Ein Jahr in Finnland - Jasmina Schreck - E-Book

Ein Jahr in Finnland E-Book

Jasmina Schreck

4,5

Beschreibung

Ob beim Hevy-Metal-Karaoke oder während heimtückischer Giftgasanschläge, ausgelöst durch Birkenpollen – Finnland ist irgendwie anders. Ganz anders. Ganz, ganz anders. Und Jasmina Schreck befindet sich mittendrin. Erlebt merkwürdige Feste, merkwürdige Menschen, eine merkwürdige Sprache und verliebt sich in dieses merkwürdige Land.

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Jasmina Schreck

Ein Jahr in Finnland

Reise in den Alltag

Impressum

Titel der Originalausgabe: Ein Jahr in Finnland

Reise in den Alltag

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Vladimir Melnikov–Fotolia

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80640-7

ISBN (Buch): 978-3-451-06762-4

Inhalt

Prolog

Huhtikuu (April)

Toukokuu (Mai)

Kesäkuu (Juni)

Heinäkuu (Juli)

Elokuu (August)

Reisen in die Vergangenheit

Syyskuu (September)

Lokakuu (Oktober)

Marraskuu (November)

Reisen in die Vergangenheit

Joulukuu (Dezember)

Tammikuu (Januar)

Helmikuu (Februar)

Maaliskuu (März)

Die finnischen Monatsnamen

Die Autorin

Prolog

Von einer nordfinnischen Beerdigung und einem Neuanfang

„Mach wie du meinst, aber du weißt ja, wie es dir in Kuopio gefallen hat.“ Daran erinnerte ich mich noch. An die vier Wochen Sommer-Sprachkurs, an die Mückenhölle von Muruvesi, an den steinharten kalakukko, den wir als Kursteilnehmer backen mussten, und an meinen Wunsch, das ganze Leid abzukürzen und wieder nach Hause zu fahren. Wohlgefühlt hatte ich mich nicht in Kuopio. Und jetzt wollte ich ein ganzes Jahr nach Oulu. Meine Mutter sah wohl schon die nächste Katastrophe auf mich zukommen. Dabei war ich mir diesmal sicher. Todsicher sozusagen. Meine erste Begegnung mit der nordfinnischen Stadt einige Wochen zuvor war zugegebenermaßen kurz, aber dafür umso bemerkenswerter.

Alles begann mit einer Beerdigung. Zahlreiche Menschen, viele davon in dunklen Anzügen, waren an diesem Samstag im Oktober erschienen, um Abschied zu nehmen. Als das schwermütige Stück Adagio, getragen von Orgel und Geige, erklang und der Sarg von vier schwarzgekleideten Männern hereingetragen wurde, wurde es hingegen nicht totenstill unter den Angehörigen. Tobender Applaus brandete auf, die Leute schrien und klatschten laut in die Hände, bis die Sargträger sich in alle vier Richtungen verstreut hatten. Dort standen sie einen Moment, bis plötzlich einer von ihnen in der hintersten Ecke des Raumes auf ein bereitgestelltes Schlagzeug einschlug. Es folgte das ohrenbetäubende Schrammeln von Gitarren, dröhnender Lärm, der sowohl die Krachmacher als auch die versammelte Menge wild ihre Köpfe mit den langen Haaren schütteln ließ. Dass diese Szene in einer ehemaligen Fleischfabrik und nicht in einer Kapelle stattfand, trug vermutlich nur unwesentlich zu ihrem besseren Verständnis bei.

Zum Zeitpunkt des ungewöhnlichen Begräbnisses, im Herbst 2005, studierte ich Fennistik in Köln, war schon seit langem irgendwie verzaubert von Finnland und bereiste das Land mit steigender Frequenz. Zu allem Überfluss gefiel mir die Musik von Sentenced. Die Art, mit der die MetalBand seit sechzehn Jahren in ironischer, makabrer, ja eigentlich auch recht humorvoller Weise über Selbstmord sang, war einzigartig. Sentenced hatten die Negativität vollendet. Nun zog das Ensemble aus Muhos, dreißig Kilometer südöstlich von Oulu, den Schlussstrich und trug sich endgültig selbst lebendig zu Grabe. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, die 2000 Kilometer weite Reise zu dieser Beerdigung der besonderen Art auf mich zu nehmen. Zu weit und zu teuer, mit diesen Argumenten war das Thema erst einmal vom Tisch. Ende August, ich war mal wieder in Helsinki, piepte mein Handy. „Habe mit Dani einen Flug zum letzten Konzert gebucht. Hoffentlich kriegen wir Karten. Dachte mir in Wacken schon, das kann’s nicht gewesen sein. Gruß Gravi.“ Gravi, eigentlich Grave Sista, und Dani, die ich im Homegrave, dem Sentenced-Internetforum, kennengelernt hatte, würden also doch hinfahren. Das letzte Konzert der Band in Deutschland hatten wir zusammen auf dem Wacken-Festival gesehen. Nun würde vor dem Ende nur noch eine Finnland-Tour folgen. Mein Gehirn ratterte beim Lesen der SMS. Oulu, das war weiter als Helsinki. So weit im Norden, wie ich noch nie im Leben gewesen war. Das ging doch nicht. Wo lag dieses Oulu überhaupt? Die Flüge waren bestimmt teuer. Und alles nur wegen des Konzerts. Und überhaupt.

Als sich das Flugzeug dem Ouluer Flughafen näherte, die scheinbar unendlichen Wälder näher und näher kamen, war ich mir immer noch nicht sicher, ob meine Entscheidung die richtige gewesen war. Drei Wochen zuvor hatte ich entgegen allem gesunden Menschenverstand einen Flug bei Finnair erstanden. Düsseldorf-Helsinki-Oulu, Oulu-Helsinki-Düsseldorf. Anderthalb Tage würde ich in Finnland sein. Einquartiert hatte ich mich bei einer Kommilitonin aus Köln, die gerade ein Austauschsemester in Oulu machte. Mit leicht spottendem Unterton hatte sie mir geschrieben: „Wenn du in Oulu ankommst, wunder dich nicht. Da ist ein so kleines Rollfeld, dass du über eine Treppe aus dem Flugzeug aussteigst und zu Fuß ins Flughafengebäude gehst. Mit den Bussen kannst du auch nichts falsch machen, da fährt nur die 19. Komm damit einfach zur Uni, ich hol dich ab.“

Als ich dann am Ankunftstag aus dem winzigen Flughafengebäude heraustrat, glaubte ich, im wahrsten Sinne des Wortes im Wald zu stehen. Anstatt der riesigen grauen Betonhöllen, die ich bis dahin für die unvermeidliche Umgebung von Flughäfen gehalten hatte, statt der Parkhäuser und weitläufigen Flugterminals ragten in unmittelbarer Umgebung nur Bäume in die Höhe. Bezaubert und ohne mich großartig verlaufen zu können, stieg ich wie angeraten in den 19er-Bus. Scheinbar endlos ging es auch hier an Bäumen vorbei, bog der Bus nur einmal in städtisches Gebiet ein, um dann gleich wieder seine Fahrt durch den Wald aufzunehmen, bis ich nach einiger Zeit auf einem Schild plötzlich ein Wort erkannte. Yliopisto. Das war die Uni, wie ich aus meinen Finnischkursen wusste. Meine Kommilitonin wohnte in einem der hohen, bunten Häuser auf der Yliopistokatu, der Universitätsstraße. Sie hatte sich für heute Nachmittag mit den anderen Austauschstudenten zum Pfannkuchenessen verabredet, zeigte mir aber bei meinem Eintreffen noch ihr Zimmer. „Das hier ist auch witzig. Das Fenster kriegst du gar nicht richtig auf, nur den Spalt da an der Seite, und da ist außerdem noch das Mückennetz. Wahrscheinlich, damit keiner von hier oben runterspringt und Selbstmord begeht.“ Ich blickte aus dem Fenster im sechsten Stock. Bäume, soweit das ungläubige Auge reichte. „Na ja, mach dir Essen und geh ruhig was spazieren, das lohnt sich bei dem Wetter.“

Das hatte ich gemacht, ich war spazieren gegangen. Die Sonne hatte geschienen, ich war die Umgebung abgelaufen. War zwischen Wohngebieten umhergegangen, nach kurzer Zeit auf einen See gestoßen und dem Ufer eine halbe Ewigkeit gefolgt. Ich hatte die ungewohnte Ruhe genossen, aber vor allem die herrlichen Herbstfarben bewundert, die ich noch nie zuvor so intensiv erlebt hatte. Die Vegetation leuchtete förmlich im strahlenden Sonnenlicht rot, gelb, orange und sogar lila. Dabei hatte ich das finnische rollende r geübt. Leise und verstohlen hatte ich Wörter vor mich hingesagt. Kurrrkku. Koirrra. Kerrrma. Die Landschaft hatte mich während meiner meist vergeblichen Bemühungen beruhigt, trotz der zweifellos harsch klingenden Sprache. Am nächsten Tag hatte mich meine Mitstudentin mit in die Stadt genommen. Das eigentliche Zentrum war angenehm klein und schnell erlaufen. Hier könnte ich leben, hatte ich da zum ersten Mal gedacht.

Abends war ich schließlich mit Gravi und Dani zur Beerdigung gegangen. Als der letzte Song, „End of the Road“, gespielt und das letzte Instrument verklungen war, war es still geworden im Teatria. Menschen hatten sich in den Armen gelegen, viele mit feuchten Augen, andere hatten nachdenklich dagestanden, und ich – ich war einfach nur glücklich. Darüber, Sentenced nun doch bei ihrem allerletzten Auftritt gesehen zu haben, vor allem aber darüber, diesen Ort für mich gefunden zu haben. Während wir auf den Bus warteten, war mir aufgefallen, dass es bereits so kalt war, dass man unseren Atem als kleine Wölkchen deutlich in der Luft sehen konnte. Wie schon einige Male in den vergangenen 36 Stunden hatte ich in diesem Moment auch daran gedacht, wie anders Nordfinnland war. Kälter, bunter, beruhigender. Und erheblich übersichtlicher als das südliche Finnland, das mir jetzt plötzlich gar nicht mehr so nördlich vorkam wie zuvor.

In den anderthalb Tagen, die ich in Oulu bei meiner Kommilitonin verbracht hatte, war in mir der Gedanke gereift, dass ich es vielleicht einfach dort versuchen könnte. Die beschauliche Stadt hatte bei mir einen Eindruck hinterlassen, dorthin wollte ich zurück und den Alltag erleben. Und was hatte ich schon zu verlieren? Mein Studium in Köln befand sich aufgrund der beiden Nebenfächer, die ich laut Studienordnung brauchte, die mich aber größtenteils leider herzlich wenig interessierten, in einer Sackgasse. Überhaupt konnte ich mit der steifen akademischen Welt dort nichts anfangen, und meine weitere Zukunft in Deutschland erschien mir ungefähr so schwarz wie die Anzüge auf der gerade erlebten Beerdigung. Zudem fühlte ich mich angesichts der vollgestopften Straßenbahnen, in denen ich jeden Tag steckte, oft einfach nur hilflos. Über die Jahre war mir das Rheinland mit seinen Menschenmassen unerträglich geworden. Es kam mir vor, als würde ich wie in einem viel zu großen Ozean von den Wellen herumgeschleudert und bekäme noch dazu vor lauter Enge keine Luft.

Ganz entgegen meiner sonstigen Angewohnheit fasste ich relativ schnell einen Entschluss. Ich würde es in Oulu probieren. Der Erasmus-Austausch würde die Generalprobe werden. Könnte ich in Finnland leben? Trotz der Möglichkeit, im Falle eines Scheiterns wieder in die zwar zunehmend bedrückende, aber eben doch vertraute Welt zurückkehren zu können, packte ich meine Sachen so, wie es sich für mich bereits Monate vor der Abreise anfühlte: Wenn alles gut ging, würde ich Deutschland endgültig den Rücken kehren und ein neues Leben in Finnland aufbauen.

Elf Monate nach meinem ersten Besuch in Oulu holte mich Tiina Anfang September stilgerecht mit einem robusten Fahrrad von der Bushaltestelle ab. Wie auch bei meinem ersten Besuch strahlte die Sonne, mein Laptop und der gelbschwarze Schlafsack fanden auf dem Gepäckträger Platz, während wir uns auf dem Weg zu meiner zukünftigen Bleibe kennenlernten. Fahrräder, so fand ich wenig später heraus, sind das Verkehrsmittel Nummer eins in Oulu. In der Tat eignet sich kaum ein anderer Ort so zum Radfahren wie diese Stadt: flaches Terrain, ein weitläufiges Radwegnetz weitab von Straßen und teure Busse. Mein erstes vorläufiges Fahrrad in Oulu bekam ich dann auch schon ein paar Wochen später von Tiina, die sich als studentische Patin fürsorglich um ihre Austauschstudenten kümmerte und bei allerlei anfänglichen Problemen half. Für das hellrosafarbene Fahrrad, das sie eines Tages aus dem Fahrradkeller hervorkramte und mir einmal so ganz nebenbei überreichte, wurde sofort Hausmeister Kammonen bemüht, der den Sattel mit grimmiger Miene, aber doch hilfsbereit, auf die richtige Höhe einstellte.

Jedoch noch bevor ich mein Zimmer im Apinatalo, dem sogenannten Affenhaus, das mir in meinem ersten Jahr als Studentenunterkunft diente, bezog, wies Tiina mich in mein neues Leben ein. In die Supermärkte und Lebensmittelläden, die an diesem Samstagabend bereits geschlossen hatten, den Kiosk, die kleine Post auf der Ecke und natürlich die Bar Caio, die ich ihren Erwartungen nach von nun an jeden Dienstag besuchen würde. Ich war also endlich an dem Ort angekommen, von dem ich ein Jahr zuvor noch nicht einmal gewusst hatte, dass ich überhaupt dorthin wollte. Die Zitterpartie um einen von zwei Erasmus-Plätzen an der Universität von Oulu, die eigentlich nur von mir selbst ausging, da sich sonst in diesem Jahr kein einziger Kölner Fennist außer mir für diesen Platz bewarb, das Warten auf den Abflugtag, das lag jetzt alles hinter mir, denn nun hatte ich mit neuen Herausforderungen zu kämpfen.

An einem meiner ersten Tage in Oulu musste ich zum Beispiel eine Überweisung tätigen. Zunächst hatte ich es in Erwägung gezogen, dazu in die Stadt zu fahren und einfach hilflos aussehend in die Bank einzufallen, bei der ich gerade ein Bankkonto eröffnet hatte. Allerdings zog ich es dann doch vor, erst noch ein wenig über die Angelegenheit nachzudenken, eine Bekannte zu fragen, und entschloss mich letztendlich, mein Glück an einem maksuautomaatti zu versuchen. Wie es sich anhört, ist es auch: Die Finnen lieben ihre Glücksspielautomaten, die im Eingangsbereich jedes Supermarktes stehen, als wenn man sich das Geld für den Einkauf erst erspielen müsste, und die Zahlungsmaschine der Banken ist die Ausführung für Ausländer dieser Plastikmonster. Glücklicherweise hatten wir Austauschstudenten eine Gebrauchsanweisung mit auf den Weg bekommen, bei der man mit den rein finnischsprachigen Automaten konfrontiert nur noch ein wenig Kreativität brauchte, damit das Geld auf dem gewünschten Konto ankam. An diesem Tag schien ich eine wahre Glückssträhne zu haben. Ohne zwischenzeitlichen Schweißausbruch meinerseits druckte mir die Maschine eine Quittung aus, so wie ich sie mir erhofft hatte. Mein erster erfolgreicher Geldtransfer war besiegelt, die Miete bezahlt.

Weitaus problematischer gestaltete es sich schon, zunächst meinen Eltern verständlich zu machen, dass in Finnland im Jahre 2006 niemand mehr einen Festnetzanschluss hatte, und dann zudem von meiner finnischen Prepaid-Karte loszukommen, da diese nur innerhalb Finnlands funktionierte. Außer Skype musste ein Handyvertrag her. Mein erster Antrag wurde umgehend abgelehnt. Ich hatte keinen henkilötunnus. Ohne die zehnstellige persönliche Nummer, so stellte ich bald fest, war man in Finnland handlungsunfähig. Irgendeinen Namen konnte schließlich jeder haben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit der finnischen Zahlenmanie abzufinden, wie überall anders, von der Fleischtheke bis zum Postamt, auch beim Magistrat eine Nummer zu ziehen, mir einen solchen henkilötunnus zuweisen zu lassen und ihn so schnell wie möglich auf Finnisch auswendig zu lernen. Ich begann zu existieren.

Eine weitere anfängliche Schwierigkeit stellte die in fröhlichen Farben gehaltene Uni mit ihrem komplexen Orientierungssystem dar, in das ich lange keinen Einblick hatte. Da sich fast alle Fakultäten in Oulu unter einem Dach befinden, sind die Räumlichkeiten auf den ersten Blick gigantisch. Um mich in dem bunten Labyrinth nicht zu verlaufen, folgte ich anfangs immer den ausgetretenen Pfaden, den Wegen, die ich bereits kannte, was zur Folge hatte, dass ich wahrscheinlich im Laufe meines ersten finnischen Studienjahres Umwege in Marathonlänge zurücklegte. Trotz aller Vorsicht verlief ich mich unzählige Male in dem Gebäude aus tausendundeinem Gang und erwog in meiner Frustration über meine Desorientierung die Brotkrümelvariante von Hänsel und Gretel.

Dennoch war ich sofort beeindruckt von meiner neuen Lehranstalt. Übermütig lieh ich mir zum ersten Mal in meinem Studentenleben ein Buch in der Bibliothek aus. Abgeschreckt von lästigen Regelungen, wie dem Verstauen aller Taschen und Mäntel in Schließfächern und dem Vorzeigen eines gültigen Bibliothekausweises vor dem Einsehen des Bücherbestandes im Kölner Philosophikum, hatte ich mir bisher alle wirklich notwendigen Bücher immer gekauft oder sie erst gar nicht gelesen. In Oulu dagegen konnte ich die Bibliothek frei betreten, ob mit oder ohne Ausweis, Jacke oder Rucksack, was mich dann letztendlich dazu anregte, mir in einem solch ungezwungenen Umfeld irgendwann auch eine Bibliothekskarte zuzulegen und tatsächlich etwas auszuleihen. Auch die gestelzte und erdrückend steife akademische Welt, die mir in Köln schon vor längerer Zeit die Freude am Studieren genommen hatte – eigentlich gab es die an meinem neuen Studienort so gar nicht. Dabei wollte es mir anfangs kaum über die Lippen kommen. Schließlich saß da ein Mann vor mir, mehr als doppelt so alt wie ich, noch dazu jemand, der den höchsten akademischen Grad innehatte. Und ich sollte einfach so hereingeschneit kommen, ohne Termin, und mich zu einem „du“ zwingen. Das geht doch nicht, sagten mir gleich die jahrelang erlernten deutschen Konventionen, das kannst du nicht machen. Nachdem ich dennoch versucht hatte, alle Hemmungen über Bord zu werfen, gelang es mir am Ende. Herr Professor Schmitt wurde zu Gerhard. Trotz meiner Fünf in Deutsch auf dem Abiturzeugnis fing ich zudem bald an, Germanistik zu studieren. Zu all den neuen Erkenntnissen – von wegen Numerus clausus, keinen Menschen interessierten irgendwelche Durchschnittsnoten auf irgendwelchen Abschlusszeugnissen, auf dem Boden saß während Vorlesungen niemand mehr und die Räume hatten Fenster – kam die mir zunächst ein wenig unheimliche technische Ausstattung des kompletten Unikomplexes. Computer mit Flachbildschirmen standen einsatzbereit an jeder Ecke, in jedem Kursraum und Hörsaal. Eine campusweite, frei zugängliche Internetverbindung erleichterte es mir in den ersten Tagen im zunächst internetlosen Affenhaus, meinen Eltern und Freunden meine neuesten Erfahrungen mitzuteilen. Dass Oulu als Technologiestadt bekannt ist, lernte ich erst viel später und fühlte mich noch lange Zeit wie in einem Science- Fiction-Roman.

Ganz und gar nicht fiktiv war die nahezu immer gut gelaunte Tiina, die mich von Beginn unserer Bekanntschaft an in ihr Leben immer wieder einbezog, mich sogar bald zu ihrer Familie nach Ylitornio einlud und es mir insgesamt schwerfallen ließ, den Stereotypen vom unnahbaren Finnen zu glauben. Vielleicht war sie es auch, die mir den Weg aus der berühmten Erasmus-Blase ermöglichte, in der häufig junge Menschen aller Nationalitäten ein halbes oder ganzes Jahr lang zusammen ein ihnen mehr oder weniger fremdes Land erkunden, aber doch irgendwie nicht an den Kern, die Einheimischen, vordringen.

Im Mai, als die anderen Austauschstudenten abreisten, war für mich alles anders geworden. Nach und nach hatte der unruhige Ozean mit den riesigen Wellen sich in einen ruhigen, übersichtlichen See verwandelt. Schließlich nahm ich Matti und Pekka, zwei kleine graue Meerschweinchen, in meinem Zimmer im Affenhaus auf. Die Entscheidung war damit gefallen.

Dass Matti und Pekka bei mir einzogen, ist nun sieben Jahre her. Ich war angekommen, hatte irgendwie durch Zufall das gefunden, wonach manche ihr Leben lang suchen und es vielleicht nie finden. In den vergangenen acht Jahren ist Oulu für mich zu dem Ort geworden, an dem man sich wohlfühlt. An den man nach einer Reise zurückkehren kann und sofort zuhause ist. Den man auch mal verflucht, aber dann doch wieder in den Arm nimmt, dessen Macken ein Teil des Ganzen bilden und an dem man immer wieder neue und alte Schönheiten zu finden imstande ist. Ohne den man auf lange Sicht orientierungslos wäre. Damals sah mein Leben vielleicht anders aus als heute und Matti und Pekka leben inzwischen auch nicht mehr, aber weniger merkwürdig ist es nicht geworden.

Huhtikuu

Von Buntmännern, pinkfarbenen Delfinen und dem verpassten Wasserbus

Manchmal steht man an der Bushaltestelle, es ist kalt, und man wartet auf den Bus. In manchen Fällen kommt der dann auch, man winkt dem Fahrer zu, zeigt an, dass man mitfahren will, und dann sitzt man da. An der nächsten Haltestelle steigen einige Menschen in Blaumännern hinzu. Eigentlich nicht immer in Blaumännern, sondern auch in Rotmännern, Gelbmännern, Grünmännern und Schwarzlilamännern. Dabei bleiben die einzelnen Farben oft in Gruppen zusammen. Sicherlich mischt sich auch schon mal ein Rotmann in eine Meute Grünmänner und umgekehrt, meistens sieht man aber Rudel von Grünen oder Blauen gemeinsam durch die Straßen ziehen. Und eben auch in den Bus steigen. Der Anführer der Neongelben trägt Luftschlangen um den Hals sowie einen Dackel auf dem Kopf. Ohne Inhalt. Was sich nach Gruselfilm anhört ist hier gang und gäbe. Zumindest an Vappu. Vappu ist die finnische Walpurgisnacht, die eher einem Karneval ähnelt, das wichtigste Fest im akademischen Kalender. An der Uni enden die meisten Kurse und damit für die meisten Studenten das Studienjahr Ende April, am letzten Tag des Monats wird kollektiv gefeiert. Im Prinzip ist Vappu nicht ausschließlich eine Studentenangelegenheit, auch als Nicht-Student darf man an Vappu die Sau rauslassen und noch mal seine ylioppilaslakki tragen, eine Mütze, die man zum Abschluss des Abiturs in Finnland bekommt. Aber vor allem in einer Stadt wie Oulu, in der Studenten einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ausmachen, sind die angehenden Akademiker die auffälligste Feiergruppe. Und das ist gar nicht negativ gemeint. Schließlich lässt man sich was einfallen. Traditionell trägt man Overalls, jedes Fachgebiet in seiner eigenen Farbe. Ich habe zum Beispiel einen dunkelgrünen. So einen können Studenten von Englisch, Deutsch und Schwedisch ihr Eigen nennen. Da es nicht genügend Farben für das gesamte Studienangebot gibt, sind manche auch doppelt vorhanden. So wird man als Germanist immer wieder für einen Biologen gehalten. Für solche Missverständnisse gibt es aber die Aufnäher. „No biologist – ingen biolog – kein Biologe“ prangt auf meinem linken Bein. Die Aufnäher bietet jedes kilta, in Deutschland würde man vielleicht sagen „Fachschaft“, mit fachspezifischen Insiderwitzen an. So kann man sich in etwa als Nordist inklusive Lautschrift outen und wird zum FKK-Strandgänger, oder man wird als Student der finnischen Sprache daran erinnert, dass es sich bei dem Wort „kännissä“ (besoffen) linguistisch gesehen um einen Inessiv handelt, sollte man es in der Vappu-Zeit mal vergessen. Damit sich die Anschaffung eines Overalls auch lohnt, beginnen die Feierlichkeiten rund um die Uni bereits eine Woche vor dem eigentlichen Vappu-Abend. Da wird gegrillt, sauniert, gepicknickt, und es werden Ruderwettbewerbe auf dem Oulujoki ausgetragen. Die Stadt füllt sich mit Horden von bunten Menschen, und am Abend vor dem ersten Mai ergießt sich – insbesondere im Falle von sonnigem Wetter – ein Meer von Farben über das Zentrum. So offensichtlich bevölkert sieht man Oulu zu keiner anderen Zeit des Jahres, außer vielleicht, wenn die Kärpät, das Eishockeyteam von Oulu, die Meisterschaft gewinnen.

Jedenfalls waren wir im Bus, und die Neongelben bahnten sich ihren Weg zielstrebig ins Innere. Wahrscheinlich waren einige Flaschen Bier auf dem Weg leer geworden, denn die Kopfbedeckung des Anführers ließ auf die Vernichtung eines mäyräkoira, eines Dackels, schließen. So heißt Bier im Zwölferpack aufgrund seiner Form in der finnischen Umgangssprache. Nun war allerdings nur noch die Kartonhülle übrig, die nicht mehr so sehr an welche Art von Hund auch immer erinnerte, aber trotzdem irgendwie genutzt werden wollte. Den Wesibussi hätten sie nehmen wollen, erklären die Neongelben dem Busfahrer, aber der komme erst wieder in anderthalb Stunden. So lange wollten sie nicht warten.

Der Wesibussi, Wasserbus, ist die Linie 69. Die pendelt jedes Jahr alle zwei Stunden zwischen Uni und Stadtzentrum. Das Prinzip ist einfach: Man nehme dreimal so viele Leute, wie normalerweise in einen Bus passen, presse sie in das berstende Fahrzeug, mache die Türen zu und fahre damit bei lauter Musikbeschallung rund um Oulu. Für den Fall, dass man der Busfahrer ist, halte man hin und wieder an und mache an hinreichend abgelegenen Stellen diejenigen Fahrmanöver, die man schon immer mal machen wollte, aber wegen der Straßenverkehrsordnung nie durfte (zu empfehlen ist hier zum Beispiel Rückwärtsfahren im Kreis). Ist man einer der Aufpasser im vorderen Teil des Wagens, stachele man die zahlreichen Mitfahrer auf der linken Seite des Fahrzeugs an einer Ampel dazu an, fest aufzutreten, ihr gesamtes Gewicht mit Schwung gen Erde zu drücken. Danach die auf der rechten Seite. Wieder die auf der linken. Bis der Bus einem Schiff in sturminduzierter Seenot gleicht. Trotz des Namens wird im Wesibussi natürlich alles andere als Wasser getrunken, aber wer glaubt, dass das zu einer heillosen Verwüstung des Busses führt, täuscht sich größtenteils. Die leeren Flaschen und Dosen werden fleißig im pullomeri, in einer riesigen Plastiktüte mit dem schönen Namen Flaschenmeer, entsorgt. Allerdings wird in den Regeln immer wieder darauf hingewiesen, dass unter anderem das „Entwenden der Notfallhämmer, Pinkeln und Kotzen sowie das Sitzen auf den Sitzlehnen“ untersagt ist. Eigentlich gibt es keinen Grund, nicht den Wesibussi zu nehmen, unterstützt man mit dem Fahrgeld zudem noch einen guten Zweck. Jahrelang gingen die Einnahmen an Unicef, seit 2012 wird das Geld für die Kinderstation der Ouluer Uniklinik gespendet. Sollten alle diese Argumente immer noch nicht überzeugend genug sein, dann ist es auch einfach billiger, mit dem Wesibussi zu fahren. Denn der Preis für eine normale Fahrkarte in die Stadt liegt inzwischen bei 3,30 Euro, während der Wesibussi nur 2,50 Euro kostet. Allerdings muss man aufgrund der Beliebtheit der Wasserbusfahrten mit einer deutlich längeren Wartezeit rechnen, selbst wenn man weiß, wann der Bus in Linnanmaa auf dem Campus ist. Es wird empfohlen, sich mindestens 45 Minuten vor Abfahrt in die Schlange zu stellen, da sonst möglicherweise einfach kein Platz mehr im Bus ist, trotz allem Schieben und Drücken.

Unsere Neongelben hatten also dieses Jahr, oder auch nur heute, auf dieses klaustrophobische Vergnügen verzichtet und fuhren mit einem stinknormalen Bus der Firma Koskilinjat in die Stadt zu all den anderen Feierwütigen. Genauso wie wir. Als wir im Zentrum ankommen, ist es nur ein kurzer Weg zum Ainolan Puisto, dem riesigen Park, in dem sich diese bunten Horden mit ihresgleichen und auch anderen alljährlich treffen. Man isst, trinkt, singt und friert zusammen. Denn auch das ist ein ungeschriebenes Vappu-Gesetz: Obwohl die Temperaturen in den letzten Wochen relativ vielversprechend aussahen – an diesem Tag schneite es nach langer Zeit mal wieder. Dicke Flocken umwirbelten unsere Fenster um die Mittagszeit. Also genau dann, als Dutzende von Fuksis, Erstsemestler, über eine Rutsche in die eisige, braune Brühe des kleinen Flusses im Ainolan Puisto rutschten. Rutschen mussten. Auch das ist Tradition, allerdings nur bei den Teekkarit, den Ingenieurstudenten, denen ohnehin der Ruf anhaftet, es mit den Feierlichkeiten sehr ernst zu nehmen.

Zum Glück scheint die Sonne, zumindest gelegentlich, als wir es uns auf der Wiese, an der Stelle, wo niemand ist, bequem machen. Eigentlich sollte man ja gewarnt sein. Wenn irgendwo niemand ist, dann ist meistens etwas faul. Sonst wäre da ja jemand. Aber außer ein paar Kötteln unbekannter Herkunft sehen wir nichts, und außerdem sind die Overalls so konstruiert, dass sie sowieso den gröbsten Dreck fernhalten. Wir warten. Hauptsächlich wollten wir uns mit Ildi, einer Freundin aus Ungarn, treffen. Ildi habe ich vor vielen Jahren kennengelernt, als ich über die E-Mail-Liste für Austauschstudenten einige Dinge verkauft und verschenkt habe. Sie nahm damals ein altes Laken mit. Und fragte mich, wo man in Oulu Rockmusik hören könne. Von da an waren wir unzählige Male gemeinsam bei Konzerten, haben an Wettbewerben zum besten St.-Patrick’s-Day-Kostüm teilgenommen und sind von Nuorgam nach Utsjoki mit dem Fahrrad gefahren. Ildi ist extrem wissbegierig, begeistert sich schnell für Neues, und es zieht sie immer wieder nach Finnland zurück. Zurzeit arbeitet sie als Chirurgin in Raahe, einem Städtchen mit pittoresken Holzhäusern südlich von Oulu. Mit Ildi kann man viel Spaß haben, sich tiefschürfende Gedanken machen, ausgefallene Pläne schmieden – allerdings ist sie chronisch zu spät. Dass das auch heute so ist, hätten wir wissen können, aber nun sitzen wir hier. Und frieren. Es ist Viertel vor sechs. Atte fällt ein, dass Alko eventuell noch bis sechs Uhr aufhat. Jedes Jahr hat er Leijona-Schnaps dabei, deshalb findet er es jetzt plötzlich empörend, dass er dieses Jahr nicht daran gedacht hat. Also gehen wir zu Alko, dem staatlichen Alkoholmonopol. Es ist acht vor sechs, als wir uns unseren Weg durch die Menschenmenge bahnen, die wie wir versucht, einen letzten Einkauf zu tätigen. Vor den Kassen steht ein Wächter und beobachtet das Szenario genau. Alkohol ist so teuer in Finnland, dass er bewacht werden muss. Als wir den Leijona gefunden haben, graut mir schon vor dem Rückweg. Ein Meer von Menschen und begrenzter Raum lösen bei mir unwillkürlich Unmut und Fluchtinstinkte aus. Muss man vor Überbevölkerung in Finnland ansonsten eher weniger Angst haben – bei Alko kann es ganz anders aussehen. Allerdings habe ich das Gummischwein dabei. Ein Hundespielzeug, das Atte mir zum 27. Geburtstag geschenkt hatte und das mir immer wieder gute Dienste leistet, da es fürchterlich grunzen kann, wenn man es drückt. Röhrend findet es auch heute den Weg in die Freiheit.

Zurück im Park nippen wir von dem Leijona. Nach kürzester Zeit wird mir wieder kalt, und ich entschließe mich, zum Aufwärmen auf einen Baum zu klettern. Ich robbe den Stamm hinauf, erreiche einen Ast, auf dem ich mich niederlasse, winke Atte zu und merke, dass neben dem Baum auf dem Grillplatz jemand sitzt und mich anstarrt. Kurze Zeit später ruft Ildi an. Wir sollen auf die andere Seite der Brücke kommen, wo sie sich bereits mit ein paar Freunden niedergelassen hat. Im Hintergrund Singen. Ich sage, dass wir sie suchen gehen. Also bahnen wir uns unseren Weg zur Brücke, vorbei an Gruppen von bunten Leuten, an Luftballons, pinkfarbenen Delfinen und Musikboxen. Neben einer Kiefer steht ein Rotmann und singt lauthals aus einem kleinen roten Büchlein. Da ist auch Ildi. Und Kalle. Kalle freut sich maßlos, als er uns sieht, und hält uns eine Flasche mit hellbrauner Brühe entgegen. Ich lehne dankend ab. „Kilju ist gut für dich!“, ruft mir Kalle zu und versucht dabei, den Rotmann zu übertönen. Wer genau den Kilju, ein normalerweise nicht ganz so hochwertiges, hausgemachtes Alkoholgetränk, gemacht hat, bleibt so unklar wie der Inhalt der Flasche selbst. Atte vermutet indes, dass das Gebräu heftigste Durchfälle auslöst. Kalle ist das egal, er kämpft inzwischen gegen die Schwerkraft. Mit Ildi tauschen wir alle Neuigkeiten aus, während auf dem Dach eines nahen Gebäudes nackte Menschen auftauchen und winken. Rotmann singt aus seiner Bibel davon, wie es ist, eine erwachsene Frau zu sein, und gibt noch einige andere, in Karaokeschuppen höchst populäre Evergreens zum Besten.

Grün ist hier leider am letzten Tag im April noch nichts. Frühling in diesen Breitengraden bedeutet, dass der Schnee langsam zu schmelzen beginnt und die Tage endlich länger werden. Die Natur schillert während dieser Zeit in den schönsten Brauntönen. Kevät ruft bei mir daher ganz andere Bilder hervor als Frühling, obwohl diese Wörter in jedem Deutsch-Finnisch-Wörterbuch direkt nebeneinander stehen. Frühling riecht nach Blumen, nach frischem Gras, er fühlt sich nach Sonnenschein im Gesicht und an den Armen an und zeigt uns eine Mannigfaltigkeit von Farben, in der die Landschaft wochen-, ja monatelang erblüht. Kevät ist anders. Zuerst ist Kevät