlich. »Denk daran, dass wir beide noch schlechter als die anderen dran sind, wenn uns Palmer mal wieder auf dem Kieker haben sollte.«
Die zwei Männer hatten wegen Vorfällen, für die sie nichts konnten, Häuser der guten Gesellschaft verlassen müssen. Aber sie waren schuldig gesprochen worden, und Palmer drohte ihnen ständig, die Sache an die große Glocke zu hängen, wenn sie nicht aufs Wort gehorchten; es würde bedeuten, dass keiner von ihnen je wieder hoffen dürfte, eine Stellung zu finden.
Vielleicht war es das geteilte Leid, das Rainbird den verweichlichten und oft launenhaften Lakaien ertragen ließ. Rainbird war vermutlich auch der einzige Mensch, der den empfindsamen, sensiblen Kern, der unter dem gekünstelten Getue verborgen war, erkannte.
»Dave tut auch nichts«, gab Joseph weinerlich zurück.
»Dave kehrt die Kamine.«
»Das wird auch gut sein«, spottete Joseph, »schließlich ist es das Einzige, was er kann.«
Dave war Kaminkehrerjunge gewesen, bevor ihn Rainbird vor seinem rücksichtslos harten Meister gerettet hatte. Palmer wusste nicht, dass er im Haus lebte. Dave war inoffiziell der Spüljunge.
»Geh rein. Du gehst mir auf die Nerven, Joseph«, sagte Rainbird.
Joseph zog verärgert ab, und Rainbird blickte wieder in die wabernden Nebelschwaden hinaus.
Da tauchte plötzlich Lizzie aus der Dunkelheit auf, man hörte ihre Holzpantinen eilig auf dem Pflaster klappern. Sie trug etwas in einen Schal gewickelt.
Zu Rainbirds Überraschung erwiderte sie seinen Gruß nicht, sondern huschte die Außentreppe hinunter wie ein Tier, das in seinen Bau flieht.
Er rannte flink hinter ihr her.
Lizzie ging geradewegs in den Essraum der Diener. Sie hielt den Schal und was sie darin verbarg wie ein Baby an die Brust gepresst.
»Was hast du da?«, wollte Rainbird wissen.
Der Nebel zog in dünnen Schleiern durch den Raum, der von einer einzigen übelriechenden Talgkerze auf dem Tisch schwach erleuchtet war. Lizzie öffnete schweigend ihren Schal, holte einen großen knusprigen Laib Brot hervor und legte ihn auf den Tisch. Dann setzte sie sich mit gesenktem Kopf hin.
Rainbird trat an den Tisch und nahm den Laib Brot in die Hände. »Der ist frisch, Lizzie«, sagte er. »Du hast nur einen Penny gehabt für ein altbackenes Brot. Wie bist du zu dem gekommen?«
Lizzies Augen, die in dem schmalen Gesichtchen riesig wirkten, blickten den Butler voller Kummer an. Sie vergoss zwei große Tränen, die auf ihren vom Smog verschmierten Wangen zwei saubere Bahnen hinterließen.
Rainbird kam ein schrecklicher Gedanke. »Du hast doch nicht etwa ... Lizzie. Ich meine, du bist nicht mit einem Mann gegangen ...?«
»Schlimmer als das«, erschauerte Lizzie.
Rainbird musste sich setzen. Alice und Jenny kamen in die Küche und wollten wissen, was los war, und Dave erschreckte sie zu Tode, weil er über und über mit Ruß bedeckt aus dem Kamin geschlüpft kam.
»Ich glaub’, ich hab’ drei Taschen voll, Mr Rainbird«, sagte er fröhlich. »Heut’ Nachmittag verkauf’ ich den Ruß. Was ist mit dir los, Lizzie?«
»Dasselbe wie mit uns allen«, sagte Joseph gedehnt. »Hunger.«
»Nun mach schon, Lizzie«, drängte Rainbird. »Erzähl!«
Das Küchenmädchen wischte sich die Tränen mit den Fingern weg. »Ich bin zu Partridge gegangen«, sagte sie.
Rainbird schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Wieso denn dahin? Er ist der teuerste Bäcker in Mayfair.«
»Bei Brown auf dem Markt hat es kein altes Brot gegeben. Ich habe gedacht, ein großer Bäcker hat vielleicht welches, aber die Leute trauen sich nicht zu fragen. Deshalb bin ich hineingegangen.«
»Und?«, fragte Jenny, das Stubenmädchen.
»Und da war eine feine Dame mit ihren zwei Töchtern.«
»Quatsch«, warf Dave ein. »Feine Damen kaufen ihr Brot doch nicht selber ein.«
»Es war für sie eine Art Spaß«, sagte Lizzie. »›Schaut, meine Lieben‹, hat die elegante Dame gesagt, ›ihr dürft das Einkaufen niemals ganz den Dienern überlassen. Gelegentlich muss man selbst gehen, um zu überprüfen, ob die Preise mit denen im Wirtschaftsbuch der Haushälterin übereinstimmen.‹ Eine von den Töchtern starrt mich an und sagt: ›Aber Mama, dann kommt man in die Lage, mit solch gewöhnlichen Menschen wie dem schmutzigen kleinen Dienstmädchen da zusammenzutreffen.‹ ›Es gehört sich nicht für eine Dame, solch eine Person auch nur wahrzunehmen‹, sagt die Mutter. Sie hatten alle Körbe wie italienische Strohhüte, flach und offen und mit Silberblumen dekoriert. Partridge verlangte zwei Shilling und drei Pence für einen großen Laib, und sie haben sechs gekauft«, sagte Lizzie, und vor lauter Ehrfurcht trockneten ihre Tränen.
»Sie sind an mir vorübergerauscht. ›Geh mir aus dem Weg, kleines Bauernmädchen‹, sagt die Mutter, und in dem Moment ist ihr dieser Laib aus dem unpraktischen Korb gefallen, und ich habe ihn schnell wie der Blitz, noch bevor er auf den Boden fiel, aufgefangen. Sie sind nicht stehengeblieben. Da habe ich sie eingeholt, als sie gerade in ihre Kutsche stiegen, und gesagt: ›Wenn’s beliebt, Madam, das Brot ist Ihnen runtergefallen.‹
›Oh, Mama‹, hat eines von den Mädchen gesagt, ›fass es ja nicht an. Sie hat wahrscheinlich Läuse.‹
›Für die Diener ist es noch gut genug‹, sagt die Mutter und lehnt sich aus dem Kutschenfenster, um es mir wegzunehmen.
Ich habe mich plötzlich schreien hören: ›Dann behalt’ ich es‹, und ich habe es in meinen Schal gewickelt und bin so schnell weggelaufen, wie ich konnte. Sie schrien: ›Haltet den Dieb!‹, und aus dem Nebel griffen Hände nach mir, aber ich sprang in einen Hauseingang und habe mich da versteckt, bis sie aufhörten zu schreien. – Und jetzt bin ich da«, beendete sie ihre Geschichte unglücklich.
Rainbird holte tief Atem. »Lizzie, wenn sie dich erwischt hätten, hätten sie dich aufgehängt oder mindestens in die Kolonien verschleppt.«
»Ich habe eine Todsünde begangen«, flüsterte Lizzie.
»Allerdings«, triumphierte Joseph. »Der Papst wird dich zu ewigen Höllenqualen verdammen.« Dann schnappte er nach Luft, weil ihm Jenny ihren scharfen Ellenbogen in den Magen gerammt hatte.
»Ich glaube, Gott wird dir vergeben«, sagte Rainbird, »aber ob er dieser Frau und ihren Töchtern vergeben wird, ist eine andere Sache. Trockne deine Tränen, Lizzie. Du darfst so etwas nie wieder tun.«
Die hochgewachsene Alice, deren Gestalt einer griechischen Göttin glich, kam lässig um den Tisch herum – alles, was Alice tat, geschah mit lässiger Leichtigkeit. Sie schlang ihre Arme um Lizzie und sagte: »Weine nicht. Sei ein braves Mädchen.«
Rainbird seufzte. Wie tief waren sie gesunken, wenn sogar Mädchen wie die kleine Lizzie zu Diebinnen wurden!
Müde, schwere Schritte auf der Treppe kündeten die Haushälterin, Mrs Middleton, an, eine ständig besorgte Dame von unbestimmbarem Alter mit einem verschreckten Kaninchengesicht. Sie öffnete ihre riesige Handtasche und legte triumphierend einen großen, wie von Motten zerfressenen Kohlkopf auf den Tisch.
»Wieviel?«, fragte Rainbird.
»Nichts«, strahlte Mrs Middleton.
»Sie haben wohl auch gestohlen?«, fragte Dave.
»Geh in deinen Kamin zurück und pass auf, was du sagst«, wies ihn Rainbird streng zurecht. »Nun, Mrs Middleton, was war los?«
»Auf dem Covent Garden-Markt war ein Träger«, lächelte Mrs Middleton und nahm ihren Kapotthut ab. »Er hat ihn verloren, und ich habe ihn aufgehoben und bin ihm nachgelaufen. ›Hier, mein guter Mann‹, habe ich gesagt. ›Wen, glauben Sie, nennen Sie Ihren guten Mann?‹, antwortet er. ›Sie können den Kohlkopf behalten und ...‹« Mrs Middleton lief rot an. »Ich habe nicht verstanden, was er sonst noch gesagt hat, aber er hat so gewalttätig ausgesehen, dass ich gesagt habe: ›Danke‹, und habe den Kohlkopf in meine Tasche gesteckt. Was hat Dave gemeint, als er von auch stehlen sprach?«
Joseph öffnete den Mund und schloss ihn wieder, weil Rainbird ihn mit Blicken durchbohrte.
»Beeil dich und werd endlich mit den Kaminen fertig«, fuhr Rainbird Dave an. »Angus MacGregor ist aufs Land zum Holzsammeln gegangen, vielleicht haben wir es heute Abend ein bisschen warm.«
»Alles ist voller Ruß!«, jammerte Mrs Middleton. »Alice, warum umarmst du dieses nichtsnutzige Mädchen? Lizzie, putz hier den Boden, und wenn du fertig bist, mach dich an deine Arbeit in der Küche.«
»Da kommt MacGregor«, kicherte Joseph, »hört sich an wie der ganze Haufen von Prince Charles’ Gefolge, wenn er vom Derby zurückkommt.«
Sie rannten alle in die Küche hinaus, wo sich der Koch vom schottischen Hochland gerade einen großen Sack von der Schulter lud.
»Es schneit ganz schön«, brummte er.
»Blut!«, schrie die dunkelhaarige Jenny. »Aus dem Sack tropft Blut!«
»Was hast du da?«, wollte Rainbird wissen.
»Ein Reh«, sagte der Koch fröhlich. »Ein nettes kleines Tierchen. Heute Abend gibt es Wildbret.«
»Das Wild des Königs«, flüsterte Rainbird. »Du dummer Narr. Sie werden uns alle hängen.«
»Man brauchte es nur noch mitzunehmen«, sagte der Koch ohne Reue. »Ich war ja völlig fertig, weil ich einen großen Sack Feuerholz hatte, den ich abstellte, um auf dem langen Heimweg zu rasten, und da hat ihn irgendein Schuft gestohlen und ist damit im Nebel davongerannt.« Rainbird hatte eine große Talgkerze hereingebracht, als er Angus MacGregor kommen hörte. In dem fahlen Licht des goldenen Kerzenscheins waren die Gesichter der Diener weiß wie Papier. »Schaut doch nicht so verschreckt«, fuhr der Koch ärgerlich fort. »Ich bin durch den Park gegangen, und da lag dieses kleine Reh mit gebrochenem Bein und halbtot vor Kälte. Ich habe mein Messer gezogen und ihm die Kehle durchschnitten. Ich hatte noch einen Sack dabei, den habe ich mir über die Schulter gehievt und bin hierher gerannt.«
Er neigte den Kopf zur Seite, als ob er etwas gehört hätte, und sie erstarrten alle vor Schreck, als sie oben in der Clarges Street schwere Fußtritte hörten.
»Und auf dem ganzen Weg hierher sind Blutstropfen«, sagte Rainbird, von panischer Angst ergriffen. »Du hast uns die gesamte Miliz auf den Hals gehetzt. Die Freiwilligen üben jeden Tag im Park ...«
»Bindet mir den Sack auf den Rücken«, sagte Dave. »Schnell!«
»Warum ...?«, begann Rainbird.
»Bindet ihn mir auf den Rücken«, schrie Dave. Schwere Schritte kamen die Außentreppe herunter. Während Angus MacGregor dem Spüljungen in aller Eile den Sack auf dem Rücken festzurrte, und Alice und Jenny außer sich vor Angst die Blutflecken auf dem Fußboden wegwischten, klopfte es laut und gebieterisch an die Tür.
»Im Namen des Königs, aufmachen!«, rief eine barsche Stimme.
Dave krabbelte mit dem Sack auf dem Rücken über den leeren Küchenherd in den Kamin und ergriff die erste Eisensprosse, die für die Jungen, die dem Kaminkehrer helfen mussten, angebracht war.
»Schieb mich hoch«, zischte er MacGregor zu.
Mrs Middleton hatte oft über den altmodischen Küchenherd mit seinem riesigen Kamin geklagt, aber jetzt dankte sie Gott glühend für Jonas Palmers Sparsamkeit.
Rainbird öffnete die Tür. Ein großer Offizier, auf dessen scharlachroter Regimentsuniform der Schnee glitzerte, schob sich an ihm vorbei in die Küche. Er wurde von einem Sergeant, einem berittenen Polizisten und einem Detektiv begleitet.
»Die anderen bleiben draußen, bis ich euch rufe«, rief der Offizier über die Schulter zurück.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Rainbird.
»Wo ist Ihr Herr?«, fragte der Offizier.
»Mein Herr«, sagte Rainbird, »ist der Duke of Pelham. Er ist an der Universität Oxford. In der Zwischenzeit trage ich hier die Verantwortung.«
»Name?«
»Mr John Rainbird.«
Der Offizier machte eine ruckartige Kopfbewegung, und sein Sergeant hielt dem Butler eine Laterne vors Gesicht. Der Offizier musterte den Butler von Kopf bis Fuß. Rainbird trug die Livree, die ihm die letzten Mieter gekauft hatten – schwarzer Frack, weiße Weste, schwarzseidene Kniehosen, weiße Strümpfe und Schnallenschuhe.
»Es ist Folgendes«, sagte der Offizier, während seine Stimme widerstrebend einen Hauch von Respekt annahm. »Eine Frau hat berichtet, dass sie einen Mann beobachtet hat, der im Green Park ein Reh getötet hat. Eines ist sicher, dass der Schnee voller Blut war. Wir sind der Blutspur gefolgt, und sie führte direkt hierher. Deshalb werden wir das Haus jetzt vom Keller bis zum Dach durchsuchen.«
»Unsinn«, schnaubte Rainbird. »Ich bin doch kein Dieb, was fällt Ihnen ein, mein Herr.«
»Mag sein. Aber einer von euch ist einer. Wie erklären Sie sich diese Blutspur?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Rainbird noch steifer als in seinen abweisendsten Momenten.
Aus dem Kamin hörte man einen leisen Fluch.
»Wer ist da?«, rief der Offizier heftig.
»Es ist nur der Kaminkehrer«, sagte MacGregor.
»Schotte, was?«, fragte der Offizier misstrauisch. Wenn die Schotten nicht zur Oberklasse gehörten, wurden sie immer noch mit Misstrauen und Argwohn betrachtet und auf der Straße oft angespuckt. Waren sie nicht wilde Fremde, die in Horden in den Süden eindrangen und anständigen Engländern die Arbeit wegnahmen? Er schaute nach unten auf MacGregors Schuhe, und seine Augen verengten sich zu einem schmalen Spalt, als er die Spuren von Schmutz und schmelzendem Schnee sah.
»Ich will nur einen Blick in den Kamin hinaufwerfen«, sagte er.
»Hilfe!«, kam es in diesem Augenblick wehklagend aus der Spülküche. »O ... ich sterbe.«
»Das ist Lizzie!«, rief Rainbird. Er ging auf die Tür zur Spülküche zu, aber sie sprang im selben Moment auf, und Lizzie taumelte über die Schwelle. Helles Blut spritzte aus der Vene am Handgelenk, und ihre Augen waren wild vor Angst.
»O Gott!«, rief der Offizier.
Rainbird riss sein Taschentuch heraus, packte einen Holzlöffel und wand eine Aderpresse um Lizzies Arm. »Was ist denn passiert, Mädchen?«, fragte er und vergaß über diesem neuen Schrecken die Gefahr, in der sie sich befanden.
»Ich war im Green Park«, flüsterte Lizzie weiß bis auf die Lippen, »und ich bin ausgerutscht und in den Schnee gefallen und habe mir das Handgelenk an einer zerbrochenen Weinflasche aufgeschnitten.«
»Wir bringen sie zum St.-George-Hospital«, sagte Alice und trat ins Licht. »Sie werden uns helfen, Captain.« Sie sagte das, als wäre es eine Feststellung, nicht eine Aufforderung. Der Offizier sah Alice’ goldene Locken, die unter ihrem frischgestärkten Häubchen glänzten; er sah, wie sich ihr schöner Busen langsam hob und senkte; er sah die weiche Haut ihres Gesichts, und er sah ihre großen himmelblauen Augen.
Das Reh war vergessen. Befehle wurden hinausgebellt. Eine Pferdedroschke fuhr vor dem Haus vor. Rainbird nahm die zerbrechliche Lizzie auf den Arm und fluchte leise vor sich hin, als er sie die Treppe hinauftrug.
Joseph folgte ihnen, die Hand in der Livreetasche. Er brachte ein feines, mit Spitzen umhäkeltes Batisttaschentuch zum Vorschein und schaute es sehnsüchtig an. Es war sein liebster Schatz. Dann lehnte er sich über Lizzie, die in einer Ecke der Droschke lag und hielt ihr das Taschentuch hin. »Für dich, Lizzie«, sagte er mit leiser Stimme. Er beugte sich nach vorne und küsste ihre magere weiße Wange.
Lizzie hegte schon von dem Tage an, an dem sie begonnen hatte, in Nummer 67 zu arbeiten, eine heimliche Liebe zu dem hochgewachsenen Lakaien. »Vielen Dank, Mr Joseph«, flüsterte sie, nahm das Taschentuch und steckte es in ihren Busen.
Der Offizier pflegte noch lange danach zu sagen, dass er noch nie ein so tapferes Dienstmädchen gesehen habe. Sie hatte traumverloren gelächelt, während ihr ein Chirurg im St.-George-Hospital die Wunde genäht hatte. So verklärt vor Glück sah sie aus, dass eine alte Dame im Hospital ehrfürchtig in die Knie sank, weil sie Lizzie für ein sterbendes Mädchen an der Schwelle zum Himmel hielt.
Der Schnee fiel in dicken Flocken, als sie Lizzie im besten Schlafzimmer im oberen Stock zu Bett brachten. Palmer würde sich wohl in einer solchen Nacht nicht aus dem Haus wagen, und für Lizzie, die sich die Pulsader aufgeschnitten hatte, um sie alle zu retten, war das Beste gerade gut genug.
Dann musste der völlig verschreckte Dave, der nicht die geringste Ahnung hatte, was vorgefallen war, aus dem Kamin geborgen werden. Er schluchzte vor Erschöpfung, da er mit dem Gewicht des Tierkörpers auf dem Rücken über zwei Stunden an den Sprossen gehangen hatte.
»Du solltest dich schämen, Angus«, sagte Rainbird streng zum Koch. »Zwei Kinder sind wegen deiner Dummheit beinahe gestorben.«
»Tja nun, aber ihr werdet anders denken, wenn ihr alle einen schönen Rehbraten im Bauch habt«, sagte der Koch, der nichts bereute, und nahm Dave den Sack ab.
»Lizzie hat uns alle gerettet«, sagte Mrs Middleton. »Gott segne sie.«
Rainbird seufzte müde; der Schnee wehte gegen die Fenster, die hoch oben in der Wand waren. »Es ist so kalt«, sagte er. »Wir können kein Feuer machen, Angus. Erwartest du von uns, dass wir das Tier roh essen?«
»Ich kann mich nicht um alles kümmern«, antwortete der Koch mürrisch.
»Beim Nachbarn haben sie heute Kohle gekriegt«, warf Dave ein, der sich bereits mit der ihm eigenen Unbekümmertheit von allen Schrecken erholt hatte. »Ganze Säcke voll Kohle, in großen glänzenden Stücken sind sie in den Keller geleert worden.«
Rainbirds Augen wurden ganz schmal. »Lizzie muss es warm haben«, sagte er. »Und wir müssen es warm haben.« Er brütete ein paar Augenblicke lang schweigend vor sich hin. Dann blickte er in die Runde der Diener, die geradezu apathisch infolge der beißenden Kälte herumsaßen.
»Man darf niemals etwas stehlen«, sagte er schließlich, »aber es kann nicht schaden, etwas zu leihen. Als wir vom Hospital zurückgekommen sind, habt ihr sicher bemerkt, dass Lord Carteris mit seiner gesamten Dienerschaft aufs Land gegangen ist. Das bedeutet, das Haus neben uns ist leer.«
»Das ist richtig«, sagte Joseph und schaute den Butler neugierig an. »Luke hat mir neulich erzählt, dass sie alle verreisen.« Luke war der erste Lakai der Carterises.
»Runter in den Keller«, sagte Rainbird wie in Trance, »dort ist eine Hacke und eine Schaufel.« Er stand auf, ein bedächtiges Grinsen kräuselte seinen Mund. »Zieh dich aus, Joseph, Junge. Heute Abend fördern wir Kohle!«
»Meine Pfoten«, jammerte Joseph und fiel wieder in sein Cockney-Gewinsel zurück, das normalerweise unter einer dünnen Schicht von affektierter Vornehmheit verborgen war.
»Zieh Handschuhe an, du Memme«, sagte Rainbird. »An die Arbeit!«
Im Schlafzimmer oben schlief Lizzie mit kurzen Unterbrechungen immer wieder ein. Einmal versuchte sie mühsam, aufzustehen, weil das ganze Haus von lauten, hämmernden Geräuschen widerhallte, und sie dachte, die Miliz sei zurückgekommen. Doch sie war zu erschöpft und fiel schnell in einen unruhigen Schlaf zurück.
Später am Abend erwachte sie wieder. Im Kamin knisterte ein Feuer und warf einen tanzenden rosigen Schein an die Decke. Wärme umhüllte ihren Körper, und im Halbschlaf fragte sie sich, woher sie die Kohlen hatten. Dann beugte sich auf einmal Joseph über sie, nackt bis zur Taille und schwarz vor Kohlenstaub.
»Hast du mein Taschentuch noch, Lizzie?«, flüsterte er.
»Ja, Joseph«, sagte Lizzie im Halbschlaf. »Ich werde mich nie davon trennen.«
Joseph konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Für dich immer noch Mr Joseph, freches Ding«, knurrte er und schlurfte davon. Er gesellte sich zu den anderen rußgeschwärzten und müden Dienern im Essraum.
»Was soll das?«, rief er. »Nur Brot und Wasser?«
»Du kriegst später was«, sagte MacGregor. »Ich werde die Leber braten. Aber das Tier muss abhängen.«
Rainbird blickte den Tisch entlang auf die abgespannten, niedergeschlagenen Gesichter.
»Seid guten Muts«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass der liebe Gott vorhat, uns in Mayfair verhungern zu lassen. Irgendwo hat irgendjemand genau in diesem Moment vor, das Haus zu mieten. Ich weiß es. Ich fühle es.«
Aber das gezwungene Lächeln um seinen Mund und die müde Traurigkeit in seinen Augen strafte seinen Optimismus Lügen.
In einem kleinen Dorf zwölf Meilen von Brighton entfernt lebte ein junges, unscheinbares Mädchen, das noch nicht wusste, dass es in der Clarges Street 67 wohnen und in das Schicksal der Dienerschaft eingreifen würde. Sie war erst achtzehn Jahre alt und steckte ihr Haar noch nicht auf. Ihr Name war Jane Hart, und sie war die Tochter eines pensionierten Captains.
Genau in dem Augenblick, in dem Dave außer sich vor Angst mit dem Reh auf dem Rücken den Kamin hinaufkletterte und die tapfere kleine Lizzie ihr Handgelenk in der Spülküche aufschnitt, saß Jane Hart mit einem Liebesroman im Schoß am Fenster ihres Zimmers und starrte, ohne etwas zu sehen, hinaus auf die weißen Nebelschleier, die sich über den sanften Hügeln von Sussex hoben und senkten.
Ihre Schwester, Euphemia, nannte sie oft lachend »hässliches Entchen«. Denn Janes Haut war so braun, wie die ihrer Schwester hell war, Jane war so klein, wie ihre Schwester groß war, und sie war so schüchtern, wie ihre Schwester keck war. Obwohl es Jane natürlich nicht gefiel, als hässlich bezeichnet zu werden, musste sie zugeben, dass sie noch nie eine solche Schönheit wie Euphemia gesehen hatte, und deshalb war es ganz verständlich, dass jede andere vor ihr verblasste.
Euphemia war neunzehn und eine elegante Erscheinung. Ihr üppiges braunes Haar war naturgelockt. Ihre helle Haut war makellos, und ihre großen braunen Augen schimmerten feucht. Sie hatte eine gerade kleine Nase und einen winzigen Mund, dessen Oberlippe größer als die Unterlippe war.
Jane hatte widerspenstige, dicke Zigeunerhaare, die sich bei feuchtem Wetter kräuselten. Ihr schmales Gesicht war goldbraun, ihr Mund groß und üppig, und ihre Nase war leider eine ausgesprochene Stupsnase.
Ihre großen Augen waren haselnussbraun und von pechschwarzen Wimpern umgeben. Ihr Onkel, Mr Hardwicke, hatte einmal ihre schönen Augen gelobt, aber Mrs Hart, Janes Mutter, hatte die Nase gerümpft und schnippisch gesagt, dass Janes dunkler Teint jede Möglichkeit von Schönheit von vornherein ausschließe.
Mrs Hart, die selbst einst eine wirkliche Schönheit gewesen war, hatte ihre Eltern dadurch enttäuscht, dass sie einen Captain heiratete. Jane hatte die Leute oft sagen hören, ihr Vater sei in seiner Jugend ein feuriger und gutaussehender Mann gewesen, doch jetzt war der Captain ein verdrießlicher, mürrischer, hohlwangiger Mensch, an dem seine Frau ständig etwas auszusetzen hatte. Man konnte sich schwer vorstellen, dass er je jung gewesen war.
Mrs Hart hatte beträchtliches eigenes Vermögen. Sie hatte so lange auf ihren Mann eingeredet, bis er widerstrebend unmittelbar nach der Schlacht bei Trafalgar sein Kommando zurückgab und verbittert in den Ruhestand trat.
Angesichts von Mrs Harts Vermögen hätte die Familie sich ein angenehmeres Leben leisten können. Aber Mrs Hart war überaus knauserig, und deshalb waren sie gezwungen, ein feuchtes Haus in einem abgelegenen Dorf mit sehr wenig Abwechslung zu bewohnen. Ihr einziger Besuch war eigentlich Lady Doyle, die Witwe eines irischen Adligen, die behauptete, in London jeden, der Rang und Namen hatte, zu kennen. Daher gehörte Lady Doyle in Mrs Harts Augen zur feinen Gesellschaft.
Mrs Harts Sparsamkeit erstreckte sich nicht auf Euphemias Mitgift, die äußerst großzügig bemessen war, während von Janes Mitgift nie auch nur die Rede gewesen war; und manchmal dachte Jane schon betrübt, dass sie ihr Leben als alte Jungfer verbringen müsse, denn ohne Geld bestand wenig Hoffnung auf Heirat.
Lady Doyle war im Moment unten im Salon, da sie zum Tee eingeladen war. Jane seufzte. Ihre Mutter konnte nicht verstehen, dass jemand eine so bedeutende Persönlichkeit wie Lady Doyle nicht mochte, und würde sich bestimmt schon über ihre Abwesenheit ärgern.