Ein irischer Landarzt - Patrick Taylor - E-Book

Ein irischer Landarzt E-Book

Patrick Taylor

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Beschreibung

Ein irisches Dorf auf dem Land. Geschichten aus einer unbeschwerten Zeit. Perfekte Lektüre für alle, die dem Alltag entfliehen wollen. Endlich ist Barry Laverty fertig mit seinem Medizinstudium. Voller Elan tritt der frischgebackene Arzt seine erste Stelle an. Doch Ballybucklebo ist nicht Belfast, die Uhren ticken etwas anders in dem abgeschiedenen Dorf in Nordirland. Und auch an seinen neuen Chef muss Barry sich erst gewöhnen. Dr. O'Reillys oberste Regel: sich niemals von einem Patienten etwas sagen lassen! Statt Schmerztabletten verordnet er lieber Vitaminpillen. Bald lernt Barry auch den Rest des Dorfes kennen: darunter einen simulierenden Bürgermeister, eine unorthodoxe Haushälterin und einen Hund namens Arthur Guinness. Ungeahnte Lektionen warten auf ihn – über das Leben und über die Liebe … Band 1 der beliebten Reihe in charmanter Neugestaltung – mit hübschen Karten und Rezepten.

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Seitenzahl: 479

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Patrick Taylor

Ein irischer Landarzt

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Schulte

 

Über dieses Buch

Hinter den grünen Hügeln von Ballybucklebo liegt das Glück!

Endlich ist Barry Laverty fertig mit seinem Medizinstudium. Voller Elan tritt der frischgebackene Arzt seine erste Stelle an. Doch Ballybucklebo ist nicht Belfast, die Uhren ticken etwas anders in dem abgeschiedenen Dorf in Nordirland. Und auch an seinen neuen Chef muss Barry sich erst gewöhnen. Dr. O’Reillys oberste Regel: Sich niemals von einem Patienten etwas sagen lassen! Statt Schmerztabletten verordnet er lieber Vitaminpillen. Bald lernt Barry auch den Rest des Dorfes kennen: darunter einen simulierenden Bürgermeister, eine unorthodoxe Haushälterin und einen Hund namens Arthur Guinness. Ungeahnte Lektionen warten auf ihn – über das Leben und über die Liebe …

 

«Taylor ist ein großartiger Geschichtenerzähler.» Publishers Weekly

Vita

Patrick Taylor, 1941 in Nordirland geboren, hat Medizin studiert und lange als Landarzt gearbeitet. Um dem Nordirlandkonflikt zu entfliehen, emigrierte er mit seiner Familie Anfang der 1970er Jahre nach Kanada. Dort hat er auch sein Talent zum Schreiben entdeckt. Von ihm sind bereits zahlreiche Romane und Kurzgeschichten erschienen. «Ein irischer Landarzt» war ein internationaler Überraschungserfolg und schaffte es auf die Bestsellerliste der New York Times. Patrick Taylor lebt heute auf Saltspring Island in der kanadischen Provinz British Columbia. Aus der Reihe sind außerdem erschienen «Neues vom irischen Landarzt» und «Ein irisches Weihnachtsfest».

 

«Ein großer eskapistischer Spaß.» Publishers Weekly

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel «The Apprenticeship of Doctor Laverty» bei Insomnia Press, Toronto.

Die Übersetzungsvorlage erschien 2007 unter dem Titel «An Irish Country Doctor» bei Forge, New York.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 im Rowohlt Verlag GmbH.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«An Irish Country Doctor» Copyright © 2004, 2007 by Patrick Taylor

Karten Imke Trostbach

Redaktion Karen Nölle

Das Zitat auf Seite 126 stammt aus dem Gedicht «Sturm auf der Insel», zitiert nach Seamus Heaney, Ausgewählte Gedichte. Deutsch von Giovanni Bandini und Ditte König, München: Carl Hanser Verlag 1995.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01827-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

1Wo bitte geht’s nach Ballybucklebo?

Barry Laverty, oder vielmehr Doktor Barry Laverty – seine Assistenzzeit war gerade zu Ende und die Tinte auf seinem Abschlusszeugnis noch nicht richtig trocken –, hielt mit seinem klapperigen VW-Käfer am Straßenrand und studierte die Straßenkarte, die auf dem Beifahrersitz lag. Six Road Ends war deutlich eingezeichnet. Er spähte durch die mit Insekten bespritzte Windschutzscheibe. Wenn er das Labyrinth aus schmalen Landstraßen, die von dem Knotenpunkt vor ihm ausgingen, richtig deutete, lag irgendwo am Ende eines dieser von Schlehdornhecken gesäumten besseren Feldwege das Dorf Ballybucklebo. Doch welchen Weg sollte er wählen? Diese Frage hatte Barry, wie er sich erinnerte, nicht bloß auf geographischer Ebene zu entscheiden.

Die meisten seiner früheren Kommilitonen an der Queen’s University in Belfast hatten ihre berufliche Laufbahn längst durchgeplant. Er selbst jedoch hatte keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen sollte. Hausarztpraxis? Facharztausbildung? Und wenn, auf welchem Gebiet? Barry zuckte die Achseln. Eigentlich blieb ihm alle Zeit der Welt, um über seine Zukunft als Arzt nachzudenken, denn er war vierundzwanzig, alleinstehend und frei von Verpflichtungen. Wenn er sich allerdings zu seinem Termin um fünf verspätete, konnte ihm das schaden, vorerst nämlich war sein dringlichstes Bedürfnis, genug Geld zu verdienen, um den Kredit für sein Auto abbezahlen zu können. Eine Richtung für sein Leben ließ sich auch später noch finden.

Mit gerunzelter Stirn verfolgte Barry noch einmal den Weg, den er von Belfast hergefahren war. Aber Six Road Ends lag am Rand seiner Karte, und Ballybucklebo suchte er darauf vergeblich. Was tun?

Als er den Kopf wieder hob, sah er sich im Rückspiegel. Aus einem glattrasierten, ovalen Gesicht blickten ihn blaue Augen an. Sein Schlips war verrutscht. Wie sorgfältig er das Ding auch band, der Knoten schaffte es immer wieder, sich unter einer Spitze seines Hemdkragens zu verkriechen. Barry war klar, wie wichtig der erste Eindruck war, und er wollte nicht schlampig wirken. Also zog er den Schlips wieder zurecht und versuchte, die widerspenstige blonde Locke auf seinem Scheitel glatt zu streichen, aber sie richtete sich sofort wieder auf. Dann musste seine Frisur eben so bleiben. Schließlich war er ja nicht zu einem Schönheitswettbewerb unterwegs, sondern er wollte die Zeugnisse für seine Leistungen vorzeigen. Und immerhin trug er die Haare kurz – nicht in dem neumodischen Stil, den diese Pilzköpfe, diese neue Musikgruppe, die sich die Beatles nannten, gerade einführten.

Ein letzter Blick auf die Karte bestätigte Barry, dass sie ihm bei der Suche nach seinem Ziel keine Hilfe sein würde. Vielleicht, dachte er, standen an der Kreuzung Six Road Ends ja Schilder. Als er aus dem Wagen stieg, quietschten die Federn. Brunhilde, wie er seinen alten Käfer nannte, protestierte gegen das Gewicht seiner wenigen Habseligkeiten: Zwei Koffer waren es nur, die hinten auf dem Rücksitz lagen, der eine enthielt seine spärliche Garderobe, der andere war randvoll mit Lehrbüchern der Medizin. Unter Brunhildes Haube hatte Barry seinen Arztkoffer verstaut, und hinter dem Rücksitz hatten eine Angel, ein Fischkorb und hüfthohe Watstiefel Platz gefunden. Für einen Doktor der Medizin hatte er wirklich nicht viel vorzuweisen, dachte Barry, aber mit einem bisschen Glück würden seine finanziellen Verhältnisse sich bald bessern – vorausgesetzt, er fand Ballybucklebo.

Er lehnte sich gegen die Wagentür und musste wieder einmal feststellen, dass er mit seinen knapp eins siebzig und seinem eher schmächtigen Körperbau nur eben über Brunhildes gewölbtes Dach hinwegschauen konnte. Und selbst als er sich auf die Zehenspitzen stellte, vermochte er keinerlei Wegweiser zu entdecken. Ob sich wohl hinter den Hecken welche versteckten?

Barry spazierte zur Kreuzung, aber auch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass hier tatsächlich ein akuter Mangel an Schildern herrschte. Vielleicht, überlegte er, war Ballybucklebo ja ein verzauberter Ort, so wie Brigadoon, der sich nur alle hundert Jahre einmal zeigte? Sollte er den alten Schlager «How are Things in Glocca Morra?» summen und hoffen, dass ein hilfsbereiter Vertreter des kleinen Volkes auftauchte und ihm den Weg erklärte?

Während er in der Wärme des Ulster-Nachmittags zum Auto zurückschlenderte, atmete Barry den Duft des Stechginsters ein, der auf den kleinen Feldern rechts und links der Straße wuchs. Er hörte den melodischen Gesang einer Amsel und freute sich an einem wild in der Hecke wachsenden Fuchsienstrauch, dessen violette und scharlachrote Blüten leise in der Sommerluft schwankten. Irgendwo muhte eine Kuh den Bass zum Sopran der Amsel.

Barry kostete diesen Augenblick aus. Auch wenn er sich über seine Zukunft noch nicht im Klaren war, eins war sicher: Nichts und niemand würde ihm jemals ausreden können, dass Nordirland das schönste Land der Welt war und dass er nur hier leben wollte und sonst nirgendwo.

Keine Karte, kein Schild und kein kleines Volk, dachte Barry, als er wieder bei Brunhilde ankam. Ich werde mich also einfach für eine Straße entscheiden müssen … Umso angenehmer war er überrascht, als auf dem flachen Hügelkamm eine Gestalt auf einem Fahrrad auftauchte. Gemächlich radelte der Mann auf ihn zu.

«Entschuldigen Sie bitte.» Barry trat ihm in den Weg. Der Radfahrer schwankte, bremste und blieb, einen Fuß auf dem Boden und den anderen auf dem Pedal, stehen. Einen Moment lang überlegte Barry, ob sich seine Hoffnung, einem Kobold zu begegnen, vielleicht erfüllt hatte. «Guten Tag», sagte er.

Sein Gegenüber war ein schlaksiger junger Mann, dessen unschuldiges Gesicht halb unter einem alten, weichen Tweedhut verborgen war, nicht weit genug allerdings, um seine vorstehenden Schneidezähne zu verdecken, um die ihn jeder Hase in Ulster beneidet hätte. Er trug eine Heugabel auf der Schulter, und seine Kleidung bestand aus einem kragenlosen Hemd mit einer schwarzen Kammgarnweste darüber und Tweedhosen, die an den Knien mit Lederriemen zusammengebunden waren.

«Herrlicher Tag», bemerkte der junge Mann.

«Das stimmt.»

«Doch, ja. Herrlich. Das gibt schönes Heu, och ja.» Der junge Mann bohrte in der Nase.

«Ob Sie mir vielleicht helfen könnten?»

«Ja?» Der Radfahrer lupfte den Hut und kratzte sich unter dem rötlich blonden Haar. «Vielleicht.»

«Ich suche Ballybucklebo.»

«Ballybucklebo, ja?» Er runzelte die Stirn und kratzte sich noch heftiger den Kopf.

«Können Sie mir sagen, wie man da hinkommt?»

«Nach Ballybucklebo?» Er verzog den Mund. «Junge, Junge, das ist ein schönes Dörfchen, doch, ja.»

Barry bemühte sich, seine wachsende Ungeduld zu verbergen. «Ja, das glaube ich Ihnen, aber ich muss bis fünf Uhr da sein.»

«Bis fünf Uhr, ja? Heute, meinen Sie?»

«Mmm.» Barry verkniff sich die Antwort: Nein, erst im Jahr 2000. Er wartete ab.

Der junge Mann fummelte in der Uhrtasche seiner Weste herum und zog eine Taschenuhr hervor, die er stirnrunzelnd und vor sich hin murmelnd konsultierte. Schließlich sah er Barry wieder an. «Heute um fünf? Da haben Sie aber nicht mehr viel Zeit.»

«Das weiß ich. Wenn Sie mir einfach nur –»

«Nach Ballybucklebo?»

«Bitte –»

«Och, ja.» Er deutete auf die Straße, die geradeaus weiterführte. «Fahren Sie da weiter.»

«Auf dieser Straße?»

«Auf der da, ja. Immer der Nase nach, bis Sie zu Willy John McCoubreys roter Scheune kommen.»

«Rote Scheune. Gut.»

«Aber biegen Sie da nicht ab.»

«Aha.»

«Auf keinen Fall. Immer weiter geradeaus. Dann sehen Sie eine schwarzweiße Kuh auf einer Wiese – wenn Willy John sie nicht schon zum Melken in die rote Scheune geholt hat. An der fahren Sie vorbei, ja, und dann biegen Sie rechts ab.» Der junge Mann zeigte allerdings nach links.

Barry war ein wenig verwirrt. «Die erste rechts nach der schwarzweißen Kuh?»

«Ja, genau nach der.» Unbeirrt zeigte der Radfahrer weiter nach links. «Von da aus ist’s nur noch ein Katzensprung. Aber wissen Sie …» Während er sich anschickte, sein rostiges Gefährt wieder zu besteigen, beendete er seinen Satz mit der Feierlichkeit eines Priesters, der den Segen erteilt: «… an Ihrer Stelle hätte ich gar nicht erst versucht, von hier aus nach Ballybucklebo zu kommen.»

Barry sah ihn scharf an, doch im jugendlichen Gesicht seines Gesprächspartners war nicht der geringste Hinweis darauf zu lesen, dass er seine Worte nicht vollkommen ernst meinte.

«Danke schön.» Barry musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. «Vielen Dank. Ach so, und kennen Sie vielleicht zufällig den Arzt dort?»

Die Brauen des jungen Mannes schossen in die Höhe. Seine Augen wurden groß, und er stieß einen langen, leisen Pfiff aus, bevor er sagte: «Den Doktor? Doktor O’Reilly, ja? Den kenn ich, Sir, bei Gott. Meiner Seel’, ja, den kenn ich.» Damit radelte er, wild in die Pedale tretend, davon.

Barry stieg wieder in seine Brunhilde. Er fragte sich, warum sein freundlicher Ratgeber schon bei der bloßen Erwähnung von Doktor O’Reilly so plötzlich die Flucht ergriffen hatte. Na gut, dachte er, wenn Willy Johns Kuh auf der richtigen Wiese steht, finde ich das bald heraus. Zu der Verabredung um fünf erwartete ihn nämlich niemand anders als Doktor Fingal Flahertie O’Reilly persönlich.

2Flugstunde

Dr. F.F. O’ReillyPraktischer Arzt und Chirurg, Arzt für Geburtshilfe Sprechzeiten: Mo.–Fr. 9.00–12.00 Uhr

Barry studierte die Zeilen auf dem Messingschild, das neben der grüngestrichenen Eingangstür des dreistöckigen Hauses an der Wand festgeschraubt war. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er dank Willy John McCoubreys schwarzweißer Kuh fünf Minuten zu früh angekommen war. Er fasste seine brandneue schwarze Ledertasche fester, trat einen Schritt zurück und schaute sich um.

Zu beiden Seiten der Haustür schauten Bogenfenster aus den grauen Wänden mit dem Kieselrauputz. Rechts war durch die Glasscheibe deutlich die Einrichtung eines Esszimmers zu sehen. Offenbar praktizierte Doktor O’Reilly also zu Hause, so wie viele Landärzte. Und der lauten, einschüchternden Männerstimme nach zu urteilen, die hinter den Gardinen des linken Fensters zu vernehmen war, war der Doktor noch bei der Arbeit.

«Du bist ein Idiot, Seamus Galvin. Ein wiedergeborenes Rindvieh bist du, ein ungewaschener Schwachsinnsschwafelkopf von Blödmann. Was bist du?»

Die Antwort konnte Barry nicht hören, aber irgendwo im Haus knallte eine Tür gegen eine Wand. Er trat noch einen Schritt zurück und blickte über die Schulter auf den von Rosen gesäumten Kiesweg, der zur Pforte führte. Als er eine Bewegung wahrnahm und sich rasch wieder zum Hauseingang umdrehte, sah er einen großen – nein, einen riesigen – Mann breitbeinig in der offenen Haustür stehen. Die schiefe Nase dieses Ungeheuers leuchtete alabasterweiß, das übrige Gesicht puterrot, wahrscheinlich, so dachte Barry, weil es wohl einer gewissen Anstrengung bedurfte, einen Mann, auch wenn er deutlich kleiner war, an Jackenkragen und Hosenboden zu packen und so vor die Tür zu tragen. Der Mann zappelte, quiekte und strampelte mit dem linken Fuß. Barry fiel auf, dass dieser gänzlich unbekleidet war.

Der Hüne schaukelte den Kleinen vor und zurück, holte noch einmal Schwung und ließ ihn los. Mit offenem Mund verfolgte Barry, wie die Flugbahn und das Klagegeschrei des Opfers mit einem jähen Sturz in den nächsten Rosenbusch endeten.

«Elender Schwachkopf», brüllte der Riese und schleuderte dem Hinausgeworfenen einen Schuh und einen Strumpf hinterher.

Barry zuckte zusammen. Schützend hielt er seine schwarze Tasche vor sich.

«Seamus Galvin, du dreckiger kleiner Armleuchter, wenn du das nächste Mal außerhalb der Sprechzeit hier erscheinst, an meinem freien Nachmittag, weil ich mir deinen Knöchel angucken soll, dann wasch dir gefälligst vorher deine Käsemauken! Hast du mich verstanden, Seamus Galvin?»

Barry war drauf und dran, den Rückzug anzutreten, aber der Weg war durch den abziehenden Galvin versperrt, der mit Schuh und Strumpf in der Hand zum Tor humpelte und dabei murmelte: «Jawohl, Doktor O’Reilly. Werd ich tun, Herr Doktor.»

Plötzlich musste Barry daran denken, wie der Radfahrer, der ihm den Weg nach Ballybucklebo erklärt hatte, schon bei der bloßen Erwähnung des Namens O’Reilly geflüchtet war. Gütiger Himmel, wenn das, was er gerade erlebt hatte, typisch dafür war, wie der Mann mit seinen Patienten umging …

«Und was stehst du dir da die Beine in den Bauch und machst ein langes Gesicht dazu?»

Barry drehte sich um. «Doktor O’Reilly?»

«Nee, ich bin der verdammte Erzengel Gabriel. Kannst du denn das Schild nicht lesen?» Er deutete auf die Wand.

«Ich bin Laverty.»

«Laverty? Mach bloß, dass du wegkommst, ich kaufe nichts.»

Obwohl Barry durchaus versucht war, O’Reillys Anweisung zu befolgen, gab er nicht auf.

«Ich bin Doktor Laverty. Ich habe auf Ihre Anzeige im British Medical Journal geantwortet. Sie hatten mich zu einem Vorstellungsgespräch wegen der Assistentenstelle eingeladen», sagte Barry mit fester Stimme. Von diesem Rüpel lasse ich mich nicht einschüchtern, dachte er.

«Ach, der Laverty. Mann, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?» O’Reilly streckte ihm eine Rechte von der Größe eines Suppentellers hin. Sein Händedruck hätte den Maschinen, die Autos auf die Größe von Koffern zusammenpressen, alle Ehre gemacht.

Barry spürte, wie seine Knöchel aufeinanderrieben, erwiderte O’Reillys Blick aber, ohne mit der Wimper zu zucken. Er schaute in tiefliegende braune Augen, die von buschigen Brauen beschattet wurden. Um die Augen herum fielen ihm tiefe Lachfältchen auf, und er sah, dass O’Reillys Nase, ein veritabler Rüssel, der eindeutig Schlagseite nach Backbord hatte, nicht mehr bleich war, sondern inzwischen die Pflaumenfarbe seiner Wangen angenommen hatte.

Der Druck auf seine Fingerknöchel ließ nach.

«Kommen Sie rein, Laverty.» O’Reilly trat zur Seite und ließ Barry in einen mit dünnem Teppich ausgelegten Flur vorangehen. «Die Tür links.»

Immer noch über den Rauswurf staunend, den er gerade miterlebt hatte, betrat Barry den Raum mit den zugezogenen Gardinen. Vor einer grünen Wand stand ein offenes Rollpult. Darauf lagen in wüstem Durcheinander Stapel von Rezeptblöcken, Papieren und Patientenkarten. Obendrüber baumelte an einem rostigen Nagel O’Reillys eingerahmtes Diplom. Verstohlen warf Barry einen raschen Blick darauf: «Trinity College, Dublin, 1936». Vor dem Schreibpult standen ein Drehsessel und ein schlichter Holzstuhl.

«Platzen Sie sich.» O’Reilly ließ sich mit seiner ganzen Masse in den Drehsessel sinken.

Barry setzte sich ebenfalls, nahm seine Tasche auf den Schoß und schaute sich um. An einer Wand drängten sich eine Untersuchungsliege, ein Paravent und ein Instrumentenschrank. Ein verstaubtes Blutdruckmessgerät war fest an der Wand angebracht. Darüber hing ein wenig schief ein Plakat zur Bestimmung der Sehschärfe.

O’Reilly schob sich eine Halbbrille auf die schiefe Nase und betrachtete Barry. «Sie wollen also mein Assistent werden?»

Ja, ursprünglich war das Barrys Absicht gewesen, aber nach dem Rausschmiss von Seamus Galvin war er sich nicht mehr ganz sicher.

«Also, ich –»

«Klar wollen Sie das», meinte O’Reilly, indem er eine Bruyèrepfeife aus seiner Jackentasche zog, ein Streichholz anzündete und es über den Pfeifenkopf hielt. «Einmalige Gelegenheit für einen jungen Mann.»

Barry fiel auf, dass er auf seinem Stuhl immer wieder nach vorn rutschte. Was er auch versuchte, dauernd musste er die Füße fest auf den Teppich stemmen und sein Hinterteil wieder nach hinten schieben.

O’Reilly hob den Zeigefinger. «Hier in Ballybucklebo zu praktizieren – das Befriedigendste auf der ganzen Welt. Wird Ihnen gefallen. Vielleicht ist sogar eine Teilhaberschaft für Sie drin. Aber erst mal müssen Sie natürlich eine Zeitlang tun, was ich Ihnen sage – bis Sie Bescheid wissen.»

Barry schob sich wieder auf dem Sitz nach hinten und traf blitzschnell eine Entscheidung. Vielleicht würde er tatsächlich hier arbeiten, falls er die Stelle bekam, aber er spürte – nein, er wusste –, dass Doktor O’Reilly ihn vollkommen unterbuttern würde, wenn er nicht sofort seine Eigenständigkeit deutlich machte.

«Heißt das, dass ich Patienten in die Rosenbüsche schmeißen muss?»

«Was?» Wieder war eine Andeutung von Blässe auf der Nase des Hünen zu sehen. Barry fragte sich, ob das wohl die Vorankündigung eines Wutausbruchs war.

«Ich habe gefragt: ‹Heißt das› –»

«Ich habe Sie schon beim ersten Mal verstanden, mein Junge. Jetzt hören Sie mal zu. Haben Sie irgendwelche Erfahrungen mit Patienten vom Land?»

«Nicht die –»

«Hab ich mir gedacht», unterbrach ihn O’Reilly und stieß eine Rauchwolke aus wie die Schornsteine der Queen Mary, als ihre Kessel explodierten. «Sie werden eine Menge zu lernen haben.»

Barry verspürte einen Krampf in der linken Wade. Er schob sich auf dem Stuhl nach hinten. «Ich weiß, aber ich finde, ein Arzt sollte Patienten nicht vor die Tür –»

«Blödsinn.» O’Reilly stand auf. «Sie haben gesehen, wie ich Galvin in die Rosen gesetzt habe. Lehrsatz Nummer eins: Lass dir von deinen Patienten nie, nie, nie» – bei jedem «nie» pikte er Barry mit seinem Pfeifenstiel –, «niemals auf der Nase rumtanzen. Wenn man das nämlich einmal zulässt, machen sie einen fix und fertig.»

«Aber finden Sie nicht, einen Mann in den Garten zu schleudern ist ein bisschen –»

«Früher habe ich auch so gedacht. Bis ich Seamus Galvin kennenlernte. Wenn Sie die Stelle nehmen und diesen Drückeberger erst so gut durchschauen wie ich …» O’Reilly schüttelte den Kopf.

Barry stand auf und massierte sich die linke Wade. Er wollte die Diskussion über Galvin gerade fortführen, da fing O’Reilly tief aus der Kehle heraus rumpelnd an zu lachen.

«Steifes Bein?»

«Ja. Irgendwas stimmt mit diesem Stuhl nicht.»

O’Reillys Gelächter wurde noch tiefer. «Doch, der ist in Ordnung. Ich habe ihn präpariert.»

«Präpariert?»

«Ja. Manche unserer Kranken hier in Ballybucklebo denken anscheinend, sobald sie hier reinspazieren, wäre es meine Aufgabe, mir endlos ihre Klagen anzuhören. Aber dafür hat ein Landarzt keine Zeit, und schon gar nicht, wenn er allein praktiziert.» Er schob sich die Brille höher auf die Nase. «Deswegen habe ich die Anzeige aufgegeben. Die Arbeit hier wächst mir einfach über den Kopf.» Der Arzt lachte nicht mehr. Er sah Barry mit seinen braunen Augen unverwandt an und sagte leise: «Nehmen Sie die Stelle, mein Junge. Ich brauche Hilfe.»

Barry zögerte. Wollte er wirklich für diesen raubeinigen Riesen von einem Mann arbeiten, der da mit der Pfeife im breiten Mund vor ihm saß? Er betrachtete O’Reillys gerötete Wangen, die Blumenkohlohren, die er sich im Boxring geholt haben musste, und den schwarzen Haarschopf, strubbelig wie ein schlecht aufgesetzter Heuhaufen, und beschloss, auf Zeit zu spielen. Erst einmal setzte er sich wieder hin. «Was haben Sie denn mit diesem Stuhl gemacht?»

O’Reilly verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das man nur als dämonisch bezeichnen konnte. «Ich habe ihn in Ordnung gebracht. Hab die Vorderbeine einen Daumenbreit abgesägt.»

«Wie bitte?»

«Ich habe von den beiden vorderen Stuhlbeinen je einen Daumenbreit abgesägt. Nicht gerade bequem, was?»

«Nein.» Barry schob sich wieder nach hinten.

«Da halten Sie’s nicht lange drauf aus, wie?»

Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich es hier überhaupt lange aushalte, dachte Barry.

«Die Patienten auch nicht. Deshalb sind sie ruck, zuck wieder draußen.»

Wie konnte ein Arzt jemals verantwortungsbewusst eine Anamnese durchführen, wenn er in seiner Praxis wie am Fließband arbeitete?, fragte sich Barry. Laut sagte er, mit einem Blick zur Tür: «Ich weiß nicht, ob ich hier arbeiten möchte.»

O’Reillys Gelächter dröhnte durch den Raum. «Nehmen Sie sich bloß nicht so wichtig, mein Sohn.»

Barry spürte, wie unter seinem Kragen eine hitzige Röte aufstieg. «Doktor O’Reilly, ich –»

«Laverty, es gibt hier einige sehr kranke Menschen, die uns wirklich brauchen, wissen Sie.» O’Reilly war ernst geworden.

Überrascht stellte Barry fest, dass er sich freute, als er das «uns» hörte.

«Ich brauche Hilfe.»

«Also, ich –»

«Wunderbar.» O’Reilly steckte seine Pfeife wieder an, erhob sich und marschierte zur Tür. «Kommen Sie, jetzt haben Sie das Behandlungszimmer gesehen. Ich zeige Ihnen den Rest der Praxis.»

«Aber ich –»

«Lassen Sie Ihre Tasche hier. Die brauchen Sie morgen.» Damit verschwand O’Reilly im Flur und ließ Barry keine andere Wahl, als seine Tasche stehenzulassen und ihm zu folgen. Gegenüber konnte er ins Speisezimmer sehen, aber O’Reilly stürmte schon durch den Flur, an einer Treppe mit einem kunstvoll verzierten Mahagonigeländer vorbei. Dann blieb er stehen und riss eine Tür weit auf. Barry beeilte sich, ihn einzuholen.

«Das Wartezimmer.»

Barry schaute in einen großen Raum hinein, der mit einem scheußlichen Rosenmuster tapeziert war. Ringsherum an den Wänden waren weitere Holzstühle aufgereiht. Auf dem Tisch in der Mitte lag ein Haufen alter Zeitschriften.

O’Reilly deutete auf die Tür gegenüber. «Dort kommen die Patienten von draußen rein; wir holen sie der Reihe nach ins Sprechzimmer, behandeln sie und schicken sie durch die Haustür wieder raus.»

«Auf den Füßen, hoffe ich.» Barry beobachtete O’Reillys Nase. Keine Blässe.

Der massige Mann lachte leise. «Sie sind nicht auf den Kopf gefallen, was, Laverty?»

Barry behielt seine Meinung für sich, während O’Reilly fortfuhr: «Das ist ein gutes System … hindert die Burschen daran, über ihre Diagnose zu palavern oder die gleiche Medizin zu verlangen wie der Vorgänger. Also» – er wandte sich der Treppe zu –, «kommen Sie weiter.»

Die Treppe führte zu einem breiten Flur hinauf, an dessen Wänden gerahmte Fotografien von einem Kriegsschiff hingen.

«Da ist die gute Stube.» O’Reilly deutete auf eine getäfelte Doppeltür.

Barry nickte, interessierte sich jedoch mehr für das Kriegsschiff. «Verzeihung, Doktor O’Reilly, ist das nicht die HMS Warspite?»

O’Reilly, den Fuß schon auf der ersten Stufe der nächsten Treppe, verharrte reglos.

«Woher wissen Sie das denn?»

«Mein Vater hat auf dem Schiff gedient.»

«Jesus, Maria und Joseph. Laverty? Sind Sie etwa … bist du etwa der Sohn von Tom Laverty?»

«Ja.»

«Ich werd verrückt.»

Ich auch, dachte Barry. Sein Vater, der nur selten über seine Kriegserlebnisse sprach, hatte immer mal wieder einen gewissen Marinestabsarzt O’Reilly erwähnt, der Boxchampion der Mittelmeerflotte im Weltergewicht gewesen war – das erklärte also O’Reillys Blumenkohlohren und die schiefe Nase.

Nach Ansicht seines Vaters war O’Reilly der beste Sanitätsoffizier der gesamten Marine gewesen. Hatte er tatsächlich von diesem Mann gesprochen?

«Nicht möglich. Lavertys Sohn.» O’Reilly streckte die Hand aus. Dieses Mal war sein Händedruck fest, aber nicht schraubstockartig. «Du bist der Mann für den Job. Fünfunddreißig Pfund die Woche, jeden zweiten Samstag frei, Kost und Logis inbegriffen.»

«Fünfunddreißig Pfund?»

«Ich zeige dir dein Zimmer.»

*

«Und was möchtest du?» O’Reilly stand vor einer Anrichte mit Kristallkaraffen und ordentlich aufgereihten Gläsern.

«Einen kleinen Sherry, bitte.» Barry setzte sich in einen der großen Sessel. O’Reillys Wohnstube hier oben war behaglich eingerichtet. Drei Aquarelle von Milliken, auf denen Federwild zu sehen war, schmückten die Wand über dem großen Kamin. Zwei weitere Wände verschwanden hinter deckenhohen Bücherregalen. Platos Politeia, Caesars De bello Gallico, Pu der Bär und seine lateinische Fassung Winnie ille Pu, die gesammelten Werke von W. Somerset Maugham, Graham Greene, John Steinbeck und Ernest Hemingway sowie Leslie Charteris’ Romane über den «Heiligen» Simon Templar – beim Überfliegen der Titel stellte Barry fest, dass O’Reillys Lesegeschmack universell war.

Seine Schallplattensammlung, die neben einem Grammophon der Marke Philips Black Box aufgestapelt war, schien genauso bunt zu sein. Beethovens Symphonien auf 33er-Langspielplatten mischten sich mit alten 78er-Platten von Bix Beiderbecke und Jelly Roll Morton, und dazwischen steckte die neueste LP der Beatles.

«Bitte schön.» O’Reilly reichte Barry ein Glas, ließ sich ebenfalls in einen Sessel fallen und packte seine Füße in den derben Stiefeln auf den Couchtisch. Dann hob er sein Glas, das als Löscheimer hätte dienen können, wäre es nicht bis zum Rand mit irischem Whiskey gefüllt gewesen. «Ich mache mir nicht so viel aus Sherry, aber jedem das Seine.»

«Ich hätte gedacht, dass es für Whiskey noch ein bisschen früh ist.»

«Früh?» O’Reilly trank einen Schluck. «Für einen anständigen Tropfen ist es nie zu früh.»

Mein Gott, dachte Barry, während er O’Reillys rote Bäckchen näher betrachtete, hoffentlich habe ich es nicht mit einem Säufer zu tun.

O’Reilly, der Barrys prüfenden Blick gar nicht bemerkte, nickte zu dem großen Fenster hinüber. «Guck mal.»

Barry schaute an dem moosbewachsenen, schiefen Kirchturm auf der anderen Straßenseite vorbei, über die Dächer der Häuser an Ballybucklebos Hauptstraße hinweg und weiter über die Sanddünen bis zum Ufer der Belfast Lough, der Bucht von Belfast, die kobaltblau und mit weißen Gischtkronen verziert im Hintergrund schimmerte. Diese Bucht trennte County Down von den Antrim Hills, die sich im fernen Dunst verschwommen vor dem kornblumenblauen Himmel abhoben.

«Herrgott», brummte O’Reilly, «das ist doch einfach nicht zu schlagen.»

«Es ist wunderschön, Herr Doktor O’Reilly.»

«Fingal, mein Junge. Ich wollte dir eben schon das Du anbieten. Also, ich heiße Fingal», sagte O’Reilly mit einem onkelhaften Lächeln, «nach Oscar.»

«Oscar, äh, Fingal?»

«Nein, nicht Oscar Fingal. Oscar Wilde.»

«Oscar Wilde Fingal?» Barry kam nicht mehr mit. Er entdeckte einen Anflug von Blässe auf O’Reillys Nase.

«Oscar … Fingal … O’Flahertie … Wills … Wilde.»

Fast hätte Barry gesagt, da fehle ja nur noch eine Melodie, dann könne man den Namen singen, aber er unterdrückte diesen Impuls.

«Du siehst verwirrt aus, mein Sohn.»

Verwirrt, verdutzt, verblüfft, ohne einen blassen Schimmer.

Der bleiche Fleck auf O’Reillys Nase verschwand wieder. «Ich bin nach ihm benannt. Nach Oscar Wilde.»

«Ach so.»

«Ja», sagte O’Reilly, «mein Vater war klassisch gebildet, und wenn du meinst, das hätte ein bisschen auf mich abgefärbt, dann solltest du erst meinen Bruder kennenlernen, Lars Porsena O’Reilly.»

«Was? Ist das nicht der Macauly-Experte?»

«Doch ja, ganz richtig. Er hat über Macaulys Lays of Ancient Rome geschrieben.» O’Reilly trank einen ordentlichen Schluck. «Wir Landärzte sind nicht alle Analphabeten.»

Barry spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Sein erster Eindruck von dem hünenhaften Mann, der sich da ihm gegenüber in seinem Sessel räkelte, war vielleicht doch nicht ganz richtig gewesen. Er senkte den Kopf und schlürfte seinen Sherry.

«Also, Laverty», sagte O’Reilly, indem er Barrys Unbehagen einfach ignorierte. «Wie steht’s? Willst du die Stelle?»

Doch bevor Barry antworten konnte, bimmelte unten irgendwo eine Glocke.

«Schweinebande», brummte O’Reilly. «Wieder ein Patient. Komm mit.» Er erhob sich, und Barry folgte ihm.

O’Reilly öffnete die Haustür. Draußen stand Seamus Galvin. In jeder Hand hielt er einen lebenden Hummer. Mit einem «Guten Abend, Herr Doktor» streckte er O’Reilly die Tiere entgegen. «Ich habe meinen Fuß gewaschen, doch, das hab ich», fügte er hinzu.

«Ach, tatsächlich?», sagte O’Reilly streng und reichte die zappelnden Hummer an Barry weiter. «Dann komm mal wieder rein, damit ich mir dein Hinterbein ansehen kann.»

«Danke, Herr Doktor, vielen herzlichen Dank.» Galvin stutzte. «Und wer ist der junge Mann da?», fragte er dann.

Barry war so damit beschäftigt, den klappernden Scheren der Schalentiere auszuweichen, dass er beinahe O’Reillys Antwort verpasst hätte.

«Das ist Doktor Laverty. Mein neuer Assistent. Morgen zeige ich ihm, wie das hier bei uns läuft.»

3Morning has broken

Barry erwachte vom Rasseln seines Weckers. In seiner Mansarde war gerade genug Platz für ein Bett, einen Nachttisch und einen Kleiderschrank. Gestern Abend hatte er noch ausgepackt, seine wenigen Kleidungsstücke untergebracht und seine Angelrute in die Ecke neben dem Giebelfenster gestellt.

Er stand auf, zog den Vorhang zurück und schaute aus dem Fenster, das offenbar auf O’Reillys Garten hinausging. Dann nahm er sein Waschzeug vom Nachttisch und begab sich ins Badezimmer. Beim Rasieren dachte er über die Ereignisse des vergangenen Abends nach. O’Reilly hatte Seamus Galvins Fußgelenk bandagiert, die Hummer in den Spülstein in der Küche gesetzt, Barry wieder mit nach oben in die Wohnstube genommen und ihnen beiden nachgeschenkt. Er hatte erklärt, dass sie im ersten Monat zusammenarbeiten würden, damit Barry die Patienten kennenlernen, Einblick in die Praxisführung bekommen und sich mit der Geographie von Ballybucklebo und der Gegend ringsherum vertraut machen konnte.

Der Abend war wie im Flug vergangen, und obwohl O’Reilly stetig seinem Old Bushmills Irish Whiskey zugesprochen hatte, war ihm keinerlei Wirkung anzumerken gewesen. Es war, als hätte er Wasser getrunken. Barry jedoch hatte nach zwei Sherrys eine gewisse Weichheit in den Knien und ein leicht wattiges Gefühl im Kopf verspürt. Er war dankbar gewesen, als O’Reilly ihm sein Quartier im Dachgeschoss gezeigt und ihm eine sehr gute Nacht gewünscht hatte.

Barry spülte sein Rasierzeug aus und blickte in den Spiegel. Nur eine Spur Rot in den Augen. Hatte der Sherry sein Denkvermögen so stark beeinträchtigt? Er erinnerte sich zwar nicht daran, tatsächlich die Stelle angenommen zu haben, aber wenn O’Reilly einmal etwas entschieden hatte, blieb geringeren Sterblichen wohl nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Na, wenn schon. Er trocknete sich das Gesicht ab, ging in sein Dachkämmerchen zurück und zog sich an. Beste Hose, beste Schuhe, sauberes Hemd …

«Beeilung, Laverty. Wir können nicht den ganzen Tag vertrödeln», brüllte O’Reilly die Treppe hoch.

Barry ignorierte den Befehl. Schließlich wollte er in einer Arztpraxis arbeiten, nicht in der Marine, und je schneller Doktor Fingal Flahertie O’Reilly, ehemaliger Stabsarzt, begriff, dass Barry sich nicht wie ein Matrose herumkommandieren ließ, desto besser. Gelassen band er sich den Schlips von der Queen’s University um, schlüpfte in sein Jackett und stieg die Treppe hinunter.

*

«Essen Sie die paar Häppchen nur ganz auf, lieber Doktor Laverty.»

Barry blickte von seinem gemischten Grillteller – nach Ulster-Art mit Speck, Würstchen, gebratener Blutwurst, Spiegeleiern, Tomaten, Lammkoteletts und gebratenem Brot – auf und schaute in das strahlende Gesicht von Mrs Kincaid. Er sah silbernes Haar, das zu einem Knoten frisiert war, blanke, pechschwarze Augen und über dem Dreifachkinn zwischen rosaroten Wangen einen lächelnden Mund.

«Ich werde mein Bestes tun.»

«Das ist brav. Dies hier wird es oft zum Frühstück geben», erklärte sie, während sie O’Reilly seinen Teller hinstellte. «Er hier ist nämlich ein großer Freund von Gebratenem, ja.»

Barry erkannte den weichen, singenden Tonfall der Leute aus Cork.

«Ach komm, Kinky.» O’Reilly hob Messer und Gabel und machte sich mit sichtlichem Genuss über sein Frühstück her.

Mrs Kincaid verließ den Raum.

O’Reilly brummte etwas, mit dem Mund voller Blutwurst.

«Wie bitte?», fragte Barry.

Sein Gegenüber schluckte. «Ich habe vergessen, dich vor Kinky zu warnen. Sie ist eine starke Frau. Schon seit Jahren bei mir.»

«Ach ja?»

«Haushälterin, Köchin und Zerberus.»

«Sie bewacht das Tor zum Hades?»

«Wie der dreiköpfige Hund selbst. Die Patienten müssen ganz früh aufstehen, um an Kinky vorbeizukommen. Du wirst schon sehen. Aber jetzt hau rein. In einer Viertelstunde müssen wir in der Praxis sein.»

Das ließ Barry sich nicht zweimal sagen.

Mrs Kincaid kehrte zurück, diesmal mit einer Teekanne aus Belleek in der Hand. «Tee, Doktor Laverty?»

«Ja, danke.»

Sie schenkte Barry ein und huschte mit ihren knapp zwei Zentnern leichtfüßig zu O’Reilly hinüber, der gerade mit einem Stück gebratenen Brot den letzten Rest Ei von seinem Teller wischte. Mrs Kincaid goss ihm Tee ein und reichte ihm ein Blatt Papier.

«Das sind Ihre Hausbesuche für heute Nachmittag», erklärte sie. «Maggie wollte auch, dass Sie vorbeikommen, aber ich habe ihr gesagt, sie sollte sich in die Praxis bemühen.»

«Maggie MacCorkle?» O’Reilly seufzte und betupfte einen Eigelbfleck auf seinem Schlips. «Ja, gut. Danke, Kinky.»

«Besser, Maggie kommt her, als dass Sie die zehn Meilen zu ihrem Häuschen rausfahren.» Mrs Kincaid legte den Kopf schräg und musterte O’Reillys verschmierten Schlips. «Und ziehen Sie das schmuddelige Ding da aus, ich wasche es Ihnen, ja?»

Zu Barrys Überraschung löste O’Reilly kleinlaut den Knoten und reichte seiner Haushälterin den Schlips. Sie rümpfte die Nase, drehte sich um und bemerkte im Hinausgehen: «Aber vergessen Sie nicht, einen sauberen anzuziehen.»

O’Reilly trank seinen Tee aus und erhob sich. «Bin in fünf Minuten wieder hier. Dann geht die Plackerei los.»

*

«Mein Gott», wisperte O’Reilly, «willst du mal gucken? Wir bräuchten fünf Brote und zwei kleine Fische, um diese Massen zu speisen.»

Barry bezweifelte keinen Augenblick, dass O’Reilly mit größtem Vergnügen in die Rolle des göttlichen Wundertäters geschlüpft wäre. Er reckte den Hals, um an der massigen Gestalt des Arztes vorbei durch den Türspalt einen Blick ins Wartezimmer zu werfen. Drinnen gab es tatsächlich nur noch Stehplätze. Um Himmels willen, wie wollte O’Reilly bis zum Mittag so viele Patienten behandeln?

Der Doktor riss die Tür weit auf.

«Morgen.»

«Morgen, Doktor O’Reilly», erscholl es im Chor aus dem Wartezimmer.

«Ich möchte euch allen Doktor Laverty vorstellen», erklärte O’Reilly, indem er Barry einen Schubs gab. «Er ist mein neuer Assistent.»

Mit einem schwachen Lächeln begrüßte Barry die Menge fragender Gesichter.

«Herr Doktor Laverty ist von der Queen’s University nach Ballybucklebo gekommen, um mir zur Hand zu gehen.»

«Er sieht ja doch furchtbar jung aus», brummelte jemand.

«Das ist er auch, James Guiggan. Er ist der jüngste Arzt, der jemals den ersten Preis für seine Leistungen an der Universität erhalten hat.»

Barry versuchte einzuwenden, dass es einen derartigen Preis gar nicht gab, aber sein gemurmelter Protest wurde von einem Chor aus Oohs und Aahs übertönt. Er spürte, wie O’Reilly ihn am Arm packte, und hörte ihn flüstern: «Denk an den Lehrsatz Nummer eins.»

Lass dir von den Patienten niemals auf der Nase herumtanzen, klang es in Barrys Kopf nach, während O’Reilly sagte: «Gut. Wer braucht eine Aufbauspritze?»

Mehrere Patienten erhoben sich.

«… fünf, sechs», zählte O’Reilly. «Euch nehme ich zuerst dran. Wartet noch eben.» Er drehte sich um und ging ins Sprechzimmer. Barry folgte ihm.

Staunend beobachtete er, wie O’Reilly sechs Spritzen nahm, sie erst mit einer rosa Flüssigkeit füllte und dann in einer Reihe auf einem Handtuch platzierte, das ausgebreitet auf einem kleinen Rollwagen lag.

«Was ist das?», fragte Barry.

O’Reilly grinste. «Vitamin B12.»

«B12? Aber das ist doch kein –»

«Herrje, ich weiß selbst, dass das kein Aufbaupräparat ist. Und du weißt das auch, Barry, aber» – sein Grinsen wurde noch breiter – «die da draußen wissen es nicht. Und jetzt geh und hol die Meute her.»

«Alle gleichzeitig?»

«Alle sechs.»

Barry ging zum Wartezimmer. Himmel nochmal, das hier war wohl kaum die Medizin, die er gelernt hatte. Er wich den forschenden Blicken aus, die ihn verfolgten, und sagte: «Würden diejenigen, die ein Aufbaupräparat wünschen, mir bitte folgen?»

Lammfromm und schweigend zogen die sechs Opfer hinter ihm her.

Die kleine Prozession stapfte ins Behandlungszimmer, wo O’Reilly am Rollwagen wartete.

«Stellt euch an die Liege.»

Drei Männer und drei Frauen drehten sich gehorsam zur Untersuchungsliege.

«Bückt euch.»

Die sechs präsentierten ihre behosten und baumwollberockten Hinterteile.

Mit offenem Mund sah Barry zu, wie O’Reilly seinen Rollwagen an den Anfang der Reihe schob. Dort blieb er stehen, nahm die erste Spritze in die eine Hand und einen nach Methylalkohol riechenden Wattebausch in die andere. Er betupfte den Kattunstoff über dem ersten Hintern mit der Watte. «Lister’sche Antiseptik», summte er vor sich hin, während er die Nadel einstach.

«Autsch!», jammerte die hagere Frau.

In rascher Folge wurde diese Prozedur bei jedem der Aufgereihten wiederholt – Tupfen, Einstich, «Autsch», Tupfen, Einstich, «Autsch» –, bis O’Reilly vor der letzten Patientin stand, einer Frau mit beachtlichem Leibesumfang. Er tupfte, doch als er zustach, flog die Spritze, wie von einem Katapult abgeschossen, durch den Raum und bohrte sich in die Wand, wo sie wie ein gekonnt geworfener Dart-Pfeil noch einen Augenblick nachzitterte.

Während O’Reilly kopfschüttelnd eine weitere Spritze aufzog, brummte er: «Herrgott, Cissie, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dein Korsett nicht anziehen darfst, wenn du deine Spritze kriegst?»

«Tut mir leid, Doktor, ich hab’s verg… autsch!»

«Gut», sagte O’Reilly, «raus mit euch. Wenn das Zeug anfängt zu wirken, werdet ihr alle wie junge Fohlen rumspringen.»

«Danke, Herr Doktor», sagten die sechs Patienten einstimmig. Im Gänsemarsch begaben sie sich auf den Flur hinaus, um das Haus dann durch die Vordertür zu verlassen.

O’Reilly zog die Pfeilspritze aus der Wand und legte sie zu den anderen. Dann wandte er sich Barry zu: «Jetzt guck mich nicht so missbilligend an, mein Junge. Es schadet niemandem. Aber die Hälfte von ihnen wird sich gleich kräftiger fühlen. Ich weiß wohl, dass es bloß ein Placebo ist, aber schließlich sollen wir doch dafür sorgen, dass es unseren Patienten bessergeht.»

«Ja, Doktor O’Reilly.» An dem, was der Alte da sagte, war etwas Wahres dran, und trotzdem … Barry zuckte die Achseln. Im Moment behielt er seine Gedanken lieber für sich.

«Und jetzt», sagte O’Reilly, indem er sich in seinem Drehsessel niederließ und die Brille mit den Halbgläsern aufsetzte, «sei so gut, lauf rüber und rufe: ‹Nächster, bitte.›»

*

Den Vormittag verbrachte Barry damit, zwischen Wartezimmer und Behandlungsraum hin und her zu flitzen und sich zwischendurch auf die Untersuchungsliege zu setzen, zu warten und zuzuschauen, wie O’Reilly behandelte, eine schier endlose Kette von Männern mit schmerzenden Rücken und Frauen und Kindern mit Husten, Schnupfen und Ohrenschmerzen – den unzähligen kleinen Wehwehchen eben, die das Erbe des Menschen sind. Gelegentlich fragte O’Reilly Barry um seine Meinung, wobei er, zumindest vor den Patienten, seine Ratschläge jedes Mal mit großem Ernst zur Kenntnis nahm.

Barry fiel auf, dass O’Reilly alle Patienten mit Namen kannte und nur selten eine Patientenkarte zurate zog, dafür aber ein enzyklopädisches Wissen über die Krankengeschichte jedes einzelnen Hilfesuchenden besaß.

Endlich. Das Wartezimmer war leer.

O’Reilly fläzte sich in seinen Drehsessel, und Barry kehrte auf den ihm mittlerweile vertrauten Platz auf der Liege zurück.

«Also», fragte O’Reilly, «was meinst du?»

«Dass du Patienten durch die Kleidung hindurch spritzt, gefällt mir nicht, und außerdem habe ich an der Universität keinen Preis bekommen.» Barry warf einen Blick auf O’Reillys Nasenspitze. Keine Blässe.

Stattdessen zog der Doktor seine Pfeife hervor und steckte sie an. «Du hast noch viel zu lernen, Laverty. Die Leute hier sind ein ziemlich konservatives Völkchen. Du bist ein junger Bursche. Warum sollten sie dir vertrauen?»

Barry richtete sich auf. «Weil ich Arzt bin.»

O’Reilly brach in schallendes Gelächter aus. «Das wirst du schon noch sehen. Hier zählt nicht, wie man sich nennt, Herr Doktor Laverty, sondern, was man tut. Ich habe dir bloß zu einem guten Start verholfen.»

«Vermutlich hattest du jedes Mal mein Wohl im Hinterkopf, wenn du mich um Rat gefragt hast?»

O’Reilly sah Barry über seine halben Brillengläser hinweg an, ohne etwas zu sagen.

Es klopfte.

«Schaust du bitte mal nach, wer das ist?»

Mit steifen Schritten ging Barry zur Tür. Ein guter Start, dachte er. War er denn nicht hervorragend ausgebildet?

Als er die Tür öffnete, stand eine Frau um die sechzig vor ihm. Ihr Gesicht war wettergegerbt, und auf ihrer Oberlippe spross ein hübsches braunes Bärtchen. Ihre Nase bog sich nach unten und ihr Kinn nach oben, wie beim Kasper im Kasperletheater, und als sie lächelte, sah Barry, dass sie zahnlos wie eine Auster war. Ihre ebenholzschwarzen Äuglein funkelten.

Sie trug einen Strohhut, in dessen Band zwei verwelkte Geranienstängel steckten. Ihr Rumpf war unter mehreren Schichten verschiedenfarbiger Wollpullover verborgen, und unter dem Saum ihres rostroten, knöchellangen Rockes schaute ein Paar Gummistiefelspitzen hervor.

«Ist er da?»

Barry spürte etwas an seiner Schulter.

«Maggie», hörte er O’Reilly sagen, «Maggie MacCorkle. Komm rein.»

Barry fiel ein, dass Mrs Kincaid diesen Namen beim Frühstück erwähnt hatte. Die Frau drängte sich an ihm vorbei. O’Reilly geleitete sie zum Patientenstuhl und setzte sich dann auf die Untersuchungsliege.

«Das ist mein Assistent, Doktor Laverty. Ich möchte gerne, dass er dich heute behandelt, Maggie. Es geht doch nichts über eine zweite Meinung.»

Verdutzt starrte Barry seinen Chef an, nickte dann aber und begab sich zum Drehsessel.

«Guten Morgen, Mrs MacCorkle.»

Mit einem Schniefen strich die Angesprochene ihren Rock glatt. «Miss MacCorkle, wenn ich bitten darf.»

Barry warf einen Blick zu O’Reilly hinüber, der mit verschränkten Armen auf der Liege saß. Sein Gesicht war ausdruckslos.

«Entschuldigung. Miss MacCorkle. Und was fehlt Ihnen?»

Nun schaute sie zu O’Reilly hinüber, bevor sie erklärte: «Die Kopfschmerzen.»

«Aha. Wann haben sie angefangen?»

«Gütiger Jesus, sie waren schon immer akut, aber gestern Abend sind sie chronisch geworden, jawohl. Es war zum Verzweifeln.» Sie beugte sich vor und sagte mit großem Ernst: «Fast hätte ich die Krätze gekriegt.»

Barry verkniff sich ein Schmunzeln. «Ich verstehe. Und wo genau spüren Sie die Schmerzen?» Er hielt sich an das klassische Anamneseschema wie ein kleiner Beamter an seine Vorschriften.

«Hier», flüsterte Miss MacCorkle verschwörerisch, indem sie eine Hand über ihren blumengeschmückten Hut hielt.

Barry fuhr zurück. Kein Wunder, dass O’Reilly gestöhnt hatte, als Mrs Kincaid Maggies Kommen angekündigt hatte. Er fragte sich, wo hier in der Praxis wohl die Formulare aufbewahrt wurden, auf denen man Patienten für geisteskrank erklärte.

«Über Ihrem Kopf?»

«Ja, ja. Gute zwei Zoll.»

«Verstehe.» Barry legte die Fingerspitzen zusammen. «Und haben Sie in letzter Zeit Stimmen gehört?»

Sie erstarrte. «Wie meinen Sie das?»

«Na ja, ich …» Hilflos blickte er zu O’Reilly hinüber, der von der Liege herunterrutschte.

«Doktor Laverty meint, ob du ein Klingeln in den Ohren hast, Maggie.»

«Klingeling oder rrrrrr?», erkundigte Maggie sich bei O’Reilly, während sie sich auf der schrägen Sitzfläche nach hinten schob.

«Sag du’s mir», forderte der Arzt sie auf.

«Klingeling, lieber Doktor.»

Über seine halbe Brille hinweg lächelte O’Reilly ihr zu.

Offenbar ermutigt, fuhr sie fort: «Ja, klingeling geht das. Klingelingeling.»

Eine treffende Beschreibung für die Frau selbst, dachte Barry.

«Mmm», meinte O’Reilly mit weiser Miene. «Mmm. Klingeling und zwei Zoll oberhalb. Und sind die Schmerzen in der Mitte oder auf einer Seite?»

«Nach links rüber, jawohl.»

«So was nennen wir ‹exzentrisch›, Maggie.»

So würde ich euch alle beide bezeichnen, dachte Barry.

«Eckzentrisch? Ach, du liebes Kind. Ist das womöglich was Schlimmes, Herr Doktor?»

«Nein, gar nicht.» O’Reilly legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. «Wir kriegen dich in null Komma nichts wieder hin.»

Erleichtert ließ Maggie MacCorkle die Schultern sinken. Sie lächelte zu ihrem Arzt empor. Als sie sich jedoch zu Barry umdrehte, war ihr Blick so eisig wie der Wind, der im Winter über die Bucht fegt.

O’Reilly griff an Barry vorbei nach einer Plastikdose mit Vitamintabletten, die auf dem Schreibpult stand. «Die hier machen dich wieder gesund.»

Maggie stand auf und nahm die Tabletten entgegen.

O’Reilly schob sie sanft zur Tür. «Das sind ganz besondere Pillen, Maggie.»

Sie nickte.

«Du musst sie genau so nehmen, wie ich es dir sage.»

«Ja, Herr Doktor. Und wie wäre das?»

O’Reilly hielt ihr die Tür auf.

«Eine halbe Stunde –» Die nächsten Worte gab er mit feierlichem Ernst von sich: «Genau eine halbe Stunde bevor deine Schmerzen anfangen.»

«Ach, danke schön, lieber Doktor.» Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und machte einen kleinen Knicks dazu. Dann drehte sie sich um und sah Barry an, sprach dabei aber weiter mit O’Reilly. Maggies Abschiedsworte schmerzten Barry wie ein Wespenstich. «Aber wissen Sie», sagte sie, «dieser junge Laverty, der hat noch viel zu lernen.»

4Schweinsgalopp

Barry lehnte sich auf seinem Stuhl im Speisezimmer zurück und schob den Teller fort. Auch wenn O’Reillys ärztliche Kunst zu wünschen übrigließ, dachte er und rülpste leise, war er bereit, dem Mann seine eigentümlichen Gepflogenheiten nachzusehen, solange nur Mrs Kincaids Kochkunst auf ihrem derzeitigen Niveau blieb.

«Hausbesuche», sagte O’Reilly, der Barry gegenübersaß und gerade ein Blatt Papier studierte. «Alle, die zu krank sind, um in die Praxis zu kommen, rufen Kinky morgens an, und sie gibt mir dann die Liste.»

«Die von heute Morgen?»

«Ja, und Kinky sagt mir auch, wer im Laufe des Vormittags noch angerufen hat.» O’Reilly faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche seines Tweedjacketts. «Heute haben wir Glück – nur ein Besuch. Bei den Kennedys.» Er stand auf. «Dann wollen wir mal. Heute Abend gibt es ein Rugbyspiel im Fernsehen. Ich möchte rechtzeitig zum Anstoß wieder hier sein.»

Barry folgte ihm über den Flur in die Küche, wo Mrs Kincaid, die Arme bis zu den Ellbogen in ein Becken mit Seifenwasser getaucht, sie lächelnd begrüßte. «Möchten Sie die Hummer zum Abendessen, lieber Doktor?»

«Das wäre wunderbar, Kinky.»

Barry lief das Wasser im Mund zusammen.

«Ach, haben Sie heute nicht Ihren Abend im Landfrauenverein?», fragte O’Reilly.

«Doch, ja.»

«Dann essen wir die Hummer kalt. Stellen Sie sie in die Küche, mit ein bisschen Salat dazu, und machen Sie früh Schluss.»

O’Reilly stürmte los, überhörte Mrs Kincaids Dankeschön, öffnete die Tür, die aus der Küche ins Freie führte, und bedeutete Barry, ihm zu folgen.

Draußen fand Barry sich in dem großen, eingezäunten Garten wieder, den er aus seinem Fenster gesehen hatte. An der Hecke zur Linken lag ein Gemüsebeet. Einige Apfelbäume neigten sich unter der Last ihrer Früchte über den gepflegten Rasen – Barry erkannte einen Cox Orange und einen Golden Delicious. Auf der anderen Seite des Rasens streckte eine hohe Kastanie ihre Äste über den Zaun und beschattete eine Hundehütte.

«Arthur!», rief O’Reilly. «Arthur Guinness!»

Ein riesiger schwarzer Labrador kam aus der Hütte geschossen, fegte über den Rasen und sprang unter heftigem Schwanzwedeln an O’Reilly hoch.

«Bist ein braver Kerl, ja.» O’Reilly tätschelte dem Hund die Flanke. «Ich habe ihn Arthur Guinness genannt, weil er Ire ist und schwarz und noch dazu Bärenkräfte hat, genau wie unser Starkbier.»

«Rawuff», bellte Arthur.

«Arthur Guinness, ich möchte dir Doktor Laverty vorstellen.»

«Raff», machte Arthur und übertrug seine Gunstbezeugungen unverzüglich auf Barry, der sich verzweifelt bemühte, das Tier wegzuschieben. «Rawaff.»

«Arthur Guinness ist der beste Jagdhund in ganz Ulster.»

«Sie sind Jäger, Doktor O’Reilly?»

«Fingal, mein Junge, nenn mich doch bitte Fingal. Ja. Arthur und ich gehen gern mal einen Tag auf Entenjagd, was, Arthur?»

«Rawaff», bellte Arthur, schlang seine Vorderbeine um Barrys Oberschenkel und fing an, mit gekrümmtem Rücken zuzustoßen, als wäre er eine verrückt gewordene Pfahlramme. Mach nur weiter so, Hund, dachte Barry, während er vergeblich versuchte, den liebestollen Labrador in Schach zu halten. Mach weiter so, und dein nächster Wurf wird eine Kreuzung aus Labrador und Kordhose. «Platz, Arthur.» Doch diese Worte hätte er sich sparen können, denn Arthur Guinness verdoppelte seine Bemühungen nur.

«Ab mit dir», sagte O’Reilly, indem er auf die Hütte zeigte. «Marsch nach Hause.»

Mit einem letzten Stoß verabschiedete sich der Hund, gab Barrys Bein frei und zog in Richtung seines Domizils ab.

«Anhängliches Tier», knurrte Barry und versuchte erfolglos, den Schmutz von seiner besten Hose abzuwischen.

«Ja, wenn er einen mag», erklärte O’Reilly im Weitergehen. «Und dich hat er offensichtlich gleich ins Herz geschlossen.»

«Da wäre ich nie drauf gekommen.» Barry nahm sich vor, den Garten in Zukunft zu meiden.

«Die Garage ist draußen», sagte O’Reilly und öffnete die hintere Pforte. Über einen Fahrweg gelangten sie zu einem verfallenen Schuppen. Als O’Reilly das Schwingtor aufschob, sah Barry einen schwarzen Rover mit langer Haube, einen Autotyp, der seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr gebaut wurde.

O’Reilly stieg ein und startete den Motor, der unter Donnergrollen und Fehlzündungen schließlich ansprang. Nachdem Barry auf den Beifahrersitz geklettert war, legte O’Reilly den ersten Gang ein und fuhr langsam auf den Weg hinaus. Barry blieb die Luft weg, so sehr stank es im Wagen nach feuchtem Hund und Tabakrauch. Er kurbelte sein Fenster herunter.

Sie bogen nach links in die Straße ein und fuhren an O’Reillys Haus vorbei, an der Kirche mit dem schiefen Turm und weiter durch die Hauptstraße von Ballybucklebo. Barry sah sich um. Reihen von weißgetünchten, einstöckigen Häuschen, mit Stroh oder Schindeln gedeckt, säumten den Weg. Die Ampel an der Kreuzung zeigte Rot, und O’Reilly bremste. An der Ecke gegenüber stand, leicht nach links geneigt, ein großer Maibaum.

«Zu Beltane ist hier viel los – das ist das alte keltische Maifest.» O’Reilly deutete auf den spiralig bemalten hohen Pfahl, dessen Farbe schon abblätterte. «Maifeuer, Tanz, Jagd nach schönen Jungfrauen … wenn man noch welche findet. Die Leute hier sind nicht viel anders als ihre heidnischen Vorfahren, wenn sie ein rauschendes Fest feiern können.» Er ließ den Motor aufheulen und deutete nach rechts. «Und wenn man da entlangfährt, kommt man an die Küste. Links geht es in die Ballybucklebo Hills.»

Barry nickte.

Das gelbe Licht der Ampel leuchtete auf. O’Reilly ließ die Kupplung kommen und brauste los. «Gelb ist nur für die Touristen», bemerkte er. Dem Trecker, der von rechts gekommen war und jetzt mit schleuderndem Anhänger auf der Kreuzung zum Stehen kam, schenkte er keine Beachtung. «Ich muss rechtzeitig zum Spiel wieder zu Hause sein. Und das hier ist» – er machte eine vage Handbewegung – «das pulsierende Herz von Ballybucklebo.»

Die Häuser waren jetzt zweistöckig. Gemüseläden, Metzger, Zeitungshändler und ein größeres Gebäude, vor dem ein Schild mit einem schwarzen Schwan hing: The Black Swan. Barry bemerkte eine vertraute Gestalt, die mit frisch einbandagiertem linkem Fußgelenk auf den Eingang zuhumpelte.

«Galvin», brummte O’Reilly, «der würde die ganze Bucht leer saufen, wenn Guinness drin wäre.»

Barry drehte sich um und sah Galvin nach, der im Schwarzen Schwan verschwand.

«Aber er soll uns egal sein.» Knirschend schaltete O’Reilly in den nächsten Gang. «Ich will dir die Gegend zeigen. Also, diese Straße hier führt nach Belfast, oder wenn du mal einen Blick nach Steuerbord wirfst … Siehst du? Man kann auch mit dem Zug fahren.»

Barry wandte sich nach rechts. Von einer Diesellok gezogen, bewegte sich langsam ein Zug auf einem Bahndamm entlang. Interessant, dachte er. Vielleicht würde er das an seinem freien Tag wirklich einmal tun. Es war billiger, als mit dem Auto zu fahren, und er wollte gerne einen seiner Freunde von der Universität besuchen, weil …

Er wurde nach vorn geschleudert. «Verdammte Kuh!», knurrte O’Reilly, der eine Vollbremsung gemacht hatte.

Mitten auf der Straße trottete ein schwarzweißes Rind. Seine sanftmütigen Augen waren ein Ausdruck völliger Leere. Sorgsam und bedächtig käute es wieder.

O’Reilly kurbelte sein Fenster herunter. «Husch, husch, Kuh. Husch, husch!»

Das Tier senkte den Kopf und stieß ein schwermütiges Muhen aus, bewegte sich aber keinen Schritt zur Seite.

Barry lehnte sich zurück. Wann würde O’Reillys Sicherung, die sich bereits als recht schwach erwiesen hatte, durchbrennen? Der Landarzt stieg aus, schlug die Fahrertür zu und baute sich vor der Kuh auf. «Hör mal, du Rindvieh, ich hab’s eilig.»

«Muh», erwiderte die Kuh.

«Na gut», sagte O’Reilly. Mit einer Hand packte er ein Horn und zog. Zu Barrys Erstaunen machte das Tier zwei Schritte vorwärts, offenbar vermochte es der Kraft, die auf seinen Kopf einwirkte, nicht zu widerstehen. «Und jetzt zieh Leine», brüllte O’Reilly.

Die Kuh wedelte mit den Ohren, senkte den Kopf und machte erschrocken einen Satz an den Straßenrand. O’Reilly stieg wieder ein und fuhr mit quietschenden Reifen los. «Mein Gott», seufzte er, «Tiere … Sie gehören zu den Freuden einer Landarztpraxis. Man muss bloß wissen, mit ihnen umzugehen.»

«Sicher», sagte Barry. Und dabei ahnte er nicht, wie bald Doktor O’Reillys Worte sich bewahrheiten sollten.

*

Mit einem Stöhnen schaltete O’Reilly einen Gang runter. Barry hörte den Motor brummen und dann aufheulen, als die Hinterreifen sich drehten – und durchdrehten.

«Mist», schimpfte O’Reilly. «Jetzt müssen wir laufen.» Er griff hinter sich und nahm seine schwarze Tasche und ein Paar Gummistiefel vom Rücksitz. «Los.»

Als Barry ausstieg, versank er bis zu den Knöcheln im Morast. Er zog seine Füße nacheinander aus dem Schlamm und rettete sich mit quatschenden Schritten auf den grasbewachsenen Wegrand. Verfluchter Mist! Jetzt waren seine Schuhe noch dreckiger als seine besten Hosen, auf denen die Spuren von Arthur Guinness’ Liebesbekundungen langsam trockneten. Wie viel es wohl kosten würde, die Hose reinigen zu lassen?

Am Ende des ausgefahrenen Weges stand ein Farmhaus. «Wollen wir da hin, Fingal?»

«Ja, da wohnen die Kennedys.»

«Gibt es noch einen anderen Weg? Meine Schuhe …»

«Du musst immer Gummistiefel dabeihaben.» O’Reilly deutete auf seine eigene Fußbekleidung. «Kümmere dich nicht um deine Schuhe.»

«Aber diese Schuhe kosten –»

«Allmächtiger Gott! Also gut, dann gehen wir eben quer über die Wiese.» Barry nahm einen Anflug von Blässe auf O’Reillys Nasenspitze wahr. «Etwas Beeilung bitte. In einer halben Stunde fängt das Spiel an.» Mit seiner Arzttasche in der Hand öffnete O’Reilly ein rostiges Gatter in der Schlehdornhecke und marschierte los. «Mach das Tor hinter dir zu», rief er Barry über die Schulter zu.

Mit einiger Mühe gelang es Barry, das Gatter wieder zuzuziehen, wobei er sich die Hand an der Drahtschlinge aufriss, die über den Torpfosten geschoben werden musste. Er saugte an seiner blutenden Hand und schaute auf seine ruinierten Schuhe hinunter – sein einziges gutes Paar. «Kommst du heute noch?», brüllte O’Reilly.

«Ach, leck mich», murmelte Barry, während er O’Reilly folgte. Das kniehohe Gras war dicht und üppig, voll fedriger Samenstände. Und feucht, ausnehmend feucht. Während Barry sich zielstrebig voranarbeitete, wurde ihm bewusst, dass die Grassamen an seinen Hosenbeinen kleben blieben, und gleich darauf spürte er, wie seine Schienbeine feucht wurden. Na gut, dachte er, wenigstens würde die Nässe ein bisschen von dem Schmutz abwaschen.

«Warum kommst du denn nicht?»

«Doktor O’Reilly – äh, Fingal», begann Barry, der sich auf keinen Fall einschüchtern lassen wollte, «ich komme so schnell, wie ich kann.»

«M-hm.»

«Aber meine Schuhe und meine Hose sind hin.»

«Was weißt du über Schweine?», fragte O’Reilly unbeeindruckt.

«Mir ist nicht klar, was Schweine mit meiner Kleidung zu tun haben.»

«Wie du meinst, aber da kommt eins.» O’Reilly beschleunigte sein Tempo.

Barry zögerte. Etwas Rosafarbenes, das die Ausmaße eines kleinen Nilpferdes hatte, bewegte sich auf sie zu. Es hatte den gleichen schaukelnden Gang wie die afrikanischen Flussbewohner, aber da Barry annahm, dass diese Tierart in der Gegend um Ballybucklebo eher selten vorkam, musste das fragliche Lebewesen ein Schwein sein. Inzwischen war es deutlich näher gekommen, und Barry sah, dass seine Augen rot und eindeutig feindselig funkelten. Er rannte hinter O’Reilly her und holte ihn mitten auf der Wiese ein.

«Es ist wirklich ein Schwein.»

«Wie schön.» O’Reilly vergrößerte seine Schritte. «Ich habe irgendwo gelesen, dass Hauseber ziemlich bösartig werden können.»

«Bösartig?»

«Genau. Verdammt kräftige Zähne», stieß O’Reilly schwer atmend hervor. Er verfiel in einen schnellen Trab, sodass der Abstand zwischen ihnen rasch wieder größer wurde.

Obwohl Barry wusste, dass ein Blick nach hinten schon manch eine olympische Hoffnung die Goldmedaille gekostet hatte, riskierte er es, sich umzudrehen. Das Ungeheuer holte auf, und falls es die Absicht hatte, seine «verdammt kräftigen Zähne» einzusetzen, konnte man vernünftigerweise annehmen, dass derjenige ihm zum Opfer fallen würde, den es als Ersten erjagte. Er sprintete los. Zehn Meter vor der rettenden Hecke preschte er an seinem ermattenden Chef vorbei. Die Extraportion von Mrs Kincaids Steak-and-kidney-pudding bremst O’Reilly anscheinend, dachte Barry, während er über das niedrige Gatter sprang.

Um ein Haar hätte er einen grinsenden kleinen Mann mit einer flachen Schirmmütze umgerannt, der im Hof stand. Doch bevor Barry zu einer Erklärung ansetzen konnte, wurde die nachmittägliche Stille durch ein wüstes Krachen und Reißen gestört, und er sah O’Reilly durch die Schlehdornhecke brechen.

Nachdem er zum Stehen gekommen war, untersuchte O’Reilly die Risse in seinem Tweedanzug und bemühte sich, seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen. Dann wankte er zu dem Fremden mit der Tweedkappe hinüber, der, wie Barry auffiel, fürchterlich schielte, dabei aber herzlich lachte.

Obwohl O’Reillys Wangen scharlachrot leuchteten und trotz der Anstrengung, die er hinter sich hatte, glänzte seine Nasenspitze weiß wie Alabaster.

«Dermot Kennedy», brüllte er, «was ist denn hier so lustig?»

Keine Antwort. Mr Kennedy krümmte sich, hielt sich den Bauch und kriegte vor Lachen kaum noch Luft. «Heiliger Strohsack, war das ein Anblick!»

«Dermot Kennedy.» O’Reilly richtete sich zu seiner vollen Größe von eins fünfundachtzig auf. «Du bist eine Gefahr für die zivilisierte Menschheit. Wie um Gottes willen kannst du einen menschenfressenden Eber frei auf deiner Wiese herumlaufen lassen?»

Mr Kennedy richtete sich auf, zog ein Schnupftuch aus der Hosentasche und wischte sich damit die Augen.

«Ich warte auf eine Erklärung», brüllte O’Reilly.

Der Farmer steckte sein Taschentuch wieder ein. «Das ist doch kein Eber, lieber Doktor. Das ist Gertrude, Jeannies zahme Sau. Sie wollte nur die Schnauze gekrault haben.»

«Oh», sagte O’Reilly.

«Ja, richtig», meinte Barry, der nach O’Reillys Anpfiff, dass er zu langsam sei, immer noch gekränkt war. «‹Tiere gehören› – bitte korrigieren Sie mich, Doktor O’Reilly, wenn ich Sie falsch zitiere – ‹zu den Freuden einer Landarztpraxis. Man muss bloß wissen, mit ihnen umzugehen.›»

«Sicher», sagte Mr Kennedy, der jetzt gar nicht mehr lachte, «aber eigentlich ist dafür der Farmer zuständig. Der Arzt kümmert sich um die Kranken, und» – er zögerte und blickte auf seine Stiefelspitzen hinunter – «es tut mir sehr leid, dass ich Sie hier herausbemüht habe, wirklich, aber ich mache mir solche Sorgen um unsere Jeannie. Würden Sie bitte mit ins Haus kommen und einmal kurz nach ihr schauen?»

5Eile mit Weile

Barry folgte Mr Kennedy und Doktor O’Reilly zu dem weißgetünchten, mit Stroh gedeckten Farmhaus. Den Moosflecken nach zu urteilen, war das Dach seit vielen Jahren nicht mehr erneuert worden. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf, und Barry nahm den beißenden Geruch von brennendem Torf wahr. Schwarze Läden rahmten die Fenster ein.