Neues vom irischen Landarzt - Patrick Taylor - E-Book

Neues vom irischen Landarzt E-Book

Patrick Taylor

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Beschreibung

Wiedersehen in Ballybucklebo! Hinter den grünen Hügeln liegt das Glück. Endlich wird der junge Arzt Barry Laverty fester Partner in der Praxis von Dr. O'Reilly. Doch der exzentrische Alte hält nichts von der Schulmedizin, er hat seine ganz eigenen Methoden. Und auch die anderen Bewohner von Ballybucklebo machen Barry das Leben manchmal schwer. Aber als es darum geht, den 400 Jahre alten Pub im Dorf zu retten, raufen sich alle zusammen. Die gemütliche Kneipe soll nicht in eine glitzernde Touristenfalle verwandelt werden. Zu allem Überfluss plant Patricia Spence, in die Barry schon vom ersten Tag an verliebt ist, sich um ein Stipendium für die weit entfernte Cambridge University in England zu bewerben … Band 2 der erfolgreichen Romanreihe. Heitere Lesestunden voller Menschlichkeit und warmherzigem Humor. 

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Seitenzahl: 613

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Patrick Taylor

Neues vom irischen Landarzt

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Schulte

 

Über dieses Buch

Ein irisches Dorf auf dem Land - eine ganz besondere Idylle.

Endlich wird der junge Arzt Barry Laverty fester Partner in der Praxis von Dr. O’Reilly. Doch der exzentrische Alte hält nichts von der Schulmedizin, er hat seine ganz eigenen Methoden. Und auch die anderen Bewohner von Ballybucklebo machen Barry das Leben manchmal schwer. Aber als es darum geht, den 400 Jahre alten Pub im Dorf zu retten, raufen sich alle zusammen. Die gemütliche Kneipe soll nicht in eine glitzernde Touristenfalle verwandelt werden. Zu allem Überfluss plant Patricia Spence, in die Barry schon vom ersten Tag an verliebt ist, sich um ein Stipendium für die weit entfernte Cambridge University in England zu bewerben …

 

«Ein großer eskapistischer Spaß.» Publishers Weekly

Vita

Patrick Taylor, 1941 in Nordirland geboren, hat Medizin studiert und lange als Landarzt gearbeitet. Um dem Nordirlandkonflikt zu entfliehen, emigrierte er mit seiner Familie Anfang der 1970er Jahre nach Kanada. Dort hat er auch sein Talent zum Schreiben entdeckt. Von ihm sind bereits zahlreiche Romane und Kurzgeschichten erschienen. Nach dem New York Times-Bestseller «Ein irischer Landarzt» erzählt Taylor mit diesem Band die Geschichte um Barry Laverty weiter. Außerdem erschienen ist der Roman «Ein irisches Weihnachtsfest». Patrick Taylor lebt heute auf Saltspring Island in der kanadischen Provinz British Columbia.

 

«Taylor ist ein großartiger Geschichtenerzähler.» Publishers Weekly

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «An Irish Country Village» bei Forge Books/Tom Doherty Associates, New York.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 im Rowohlt Verlag GmbH. 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«An Irish Country Village» Copyright © 2008 by Patrick Taylor

Karten Imke Trostbach

Redaktion Karen Nölle

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01828-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Dorothy

1Sonntag ist Feiertag

Barry Laverty, oder richtiger Doktor Barry Laverty, hörte eine Pfanne auf dem Küchenherd klappern und roch gebratenen Speck. «Kinky» Kincaid, die Haushälterin von Doktor O’Reilly seinem Chef, hatte das Frühstück fertig, und Barry merkte, dass er einen Bärenhunger hatte.

Schritte polterten die Treppe hinunter, und eine tiefe Stimme brummte: «Guten Morgen, Kinky.»

«Ihnen auch, lieber Doktor.»

«Ist der junge Laverty schon auf?» Obwohl das halbe Dorf Ballybucklebo bis spätabends in seinem Garten gefeiert hatte, war Doktor Fingal Flahertie O’Reilly bereits auf den Beinen.

«Ich hab ihn schon gehört, ja.»

Barrys Kopf war von der Party noch ein bisschen benebelt, aber als er sein Kämmerchen unter dem Dach verließ, lächelte er, weil er Kinkys Angewohnheit, ein «ja» an die Sätze anzuhängen, wie es in ihrer Heimat Cork üblich war, liebenswert fand.

Im Badezimmer wusch er sich den Schlaf aus dem Gesicht. Aus dem Rasierspiegel zwinkerten ihm blaue Augen zu, in einem ovalen Gesicht unter blondem Haar. Wie immer stand die Locke mitten auf seinem Kopf hoch.

Barry kleidete sich fertig an und ging die Treppe hinunter ins Esszimmer. Er kam an dem Zimmer im Erdgeschoss vorbei, welches Doktor O’Reilly als Behandlungsraum benutzte. Barry hoffte, in Zukunft viel Zeit in diesem Raum verbringen zu dürfen. Er blieb einen Moment stehen.

«Willst du da anwachsen?», knurrte O’Reilly aus dem Esszimmer. «Komm rein, damit Kinky uns auftischen kann.»

«Bin ja schon da.» Barry betrat das Esszimmer und blinzelte, weil die Augustsonne durch die Erkerfenster hereinstrahlte.

«Morgen, Barry.» In einem kragenlosen, gestreiften Hemd und roten Hosenträgern, die seine Tweedhosen hielten, saß O’Reilly am Kopfende des großen Mahagonitisches. In einer seiner Pranken hielt er eine Teetasse.

«Morgen, Fingal.» Barry setzte sich und schenkte sich ebenfalls Tee ein. «Herrlicher Tag.»

«Da könnte ich dir fast zustimmen», meinte O’Reilly, «wenn ich nicht so einen schrecklichen Kater hätte.» Er gähnte und massierte sich die Schläfe. Beim Sprechen zog er seine buschigen Augenbrauen noch dichter zusammen. Barry fielen die Äderchen im Weiß seiner braunen Augen auf. Sein zerfurchtes Gesicht mit den Blumenkohlohren und der schiefen Nase verzog sich zu einem Grinsen. «Na ja, früher bei der Marine haben wir das immer als ‹Selbstverstümmelung› bezeichnet. Das war aber auch ein rauschendes Fest gestern.»

Barry lachte. Er fragte sich, wie viele Pints Guinness sein Mentor sich gestern Abend wohl hinter die Binde gekippt hatte. Normalerweise hatten alkoholische Getränke auf O’Reilly so viel Wirkung wie ein Teelöffel Wasser auf einen Waldbrand. Doch heute Morgen war Barry sich gar nicht sicher, ob das großherzige Angebot, das sein Chef ihm mitten in der größten Party aller Zeiten unterbreitet hatte, bloß einer Guinness-Laune entsprungen oder ernst gemeint gewesen war. Beim Aufwachen hatte er noch gedacht, er hätte das Ganze vielleicht geträumt, doch jetzt erinnerte er sich deutlich daran, dass er sich, bevor sein Kopf ins Kissen gesunken war, geschworen hatte, heute früh allen Mut zusammenzunehmen und O’Reilly darauf anzusprechen.

Gewiss hätte Barry auch warten können, bis sein Chef dieses Angebot unter geschäftsmäßigeren Bedingungen wiederholte, aber verdammt nochmal, hier ging es um seine Zukunft. Er blickte kurz auf die Tischplatte hinunter und schaute O’Reilly dann direkt in die Augen. «Fingal», sagte er und stellte seine Tasse ab.

«Was ist?»

«Als du mir gestern eine volle Assistentenstelle für ein Jahr und anschließend dann die Teilhaberschaft in deiner Praxis angeboten hast, da war es dir doch ernst damit, oder?»

O’Reillys Tasse stoppte auf halbem Weg zu seinem Mund. Sein Haaransatz verzog sich, und seine Stirn legte sich in Falten. Die Spitze seiner schiefen Nase wurde bleich.

Unwillkürlich drehte Barry dem Hünen die Schulter zu, so, wie man es vielleicht früher bei einem Pistolenduell getan hätte, um dem Gegner ein kleineres Ziel zu bieten. O’Reillys bleiche Nasenspitze war ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas in ihm schwelte und gleich explodieren würde.

«Wie bitte?» O’Reilly knallte seine Tasse auf die Untertasse. «Ob ich das wie gemeint habe?»

Barry schluckte. «Ich meinte doch nur …»

«Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, ich weiß, was du gemeint hast. Wie kommst du denn bloß auf die Idee, dass ich es nicht ernst gemeint haben könnte?»

«Na ja …» Verzweifelt bemühte Barry sich, diplomatische Worte zu finden. «Du … also nein, wir … wir hatten ja schon ’ne ganze Menge intus.»

O’Reilly schob seinen Stuhl zurück, legte den Kopf schräg, starrte Barry an – und lachte aus voller Kehle, rumpelnd und laut.

Erwartungsvoll sah Barry seinem Chef ins Gesicht. Dessen Nasenspitze hatte wieder ihre übliche blaurote Farbe angenommen, und die Lachfältchen in seinen Augenwinkeln waren tiefer geworden.

«Ja, Doktor Barry Laverty, das habe ich ernst gemeint. Doch, tatsächlich, es ist mein voller Ernst. Ich möchte gern, dass du hierbleibst.»

«Danke.»

«Brauchst dich bei mir nicht zu bedanken – bedanke dich bei dir selbst. Ich hätte dir das Angebot nicht gemacht, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass du hier nach Ballybucklebo passt. Die Patienten mögen dich.»

Barry lächelte.

«Mach einfach weiter so. Kapiert?»

«Ja.»

O’Reilly erhob sich, ging um den Tisch und beugte sich über Barry. Er streckte ihm die rechte Hand hin. «Wenn wir Rosshändler wären, würden wir vor Vertragsabschluss in die Hände spucken, aber ich finde, wir sollten auf solche Riten zugunsten eines einfachen Handschlags verzichten.»

Nun stand Barry ebenfalls auf. Er erwiderte O’Reillys Händedruck, erleichtert, dass es sich diesmal nicht um die übliche, knöchelzerquetschende Version handelte. «Danke, Fingal», sagte er. «Vielen Dank, und ich werde mich bemühen …»

«Da bin ich ganz sicher», meinte O’Reilly und gab Barrys Hand frei, «aber nach all diesen ernsthaften Gesprächen sterbe ich fast vor Hunger, und bis ich mein Frühstück kriege, fühle ich mich immer wie ein Stier, der rot sieht. Wo bleibt Kinky denn bloß?» Er drehte sich um und stapfte zu seinem Stuhl zurück.

Barry hörte, wie O’Reilly laut der Magen knurrte. Doch der entschuldigte sich keineswegs, nein, Barry hatte die Erfahrung gemacht, dass sein Chef sich niemals entschuldigte. So war auch sein eben abgelegtes Geständnis, dass er morgens leicht aufbrauste, alles, was Barry von ihm als Ausdruck des Bedauerns für seinen lautstarken Ausbruch erwarten konnte. O’Reilly erklärte sich selten und schien ganz nach seinem eigenen Regelsystem zu leben, dessen erster Lehrsatz lautete: «Lass dir von den Patienten nie, nie, nie auf der Nase herumtanzen.»

Aus dem Augenwinkel sah Barry Mrs Kincaid in der Tür stehen. Er hatte sie nicht kommen hören. Für eine Frau von ihrer Leibesfülle war sie überraschend leichtfüßig.

«Sind Sie jetzt so weit, dass Sie frühstücken möchten?», fragte die Haushälterin und trat ein. Sie stellte ein Tablett auf die Anrichte, nahm zwei Teller herunter und setzte einen O’Reilly und den anderen Barry vor. «Ich wollte Sie nicht stören. Ich weiß ja, dass Sie wichtige Dinge besprechen.» Ihre Augen funkelten, und sie zwinkerte Barry zu. «Aber Sie geraten manchmal ganz schön in Fahrt, mein lieber Doktor O’Reilly, nicht wahr? Dabei habe ich gehört, dass das ganz schlecht für den Blutdruck ist.»

«Reden Sie kein Blech, Kinky.» O’Reilly grinste seine Haushälterin an, allerdings mit einem Blick wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter bei etwas Verbotenem ertappt wurde.

Barry wandte seine Aufmerksamkeit dem Frühstück zu. Auf seinem Teller lagen zwei Streifen Belfaster Speck neben einem Spiegelei mit orangegelbem Dotter. Eine halbe Grilltomate prangte auf einem Stück frischgebackenem Sodabrot, und die Krönung des Mahles bildeten zwei Schweinswürstchen, zwei Scheiben Blutwurst und eine Scheibe Grützwurst. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als ihm die Düfte in die Nase stiegen. Falls die beruflichen Gründe allein nicht ausreichen sollten, um ihn bei O’Reilly zu halten, dann würde Mrs Kincaids Kochkunst sicherlich den Ausschlag geben. «Danke, Kinky», sagte er. «Wenn ich das alles verputzt habe, kann ich Bäume ausreißen.»

Sie lächelte. «Ja, essen Sie das bisschen nur schön auf, aber die Bäume lassen Sie man ruhig stehen.» Mrs Kincaid wandte sich zum Gehen. Die Sonnenstrahlen spielten in ihrem silbernen Haarknoten und zeichneten Diamanten in die Kristallkaraffen auf der Anrichte.

«Danke, Kinky», sagte nun auch O’Reilly, während er sich eine Leinenserviette oben ins Hemd steckte. Er winkte mit der Gabel. «Ich könnte wirklich ein Pferd verdrücken, einen schweren Clydesdale, mit Sattel und allem Drum und Dran.» Er stopfte sich fast einen ganzen Speckstreifen in den Mund.

Barry schluckte ein Stückchen Tomate hinunter.

O’Reilly spießte ein Stück Blutwurst auf die Gabel und kaute mit der Begeisterung eines ausgehungerten Krokodils, das sich über einen fetten Springbock hermacht. «Ohne Frühstück kann ich den Tag nicht anfangen. Aber wenn ich das hier erst mal im Bauch habe, bin ich wie neugeboren.»

Während Barry den Speck schnitt, hörte er die Türglocke, dann Kinkys Schritte und eine Männerstimme. Die Haushälterin erschien wieder im Esszimmer. «Da ist Archibald Auchinleck.»

«Am Sonntagmorgen?», knurrte O’Reilly mit vollem Mund.

«Er sagt, es täte ihm leid, aber …»

«Na gut», brummte der Arzt und zog die Serviette aus dem Hemdausschnitt. «Erst hältst du mich mit deiner Fragerei vom Frühstücken ab, dann unterbrechen mich die Patienten», sagte er mit einem Blick auf Barry. «Ich werde noch verhungern.» Er stand auf und ging zur Tür.

«Ich stelle das Frühstück in den Backofen. Dann bleibt es warm, ja.» Kinky nahm O’Reillys Teller mit.

Barry nickte und wollte gerade weiteressen, als lautes Schimpfen die Morgenstille zerriss.

«Weißt du eigentlich, welchen Tag wir heute haben, Archibald Auchinleck, du jämmerliche Juxfigur? Na?» O’Reillys Gebrüll ließ Barrys Teetasse klappern. «Antworte mir, du schwabbeliger, schweißfüßiger Schwachkopf!»

Barry war froh, dass nicht er es war, der diese Schimpfkanonade abkriegte. Ein Satz ging ihm durch den Kopf: «Lass dir von deinen Patienten nie, nie …»

«Sonntag. Bist ein Genie. Für die Antwort hast du den Nobelpreis verdient. Weder Montag noch Freitag, nein, Sonntag. So, und in Kapitel 1, Vers 25, im Buch der Bücher heißt es, Gott habe am fünften Tag ‹allerlei Gewürm auf Erden› geschaffen, zweifelsohne Verwandte von dir, Archibald Auchinleck, aber was … was steht in Kapitel 2, Vers 2, über den siebten Tag? Sag’s mir.»

Gedämpftes Gemurmel vom Flur her.

«Da steht, und bitte korrigiere mich, wenn ich falsch zitiere: ‹Und am siebenten Tag vollendete Gott seine Werke … und ruhte von allen seinen Werken.› Also, was hat er getan?»

Barry konnte die Antwort kaum verstehen: «Er hat geruht, Sir.»

Lass dir von deinen Patienten nie, nie …

«Er hat geruht. Verdammt nochmal, und jetzt erkläre mir bitte, Archibald Auchinleck, wenn unser lieber Herrgott am Sonntag die Füße hochlegen durfte, warum darf ich das dann nicht auch? Was in Dreiteufelsnamen ist in dich gefahren, dass du ausgerechnet heute herkommst und mich mit schlichten Rückenschmerzen belästigt, die du schon seit Wochen hast?»

… niemals auf der Nase herumtanzen. Das war O’Reillys erste Regel im Umgang mit seinen Patienten, wie Barry wohl wusste, doch nun wurde seine Stimme leiser und sein Tonfall versöhnlicher. «Also gut, Archie. Genug geredet. Ich weiß ja, dass du als Milchmann bloß am Sonntag freihast. Wahrscheinlich kriegst du vom vielen Bücken beim Abliefern der Flaschen Schmerzen, und dass dein Junge in der britischen Armee dient, macht dir bestimmt auch Sorgen. Erzähl mal von deinem Rücken, und ich will sehen, was ich für dich tun kann.»

Barry wischte mit einem Stückchen Sodabrot das Eigelb vom Teller. Das war typisch O’Reilly. Seine Neigung zu Wutanfällen und Vulkanausbrüchen war gekoppelt mit einem enzyklopädischen Wissen über seine Patienten und einem Pflichtgefühl, das den hippokratischen Eid wie einen banalen Kalenderspruch erscheinen ließ.

Er schob den Teller fort, stand auf und schaute durch das Erkerfenster. Es war ein herrlicher Tag, und da O’Reilly ihm heute freigegeben hatte, hatte er keinerlei Verantwortung für die Praxis.

Barry beabsichtigte, seine Freiheit voll und ganz auszukosten. Morgen würde seine Assistenzzeit bei Doktor Fingal Flahertie O’Reilly beginnen. Jetzt war es kein Traum mehr, sondern Wirklichkeit. War es Yeats, der gesagt hatte: «In Träumen beginnen Verpflichtungen»? Denn was immer das kommende Jahr auch für Barry Laverty bereithielt, an Realität würde es sicher nicht fehlen. Barry griff nach seiner Teetasse. Und nach seinen Verpflichtungen.

2Am leuchtenden Sommermorgen

Ein brummiger O’Reilly saß im Esszimmer und verzehrte sein warm gehaltenes Frühstück. Archibald Auchinleck, der Milchmann, hatte sich verabschiedet, mit einem Rezept in der Hand und endlosen Entschuldigungen dafür, dass er den Herrn Doktor am Sonntag gestört hatte.

Kinky rückte vor dem Flurspiegel ihren Sonntagshut zurecht, bevor sie zum Gottesdienst aufbrach. Sie ging immer in die presbyterianische Kirche gleich gegenüber von O’Reillys Haus. «Mit dem neuen Pastor wird es großartig. Er hat letzte Woche auch schon gepredigt. Dabei hat er sechs Bankreihen weit Spucke versprüht.»

«Vielleicht sollten Sie zum Schutz Ihren Regenschirm mitnehmen?»

«So ein Blödsinn, Doktor Laverty, mit Schirm würde ich in der Kirche doch total bescheuert aussehen!» Kinky kicherte.

Auch Barry lachte in sich hinein, als er sich dieses Bild ausmalte. «Viel Vergnügen, Kinky», sagte er. «Sie haben so ein tolles Frühstück für uns gemacht, da haben Sie ein bisschen Unterhaltung verdient.»

«Unterhaltung, ja?», fragte Kinky. Sie richtete sich auf, als wollte sie einen Streit mit ihm anfangen, doch dann seufzte sie bloß. «Ihr jungen Leute. Ihr meint, heutzutage müsste alles so sein wie diese Beatles. Manchmal denke ich, die müssen ja glauben, sie wären berühmter als unser Heiland selbst. Das ist eine Schande, ja.»

Kinky rückte erneut ihren Hut zurecht und rauschte zur Haustür hinaus.

«Sie haben ja recht, Kinky», rief Barry hinter ihr her. Er hoffte, dass er sie nicht gekränkt hatte. Doch eine Frau, die es seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Haushälterin bei Doktor Fingal Flahertie O’Reilly ausgehalten hatte, war sicherlich nicht so leicht zu kränken. Trotzdem wollte er sich etwas überlegen, um seinen Ausrutscher wiederauszubügeln, denn er hielt es für klug, sich gut mit ihr zu stellen.

Aber nicht jetzt. Jetzt hatte er etwas anderes vor.

Er würde den Tag nicht so verbringen, wie er es sich erhofft hatte, aber, wie O’Reilly seinen Patienten gern sagte: «Was man nicht ändern kann, muss man aushalten.» Barry fragte sich, ob sein Chef wohl wusste, dass dieses Zitat von einem griesgrämigen englischen Pastor stammte, der im 17. Jahrhundert ein Buch mit dem Titel Die Anatomie der Schwermut verfasst hatte. Doch, wahrscheinlich ja. O’Reilly entging kaum etwas.

Gezwungenermaßen hatte Barry seinen Tag ohne Patricia Spence geplant, ohne die bezaubernde junge Frau, die er im letzten Monat im Zug nach Belfast kennengelernt hatte. Die einundzwanzigjährige Bauingenieursstudentin war mit der Helligkeit einer Supernova in seinen Kosmos eingebrochen. Patricia nahm ihr Studium so ernst, dass sie ihm vor zehn Tagen erklärt hatte, sie sei nicht bereit, sich zu verlieben. Daraufhin hatte Barry sie nicht mehr gesehen – bis gestern Nachmittag, als sie wunderbarerweise unangekündigt auf dem Abschiedsfest der Galvins aufgetaucht war. Und am Abend hatte sie dann in ihrer Wohnung für ihn gekocht. Den Geschmack ihrer Abschiedsküsse konnte er sich immer noch in Erinnerung rufen. Und den Geschmack der Lasagne. Für eine Ingenieurin kochte sie gar nicht schlecht.

Heute jedoch besuchte Patricia ihre Eltern in Newry, etwa vierzig Meilen südlich von Belfast. Sie hatte versprochen, ihn bald anzurufen. Mit diesem Versprechen musste Barry sich zufriedengeben, auch wenn er darauf brannte, ihr von seinen Aussichten hier in Ballybucklebo zu erzählen.

Es war ein herrlicher Tag, und er wollte ihn genießen. Es schien ihm, als hätte er schon lange keine Zeit mehr für einen richtigen Spaziergang gehabt. Die Bewegung würde ihm guttun.

Er streckte den Kopf durch die Esszimmertür. «Ich gehe eine Weile raus, Fingal.»

«Wie bitte?»

«Ich geh raus. Du hast gesagt … du hast gestern gesagt, ich könnte heute freihaben.»

«Mein Gott, und vor einer halben Stunde hast du noch gesagt, du wolltest dich bemühen … Die Praxis hier ist doch kein Ferienlager!»

«So, wie Sie heute vom Leder ziehen, klingt das eher nach einem Arbeitslager, Doktor O’Reilly», murmelte Barry vor sich hin.

«Was sagst du da?»

«Ach, nichts.» Barry holte tief Luft. «Soll ich hierbleiben?»

O’Reilly schüttelte den Kopf. «Ist schon in Ordnung. Ich wollte dir deinen freien Tag nicht versauen. Hab bloß gerade an Archie Auchinleck gedacht.»

«Mit seinem kaputten Rücken?»

«Das sagt er jedenfalls.»

Nun trat Barry doch wieder ins Esszimmer. Der Patient interessierte ihn. «Hältst du ihn für einen Drückeberger?»

«Nein, das ist Archie bestimmt nicht. Der hat mit seiner Milchtour seit wer weiß wie vielen Jahren nicht einen Tag ausgesetzt.»

«Aber was ist es dann?»

«Sein Sohn.» O’Reilly blickte von seinem Teller auf. «Er hat nur den einen, und der ist zur britischen Armee gegangen.»

Barry erinnerte sich, dass er im Fernsehen einen Bericht über britische Soldaten in einer Friedenstruppe der Vereinten Nationen gesehen hatte. «Aber er ist nicht auf Zypern, oder?»

O’Reilly nickte. «Leider doch. Und die Türken oder die Griechen oder irgendwelche Idioten haben auf sie geschossen. Der arme Archie ist vor lauter Sorge krank.» Er stand auf. «Ich hätte ihn nicht anbrüllen dürfen. Wir Ärzte können überhaupt nichts tun, solange sein Junge nicht nach Hause kommt. Das ist so verdammt frustrierend.»

Und, dachte Barry, wenn du frustriert bist, fährst du aus der Haut, stimmt’s, Fingal?

«Also, mach dich auf den Weg. Nutze deine Zeit. Schade, dass heute Sonntag ist.»

«Wieso?»

«Sonst könntest du dir die Haare schneiden lassen.»

«Hab ich doch gar nicht nötig.»

«Aber bald. Und ich werde dich so mit Arbeit eindecken, dass du ab sofort für so was keine Zeit mehr hast.»

Doch als Barry sah, wie die Lachfältchen in O’Reillys Augenwinkeln tiefer wurden, wusste er, dass das eine leere Drohung war. Wenn die Patienten allerdings weiter so in die Praxis strömten wie im letzten Monat, gab es wirklich viel zu tun – und darauf freute er sich. «Ja, und wenn mir die Haare dann über den Kragen hängen, kannst du den Patienten sagen, ich wollte mich bei den Beatles bewerben.»

O’Reilly lachte. «Also, wenn man irgendwas macht, soll man es auch richtig machen. Versuch doch gleich, zu den Rolling Stones zu gehen. Ich hab sie in den Nachrichten gesehen. Die sahen aus wie wandelnde Heuhaufen.»

«Noch nie von ihnen gehört.»

«Kommt bestimmt noch», meinte O’Reilly. «Die produzieren interessante Geräusche.»

Barry schaute zu, wie O’Reilly sich eine Apfelsine fertig machte. Irgendwie schaffte er es, die Schale in einer einzigen langen Spirale abzuschälen. «Wenn du das sagst», meinte er zu seinem Chef.

«Ja, und ich sage auch noch was anderes.» O’Reilly grinste. «Ich hab dir versprochen, dass du heute freihast, also verschwinde und mach dir einen schönen Tag.»

«Danke, Fingal.»

Barry verließ das Haus und spazierte die Hauptstraße von Ballybucklebo hinunter. Die Türen der presbyterianischen Kirche waren geöffnet, und auf der Eingangstreppe stand der schwarzgewandete Pfarrer und begrüßte seine Schäfchen.

Die Augustsonne war längst über den Kamm der Ballybucklebo Hills geklettert und strahlte vom blauen Himmel herunter. Der schiefe Kirchturm warf einen asymmetrischen Schatten über die Eiben und die Grabsteine auf dem kleinen Friedhof.

Barry beobachtete, wie die Gemeinde die Main Street entlang zur Kirche eilte, Männer in schwarzen Anzügen, Frauen in Sommerröcken, mit Hüten und weißen Handschuhen und ordentlich gekleidete, saubere Kinder. Er wusste, dass sie gleich ihre wöchentliche Dosis Höllenfeuer und Schwefel abbekommen würden, denn er erinnerte sich noch gut an seine Kindheit in Bangor, als man ihn jeden Sonntag in die Kirche geschleift hatte. Die Presbyterianer konnten streng sein. Calvin und Knox und die ganze Bande. Die ließen nichts durchgehen.

Einige der Kirchgänger erkannte Barry. Die junge Frau mit dem wehenden blonden Haar unter dem Strohhütchen war Julie MacAteer, die erst kürzlich aus Rasharkin im County Antrim hergezogen war. Sie lächelte ihm zu. «Morgen, Herr Doktor.»

«Morgen, Julie.»

Die ältere Frau mit dem exotischen Hut war Maggie MacCorkle. Sie hatte sich mit Kopfschmerzen bei ihm vorgestellt – eine Handbreit über dem Scheitel. Barry musste sie anschauen, denn sie steckte sich jeden Tag andere Blumen ins Hutband. Heute waren es zwei tiefrote Löwenmäulchen. «Morgen, Doktor Laverty.»

«Morgen, Maggie. Wie geht’s Ihnen heute?»

«Hab ein winziges bisschen Kopfweh», erwiderte sie und zeigte genau eine Handbreit über ihren Kopf. «Aber machen Sie sich keine Sorgen deswegen.»

«Und Sonny?», erkundigte Barry sich, wobei er gleichzeitig den Vorsatz fasste, die Patienten an seinem freien Tag nicht mehr nach ihrem Befinden zu fragen. Sonny befand sich in Bangor in einem Genesungsheim, wo er sich gerade von einer Lungenentzündung erholte.

Maggie grinste zahnlos. «Der alte Esel ist auf dem Weg der Besserung, danke, Doktor. In den nächsten Tagen hole ich ihn nach Hause.» Sonny und Maggie waren beide über sechzig und wollten bald heiraten.

«Freut mich zu hören. Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie ihn wieder sehen.»

«Gerne.»

«Und den General auch.» General Sir Bernard Law Montgomery, Maggies einäugiger Kater mit dem zerrissenen Ohr, stammte wie sein berühmter Namensvetter aus Ulster und hatte ebenso wie dieser seine Freude an einer ordentlichen Rauferei.

Barry lächelte. Die Menschen hier zu kennen, nicht bloß als Namen und Krankheiten, sondern etwas über ihr Leben zu wissen und von ihnen als Freund begrüßt zu werden, wärmte ihn ebenso wie die Morgensonne.

Er hatte es nicht eilig. Während er gemächlich weiterschlenderte, lauschte er den Geräuschen des Dorfes.

In den Eiben am Friedhof sangen die Amseln. Über ihren Melodien schwebte das hohe Tremolo einer Drossel. Ringeltaubenpärchen hockten auf den Telefondrähten und gestanden sich gurrend ihre Liebe. Die Lieder der Vögel wetteiferten mit dem leisen Glockenläuten, das der Wind vom Turm der katholischen Kirche am anderen Ende der Main Street herüberwehte.

Ein Paar näherte sich Barry. Der Mann, in Anzug und mit Melone, war klein und kugelrund. Begleitet von einer ebenso molligen Frau in einem geblümten Kleid, eilte er die Straße entlang. Er machte ein verdrießliches Gesicht, und sie war ganz außer Atem, weil sie sich bemühte, mit seinem Tempo mitzuhalten. «Herrgott, Flo, jetzt komm doch endlich», schnaufte er.

Councillor Bertie Bishop und seine Frau Florence, das wohlhabendste Paar in Ballybucklebo. Barry hatte Mrs Bishop noch nicht kennengelernt, wusste aber aus seinen Begegnungen mit dem Councillor, dass ihr Mann der raffgierigste, hinterhältigste Mensch von ganz Nordirland war.

«Morgen, Councillor. Morgen, Mrs Bishop.»

Barry wurde mit einem schwachen Lächeln und einem «Morgen, Doktor» von Mrs Bishop und mit einem Knurren von ihrem Gatten belohnt. Ja, dachte er, O’Reilly hatte recht. Nicht alle Patienten liebten ihren Doktor, und Bertie Bishop hatte gute Gründe, seine beiden Ärzte zu hassen. Bis letzte Woche hatte er sich in dem Glauben wiegen können, der cleverste Mann im Dorf zu sein. Doch er war nicht der Erste und mit Sicherheit auch nicht der Letzte, der unterschätzte, wie gerissen O’Reilly sein konnte.

Barry bog um die Ecke und spazierte zwischen den weißgetünchten, einstöckigen Häuschen weiter, die den oberen Teil der Main Street säumten. Einige waren mit Stroh gedeckt, andere mit Schiefer, und sie standen gedrängt wie Nachbarn, die sich aufgereiht haben, um auf eine Parade zu warten.

Er erreichte die Kreuzung mitten im Ort, wo der Maibaum, mit roten, weißen und blauen Spiralen bemalt, das ganze Jahr über schief neben Ballybucklebos einziger Ampel lehnte. Eine stichelhaarige Stute wartete vor einem Wagen mit Gummirädern geduldig auf Grün. Ihre Augen waren mit ledernen Scheuklappen vor der Helligkeit geschützt, und außerdem trug sie einen Hut, in den Löcher für die Ohren geschnitten waren. Sie hob den Schweif und ließ einen Haufen dampfender Pferdeäpfel auf den Asphalt fallen.

«Morgen, Doktor Laverty», sagte der Kutscher. Barry kannte ihn nicht. «Herrlicher Tag.»

Barry freute sich, dass ein Fremder ihn mit Namen ansprach. «Das kann man wohl sagen.»

Er überquerte die Straße. Der leichte Wind trug salzigen Seetanggeruch von der Belfaster Bucht herüber und ließ das Wirtshausschild vom «Schwarzen Schwan» schaukeln, dem Pub, der bei den Einheimischen als «Dreckspatz» bekannt war. Die verrosteten Angeln quietschten.

Als Barry unter der Eisenbahnbrücke hindurchging, hörte er über sich den Zug nach Bangor entlangrattern und roch die Dieseldämpfe. Als Student war er mit diesem Zug Tag für Tag von zu Hause zur Queens University in Belfast gefahren. Und er hatte Patricia Spence darin kennengelernt, ganz zufällig, bei einem Ausflug nach Belfast im letzten Monat. So hatte er Grund, das Ungetüm mit Zuneigung zu betrachten, genau so wie die Einheimischen. Im Dorf sagte man nämlich, diese Eisenbahn werde schon in der Schöpfungsgeschichte erwähnt, und dann zitierte man den gleichen Vers wie vorhin O’Reilly: «Und Gott schuf allerlei Gewürm auf Erden.»

Der Zug kroch so langsam wie ein Wurm, das stimmte, aber passte das nicht zu dem Lebensrhythmus in einem Nest wie Ballybucklebo? Ländlich, verschlafen und mit sich selbst im Reinen – ein Dorf, das von dem mörderischen Hass, der im übrigen Ulster oft unter der Oberfläche tobte, nichts zu wissen schien.

Barry stieg die niedrige Düne hinauf, die die Küstenstraße vom Ufer trennte. Er wusste, dass im Winter, wenn die heftigen Stürme aus Nordost tobten, nur die Dünenkette das Meer davon abhielt, die Häuser dahinter anzunagen.

Er hob einen Kieselstein auf und schleuderte ihn über den schmalen Strand hinweg ins Wasser. Nein, hier brauchte er sich um Konfessionsstreitigkeiten keine Gedanken zu machen. Das hatte O’Reilly ihm versichert, und Barry hatte es mit eigenen Augen gesehen. Donal Donnelly, ein Katholik, war der erste Dudelsackpfeifer bei den Ballybucklebo Highlanders. Barry hatte sie gerade in der Oranierparade am 12. Juli gesehen, und weder Donal noch die Oranierorden hatten sich daran gestört. Jeden Montag spielten der katholische Priester und der presbyterianische Pfarrer zusammen Golf. Barry war dankbar dafür, dass O’Reilly ihm die Möglichkeit bot, sich in diesem Ort niederzulassen, wo die Konfessionszugehörigkeit offenbar keine Rolle spielte.

Er beschleunigte sein Tempo und folgte dem Dünenkamm. Es tat ihm leid, dass Patricia nicht bei ihm war und mit ihm durch Strandhafer und Klumpen von Salmiere streifte. Er beschloss, eine Stunde lang zu gehen und dann zum Mittagessen zu O’Reilly zurückzukehren. Nein, korrigierte er sich, allmählich musste er das Haus in der Main Street Nr. 1 auch als sein eigenes Zuhause betrachten. In einem Jahr, so hoffte er, würde es dann auch auf einem zweiten Messingschild neben der Haustür stehen: «Dr. Barry Laverty, Praktischer Arzt und Chirurg, Arzt für Geburtshilfe».

«Herrlicher Tag», hatte der Fremde auf dem Pferdewagen gesagt. Barry vollführte ein Freudentänzchen. Ja, was für ein Tag. Ab heute war er hier zu Hause, und er fühlte sich in diesem Dörfchen auf dem Land tatsächlich heimisch, viel mehr als in seiner Studentenzeit im hektischen Belfast. Außerdem würde er bald von Patricia hören, und das Wichtigste war, dass er entschieden hatte, welche Richtung seine berufliche Laufbahn nehmen sollte.

Er hörte ein Schreien über sich, blieb stehen und schaute zu, wie die Möwen mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Wind segelten. Ja, er hatte sich zu einer Assistenzzeit verpflichtet und freute sich darauf, selbst in seinem Beruf die Schwingen zu entfalten. O’Reilly musste das einsehen und ihn selbständiger arbeiten lassen, denn schließlich – schließlich würde er schon in einem Jahr als vollwertiger Partner mitarbeiten.

Vielleicht, überlegte Barry, würde er doch schon nach einer halben Stunde umkehren, denn er freute sich richtig auf sein Mittagessen und auf einen faulen Nachmittag. Aber natürlich konnte es auch sein, dass etwas Unerwartetes passierte – wie so häufig hier in Ballybucklebo.

3Messer, Gabel, Schere, Licht

Barry saß oben in O’Reillys Wohnstube, mit den Füßen auf einer Fußbank und einer von Kinkys erstklassigen Mahlzeiten im Bauch. Das Kreuzworträtsel in der Sunday Times hatte er fast gelöst. Er fragte sich, wann O’Reilly wohl wiederkommen würde. Bei der Rückkehr von seinem Spaziergang war er fast mit seinem Chef zusammengestoßen, denn der stürzte gerade aus dem Haus. Er murmelte etwas von «immer die Gleichen» und schimpfte auf jemanden, dem er einen Besuch abstatten musste – das bedeutete nämlich, dass er auch zur zweiten Mahlzeit des Tages zu spät kommen würde.

Ah ja, dachte Barry, die Freuden einer Landarztpraxis. Er war froh, ausnahmsweise mal nicht zuständig zu sein, insbesondere, da es um einen von O’Reillys Problempatienten zu gehen schien. Barry überlegte kurz, wer es sein könnte, dann wandte er sich wieder seinem Rätsel zu. Dass Lady Macbeth, O’Reillys schneeweiße Katze, auf seinem Schoß hockte und mit der Pfote nach seinem Stift schlug, war seiner Konzentration allerdings nicht gerade förderlich.

Es klingelte an der Haustür. Barry hörte, wie Kinky öffnete, und dann ihre Stimme und das Schluchzen eines Kindes. Er schubste die protestierende Katze auf den Boden, stand auf und ging nach unten.

Kinky begegnete ihm im Flur. «Der kleine Colin Brown und seine Mami. Das Schätzchen hat sich in die Hand geschnitten, ja. Mrs Brown sagt, sie hat die Blutung gestillt, also hab ich die beiden ins Behandlungszimmer gesetzt, bis unser Doktor zurückkommt. Ich hab ihnen gesagt, dass Sie heute freihaben.»

Das Unerwartete war geschehen. «Ich kümmere mich um die beiden», sagte Barry. Er wusste, dass O’Reilly haargenau das Gleiche getan hätte, und eilte ins Behandlungszimmer.

In Sonntagsmantel und Sonntagshut kniete Mrs Brown vor O’Reillys altem Rollschreibtisch und versuchte, ihren Sechsjährigen zu trösten. Barry kannte den kleinen Colin. Gestern noch hatte er fröhlich in O’Reillys Garten gespielt und sich vor Lachen gekugelt. Jetzt krümmte er sich unter Tränen über seine verletzte rechte Hand, und der Rotz lief ihm aus beiden Nasenlöchern. Die Hand war in ein blutbeflecktes Geschirrtuch eingewickelt.

Barry kniete sich neben die Mutter. «Wie ist das passiert?»

«Das weiß ich nicht genau», erwiderte sie. «Ich glaube, er hat mit Dereks Werkzeug gespielt. Er kam aus der Werkstatt angerannt und hat furchtbar geblutet, der Arme, also hab ich seine Hand eingepackt», sie deutete mit dem Kopf auf das Geschirrtuch, «und ihn sofort hergebracht, ganz schnell.»

«Gut», sagte Barry und wandte sich an den Jungen. «Darf ich mir das mal angucken, Colin?»

Der kleine Junge zog die Schultern hoch, legte den Kopf schräg und presste die verletzte Hand noch fester an die Brust. «Nein.» Mit einem Schniefen schaute er seine Mutter an. «Meine Mami sagt, das brauchen Sie nicht. Meine Mami sagt …»

«Vielleicht kann die Mami helfen?» Barry wartete ab.

Mrs Brown rutschte noch näher an den Schreibtisch heran. «Komm, Colin. Der nette Onkel Doktor macht es wieder besser, weißt du. Er tut dir nicht weh.»

Barry wünschte, sie hätte mit ihrem letzten Satz recht, aber nach der Menge Blut zu urteilen, die in den provisorischen Verband gesickert war, war die Wunde tief und musste genäht werden. Wenn er Kinder behandelte, machte es ihm immer zu schaffen, dass sie nicht verstanden, warum er ihnen Schmerzen zufügte.

Colin wischte sich mit dem Ärmel die Oberlippe ab, dann streckte er seiner Mutter die Hand hin. Der vertrauensvolle Blick des Kindes schnitt Barry so tief ins Herz, wie das Werkzeug in die kleine Hand geschnitten haben musste. «Das tut weh», wimmerte der Junge.

Mrs Brown gab leise, beruhigende Laute von sich und wickelte das Geschirrtuch langsam von der kleinen Hand ab. «Na los», sagte sie, «jetzt zeig dem netten Onkel Doktor dein Aua.»

Colin streckte Barry die Hand hin, doch außer Blut war wenig zu sehen. «Ich glaube», sagte dieser, «ich muss die Hand ein bisschen abwischen.» Er stand auf und ging zur Untersuchungsliege an der grüngestrichenen Wand. «Ich bitte deine Mami jetzt, dich hier rüberzubringen. In Ordnung, Colin?»

Barry wartete, bis Mrs Brown ihren Sohn auf die Liege gehoben hatte. Wenigstens hatte das arme Kind jetzt aufgehört zu weinen. Barry schob den Instrumentenwagen neben die Liege. Obendrauf lag auf einem grünen Tuch eine sterile Packung. «Kannst du die Hand bitte hier hinlegen, Colin?» Zögernd schob das Kind die Hand auf das Tuch. «Gut gemacht.»

Barry riss das Päckchen auf. Darin befanden sich ein steriles Tuch und ein Paar Gummihandschuhe, eine Rolle mit Instrumenten und zwei schimmernde Schälchen aus Edelstahl. Er nahm unten aus dem Rollwagen eine Flasche mit Kochsalzlösung, drehte den Verschluss auf und goss ein wenig in das eine Schälchen. In das andere schüttete er Dettol. Er würde die Wunde mit dem Desinfektionsmittel reinigen müssen, doch beim bloßen Gedanken daran, wie das brennen würde, schauderte es ihn. Oder sollte er –? Doch ja, das konnte klappen.

«Ich wasche mir nur eben die Hände», erklärte Barry, trat ans Waschbecken und drehte die Hähne auf. Während er sich die Hände schrubbte, spürte er, wie der Blick des Jungen sich in seinen Rücken bohrte.

Er hörte Schritte und drehte sich um. O’Reilly stand in der Tür und beobachtete ihn. Er wirkte erhitzt und runzelte die Stirn, nickte Barry aber aufmunternd zu. «Bin gerade wiedergekommen. Mach ruhig weiter.»

Barry beendete sein Händeschrubben. Er war enttäuscht, dass sein Chef jetzt da war und ihn beaufsichtigte, als wäre er noch Student. Doch er konnte ein bisschen Hilfe gebrauchen, und immerhin zeigte sein Einsatz O’Reilly auch, dass er die Praxis keineswegs als Ferienlager betrachtete.

Er trat wieder an den Instrumentenwagen, trocknete sich die Hände ab und zog die Gummihandschuhe über. «So», sagte er und nahm mit einer Zange ein paar Wattetupfer aus dem Päckchen, «jetzt wollen wir die Hand reinigen.» Er tränkte einen Wattebausch mit der Kochsalzlösung und wischte damit behutsam über die Handfläche des Jungen. Ja, der Schnitt musste genäht werden. Er war fünf Zentimeter lang und verlief von der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger schräg hinunter zum Handgelenk.

Barry wandte sich an O’Reilly. «Ich brauche Hilfe.» Er machte eine rasche Bewegung mit der rechten Hand, um O’Reilly anzudeuten, dass er nähen musste.

O’Reilly nickte. «Lokal?»

«Bitte.»

Barry stellte sich absichtlich so hin, dass er Colin die Sicht auf die Spritze versperrte.

«Hier», sagte O’Reilly. Er hielt Barry eine Flasche mit Xylokain hin, damit dieser das Lokalanästhetikum in die Spritze aufziehen konnte. Barry legte die Spritze auf dem sterilen Tuch ab.

Er hielt O’Reilly ein Metallschälchen hin. «Könntest du da noch ein bisschen reingießen?» Barry hoffte, dass die Methode, die ihm gerade in den Sinn gekommen war, funktionieren würde.

Er sah, wie sein Chef beim Eingießen die Brauen zusammenzog. Bestimmt hatte O’Reilly diesen Trick noch nie gesehen. Barry hatte ihn im letzten Jahr von einem Arzt auf der Unfallstation gelernt. Wortlos hob er das Schälchen und ließ einige Tropfen der schmerzstillenden Flüssigkeit direkt in die Wunde rinnen.

Colin wimmerte und versuchte, die Hand wegzuziehen, aber seine Mutter hielt den kleinen Arm fest. «Nur noch einen Moment, mein Junge. Nur noch ein Momentchen.»

«Verdammt», sagte O’Reilly. «Warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Das Anästhetikum wird wohl direkt absorbiert?»

«Ja, und der Kleine merkt weder etwas vom Dettol noch von …» Barry formte das Wort mit den Lippen: «… der Nadel.»

«Das läuft ja wie geschmiert», kommentierte O’Reilly mit breitem Grinsen. «Wissen Sie», wandte er sich an Mrs Brown, «das war ein großer Tag für Ballybucklebo, als Doktor Laverty hergekommen ist.»

Barry spürte, wie er rot wurde. «So, Colin», sagte er in der Hoffnung, dass die Betäubung inzwischen gewirkt hatte. «Jetzt male ich den Schnitt braun an.»

Mit der Zange tauchte er einen Wattetupfer in das Dettol. Nach kurzem Zögern betupfte er vorsichtig die Wunde, auf lautes Geschrei gefasst, denn Dettol in einer offenen Wunde brannte normalerweise wie die Hölle. Aber es kam kein Mucks. Das Betäubungsmittel wirkte. Barry wischte den Schnitt mit einer großzügigen Dosis Antiseptikum ab.

«So, Colin, jetzt hält deine Mami dich fest.» Barry legte die Zange auf den Wagen und nahm, während er dem Kind weiter die Sicht versperrte, die Spritze in die Hand. Mit einer zweiten Zange hob er einen der Wundränder an. Er sah das gelbe Fett unter der Haut und darunter die roten Muskelfasern. Erwartungsgemäß befand sich Blut in der Wunde, aber es spritzte oder pulsierte nicht, folglich war keine Arterie verletzt. Gut.

«Vielleicht merkst du jetzt, dass ich ein bisschen drücke, Colin.» Barry schob die Nadel am Wundrand unter das Unterhautfettgewebe und spritzte das Betäubungsmittel. Der Wundrand schwoll an und wurde weiß.

«Gut», sagte er, als er fertig war, «jetzt muss das ein paar Minuten wirken.»

Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn. Im Behandlungsraum war es warm, und er schwitzte, aber nicht nur wegen der Hitze.

«Alles in Ordnung, Colin?»

«Ja, Sir.» Der Junge weinte wirklich nicht mehr.

Barry lächelte der Mutter zu und freute sich, dass sie zurücklächelte. «Weiter», sagte er und schob eine gebogene Nadel mit einem schwarzen Seidenfaden in einen Nadelhalter, ein Instrument, das einer Schere ähnelte, aber statt der Schneiden kurze, stumpfe Backen besaß. Mit einem Feststellmechanismus zwischen den Griffen konnte man die Backen schließen.

Er hob einen Wundrand mit der Zange an und schob Nadel und Faden mit Hilfe des Nadelhalters durch alle Schichten hindurch, bis er die Nadelspitze tief in der Wunde schimmern sah. Dann hob er den anderen Wundrand mit der Zange an und stieß die Nadel durch das Gewebe. Als die scharfe Spitze über der Haut erschien, packte er sie mit der Zange und zog die Nadel durch.

Ein erster schwarzer Seidenfaden zog sich durch die Wunde. Barry ergriff das lose Ende mit der Zange und legte eine Schlinge um die Spitze des Nadelhalters. Dann führte er mit der Zange das Ende des Fadens zwischen die Backen des Nadelhalters, schloss den Halter und zog die Backen mitsamt dem Faden durch die Schlinge. Ein sanfter Zug an beiden Enden des Nähfadens, und der erste Teil des Knotens war fest. Barry wiederholte den Vorgang, und schon saß ein Kreuzknoten über der Wunde, und der untere Teil war geschlossen. Mit einer Schere schnitt Barry die Fadenenden ab, aber nicht zu dicht am Knoten – in ein paar Tagen mussten die Fäden gezogen werden, und die Enden sollten so lang sein, dass man sie fassen und den Knoten daran anheben konnte, um die Schlinge dann durchzuschneiden. «Gleich vorbei», sagte er knapp.

In weniger als fünf Minuten hatte er eine Naht mit vier schönen Stichen produziert, und die Wunde war geschlossen und hatte aufgehört zu bluten. «Fertig.» Er legte die Instrumente ab und lächelte Colin an.

«Hab gar nix gemerkt», sagte der Kleine mit großen Augen und betrachtete seine Hand. «Wart nur, wenn ich Jimmy Hanrahan und den anderen heute Nachmittag in der Sonntagsschule erzähle, dass ich genäht worden bin.»

Barry hörte den Stolz in der Stimme des Jungen. Er staunte. Kinder waren wirklich nicht unterzukriegen.

«Ganz herzlichen Dank, Doktor Laverty; und noch dazu an Ihrem freien Tag», zwitscherte Mrs Brown. «Wir wollen Sie aber nicht weiter aufhalten. Nein, wir machen uns jetzt wieder auf den Weg.»

Barry lächelte. «Nicht so schnell. Ich muss die Hand noch verbinden. Vielleicht ist es sinnvoll, wenn Sie Colin in den nächsten paar Tagen alle sechs Stunden ein Aspirin geben. Wenn die Betäubung aufhört, wird es ein bisschen wehtun.»

Die Mutter nickte weise. «Das mache ich, klar.»

«Und kommen Sie nächsten Freitag mit ihm zum Fädenziehen.»

«Am Freitag? Ja, da kommen wir wieder, oder, Colin?»

«Ja, Mami. Darf ich jetzt runter?»

Barry hörte das leise Plumpsen, als der Junge auf den Boden sprang.

«Bedanke dich bei dem netten Onkel Doktor, Colin.»

«Danke schön, Doktor Laverty», piepste das Kind. «Weißt du was? Wenn ich groß bin, werde ich auch Doktor.»

«Tatsächlich? Jetzt aber raus.» Barry grinste über beide Wangen, denn erneut wurde ihm bewusst, dass ihn nicht nur die fünfunddreißig Pfund pro Woche in Ballybucklebo hielten. «Und schneide dich nicht wieder.»

Kaum waren Mutter und Sohn fort, drehte er sich zu O’Reilly um. Eigentlich rechnete er damit, für seine Arbeit ein Lob zu erhalten, aber das Gesicht seines Chefs war ausdruckslos. Warum, fragte Barry sich, sollte er mich auch für eine derartige Routinesache loben? Wenn ich meinen Teil an der Arbeit hier übernehme, wird er doch wohl von mir erwarten können, dass ich eine Schnittwunde nähe. Und plötzlich freute sich Barry darüber, dass O’Reilly keinen Kommentar abgab.

Er räumte auf, warf die schmutzigen Wattetupfer in den Treteimer.

O’Reilly hatte sich in seinem Drehsessel niedergelassen und schaute aus dem Fenster. «Lass den Rest für Kinky», sagte er plötzlich und erhob sich wieder. «Ich muss mit dir sprechen, Barry.» Seine Stimme hatte einen scharfen Unterton. «Oben in der Wohnstube.»

Barry wurde flau im Magen. Er wandte sich zur Tür. «Worüber denn?»

«Über den Notfall, zu dem ich hinmusste.» Auf O’Reillys Gesicht war nicht die leiseste Andeutung eines Lächelns zu sehen.

War es jemand, den Barry kürzlich behandelt hatte? Hatte er einen Fehler gemacht? Bevor er nachfragen konnte, hörte er O’Reilly schimpfen, doch dann wurde ihm klar, dass es nicht ihm galt.

«Zum Donner nochmal, was machst du denn hier, Donal Donnelly? Und wie bist du überhaupt reingekommen, ohne zu klingeln?»

4Wem die Stunde schlägt

Barry drehte sich um. In der Tür stand Donal Donnelly, ein schlaksiger junger Mann mit karottenrotem Haarschopf und Hasenzähnen. O’Reillys Anblick hatte ihm offenbar die Sprache verschlagen. Verlegen drehte er seine Schirmmütze in den Händen. Donal war, wie Barry wusste, der Verlobte von Julie MacAteer und würde bald eine ehrbare Frau aus ihr machen. Julie war nämlich schwanger, und im Jahr 1964 wurde ein uneheliches Kind im ländlichen Ulster von vielen nicht nur mit Stirnrunzeln betrachtet.

«Ich warte, Donal Donnelly, aber nicht mehr lange», brüllte O’Reilly.

Donal schluckte. «’tschuldigung, Herr Doktor. Ich bin nicht krank oder so. Wollte Sie bloß was fragen, eine Kleinigkeit. Als Mrs Brown eben rauskam, bin ich schnell durch die Tür reingesaust.»

«Durch die Tür, was du nicht sagst, und genau da kannst du auch wieder raussausen. Ich hab noch nicht Mittag gegessen, und außerdem muss ich was Wichtiges mit Doktor Laverty besprechen.»

Barry spürte, wie O’Reilly sich an ihm vorbeischob. Achtung, Rosenbüsche, dachte er. Wenn sich Donal nicht vorsah, würde er gleich ins Rosenbeet fliegen, genau so wie Seamus Galvin vor ein paar Wochen. Bei seiner Ankunft in Ballybucklebo hatte Barry nämlich beobachtet, wie der Arzt Seamus buchstäblich im hohen Bogen aus dem Haus geworfen hatte. Barry wünschte, Donal würde wieder gehen. Er wollte nicht, dass O’Reilly in Zorn geriet, nicht jetzt, wo sie etwas Wichtiges zu besprechen hatten.

«Ich bin nicht krank, Sir», wiederholte Donal. Die Mütze schützend vor sich haltend, trat er einen Schritt zurück. «Ich bin wegen einem Rennpferd hergekommen.» Seine Stimme wurde eine ganze Oktave höher. «Da könnt ich ein bisschen Geld für Julie und das Baby rausschlagen», quiekste er.

O’Reilly stutzte. «Aus einem Pferd?» Barry hörte den interessierten Unterton in O’Reillys Stimme. «Aus welchem Pferd denn?»

«Arkle, Sir.» Donal flüsterte.

Den Namen hatte Barry schon mal gehört. Er wusste, dass Donal einen Windhund namens Bluebird besaß. O’Reilly hatte beim letzten Rennen auf den Hund gesetzt und vierhundert Pfund gewonnen. Aber was hatte Donal jetzt mit Rennpferden zu tun?

«Arkle? Du spinnst wohl, Donal. Deine Hündin kannst du vielleicht für ein Rennen manipulieren, aber du hast doch überhaupt keine Chance, unser Wundertier auch nur von fern zu sehen.»

«Entschuldigt mal bitte», unterbrach Barry, «von wem redet ihr da eigentlich?»

Er war überrascht, als Donal und O’Reilly beide loslachten. «Arkle ist ein Steepler, er läuft Hindernisrennen. Gehört Mary, der Herzogin von Westminster. Das beste Pferd, das Irland je hervorgebracht hat. Hier kennt ihn jedes Kind, deswegen nennen wir ihn nur ‹unser Wundertier›.»

Jetzt kapierte Barry. «Ist das nicht der Wallach, der dieses Jahr am Sankt-Patricks-Tag den Cheltenham Gold Cup gewonnen hat?»

«Genau», bestätigte Donal, «und dreizehn Tage später das Irish Grand National.»

«Also gut, Donal», brummte O’Reilly, «ich bin ganz Ohr. Worum geht es denn nun?»

«Darf ich reinkommen, Sir?»

O’Reilly trat zur Seite. Donal schob sich an ihm vorbei in den Behandlungsraum und schloss die Tür. Er blickte sich um und senkte die Stimme. «Ich hab da ’ne Idee, wie wir mit Arkle ein bisschen Geld machen können. Für Julie und mich, meine ich.»

«Red weiter.»

Donal wühlte in seiner Hosentasche und förderte eine Silbermünze zutage. «Sehen Sie mal.» Er reichte O’Reilly das Geldstück. «Das hier ist eine halbe Krone, aus der Republik Irland, sehen Sie.»

Barry kannte die Münzen gut. Auf der Vorderseite war eine Harfe zu sehen, auf der Rückseite ein arabisches Vollblut.

«Ich hab mir gedacht, wenn ich zum Rennen gehe, könnte ich diese Dinger für ein Pfund pro Stück an die englischen Wetter verkaufen, doch, ja.»

O’Reilly lachte. «Und wie willst du das anstellen?»

Donal kniff die Augen zusammen. «Ich sage denen einfach, dass sie in Dublin zwei Pfund für so eine Münze bezahlen müssen. Wenn die Leute glauben, sie können ein Schnäppchen machen, dann beißen sie immer an, stimmt’s? Und wenn sie so einen Trottel aus Ulster übers Ohr hauen können, freuen sie sich doch ein Loch in die Mütze, oder?»

Stimmt, dachte Barry, und in der Rolle des Trottels würde Donal mühelos glänzen.

«Aber warum sollte jemand zwanzig Shilling für etwas ausgeben, was nur zwei Shilling Sixpence wert ist?», überlegte O’Reilly laut.

«Weil alles auf Irisch draufsteht, Sir. Das können die Engländer ja nicht lesen. Die würden bloß das Pferd sehen.» Donal streckte die magere Brust raus. «Sehen Sie, ich würde denen erzählen, dass das spezielle Arkle-Gedenkmünzen sind. Ich hab einen Kumpel in der Ulster Bank. Der kann mir nagelneue besorgen, direkt aus der Münzpresse von der Bank of Ireland.»

«Wie bitte? Was willst du den Engländern erzählen?» O’Reilly hob die Augenbrauen.

«Dass es Arkle-Gedenkmünzen sind, Sir.»

Barry beobachtete, wie die Schultern seines Chefs zuckten. «Lieber Gott», keuchte O’Reilly schließlich. «Ach du lieber Gott.» Er kramte in seiner Tweedhose nach einem Taschentuch, nahm seine Halbbrille ab und wischte sich über die Augen. «Das ist genial. Einfach genial. Fast tausend Prozent Gewinn, da gehen nur die zwei Shilling Sixpence ab. Pro Münze würdest du also 17 Shilling Sixpence einstreichen.»

«Ja, das weiß ich wohl, Sir, aber eine Sache weiß ich nicht, und deshalb wollte ich Sie fragen …»

O’Reilly lachte immer noch in sich hinein. «Schieß los.»

«Glauben Sie, dass das legal ist, Sir?»

Der Arzt schob sich seine Halbbrille wieder auf die Nase und schaute Donal über die Gläser hinweg an.

«Warum fragen Sie denn ausgerechnet uns, Donal?», erkundigte Barry sich.

Donal scharrte mit den Füßen. «Sie sind die Einzigen, bei denen ich das Vertrauen habe, dass es unter uns bleibt. Sie wissen ja, wie hier getratscht wird, Sir.»

Doch, davon konnte Barry ein Lied singen.

«Und –», Donal zwinkerte und hielt sich den Zeigefinger neben die Nase, «– ihr Ärzte müsst schließlich alles für euch behalten, was die Patienten euch in der Praxis erzählen. Das weiß ich nämlich, und ich bin ja auch Patient, und jetzt bin ich hier in der Praxis, oder etwa nicht?»

«Ohne Zweifel», murmelte O’Reilly mit einem Seitenblick zu Barry hinüber.

«Also, deswegen frage ich Sie: Wäre das legal?»

O’Reilly schüttelte den Kopf. «Vermutlich nicht, Donal …»

«Ach so …» Donal ließ die Schultern hängen.

«Aber ich hab wirklich keine Ahnung, was man dir vorwerfen könnte, falls man dich schnappen würde.»

Donal richtete sich wieder auf, und Barry sah den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen. Wie konnte O’Reilly nur so unverantwortlich daherreden? Er ermutigte den jungen Mann ja praktisch zum Betrug. «Fingal», setzte Barry an, «bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?»

«Nein.» O’Reilly grinste. «Aber es klingt nach einem tollen Streich. Warum bin ich da nicht selbst draufgekommen?» Er wandte sich wieder Donal zu und sagte in ernsterem Tonfall: «Doktor Laverty hat recht, Donal. Ich darf dich zu diesem Vorhaben nicht ermutigen.» Doch Barry sah, wie er dabei mit dem linken Auge zwinkerte.

«Vielen Dank, Sir.» Donal lächelte. «Dann mache ich mich mal wieder auf die Socken, oder?»

«Ja, zieh wieder los», meinte O’Reilly, «und mach die Türen hinter dir zu.»

«Oje», wandte der Arzt sich an Barry, als die Haustür zugefallen war, «ich frage mich, ob ich einem armen, nichtsahnenden Engländer so was antun würde.» Er legte den Kopf schräg und lächelte schelmisch.

«Das will ich nicht hoffen», meinte Barry, merkte aber sogleich, wie humorlos er sich anhörte. «Aber ich bin sicher, dass Donal gleich zum nächsten Rennen saust und seine Gedenkmünzen da verscherbelt.»

«Und wieso glaubst du das?» In O’Reillys Frage lag eine Spur von Ernst.

«Vielleicht, weil Donals moralischer Kompass nicht ganz den magnetischen Nordpol anzeigt?»

«Da hast du recht», meinte O’Reilly, «aber er weicht nur um ein paar Grad ab. Wenn Donal wirklich ein übler Kerl wäre, hätte er uns nicht um Rat gefragt, sondern einfach losgelegt. Was glaubst du, warum er unsere Meinung hören wollte?»

«Das habe ich mich noch gar nicht gefragt.» Bisher hatte Barry Donals Anfrage einfach als Vertrauensbeweis betrachtet, doch er zögerte, das zu sagen. Vielleicht klang es ein bisschen eingebildet.

«Weil Donal ein schlichtes Gemüt ist. Aber er respektiert Bildung, so wie alle Dorfbewohner hier.» O’Reilly beugte sich vor. «Und ich vermute, dass er dich für vertrauenswürdig hält, und das brauchst du mehr als alles andere, wenn das hier klappen soll. Ich habe dich im letzten Monat beobachtet, und ich will dir sagen, was ich denke …»

«Nur zu.»

«Du bist auf einem guten Weg, mein Sohn.» O’Reilly lächelte, allerdings ein wenig traurig, wie Barry fand. Trotzdem fühlte er sich, als habe er gerade eine Goldmedaille überreicht bekommen, vielleicht sogar eine brandneu geprägte Arkle-Gedenkmünze. «Danke, Fingal», sagte er leise.

«Aber du hast noch ein ganzes Stück vor dir … ich muss immer noch mit dir sprechen, Barry.» O’Reillys Stimme hatte wieder diesen scharfen Unterton.

Barry holte tief Luft. Donals Plan hatte ihn vorübergehend alles andere vergessen lassen – offenbar ganz im Gegensatz zu O’Reilly.

«Ich bin bei einem alten Patienten von uns gewesen. Seine Frau hatte in panischer Angst hier angerufen, weil sie ihren Hausarzt nicht erreichen konnte … Doktor Bowman aus Kinnegar.»

«Du warst bei den Fotheringhams?»

«Leider ja.»

Major Fotheringham und seine Frau waren ein alterndes Ehepaar, das dem angloirischen Landadel angehörte. Der hypochondrische Major hatte O’Reilly mit seinen Notrufen oft zu nächtlichen Hausbesuchen aus dem Bett geholt. Außerdem erinnerte Barry sich noch allzu gut daran, wie er allein zu den Fotheringhams gefahren war, weil der Major über einen steifen Hals geklagt hatte. An dem Tag hatte Barry es eilig gehabt, weil er mit Patricia verabredet gewesen war. Er hatte angenommen, dass der Patient sich wieder einmal eine Krankheit eingebildet hatte, und die Untersuchung ziemlich hastig durchgeführt. So hatte er die ersten Anzeichen für eine akute Hirnblutung übersehen. Dieser Fehler hatte den alten Mann fast das Leben gekostet. Kein Wunder, dass die Fotheringhams daraufhin den Arzt gewechselt hatten.

«Sie sind doch nicht mehr unsere Patienten», sagte Barry nun, bereute es aber sofort. O’Reilly würde sich niemals weigern, einen Kranken zu besuchen. «Vermutlich hatte die arme Mrs Fotheringham mal wieder einen Anfall von Melancholie», fügte er schnell hinzu.

«Nein», meinte O’Reilly, «leider nicht. Setz dich, Barry.» Er deutete auf seinen Drehsessel.

Barry sah seinen Chef an und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen.

«Am Telefon hat sie gesagt, sie würde ihn nicht wach kriegen.» O’Reilly machte eine Pause. «Als ich dann ankam, war er tot.»

«Tot?»

«Mausetot. Leider.»

«Ach du lieber Gott.»

«Ja», sagte O’Reilly. «Ich glaube, wir beide müssen uns mal unterhalten … wir müssen besprechen, was das für deine weitere Arbeit hier bei mir bedeutet. Du hast ja eben von Donal gehört, dass Gerüchte sich hier wie ein Lauffeuer ausbreiten.»

Wollte O’Reilly etwa sein Angebot rückgängig machen? Barry senkte den Kopf und wartete.

«Na komm, wahrscheinlich kannst du was zu trinken gebrauchen», schlug der Arzt nun vor. «Ich jedenfalls hab einen Whiskey nötig. Lass uns oben weitersprechen.» Er wandte sich zum Gehen.

Barry stand auf und folgte ihm. Er fühlte sich wie früher als Viertklässler im Campbell College, seinem alten Internat. Wie als Schüler, wenn er für Stockhiebe zum Direktor zitiert wurde.

5Vertrauen ist eine zarte Pflanze

«Hier.» O’Reilly reichte Barry ein halbvolles Kristallglas, das, dem torfigen Geruch nach zu urteilen, irischen Whiskey enthielt. «Pflanz dich.»

Obwohl ihm ein Schlückchen Sherry lieber gewesen wäre, nahm Barry das Glas entgegen und setzte sich auf die Kante des Sessels, der mittlerweile oben in der Wohnstube sein Stammplatz geworden war. Durchs Fenster konnte er am Kirchturm vorbei und über die Dächer hinweg die Belfaster Bucht sehen. Er seufzte, als ihm bewusst wurde, wie sehr er Ballybucklebo vermissen würde.

«Raus da, zum Teufel nochmal.» O’Reilly scheuchte die junge Katze aus seinem Sessel und ließ sich nieder. Das Tier sprang auf den Couchtisch daneben. «Sláinte.» Der Arzt trank einen großen Schluck von seinem Whiskey.

Mit hängenden Schultern, das Glas in beiden Händen haltend, beugte Barry sich vor und wartete ab. O’Reilly kramte Pfeife und Tabaksbeutel heraus, stopfte die Pfeife und zündete sie umständlich an. Barry rutschte auf der Sesselkante hin und her. Das Pfeifestopfen war O’Reillys typisches Ritual, um Zeit zu schinden, wenn er etwas Schwieriges zu sagen hatte.

Der Arzt paffte eine blaue Rauchwolke aus und sagte in gelassenem Tonfall: «Also? Was wollen wir da unternehmen?»

Barrys Whiskey schlug winzige Wellen, weil seine Hand so zitterte. Er stellte das Glas auf den Couchtisch. «Es tut mir leid.»

«Klar, zweifelsohne, aber das macht den Braten nicht fett.»

Bring es einfach hinter dich, dachte Barry. Sag mir, dass du es dir anders überlegt hast. «Es ist meine Schuld. Ich hätte den Major schneller ins Krankenhaus einweisen …»

«Gütiger Gott», brummte O’Reilly, «wenn das Wörtchen wenn nicht wär … Es hat keinen Sinn, das immer wieder durchzukauen.» Er stand auf. «Ich hab dir doch gleich danach schon gesagt, dass es völlig sinnlos ist, wenn du dir Vorwürfe machst.» O’Reilly kam näher und ließ eine Hand auf Barrys Schulter fallen.

«Aber …»

«Verflixt nochmal, kein Aber. Erstens hätte jeder die Diagnose vermasseln können, insbesondere bei einem Mann wie dem Major, der bei jedem Schnupfen gleich auf die Intensivstation wollte. Und zweitens bluten Aneurysmen nach einer Behandlung so gut wie nie ein zweites Mal, es sei denn, der Neurochirurg hat bei der OP wirklich Mist gebaut.»

«Das halte ich in diesem Fall für nicht sehr wahrscheinlich.»

«Man kann nie wissen, aber außerdem kann auch noch etwas ganz anderes den Mann umgebracht haben.»

«Das bezweifle ich», sagte Barry. «Klar kann jemand gleichzeitig Läuse und Flöhe haben, aber wie oft kommt es vor, dass ein Patient an zwei tödlichen Krankheiten leidet?»

«Stimmt.» O’Reilly sah Barry in die Augen. «Aber mit Sicherheit wissen wir das erst nach der Obduktion.»

«Nach der Obduktion?» Barry runzelte die Stirn. «Warum wird denn eine Obduktion gemacht?»

«Das ist nicht zu umgehen.» O’Reilly sah Barry unverwandt an. «Ich konnte keinen Totenschein ausstellen, weil ich den Patienten in letzter Zeit nicht mehr gesehen habe. Du kennst ja die Vorschriften.»

Doch, die kannte Barry in der Tat, aber er war sicher, dass O’Reilly hier irrte. Bestimmt hätte das Standesamt keine Probleme damit gehabt, einfach «Aneurysma einer Hirnarterie» als Todesursache zu akzeptieren, schließlich waren die Krankengeschichte des Majors und seine kürzliche Hirnoperation ja dokumentiert. Hatte O’Reilly die Ausstellung des Totenscheins verweigert, damit der Fall an das Innenministerium übergeben wurde und eine kleine Chance bestand, dass die Obduktion des amtlichen Leichenbeschauers etwas ergab, das Barry entlastete? Obwohl das jetzt keine Rolle mehr spielte. Es war nun mal passiert, und nicht nur die Familie Fotheringham hatte die Folgen zu tragen. Falls Barry bei O’Reilly blieb, konnte die Praxis Patienten verlieren, und zwar eine ganze Menge, sobald sich der Vorfall im Dorf herumgesprochen hatte. Barry holte tief Luft und sagte ruhig: «Doktor O’Reilly, vielleicht … vielleicht ist es keine so gute Idee, dass ich hierbleibe. Vielleicht sollte ich mich nach etwas anderem umsehen.»

«Ja.» O’Reilly schüttelte den Kopf. «Oder du leihst dir von Kinky ein Küchenmesser aus und verübst seppuku.»

«Wie bitte?»

«Harakiri. Du schlitzt dir den Bauch auf wie ein entehrter japanischer Samurai … und wir waren uns doch einig, dass ich Fingal heiße, nicht Doktor O’Reilly.» Der Arzt trank noch einen Schluck Whiskey. «Willst du wirklich hier weg?»

«Bleibt mir denn eine andere Wahl?» Barry sah seinen Chef fragend an. O’Reillys Gesicht hatte sich dunkelrot verfärbt, und seine Nasenspitze wurde blass. «Natürlich bleibt dir eine andere Wahl, Laverty, du Holzkopf!», brüllte er.

«Du meinst, du würdest mich trotzdem behalten?»

«Selbstverständlich nur dann, wenn du bleiben willst.» O’Reillys Nasenspitze nahm wieder ihre normale Farbe an. «Es liegt an dir.»

Barry zögerte. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Dorfbewohner sich die Mäuler zerrissen. Keiner würde mehr bereit sein, ihm seine Jugend und seine Unerfahrenheit nachzusehen, sondern sie würden ihn schlichtweg meiden. «Na ja, ich …»

«Gut.» O’Reilly lächelte Barry an. «Das ist also geklärt. Du bleibst hier. Wir warten auf das Obduktionsergebnis. Das kann ein paar Wochen dauern. Selbst wenn es das verdammte Aneurysma war, bleiben dir also mindestens zwei Wochen Zeit, um wieder Boden unter den Füßen zu finden.»

Barry schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. «Das ist sehr großzügig von dir, Fingal.»

«Ach, jetzt red keinen Quatsch …» Doch Barry hatte bereits gelernt, dass sein Chef es nicht ertragen konnte, wenn jemand offen äußerte, dass er altruistisch handelte. «… da ist doch nichts Großzügiges dabei. Ich wäre ja ein Esel, wenn ich einen Mann ziehenlassen würde, der den kleinen Brown so nähen kann, wie du das gerade getan hast. Ganz schön pfiffig, dass du ihm das Lokalanästhetikum direkt in die Wunde geträufelt hast. Seit ich meinen Abschluss gemacht habe, hat sich in der Medizin anscheinend doch was getan. Könnte ja sogar sein, dass ich das eine oder andere von dir lerne, oder?» O’Reilly setzte sich wieder und schob mit einer lässigen Bewegung die Katze vom Tisch. Er reichte Barry sein Glas und hob sein eigenes. «Sláinte.»

«Sláinte Mhaith, Fingal.» Barry schlürfte seinen Whiskey, schmeckte den Torf, spürte die Wärme. «Und danke schön.»

«Unsinn», erwiderte O’Reilly, aber Barry konnte sein Grinsen sehen. «Also. Das ist schon mal beschlossene Sache, und jetzt brauchen wir einen Angriffsplan.»

Barry freute sich über das «Wir».

«Ich glaube», sagte O’Reilly langsam, «wir müssen dich ein bisschen wiederaufbauen. Das Vertrackte ist ja, dass die Leute im Dorf gerade anfingen, dich zu akzeptieren.»

«Ich weiß.»

«Was soll’s», meinte O’Reilly. «Es gab eine Zeit, da haben die Israeliten Jehova aufgegeben und auf ein goldenes Kalb gesetzt …»

«Fingal, ich bin ja wohl kaum eine Gottheit.»

«Nein, das bist du nicht. Und Moses war das auch nicht. Kaum hatte er den Israeliten den Rücken gekehrt, kamen sie auf dumme Gedanken. Das wird hier genauso sein. Sie werden endlos klatschen und tratschen.»

Barrys Freude über O’Reillys Aufforderung zum Bleiben schwand wieder. «Glaubst du denn, dass ich dem gewachsen bin?»

«Komm mal mit.» O’Reilly erhob sich und ging zur Tür.

Barry folgte ihm auf den Treppenabsatz. Dort blieb sein Chef vor der Fotografie eines Schlachtschiffes stehen. «Weißt du, welches Schiff das ist?»

«Die HMS Warspite. Du und mein Vater, ihr habt im Krieg beide auf ihr gedient.»