Ein Jahr in Buenos Aires - Lisa Franz - E-Book

Ein Jahr in Buenos Aires E-Book

Lisa Franz

4,3

Beschreibung

Quién soy yo?, Wer bin ich? - In Buenos Aires stellt sich für Lisa Franz diese Frage neu und eindringlich. Die ersehnte Stadt begegnet ihr zunächst als großer Moloch, als Monster, was sich im Laufe eines Jahres ins Gegenteil verändert: Buenos Aires verwandelt sich - vom Monster zur Muse. Und mit der Stadt erlebt auch Lisa eine ganz eigenartige, wunderbare Verwandlung.??

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Lisa Franz

Ein Jahr in Buenos Aires

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80258-4

ISBN (Buch): 978-3-451-06235-3

Für Dagmar und Uli

Inhalt

Dezember Das verwunschene Haus

Januar Das Bidet oder die Suche nach dem Örtchen

Februar Raue Zeiten

März 11463 Kilometer oder einmal Köln – Buenos Aires

April Von Liebe, die durch den Magen geht

Mai Zurück zum Ursprung – Yogatango und präkolumbianische Geschichten

Juni Tod und Kunst oder leben in meiner Stadt

Juli Wilde Kerle

August Eine Stadt im Dunst

September Coca-Cola, Facebook und Kultur

Oktober 2001, Gestalt und Fußball: Spannung bitte

November Vollmondtanz

Epilog

Dezember Das verwunschene Haus

Beschwingt vom Tango kamen wir in einer lauen Sommernacht im Viertel Palermo Soho an. Das Taxi ließ uns an der Straßenkreuzung Scalabrini Ortiz und Charcas raus.

Schwach leuchtend wirkte er verloren im Dunkeln zwischen den menschenleeren breiten Straßen. Er war einer dieser dunkelgrünen Blumenstände, die alle paar Blocks entlang der großen Avenidas von Buenos Aires stehen und die es in ähnlicher Ausführung auch als Zeitungsstände gibt. Normalerweise wird die vergitterte Vorderseite nachts heruntergeklappt, damit sie mit kleinen eisernen Schlössern befestigt werden kann, um den kostbaren Inhalt der vier Metallwände vor Raub und Nässe zu schützen. Erstaunlicherweise empfingen uns nicht ein verschlossener Verschlag und die Stille der Nacht, sondern laut scheppernde Cumbia-Musik. Es hörte sich an, als würden die lateinamerikanischen Rhythmen aus dem erleuchteten Inneren kommen. Selbst als die Quelle der Klänge ergründet war, glaubten wir dennoch nicht, was wir sahen: einen offenen Blumenstand, in dem rauchend ein Mann saß. Es war zwei Uhr morgens. Mittwoch früh!

Anna, meine Schweizer Tangofreundin, die ich erst vor ein paar Tagen im Hostel kennengelernt hatte, besaß wegen ihrer blonden Lockenpracht etwas Engelhaftes. Sie war wie viele Touristen ausschließlich zum Tangotanzen für ein paar Wochen hergekommen und lockte mich in sämtliche Milongas, wie man die Tangotanzlokale von Buenos Aires nennt. Nun fragte sie mich mit großen Augen, was dieser Mann zu dieser Uhrzeit hier mache. Auf ihre Frage konnte ich nur mit Achselzucken antworten. „Komm, lass es uns herausfinden!“

Im vollgestopften Innern des Miniladens konnten wir einen peruanisch aussehenden Mann erkennen, der es sich zwischen einer beträchtlichen Anhäufung von Blumensträußen auf einem Stuhl bequem gemacht hatte. Seine kurzen Beine hatte er auf einem kleinen gelben Klapptisch hochgelegt. Der Qualm von Räucherstäbchen stieg aus den Tiefen der Behausung auf und verlieh dem eigentümlichen Stübchen etwas Tempelartiges. Endlich entdeckte ich die Quelle der Musik: Auf dem Schoß des Mannes ruhte ein tragbares Radio, aus dem es gehörig schepperte.

Als der Mann unsere erstaunten Gesichter erblickte, begrüßte er uns lässig, ohne sich von seinem Thron zu erheben: „Hola Señoritas, wie geht’s? Was macht ihr so alleine hier?“ „Wir kommen vom Tangotanzen. Und du, was machst du hier?“, fragte ihn Anna, immer noch verdutzt. „Tango tanzen?“, fragte der Blumenmann zurück, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Das ist nur was für sentimentale Porteños. Ihr müsst wissen, das sind die Leute aus Buenos Aires. Glaubt mir, das Leben ist viel zu kurz, um es mit diesem tristen Tanz zu vergeuden. Cumbia, das zieht!“ Die Unterhaltung schien mit diesen Worten ihr Ende gefunden zu haben. Anna und ich guckten uns vielsagend an und gingen Richtung Hostel davon.

Wollte dieser Kerl allen Ernstes mitten in der Nacht Geld verdienen? Wer kauft um diese Uhrzeit Blumen? Mir war gleich am Anfang meines Aufenthalts aufgefallen, dass Buenos Aires eine wahrhaft verrückte Stadt ist – aber so verrückt? Da begegnet dem Nachtschwärmer Mittwoch früh ein Peruaner, der in einem verrauchten Ministand voller Blumen eingequetscht sitzt, laut Cumbia-Musik hört und behauptet, dass Tango nur was für die sentimentalen Einwohner von Buenos Aires sei.

Als wir, immer noch über die skurrile Nachtszene lachend, die menschenleere Straße Richtung Hostel entlangspazierten, tollte ein nächtlicher Sommerwind zwischen den alten Häusern und folgte uns rastlos. Schon bald kam die Sprache auf Tangolehrer Pablo. Alle nannten ihn nur El Indio. „Was für ein Mann. Mit seinen breiten Schultern, seiner starken Brust und seinen markanten Gesichtszügen vereint er alle wünschenswerten männlichen Attribute, die durch seine elegante und stolze Art, Tango zu tanzen, noch veredelt werden“, schwärmte Anna. Ich erinnerte mich an die erste Begegnung mit ihm vor ein paar Stunden in La Catedral, der Milonga, die schon bald zu meinem Favoriten unter den Tangolokalen werden sollte. Ja, sie hatte recht, dieser Tangolehrer war etwas Besonderes. Sein sympathisches Lächeln und seine überaus freundliche Art hatten auch mich beeindruckt.

Als wir um drei Uhr morgens, viel zu spät für uns, für die lokalen Verhältnisse dagegen früh, im Hostel ankamen, merkte ich plötzlich, dass ich todmüde war. Anna und ich wünschten uns eine gute Nacht, und nachdem sie im Schlafsaal nebenan verschwunden war, fiel ich schwer wie ein Stein in mein schiefes Bett.

Das Handy klingelte wahrscheinlich schon zum zehnten Mal, ohne mich aus dem Bett zu bekommen. Es musste mitten in der Nacht sein, dachte ich im Halbschlaf, war ich doch eben erst nach Hause gekommen. Während ich langsam zu mir kam, merkte ich endlich, was angesagt war. Natürlich, ich musste heute ins Microcentro, in die Innenstadt, um mich um das Einjahresvisum zu kümmern. Ein Blick auf das Display meines Handys sagte mir, dass es acht Uhr früh war. Die Luft im Zimmer stand, es war bereits ziemlich heiß. Mühsam stand ich auf, ging in das am anderen Ende des Flurs gelegene Bad, um mir mit dröhnendem Kopf die Zähne zu putzen. Bevor ich das Hostel verließ, musste ich noch eine Tasse Milchkaffee trinken und versuchen, im Chaos meines Zimmers die benötigten Papiere zusammenzusuchen. Heute wollte ich alle Dokumente, die ich aus Deutschland für die Beantragung des argentinischen Visums mitgebracht hatte, zum staatlich geprüften Übersetzer bringen. Später müsste ich diese Papiere dem Ausländeramt Dirección Nacional de Migraciones vorlegen.

Während ich mit der Kaffeetasse in der Hand suchend und schwitzend im Zimmer umherlief, wurde mir langsam klar, dass ich nicht auf Urlaub gekommen war. Nein, ich hatte mein Leben in Deutschland aufgegeben, um hierzubleiben! Die Wohnung in Köln war langfristig vermietet, meine Siebensachen hatte ich in einer Großaktion in unser Familienhaus im Süden geschafft und auch bei einem garage sale für nix und wieder nix verhökert. Mein Fotostudio und Büro waren auch aufgelöst worden. Was hatte ich bloß getan? Fragen, vor allem aber Zweifel drehten plötzlich Pirouetten in meinem Kopf. Niemals, dachte ich in diesem Moment, niemals halte ich es hier ein Jahr lang aus.

Um mich zu beruhigen, stellte ich mir die Frage, ob es womöglich zum Schicksal eines in der Fremde geborenen Menschen gehört, immer wieder die Ferne zu suchen. Noch vor einer Woche hatte meine Mutter Marlene am Frankfurter Flughafen zu mir gesagt: „Ich wünschte, ich hätte dich nicht in Peking zur Welt gebracht.“ Ihre Worte hallten nun wie das Echo einer Offenbarung in mir wider. Plötzlich kam es mir vor, als habe sie recht: Anscheinend folgte ich einem beharrlichen Bedürfnis, seit meiner Geburt in China vor neunundzwanzig Jahren, denn immer schon war die Suche nach der Fremde ein Thema in meinem Leben gewesen. Es kam mir vor, als folgte ich jetzt wieder der Faszination des Unbekannten. Noch war ich mir nicht sicher, ob dieses „neu entdeckte Schicksal“ eine Last oder ein Geschenk war. Ich ahnte allerdings, dass es aus einem Kern bestand, der beides in sich vereinte: Freude und Leid, Ruhe und Rastlosigkeit, Besonnenheit und Hektik, Weitsicht und Blindheit.

Meine schicksalhafte Suche nach dem Unbekannten hatte mich bereits in Deutschland auf fünf verschiedene Ämter getrieben, wo man feststellte, dass ich überhaupt nicht registriert war. Bereits am Telefon hatte mir eine kurz angebundene Dame beim Standesamt I in Berlin, wo normalerweise alle im Ausland geborenen Kinder registriert werden, diese bittere Wahrheit mitgeteilt. Nachdem ich bis nach Peking telefoniert hatte, von wo mir eine teilnahmslose Stimme bestätigte, dass in der deutschen Botschaft auch keine Papiere über meine Herkunft existierten, gab ich fürs Erste auf. Ich fühlte mich elend. Die Tatsache, dass ich formell nicht existierte, war nicht sonderlich erbaulich. Vielleicht war es gar nicht die Suche nach dem Unbekannten, welche mich immer wieder in die Ferne trieb, sondern die Suche nach einer Identität. Womöglich reist man ins Ausland, um dort seine inoffizielle Identität zu finden, wenn man daheim schon keine offizielle besitzt.

Die Stimmen draußen an der Rezeption ließen mich auf horchen, es klang, als seien neue Gäste angekommen. Rasch verabschiedete ich meinen Kopfzirkus, immerhin gab es Wichtigeres zu erledigen: die fehlenden Papiere für mein Visum zu besorgen. So verließ ich kurze Zeit später mit einem flauen Gefühl im Magen das Hostel. Ich machte mich auf den Weg zur Metro, die in Buenos Aires subte genannt wird, um zum Colegio de Traductores Públicos in der Avenida Callao zu fahren.

An diesem Morgen kam mir Buenos Aires, die Stadt, die ich in einer romantischen Anwandlung mit Paris verglichen hatte, wie ein stinkender und lärmender Moloch vor. Ein Moloch, wo an jeder Ecke dunkle Gestalten lauern, die mir Handtasche und Leben rauben wollen. Jeder Atemzug wurde plötzlich zu einem gefährlichen Unternehmen, denn die Luft glich einer zähen, schwarzen Masse, die sich mit jedem Augenblick tiefer in meine Lungen zu ätzen schien. Über Nacht hatte sich die Stadt in einen dichten Betondschungel verwandelt, der weder Anfang noch Ende kannte und sich nur von Dreck und üblen Fantasien ernährte. Der auch keinen sichtbaren Sinn ergab, vielmehr aus einem zusammenhanglosen Scherbenhaufen bestand, der jeden Vorbeikommenden zu verletzten drohte. Ich verstand die Stadt plötzlich nicht mehr und verlor die Orientierung. Wie auch anders, ich hatte ja fast mein ganzes Leben im gemütlichen, rheinländischen Köln und acht Monate im andalusischen Sevilla gewohnt, das weniger als 800000 Einwohner zählt. Und jetzt sollte ich in dieser Megastadt mit ihren elf Millionen Menschen überleben? Okay, nach dem Abitur war ich ein Jahr um die Welt gereist, sodass ich mit zwanzig einige der Megastädte dieser Welt kennengelernt hatte. Allerdings als Reisende und nicht als Bleibende. Immerhin ein feiner Unterschied!

Als ich nach mehreren Stunden mit erfüllter Tagesmission zurück ins Hostel kam, fühlte ich mich niedergeschlagen. Das andauernde Schwitzen, der höllisch laute Verkehr und die Sorge um das Visum hatten mir alle Energie geraubt. In diesem Zustand des Zweifelns bemerkte ich, dass mir das Hostel nicht mehr ganz geheuer war. Bereits Wochen im Voraus hatte ich per Internet das Casa Jardín gebucht, weil im Dezember die Hauptreisezeit ist. Unbedingt wollte ich hier unterkommen, denn das Casa Jardín lag in Palermo Soho, einem der angesagtesten Viertel der Stadt, und es befand sich in einem majestätischen alten Gebäude, auf dessen Dach sich eine weitläufige Terrasse erstreckte. Mein Zimmer war einladend, mit Balkon und gemütlicher Einrichtung. Allerdings lag es zur Straße hin: eine Rennstrecke, über die ausnahmslos jedes Fahrzeug von Buenos Aires zu rasen schien. Dazu kam, dass meine vier Wände ein Fenster zum Aufenthaltsraum besaßen. Was ich anfangs irgendwie cool gefunden hatte, nervte mich zusehends mehr, denn nun konnten mich sämtliche Traveller mit fettigen Haaren und verstimmt im Bett liegen sehen. Außerdem hielt sich auf der anderen Seite des Fensters nicht nur heute, sondern dauernd ein unglaublich gut gelauntes, Gitarre spielendes Hippie-Weltenbummlergrüppchen auf.

„Hey, ya, how is it goin’?“, fragte mich der blonde Surfer-Typ durch die Scheibe meines Innenfensters und grinste breit. Ich lächelte schwach, stieg mit einem leichten Schwindelgefühl auf den Sessel und versuchte, meine Wolldecke mit sämtlichen Haarklammern vor das „Wohnzimmerfenster“ zu hängen, um wenigstens einen Anschein von Privatsphäre zu schaffen. Für das gravierende Geräuschproblem hatte ich als erfahrene Weltreisende ein Mittelchen parat: meine Ohrstöpsel, die ich mir nun tief in beide Gehörgänge stopfte. Erschöpft ließ ich mich auf die Matratze fallen und schlief sofort ein.

Als ich die Augen wieder aufschlug, dämmerte es bereits. Im diffusen Licht, das sämtliche Farben im Zimmer zu Grau verschmelzen ließ, sah ich die Umrisse zweier großer Rollkoffer und einer massigen Tasche. Vor meinem Bett standen zwei Koffer und die Fototasche, die ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Damian musste sie mir vorbeigebracht haben, hatte ich sie doch aus Sicherheitsgründen gleich nach der Ankunft in seinem Haus deponiert. Das Gepäck enthielt nicht nur Kreditkarte und Bargeld, sondern auch meine professionelle Fotoausrüstung. Da viele Argentinier mich immer wieder mit besorgten Gesichtern vor den vielen chorros, den Dieben, gewarnt hatten, hatte ich diese Maßnahme anfangs noch für nötig gehalten. Mittlerweile vertraute ich den Leuten vom Hostel und bat Damian, mir meine Schätze vorbeizubringen. Während ich geschlafen hatte, musste er meine Koffer ins Zimmer gebracht haben. Was für eine tolle Überraschung!

Damian, der Argentinier mit den großen, dunklen Augen, der mich sogar vom internationalen Flughafen Ministro Pistarini Ezeiza abgeholt und in seiner Heimat willkommen geheißen hatte, war immer noch derselbe tolle Mann. Er hatte sich nicht verändert, seit ich ihn vor über zehn Jahren im australischen Byron Bay kennengelernt hatte. Und Buenos Aires, das war für mich bis vor Kurzem sein Domizil und seine Familie gewesen. Im kleinen Eckhaus inmitten der breiten, mit Pflastersteinen geschmückten Straßen zwischen den Vierteln Caballito und Chacarita kam ich im Jahr 2000 das erste Mal an und atmete den einzigartigen Duft der Metropole der „Guten Winde“, wie Buenos Aires übersetzt heißt, ein. Einen Duft, den ich nie wieder vergessen sollte, eine geheimnisvolle Note aus frischem Laub, Metro-Luft, Pflastersteinen und Maschinenöl.

Die Abende in dem alten Haus, vor allem im Patio, waren zauberhaft. Exotisches Vogelgezwitscher von der Palme her, während sich der Himmel über uns langsam rosarot färbte. In Gedanken hatte ich in den letzten zehn Jahren unzählige Male in der weißen Hängematte gelegen, mich hin- und hergewiegt, während von Weitem Motorenlärm an mein Ohr drang. Gern hatte ich die vorbeiziehenden Wölkchen beobachtet und den zauberhaften Tönen Chopins gelauscht, die leise und zart aus der Küche kamen, während Pacho, Damians alter Hund, mich aufmerksam beobachtete. Die uralte Palme hinten an der brüchigen Mauer beherbergte seit Ewigkeiten anmutige, kleine Tauben. Und die schrien pünktlich zu Tagesanbruch und zur Dämmerung wie die wilden Affen, denen ich mit neunzehn Jahren auf meinen Streifzügen durch die bergige Tempelanlage Pashupatinath im nepalesischen Kathmandu begegnet war. Als markanter Teil der lateinamerikanischen Kulisse im Patio des in der Zeit versunkenen Hauses tauchte Alfredo, Damians tauber Vater, vor meinem inneren Auge auf. Auch er schien die Dämmerung im Hof des Hauses, in dem er seit über vierzig Jahren lebte, zu lieben. Manchmal legte er extra für unsere Treffen im Innenhof sein Hörgerät an, das aussah, als stammte es aus dem letzten Jahrhundert. Diese „Aufrüstung“ entsprach der höchsten Ehre, die der alte Mann einem Besucher zukommen ließ. Das Hörgerät legte er extra für eines seiner eigentümlichen, sich immer gleich abspielenden Gespräche an. „Ich bin schon alt, mir tut alles weh. Altsein ist schrecklich, man ist für nichts mehr gut. Meine Frau lebt auch nicht mehr, wofür also das Ganze.“ An Tagen, an denen er besser drauf war, variierte er die Unterhaltung. „Für wie alt schätzten Sie mich?“, fragte er dann. Worauf ich spaßhaft zu antworten pflegte: „Auf fünfzig.“ Augenblicklich verzog er das Gesicht. „Neiiin, ich bin viel älter, ich bin schon fünfundachtzig Jahre alt!“ Und wenn er richtig gut aufgelegt war, fragte er noch: „Sind Sie nicht aus Deutschland? Dann sind Sie sicherlich die Tochter von Marlene Dietrich, nicht wahr?“

Alfredo und seine Familie stammten aus Córdoba. Vor vielen Jahren waren sie nach Buenos Aires gezogen, so wie die meisten Arbeiterfamilien in der Stadt. Hier erhofften sie sich bessere Chancen auf Arbeit. Nicht ohne Grund lebt noch heute über die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes in Buenos Aires und Umgebung.

Damian arbeitete ab und zu als Taxifahrer für Nachbarn und Freunde. Noch gestern hatte ich ihn vom Balkon aus in seinem dunkelblauen Renault, Baujahr ’79, mit fünf Leuten und einem oben auf dem Dach befestigtem Sofa wegfahren sehen. „Ich bin gespannt, ob du mit dieser Ladung jemals ankommen wirst“, hatte ich ihm lachend hinterhergerufen, bevor das Auto langsam um die Ecke Richtung Avenida Santa Fe abbog. Tatsächlich hatte Damian schon alles gemacht, was man sich an Jobs vorstellen kann, und das auch noch in allen möglichen Ländern. Blumenverkäufer in Argentinien, Friseur in Kanada, Krankenpfleger in Deutschland, Barkeeper in Spanien, Hut-Designer in Indien und Babysitter in Australien – das ist nur eine kleine Auswahl der Tätigkeiten, die er in sechsundvierzig Lebensjahren ausgeübt hatte. Er war ein Lebenskünstler, ein waschechter Argentinier eben.

Ich setzte mich im Bett auf. Vor mir stand mein Deutschland! Eckig und reduziert auf einen Kubikmeter. Behutsam öffnete ich den größeren der beiden Koffer. Es kam mir vor, als klappte ich das Gepäck eines Fremden auf. Sogar der Geruch der Heimat, der mir in die Nase stieg, schien aus einer anderen Welt zu sein. Stück für Stück packte ich den Inhalt aus und stellte fest, dass er in meiner jetzigen Welt seinen eigentlichen Sinn verloren hatte. Denn zum Vorschein kamen sehr düstere, wollene Winterklamotten. All diese modischen Gegenstände passten nicht in diese chaotische Sommerwelt voller Farben. Deutschland kam mir plötzlich unendlich weit weg vor. So weit weg, dass mich ein Anflug von Heimweh befiel. Unwillkürlich musste ich an meine gemütliche kleine Wohnung in Köln, an meine Familie und an meine Freundin Sarah denken, mit der ich stundenlang im Café Orlando sitzen konnte, um eines unserer beflügelnden Gespräche zu führen.

Wo bist du eigentlich? fragte mich eine innere Stimme. Halb hier, halb dort und nirgendwo ganz. Wird das so bleiben, Lisa? Oder wirst du dich an Argentinien gewöhnen? Wenn ich erst meine eigenen vier Wände habe und einen argentinischen Alltag, dann werde ich mich schon beruhigen, antwortete mein Eigensinn.

Genug mit dem Gepäck. Ich beschloss, Damian am nächsten Tag in Caballito zu besuchen. Das verwunschene Haus der Familie Fernández war mein Ort der Geborgenheit.

Vom Hostel aus nahm ich tags darauf den blau-weißen Bus Nummer 110 bis zur Avenida San Martín, den Rest der Strecke ging ich zu Fuß. Als Damian mir mit einem erstaunten Lächeln die Tür öffnete und Pacho freudig bellend an mir hochsprang, war mein Heimweh augenblicklich verflogen. Gut gelaunt machten wir uns an seiner „Solarküche“ im Patio zu schaffen, um Kürbis und Zucchini für das Mittag-essen zuzubereiten. Heute war ein guter Tag zum Benutzen des ausgefallenen Küchengestells mit seinem Hohlspiegel, der das Licht einer Sonne bündelte, die stark war wie ein Bodybuilder. Solarküchenbauen war Damians neuster Job. Schon standen mehrere sperrige Gestelle aus Aluminium in seinem Innenhof herum und ließen ihn wie eine Ufostation aussehen.

Während ich Gemüse wusch, lief im Hintergrund der Radiosender Mitre. Der politischen Diskussion entnahm ich, dass heute, am 10. Dezember, das Land unter der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner den 25. Jahrestag der Demokratie feierte. Der Moderator berichtete mit resoluter Stimme, dass im Jahr 1983 mit dem ersten Präsidenten nach der Militärdiktatur, Raúl Alfonsín, die demokratische Staatsform wieder eingeführt worden sei. Ich begrüßte die Überwindung der Militärdiktatur wie jemand, der ein politisches Buch über Argentinien im 20. Jahrhundert liest und darin den Satz entdeckt, dass es der Staat von innen her schaffte, die despotische Regierungsform zu überwinden. Dank meines Studiums der iberoamerikanischen Geschichte kannte ich einige der vielschichtigen Probleme, mit denen der südamerikanische Kontinent zu kämpfen hatte. Das Gehörte aus dem Radio und mein Wissen waren allerdings rein theoretisch, noch fehlten mir Erlebnisse und Empfindungen, die diese Demokratisierung bestätigten. Ich war noch zu kurz hier, um zu verstehen, dass das Wort Demokratie in Argentinien anscheinend anders definiert wurde, als ich es gelernt hatte. Noch konnte ich nicht wissen, dass die zum großen Teil privat organisierten Medien nicht objektiv berichteten. Noch war mir nicht bewusst, dass das Land von einer verschwindend kleinen Elite gelenkt wurde, dass Korruption immer noch eine der Hauptgegnerin der Demokratie war, dass täglich Kinder an Unterernährung starben, dass die Slums immer noch wie Geschwüre wuchsen und dass bis in die jüngste Vergangenheit eine Amnestie für die hohen Militärbeamten der Diktatur geherrscht hatte, während Tausende von Kindern ihre wahre Herkunft nicht kannten. Je tiefer ich in die Gesellschaft eintauchen sollte und je mehr ich von Schicksalen einzelner Personen erfuhr, desto klarer sollte mir werden, dass meine Freude an der demokratischen Neuerung auf dem Unwissen eines Außenstehenden basierte. Erst mit den Monaten sollte sich die Hülse des Buchwissens mit eigenen Erfahrungen füllen und mit den persönlichen Lebensgeschichten und Schicksalen anderer.

Damian und ich setzten uns in das aufblasbare Planschbecken an der Mauer, um die erdrückende Hitze besser aushalten zu können, während das Gemüse bereits klein geschnitten im Topf auf dem enormen Solarherd in der Sonne garte, und beobachteten winzige Kolibris, die sich am Blütennektar roter Dahlien zu schaffen machten.

Später am Tag, nachdem wir das Solarküchenmahl zu uns genommen hatten, verkroch ich mich in die Hängematte im Schatten der Palme. Die sinkende Sonne wärmte nun angenehm, und ein weicher Wind kam auf. Damian werkelte wie immer im Haus, während Pacho ihm auf Schritt und Tritt folgte. Sein tauber Vater las wie immer die Tageszeitung, bei der er früher als Drucker gearbeitet hatte. Der geregelte Gang war im Haus eingekehrt. Immer noch spürte ich die Anstrengung des gestrigen Tages und war um neun Uhr abends schon hundemüde. Rasch verabschiedete ich mich von meinen drei Gefährten, Damian, Alfedo und Pacho, verließ das verzauberte Haus und machte mich auf Richtung Palermo.

Vor dem Zubettgehen breitete ich noch einen Stadtplan von Buenos Aires auf dem Fußboden meines Zimmers aus. Die Hoffnung, die unglaublichen Ausmaße der Gigantin – für mich glich Buenos Aires von Anfang an einer extravaganten Frau – in der Zweidimensionalität eines Stadtplans zu erfassen, hielt mich noch eine Weile wach. Die Karte sollte mir noch so lange dienen, bis ich die Dreidimensionalität mit all meinen Sinnen erforscht hatte. Doch das brauchte seine Zeit. So müde, wie ich war, fühlte ich mich im Moment extrem überfordert: Wohnung, Job, Visum, Alltagsleben etc. Eine scheinbar ins Endlose reichende Liste von Angelegenheiten, die organisiert und aufgebaut werden wollten. Wo genau sollte ich anfangen? Zur Beruhigung meiner Nerven murmelte ich immer wieder dasselbe Mantra vor mich hin: Alles braucht seine Zeit. Hab Geduld. Eins nach dem anderen.

Am nächsten Tag schaute ich gegen 18 Uhr erneut im verwunschenen Haus in der Straße Espinosa vorbei, um mit Damian einen Schokoladenkuchen zu backen. Abends waren wir bei seiner Tante Beatriz zum Essen eingeladen. Die impulsive Dame, welche sich zur feineren Gesellschaft zählte, war vor Kurzem aus ihrem alten Haus in Caballito in ein modernes Zwei-Zimmer-Apartment ins Nobelviertel Recoleta umgezogen und wollte diesen Umzug mit uns feiern. Auch sehnte sie sich nach dem Umgang mit Ausländern. Allerdings nur mit den Rechten! Die „rechten“ Ausländer, das waren Deutsche, Engländer und Franzosen. Nicht aber Bolivianer, Peruaner oder Paraguayer.

Während der Kuchen im Ofen gedieh, klingelte es an der Tür. Damians Schwester Soledad war mit ihrem Ehemann vorbeigekommen. Freudig begrüßte mich Diego, ihr lebhafter, immer arbeitender Ehemann, während sich Soledad im Hintergrund hielt. Ich kannte die Frau von früher und wusste, dass sie eine zurückhaltende, eher bedrückt wirkende Person war. Allerdings fiel mir jetzt auf, wie schwächlich und ernst sie im Türrahmen stand. Dunkle, braungraue Ringe zeichneten sich unter ihren mit blauen Kontaktlinsen verdeckten Augen ab. Diego dagegen war das blühende Leben, er hatte wache grüne Augen, leuchtend weiße Haare, und seine Lippen umspielte ein immerzu einladendes Lächeln. Zusammen tranken wir Mate, das argentinische Nationalgetränk. Soledad erzählte von ihren Kindern und Enkelkindern, während Diego alle fünf Minuten ein neues Gespräch mit irgendwelchen Arbeitskollegen per Handy anfing. Das ging so lange, bis Damian aufstand und verkündete, dass wir bald aufbrechen müssten, Tante Beatriz wartete nicht gerne auf ihre Gäste.

Wenig später saßen wir mit einem Glas Sekt in der Hand auf dem neuen Balkon von Beatriz im gehobenen Viertel Recoleta. Wir bestaunten die beeindruckende Aussicht über den Elitefriedhof Recoleta, während uns der Abend mit angenehmer Kühle beschenkte. „Was für ein morbider Zauber! All die dekadenten Gräber der Oberschicht Argentiniens“, sagte Damian etwas angewidert zu mir und schlürfte seinen eisgekühlten Sekt. Doch ich überhörte seine Kritik, so gefangen hielt mich der Ausblick. Auf dem Nachbarbalkon entdeckte ich einen weiß angemalten Metallkäfig, aus dem mich ein Plastikvogel, kopfüber hängend, anglotzte. Ich musste laut lachen und zeigte ihn Beatriz, die mich wissend anlächelte und flüsterte: „So ist das, wenn man älter wird, Schätzchen, da hängt man nur noch kopfüber und ist umringt von schrägen Vögeln.“

Während meiner ganzen Zeit in der Stadt begegnete mir keine skurrilere Person als diese alte Lady. Wenn Beatriz mit ihrer starren Lockenwicklerhaarsprayfrisur aus den Achtzigern in ihrem Apartment aus den Siebzigern mit ihren krankhaft aufgeschwemmten Armen saß und heiter Geschichten aus ihrem Leben erzählte, klebte ich regelrecht an ihren knallroten, immer geschürzten Lippen, um kein einziges ihrer Worte zu verpassen. Beatriz war der Garant dafür, dass über alle Maßen gegessen, getrunken und gelacht wurde. Mit ihren achtzig Jahren bildete sie ein absolutes Powerpaket. Schon war es wieder so weit. Sie setzte eine gewichtige Miene auf, um eine ihrer abenteuerlichen Geschichten preiszugeben. „Der Geburtstag meiner Tochter 1968 war ein schwerer Tag für mich“, begann sie zu erzählen. Warum? Weil Beatriz nach der Feier 28 übrig gebliebene Chorizo-Würstchen (Fettgehalt mindestens 98 Prozent), neben dem Kühlschrank sitzend, verzehrte. Drei Stunden später musste sie mitten in der Nacht wegen einer Gallenkolik ins Krankenhaus eingeliefert und sofort notoperiert werden. Ihr von schrillen Makeup-Farben glänzendes Gesicht strahlte, als sie die Anekdote mit den Worten beendete: „Natürlich erzählte ich dem Arzt nichts von den 28 Chorizos!“ Und sie vergaß auch nicht, uns mit funkelnden Augen von dem galanten Chefarzt, der sie „hervorragend versorgt“ hatte, zu berichten.

Auch über die Anekdote mit ihrer Perücke samt Lockenwickler, die sie zum Trocknen in den Ofen gelegt und dort vergessen hatte, sodass beinah das gesamte Haus abgefackelt wurde, mussten wir herzhaft lachen. Und von einem ihrer zahlreichen Verehrer erzählte sie auch noch. Dieser Mann hätte sich für sein Alter sehr gut gehalten, da er in einem Kühlfach zu schlafen pflegte. „Aber ansonsten hatte Lorenzo nicht viel drauf“, beendete sie den Abend.

Das Wetter im Dezember ist unbeschreiblich. Eben noch strahlend der Himmel, dann plötzlich, eine halbe Stunde später, alles grau, eine drückende Atmosphäre, von Weitem Donnerhall. Aus allen Etagen, Ecken, Nischen der Metropole tropft es, weil die Klimaanlagen auf Hochtouren laufen. Sogar ich als Klimaanlagen-Gegnerin warf an diesen unerträglichen, nass-bleiernen Hitzetagen das Handtuch. Die Luft fühlte sich an wie in einem tropischen Dschungel, die Luftfeuchtigkeit lag bei neunzig Prozent. Leider bestand der Stadt-Dschungel nicht aus reiner, grüner Vegetation, sondern aus einer gigantischen, Hitze speichernden Betonmasse. Aufgrund der Hitze sind auch von Mitte Dezember bis Anfang März Sommerferien. Die meisten Porteños machen jetzt Urlaub. Die Einzigen, die derzeit in Buenos Aires Hochsaison haben, sind die Touristen.

„Lisa, aufstehen, heute ist Silvester. Wir müssen noch viel vorbereiten!“, hörte ich Anna fröhlich durch die Scheibe rufen. „Komme gleich!“, rief ich aus meinem Zimmer. Ich mochte Annas helle, liebevolle Stimme, die charakteristisch für ihr heiteres Wesen war. Rasch sprang ich voller Vorfreude in meine Kleider. Immerhin stand Silvester bevor. Zusammen frühstückten wir in der hellen Küche und erstellten die Einkaufsliste für die geplante Silvesterparty im Casa Jardín.

Januar Das Bidet oder die Suche nach dem Örtchen

„Rosa Unterhosen?“ Ich musste lachen, als Anna mich beim Frühstück schräg anguckte und mich verwundert nach der Farbe der Unterwäsche fragte. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass auf einer argentinischen Silvesterparty rosa Unterhosen für die weiblichen Teilnehmer nicht fehlen durften, schließlich bringen sie Glück für das kommende Jahr, besagt die Tradition.

Anfangs hatte ich meine Befürchtungen. Womöglich könnte Silvester ein Babylon werden, eine große Sprachverwirrung. Aber als ich das Zehnländer-Buffet entlang der Wand des weiträumigen Wohnzimmers entdeckte, wusste ich sofort, dass sich die Gäste aus den verschiedensten Winkeln der Welt prächtig verstehen würden. Jeder hatte eine Spezialität seines Landes vorbereitet, sodass von indischem Dal bis hin zu griechischem Salat alles zum Verkosten einlud. Bis zum Morgengrauen wurde wild getanzt und gelacht. Freundschaften wurden geschlossen, euphorische Reden geschwungen und Lebensgeschichten offenbart, während der warme Sommerwind des Río de la Plata das Großstadtflair durch die weit geöffneten Balkontüren hereinwehte und uns alle verzauberte. Jeder von uns spürte die Gunst des Abends, denn zu jener Stunde in Buenos Aires ein neues Jahr zu beginnen, mit Menschen so unterschiedlicher Vita und Herkunft, das war etwas ganz Besonderes.

Das neue Jahr konnte nur gut werden, so überschwänglich, wie es begonnen hatte, ging es mir durch den Kopf, als ich um sieben Uhr in der Früh glücklich ins Bett fiel.

Am späten Nachmittag des ersten Januar wurde es im alten Haus langsam geschäftig. Auch ich kam aus meiner Travellerklause gekrochen, machte mir zum Frühstück ein Stück Pizza warm und setzte mich zu Andrew an die Rezeption. Der lebhafte Engländer mit den schwarzen Strubbellocken und den kleinen blauen Augen, der meistens an der Rezeption arbeitete, war immer zu einem Gespräch über Buenos Aires aufgelegt. An diesem ersten Morgen des neuen Jahres wollte ich mehr über den Wohnungsmarkt der Stadt erfahren. Dafür war Andrew der richtige Ansprechpartner.

„Oh man, bis du hier ’ne Wohnung findest, das dauert mindestens vier bis fünf Monate. Und vergiss bloß die Idee, dass Buenos Aires billig ist“, erzählte er mir, während seine Hände heftig durch die Luft wirbelten. Vier bis fünf Monate! Will der mich auf den Arm nehmen? Es ist zwar toll, in einem Hostel zu leben, wo man Leute aus aller Welt kennenlernen kann. Trotzdem war das Casa Jardín für mich von Anfang an Teil einer Einlebphase und sollte nicht zu einem Dauerzustand werden. Schüchtern keimte inzwischen der Wunsch, mein argentinisches Leben zu beginnen und alles Touristische hinter mir zu lassen.

An Andrews Bemerkung, dass die Stadt nicht billig sei, sollte ich mich bald wieder erinnern.

Als ich etwas nervös an der Glastür des Maklerbüros, das mir Andrew empfohlen hatte, auf der Straße Thames klingelte, machte mir eine freundlich lächelnde Frau mittleren Alters auf und bat mich herein. „Hallo, ich bin Silvia, womit kann ich dir behilflich sein?“, fragte sie sanft lächelnd, sodass sie langsam mein Vertrauen gewann. Während sie sich eine Zigarette anzündete, erzählte ich, ich hätte vor, ein Jahr zu bleiben, und suchte deswegen eine kleine Wohnung in Palermo zur Miete. „¡Perfecto!“, rief Silvia entzückt und machte mir ein Kompliment für mein Spanisch, auf das ich mir nicht viel einbildete. Zugegeben, es ist nicht schlecht, aber ich wusste auch, dass Porteños mit Komplimenten nicht geizen. „Querida, Liebste, wenn du willst, können wir uns direkt ein Apartment in der Nähe angucken.“