Ein Jude und ein Jesuit - Michel Bollag - E-Book

Ein Jude und ein Jesuit E-Book

Michel Bollag

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Beschreibung

Das Zweite Vatikanische Konzil hat vor 50 Jahren das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum theologisch neu bestimmt: Dialog ist nötig, um den Anderen und im Anderen sich selber zu verstehen. Michel Bollag und Christian Rutishauser nehmen als Jude und als Christ diesen Auftrag zum Dialog ernst. In ihrem intensiven Gespräch geht es einerseits um klassische, bis heute wirkende Fragen wie Alter Bund und Neuer Bund, Gottesverständnis und Offenbarung. Andererseits greifen sie aktuelle, politisch höchst brisante Probleme auf wie Evangelisierung und Judenmission, Landverheißung und Staat Israel, Dialog mit dem Islam und mit der postsäkularen Gesellschaft. Ein spannender, inspirierender und orientierender Gegenpol zu einer unübersichtlichen und auseinanderdriftenden Welt.

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Inhalt

Über die Autoren

Über das Buch

Michel Bollag / Christian Rutishauser

Ein Jude und ein Jesuit

im Gespräch über Religion in turbulenter Zeit

Mit Vorworten von Kurt Kardinal Kochund Rabbiner David Rosen

Matthias Grünewald Verlag

Impressum

Weitere interessante Lesetipps finden Sie unter:

www.gruenewaldverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

© 2015 Matthias Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagabbildung: iStock

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Hergestellt in Deutschland

ISBN 978-3-7867-3045-3 (Print)

Inhaltsverzeichnis

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Titel

Impressum

Inhalt

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Vorwort von Kurt Kardinal Koch

Vorwort von Rabbiner David Rosen

Einleitung

1. Glauben in säkularer Gesellschaft

Gespräch

Reflexion

Text und Kommentar

2. Schöpfung, Offenbarung, Erlösung

Gespräch

Reflexion

Text und Kommentar

3. Der Mensch in Gottes Ebenbild

Gespräch

Reflexion

Text und Kommentar

4. Heiligung von Raum und Zeit

Gespräch

Reflexion

Text und Kommentar

5. Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs

Gespräch

Reflexion

Text und Kommentar

6. Gegenwart des jüdisch-christlichen Dialogs

Gespräch

Vorwort von Kurt Kardinal Koch

Rom, 21.Juli 2015

Zu Nostra aetate, der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, deren vierter Artikel dem Judentum gewidmet ist, hat bereits während ihrer Entstehung der deutsche Jesuitenkardinal Augustin Bea, der mit der Ausarbeitung beauftragt war, angemerkt, «dass viele das Konzil nach der Billigung oder Missbilligung dieses Dokuments gut oder schlecht beurteilen werden». Was Kardinal Bea damals mit prophetischem Gespür wahrnahm, hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren immer wieder bestätigt. Nostra aetate ist zwar der kürzeste, aber ein sehr gewichtiger Text des Konzils. Er hat eine grundlegende Wende in der Beziehung zwischen der Katholischen Kirche und dem Judentum eingeleitet. Alle Päpste nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben sich auf dem Fundament dieser Erklärung für die weitere Versöhnung zwischen Juden und Christen eingesetzt. Diese Erklärung dient auch heute und in Zukunft als hilfreicher Kompass für den katholisch-jüdischen Dialog.

Der fünfzigste Jahrestag der Promulgation von Nostra aetate ist der unmittelbare Anlass des vorliegenden Buches des Juden Michael Bollag und des Jesuiten Christian Rutishauser. Das Verdienst dieses Buches besteht zunächst darin, dass es über den katholisch-jüdischen Dialog umfassend und in einem weiten Horizont–«in turbulenter Zeit»–informiert. Dies ist auch heute noch dringend notwendig, sollen die wegweisenden Grundlinien von Nostra aetate sowohl in der katholischen Kirche als auch in der jüdischen Welt rezipiert und weitergeführt werden können. Der besondere Wert des Buches besteht aber darin, dass ein Jude und ein Katholik, die beide seit langer Zeit miteinander im Gespräch und freundschaftlich verbunden sind, nicht nur über den katholisch-jüdischen Dialog berichten, sondern ihn selbst vollziehen und ihre Gespräche jeweils in eine gemeinsame Reflexion münden lassen. Indem beide Dialogpartner ihre jeweils persönlichen Überzeugungen einbringen und sowohl die Gemeinsamkeiten zum Ausdruck bringen, als auch die bleibenden Unterschiede benennen, bieten sie den Lesenden des Buches das Beispiel eines gelungenen Dialogs und laden sie ein, selbst in dieses Gespräch einzutreten.

Vorwort von Rabbiner David Rosen

Jerusalem, 18.Juli 2015

Es ist mehr als passend, dass dieses Buch mit Gesprächen zwischen Christian Rutishauser und Michel Bollag zum 50-Jahr-Jubiläum von Nostra aetate erscheint, dem Dokument der Kirche, das eine wahre Revolution in der christlich-jüdischen Beziehung ausgelöst hat. Beide Autoren sind seit langem wichtige Repräsentanten dieser dialogischen Beziehung. Heutzutage wird das jüdische Volk von der Kirche nicht nur nicht mehr zurückgewiesen oder sogar verflucht; vielmehr, um Worte von Papst Johannes Paul II. aufzunehmen, wird «das Volk des ersten ungekündigten und nie zu kündigenden Bundes» als «der geliebte ältere Bruder der Kirche» gesehen. Antisemitismus wird zudem als «Sünde gegen Gott und die Menschheit» verurteilt. Papst Franziskus hat mehrmals wiederholt, dass es grundsätzlich unmöglich ist, ein guter Christ zu sein und zugleich antisemitische Gefühle zu hegen.

Diese Revolution jedoch ist nicht bis in alle Bereiche und zu allen Orten der Christenheit vorgedrungen. Es gibt diesbezüglich wohl einige beachtliche Erfolge, vor allem in den USA, wo soziologische, kulturelle und politische Umstände eine wirksame Verinnerlichung dieses Wandels ermöglicht haben. Dennoch erscheint manchenorts in der christlichen Welt – besonders dort, wo es keine lebendigen jüdischen Gemeinden gibt, mit denen zusammengearbeitet werden könnte – das Thema christlich-jüdische Beziehung noch nicht einmal am Interessenshorizont. Da herrschen in Bezug auf das Judentum weiterhin Unwissenheit, althergebrachte Vorurteile und Zerrbilder vor. Die Situation in ganz Europa muss vielleicht fairerweise als irgendwo dazwischen liegend beschrieben werden. Aber auch in der jüdischen Gesellschaft ist der Gesinnungswandel, der in der christlichen Welt stattgefunden hat, noch immer vielen völlig unbekannt. Vertieftes Wissen über den Wandel im christlichen Zugang zu Juden und zum Judentum unserer Zeit zu verbreiten, tut wahrhaft not. Entsprechend bedeutsam ist dieses Buch, welches Inhalte und Auswirkungen dieser historischen Revolution weiten Kreisen der Gesellschaft, insbesondere im deutschen Sprachraum, bewusst zu machen vermag. Der Geist gegenseitigen Respekts, ja der freundschaftlichen Wertschätzung spricht nämlich aus den Beiträgen sowohl des katholischen wie des jüdischen Gesprächspartners, die offen und tiefgreifend religiöse Gemeinsamkeiten und Unterschiede darlegen.

Ich gratuliere den beiden Autoren und hoffe, dass das Buch die breite Leserschaft finden wird, die es verdient.

Einleitung

Bücher entstehen nicht erst, wenn man sie zu schreiben beginnt, und sie sind hoffentlich nicht ein für alle Mal erledigt, wenn die Lektüre abgeschlossen ist. So sind auch die vorliegenden Gespräche und Reflexionen Frucht einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit und Freundschaft. Als das Wort interreligiöser Dialog noch nicht in aller Munde war, haben wir beide uns schon im jüdisch-christlichen Gespräch engagiert. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass die Begegnung mit einer anderen religiösen Tradition den eigenen Glauben nicht verwässert, sondern bereichert. Sie fordert heraus, die eigene Religion zu reflektieren und den Glauben neu zu buchstabieren. Wie jede lebendige Identität ist auch die religiöse im Wandel und wird vom Zeitgeist mitgeprägt, denn auch sogenannte letzte und ewige Wahrheiten werden von konkreten Biographien verkörpert.

Da wir nun bereits auf eine erste Generation des jüdisch-christlichen Gesprächs zurückblicken können und zugleich wahrnehmen, wie notwendig es für die gesamte Gesellschaft geworden ist, sich mit Religion und Glauben auseinanderzusetzen, haben wir uns entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Einige Früchte unserer Erfahrung im jüdisch-christlichen Dialog stellen wir somit zur Verfügung. Das Buch soll bilden und informieren, die Dialogfähigkeit stärken und Mut machen, sich mit Religion als einem wesentlichen Bereich jedes Lebens und jeder Gesellschaft näher zu befassen. Interreligiöser Dialog ist nicht etwas für Spezialisten oder lediglich kleine Interessentengruppen. Vielmehr eröffnet die kreative Aneignung religiöser Überlieferung einen Horizont, in dem gegenwärtige Entwicklungen eingeordnet und tiefer verstanden werden können. Zugehörigkeit zu einer Werte- und Deutegemeinschaft, um die religiösen Traditionen einmal so zu umschreiben, befreit zudem von der Mühsal, sich permanent selbst erfinden zu müssen. Das vorliegende Buch wendet sich in diesem Sinne an wache Zeitgenossen, die sich um Religion und Gesellschaft kümmern und diese verantwortet mitprägen wollen. Das Buch soll Freude am Glauben wecken, Orientierung schenken und dazu ermutigen, Freundschaft über Glaubensgrenzen hinweg zu leben und so die eigene religiöse Identität zu vertiefen.

Interreligiöser Dialog ereignet sich nicht, wenn von außen auf die Glaubenstraditionen geblickt wird. Er wird aus der Innenperspektive spannend und für die Gesellschaft fruchtbar. Im vorliegenden Buch äußern sich daher ein halachisch lebender Jude und ein Jesuit, je geprägt durch ihre Glaubensentscheide. Jedes der sieben Kapitel besteht zunächst aus einem Gespräch, in dem beide ihre Standpunkte darlegen. In einer gemeinsam verfassten Reflexion werden weiterführende Gedanken zum Thema präsentiert. Darauf folgt je ein repräsentativer Text aus der jüdischen und der christlichen Tradition, der kommentiert und ausgelegt wird. Da dieses Buch zum 50-Jahr-Jubiläum von Nostra aetate erscheint, der Erklärung der römisch-katholischen Kirche zum interreligiösen Dialog, sind die christlichen Quellentexte mehrheitlich dem Zweiten Vatikanischen Konzil entnommen. Die jüdischen Quellentexte stammen ebenso vor allem aus den vergangenen Jahrzehnten und spiegeln repräsentative Denktraditionen. Jedes der Gespräche, aber auch die Reflexionen bzw. Texte und Kommentare können für sich gelesen werden.

Inhaltlich setzen die Gespräche mit der Frage nach Jude- und Christsein in der heutigen säkularen Gesellschaft ein (Kapitel1). Danach werden Grundworte und Grundvollzüge diskutiert, die sich im jüdisch-christlichen Dialog der letzten Jahrzehnte herausgeschält haben: Schöpfung, Offenbarung und Erlösung als Kategorien beider Traditionen (Kapitel2); Gottesbild und Menschenbild, die zum Kern der Glaubensidentität gehören (Kapitel3); Heiligung von Raum und Zeit (Kapitel4). Im Kapitel5 wird auf die spannende Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs selbst zurückgeblickt, im Kapitel6 kommen entscheidende Themen dieses Dialogs in der heutigen Zeit ins Gespräch, Fragen nach Land und Staat Israel zum Beispiel oder die Bedeutung Jesu im Dialog. Das abschließende Kapitel7 wendet sich dem Islam zu. Als dritte monotheistische Glaubenstradition ist er seit einigen Jahren in intensivere Begegnung mit Judentum, Christentum und säkularer Tradition eingetreten. Alle vier sind aufgefordert, einander im Gespräch zu begegnen und voneinander zu lernen.

Ein herzlicher Dank gilt Andrea Zwicknagl für die Leitung der den Gesprächen zugrunde liegenden Interviews und Margret Mellert für das professionelle Lektorat. Danken möchten wir auch all den Menschen, von denen wir im Lauf der letzten Jahrzehnte viel gelernt haben und die mit uns unterwegs sind. Dem Lassalle-Haus Bad Schönbrunn der Schweizer Jesuiten im Kanton Zug und dem Zürcher Lehrhaus, das neu Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog heißt, sind wir zu besonderem Dank verpflichtet. Beide Institutionen haben es uns ermöglicht, in den letzten Jahren einen spirituell-theologischen wie auch einen gesellschaftspolitisch aktuellen Dialog zu führen.

Zürich, 31.Juli 2015

1. Glauben in säkularer Gesellschaft

Gespräch

CHR: Heutzutage wird viel über die Funktion von Religion in unserer Gesellschaft gesprochen. Dabei fühle ich mich oft unverstanden, selbst wenn das Wort positiv besetzt ist. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das Wort Religion lediglich als Platzhalter dient, um über etwas reden zu können, das zutiefst fremd geworden ist. Es hat das Wort Glaube ersetzt. Ich frage mich, was die Leute unter dem Begriff Religion überhaupt verstehen. Früher wurde Religion als das definiert, was mit Gott zu tun hat. Das geschah im Horizont monotheistischen Denkens. In einer globalisierten Welt ist eine solche Definition zu eng. Religionswissenschaftlich gesprochen, beschäftigt sich Religion mit der Erfahrung des Heiligen. Seit Friedrich Schleiermacher wird Religion aber auch als die Erfahrung «schlechthinniger Abhängigkeit» verstanden. Sie befasst sich also mit der Begrenztheit des Menschen, mit seiner Bezogenheit, und sie hilft ihm dabei, mit Grenzen umzugehen. Religion vermittelt dem Menschen aber auch einen Gesamtsinn der Wirklichkeit. Was ist Religion für dich?

MB: Bleiben wir zunächst auf der Funktionalitätsebene. Mir fällt auf, dass das Wort, das wir im modernen Hebräisch für Religion verwenden, im Tenach Gesetz bedeutet. Wir finden das Wort wieder in der Esther-Rolle, im Munde des höchsten Beamten am persischen Königshof, des Prototyps aller Antisemiten, der danach trachtet, alle Juden umzubringen, weil er sich daran stört, dass ihre Gesetze anders sind als jene der anderen Völker. Historisch betrachtet, sind in der Tat die ältesten Texte der Tora diejenigen, die sich mit Rechtsfragen befassen. Sie wurden chronologisch den Texten vorangestellt, die vom Bau des Stiftszeltes erzählen. Das kommt nicht von ungefähr. Die Menschheitsgeschichte beginnt nach der Vertreibung aus dem Paradies mit einem Mord. Die Erzählung von Kain und Abel lehrt, dass die Tendenz zur Gewaltanwendung im Menschen angelegt ist. Es ist primär die Aufgabe des Gesetzes und dann die der Erziehung, das Gewaltpotenzial einzudämmen. Gewalt kann – wie die Sintflut-Erzählung veranschaulicht – bis zur Zerstörung der Welt führen. Das ist für mich die primäre Funktion von Tora, nämlich eine zivilisatorische. Sie will den Menschen läutern. Tora bedeutet auf Deutsch Weisung. Da geht es nicht um Religion wie sie heute verstanden wird, sondern um eine alle Lebensbereiche umfassende Kultur, in der Recht, Ethik und Ritual eingebunden sind.

CHR: Ja, das Wort Religion, wie wir es heute verwenden, nimmt seinen Anfang erst im 18.Jahrhundert, wo auf die römische Antike zurückgegriffen wird. Bis dahin wurde auch in der christlichen Tradition von den tres leges, den drei Gesetzen gesprochen, wenn man auf Christentum, Judentum und Islam verweisen wollte. Auch die Wendung tres fides, drei Glaubensweisen, oder tres secta, drei Parteien, war bis in die Moderne hinein üblich. Als der Begriff Religion im 18.Jahrhundert eingeführt wurde, hatte er gerade nicht die Funktion, Oberbegriff für einzelne Religionen zu sein. Religion bezeichnete vielmehr die Weltanschauung, die nicht zu den tres leges Judentum, Christentum und Islam gehörte. Religion war eigentlich religio naturalis, also die Weltsicht, die sich aus der neu erstarkten Naturwissenschaft ergab. Das heißt, Religion meinte im Grunde eine Weltanschauung, die sich am Kosmos und an der Natur orientiert, im Unterschied zu den mehr historisch bestimmten, monotheistischen Traditionen. Früher hätte man das heidnische Religion genannt. Im 19.Jahrhundert ist Religion dann aber zum Oberbegriff für verschiedene religiöse Traditionen geworden. Doch als Glaubensüberzeugung und Weltanschauung definiert, trifft der Begriff Religion zum Beispiel auf das Judentum nur sehr bedingt zu. Wer eine jüdische Mutter hat, ist ja Jude, ob er nun glaubt oder nicht.

MB: Das kann man gar nicht genug betonen. Die jüdische Religion ist nur ein Teil dessen, was Mordechai Kaplan einst eine Zivilisation nannte. Obwohl für mich die Beziehung zum Unbedingten und Heiligen dem Judentum erst seine universale Relevanz verleiht, ist diese Dimension in einem säkularisierten Kontext für die meisten Juden nicht das entscheidende Kriterium jüdischer Identität. Eine Passage aus der Pessach-Haggada ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Da ist von vier verschieden gearteten Kindern die Rede, die Fragen zur Bedeutung des Pessach-Festes stellen. Einer der Söhne wird als böse dargestellt. Bezeichnenderweise ist er nicht einer, der den Glauben in Frage stellt, sondern seine Zugehörigkeit zum Volk und dessen Schicksal. Er stellt sich außerhalb der Gemeinschaft. Damit leugnet er das Fundament jüdischer Existenz: die Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft.

CHR: Bei uns Christen steht das Glaubensbekenntnis im Zentrum. Glauben bedeutet, sich einer Geschichte und Gemeinschaft anzuvertrauen, die Gott eröffnet hat. Dazu gehört das bewusste und willentliche Verstehen und Bezeugen Gottes und seines Handelns. Religion ist auch für Christen ambivalent. Karl Barth in seiner dialektischen Theologie zum Beispiel unterscheidet zwischen Religion und Glauben. Für ihn ist Religion das natürliche Transzendenzbedürfnis des Menschen und alles, was daraus entsteht. Glaube aber ist die Antwort des Menschen auf einen Anruf von Gott, der nicht ableitbar ist. Somit ist Glaube eine Antwort auf etwas, das dem menschlichen Einfluss entzogen ist, auf Offenbarung. Die Unterscheidung von Barth finde ich wichtig, obwohl ich Religion und Glauben je positiv werte und nicht in einen Gegensatz stelle wie er. In diesem Punkt bin ich römisch-katholisch. Auf jeden Fall spreche ich heute lieber von religiösen Traditionen als von Religionen. Das Christentum ist eine Glaubensgemeinschaft, die sich Kirche nennt. Wir sind eine Gemeinschaft der Herausgerufenen. Dies ist die wortwörtliche Bedeutung von Ekklesia, Kirche.

MB: Mein Verständnis von Religion ist natürlich vom Judentum geprägt. In der guten Religion geht die Ethik der Ontologie voraus, ja sie ermöglicht sie erst. Am Anfang ist der Andere. Das haben wir vom jüdischen Denker Emmanuel Levinas gelernt. Oberstes Gebot ist: Morde nicht! Darauf folgt das Gebot, dem Anderen nichts anzutun, was seine Würde verletzt, denn sie verweist auf den ganz Anderen. Alle anderen Gebote der Tora, so sagt Hillel im Talmud, sind der Kommentar zu diesem einen Gebot. Diesen Kommentar, also die Tora, muss man lernen, um die gute Religion anwenden zu können.

CHR: Jesus stellt wie Hillel das Doppelgebot, Gott und den Nächsten zu lieben, ins Zentrum. Es geht also zuerst um Ethik, das Tun des Guten. Da stimmen Christen mit Juden überein: Der Glaube soll dem Menschen helfen, ethisch zu leben. Auch der Islam spricht hier von Rechtleitung, von gerechtem Tun. Es geht um Gerechtigkeit. Die Beziehungen der Menschen unter sich aber wurzeln in der Beziehung zu Gott. Ethik ist daher nicht nur ein Imperativ wie im säkularen Weltbild. Es geht auch um das angemessene Handeln gegenüber Gott, also um Liturgie und Gebet.

MB: Im heutigen Kontext einer globalisierten Welt, wo Menschen unterschiedlicher Religionen miteinander und nebeneinander leben, wird noch ein weiteres Kriterium sichtbar: Eine gute Religion ist eine Religion, die nicht triumphalistisch denkt. Sie muss fähig sein, auch andere Wege zu Gott und zur Transzendenzerfahrung anzuerkennen.

CHR: Da du von «guter Religion» sprichst, lass mich gleich ein Kriterium hinzufügen: Der Religion wird oft nachgesagt, sie sei Opium für das Volk und trübe den klaren Blick, sie sei überhaupt etwas für Naive und Zurückgebliebene. Das Christentum ist aber wie andere religiöse Traditionen der Aufklärung verpflichtet, denn es will die Wirklichkeit tiefer erfassen und erkennen. Glaube will helfen, die Zusammenhänge klarer wahrzunehmen und die Flucht vor der Wirklichkeit zu stoppen.

MB: Eine gute Religion ist eine Religion, die sich keinen Illusionen und schwärmerischen Träumereien hingibt. Innerhalb des Judentums gibt es, hauptsächlich in Israel, teilweise auch in der Diaspora, zurzeit zwei gleich gefährliche religiöse Bewegungen, die von einer Illusion ausgehen. Die eine ist national-religiöser Natur: Sie versucht, ohne Rücksicht auf realpolitische Gegebenheiten in Israel die messianische Vision des Judentums politisch umzusetzen. Die andere meint, man könne mit einer naiven Vorstellung von göttlicher Vorsehung sich in ein mentales Ghetto vor der Moderne zurückziehen, indem man sich ausschließlich dem Lernen der Tora widmet.

CHR: Das religionskritische Verdikt à la Voltaire, Religion müsse durch Aufklärung überwunden werden, ist im Grunde obsolet. Die biblischen Traditionen haben sich selbst immer als aufklärend empfunden, versucht doch der Glaube, religiöse Erleuchtung, rationales Denken und Bildung zu verbinden. Seit der Antike hat sich der Glaube in der Theologie reflektiert und mit der Philosophie auseinandergesetzt. Bis heute versteht sich Theologie als Geisteswissenschaft, die zwischen Welterkenntnis und Offenbarung vermittelt. Der Glaube hat oft ein realistischeres Bild des Menschen als die zu idealistische Aufklärung. Die Natur zum Beispiel ist keineswegs so gut wie Rousseau-Adepten denken. Schon im kleinen Kind steckt Böses. Die Abgründe des Menschen reichen tiefer als seine gute Absicht. Das mussten wir nur zu oft bitter erfahren.

MB: Gerade die biblische Tradition betont, wie der Mensch sich immer wieder schuldig macht. Sie zeigt aber auch, dass er jederzeit umkehren kann. Teschuva, Umkehr, ist ein zentraler Begriff im Judentum. Anerkennung von Schuld als Übernahme von Verantwortung ist für uns Juden sehr wichtig.

CHR: Genau, auch der Christ sollte nicht einem Idealbild perfekt entsprechen wollen. Christlicher Idealismus hat oft Menschen gelähmt und falsche Schuldgefühle gezüchtet. Der Glaube soll vielmehr helfen, realistisch zur eigenen Schuldhaftigkeit zu stehen. Mit dem Aufruf zur Umkehr beginnt das öffentliche Auftreten Jesu. Da der Mensch jedoch immer hinter seiner Anstrengung zurückbleibt, hat Paulus erkannt, dass er nicht allein aus dem Sich-Abmühen, sondern ebenso sehr aus der Barmherzigkeit lebt. Das Christentum lehrt nicht «billige Gnade», um den Ausdruck von Dietrich Bonhoeffer zu verwenden. Der Glaube gibt Hoffnung trotz allem Scheitern, das zum Leben gehört. Wenn Scheitern und Sünde, Vergebung und Verantwortung, Sühne und Schuldgefühle reflektiert werden, ist dies ein theologischer Beitrag, der von vielen Menschen als befreiend empfunden wird.

MB: Ich möchte einen weiteren Aspekt hinzufügen: Die säkulare Weltdeutung geht von der Autonomie des Individuums aus, das nach seinen eigenen Bedürfnissen lebt. Sie unterschätzt dabei die Bedeutung des Eingebundenseins des einzelnen Menschen in Kulturen und Traditionen. Selbst ein kategorischer Imperativ eines Immanuel Kant wird immer mehr zugunsten der von Max Horkheimer als instrumentell bezeichneten Vernunft verdrängt. Objektive Normen oder der Anspruch des Gegenübers werden übergangen. Viele westliche Zeitgenossen nehmen nicht mehr wahr, wie sehr sie von Traditionen geprägt und abhängig sind. Sie leben auf Kosten anderer und sind erstaunt, wenn diese sich wehren. Heute ist es eine islamische Tradition, die sich wehrt. Morgen kann es jemand anderes sein. Aus religiöser Sicht sind die starken säkular-antireligiösen Reaktionen auch fundamentalistisch. Es gibt säkularen Fundamentalismus, der genauso aus einer Verunsicherung entsteht wie der religiöse. Fundamentalismus ist eine sozio-psychologische Erscheinung.

CHR: Das ist gut gesagt. Hast du ein Alternativkonzept zum Individualismus, der heute vereinzelte und unsichere Menschen hervorbringt? Haben wir noch ein Empfinden für das Kollektiv und für das Generationenübergreifende? Die Religionen denken ja immer über die eigene Gegenwart hinaus. Nicht nur das Leben nach dem Tod ist im Blick, vielmehr die über Jahrhunderte sich ausbreitende Glaubensgemeinschaft. In diesem Sinne ist religiöses Denken immer schon nachhaltig. Dies wird leider oft mit Rückständigkeit verwechselt. Das Modewort Nachhaltigkeit ist schließlich ein Symptom dafür, dass wir übergeordnetes, kollektives und langfristiges Denken verloren haben. Die große Erzähltradition des Sozialismus, die auf eine klassenlose und gerechtere Gesellschaft hinzielte, ist zerbrochen. Auch der Glaube, über liberale Werte und humanistische Bildung eine Gesellschaft von freien Bürgerinnen und Bürgern aufzubauen, ist im Begriff, von einem zerstörerischen, neokapitalistischen Konsumtaumel verschluckt zu werden. Angesichts des entstandenen Vakuums muss die christliche Erzählung einer Heilsgeschichte wieder generationenübergreifend vermittelt werden, damit sich der Mensch darin bergen kann.

MB: Der Individualismus ist ein Fakt, und wir müssen lernen, ihn in unsere Konzepte zu integrieren. Wie ich auch von dir schon gehört habe, durchläuft die Geschichte einer religiösen Tradition verschiedene Phasen. Heute stehen wir in einer Phase der Verflüssigung, in der es meines Erachtens darum geht, Menschen wieder an die Spur der Transzendenz heranzuführen. Sie müssen Erfahrungen machen können, die sie diese Spur erahnen lassen. Das Judentum betont die Balance zwischen der verfestigten, institutionalisierten Form der Tradition einerseits und der individuellen, von innen kommenden persönlichen Kreativität der Ausrichtung auf Gott andererseits.

CHR: Subjektivität und Objektivität, Individualität und Kollektivität gehören auch im Christentum zusammen. Die protestantische Tradition hat den einen, die römisch-katholische Tradition den anderen Pol stärker betont. Eigentlich muss jede Religionsgemeinschaft und jede kulturelle Gesellschaft hier stets eine fruchtbare Spannung halten.

MB: Würdest du sagen, dass die Kriterien einer guten Religion, um nochmals da anzuknüpfen, auch für eine Kultur Geltung haben? Sind sie auch für eine säkulare Gesellschaft gültig?

CHR: Ich würde sagen, ja. Soziologen sprechen heute von Zivilreligionen in den westlichen Gesellschaften. Aus dem Judentum ist zum Beispiel der Zionismus als Zivilreligion für den Staat Israel hervorgegangen. Das Christentum hat den säkularen Humanismus wesentlich geprägt. Die Zivilreligionen haben ihre eigene Weltdeutung mit der Naturwissenschaft. Sie haben eine Ethik der Menschenrechte. Ihre Rahmeninstitution ist der demokratische Rechtsstaat. Auch das rituelle Bedürfnis des Menschen wird reich bedient: Die Rituale der Nationalfeiertage, pseudospirituelle Kalendertage wie der Valentinstag breiten sich aus, ethische Gedenktage wie der Welt-AIDS-Tag etc. Natürlich darf der Kult um den Sport, gipfelnd in den Olympiaden mit ihren Zeremonien und «Liturgien», nicht vergessen werden.

MB: Mit dem Überhandnehmen von Zivilreligion hat sich in den westlichen Gesellschaften die herkömmliche Religion ins Private zurückgezogen. Dadurch ist ein Vakuum entstanden. Viele sehnen sich deshalb nach Spiritualität.

CHR: Individuelle Spiritualität im säkularen Kontext und institutionalisierte Religion würde ich nicht auseinander reißen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, Kultur und Religion greifen ineinander. Will sich die spirituelle Szene heute nicht verflüchtigen, wird sie sich auch Strukturen schaffen müssen, mit all den Fragen und Problemen, die damit entstehen. Die römisch-katholische Kirche hat zum Beispiel mit Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz und Ignatius von Loyola exemplarisch Mystiker anerkannt, die Glauben und Erleuchtung zusammengebracht haben. Aber auch die deutsche Mystik eines Meister Eckhart oder Johannes Tauler ist ohne deren Lebensform als Dominikanermönche nicht zu verstehen. Die Kirchengeschichte zeigt, wie die fruchtbarsten Erneuerungen aus spirituellen und mystischen Aufbrüchen hervorgegangen sind.

MB: Die Befriedigung religiöser Bedürfnisse wird heute tatsächlich oft außerhalb institutionalisierter Religion gesucht und gefunden. Wir erleben gerade einen Zerfall der sozialen Strukturen, die sich in der Moderne entwickelt haben. Ich frage mich: Womit hat das zu tun? Wo tragen die etablierten Religionen die Verantwortung? Ich beobachte deutlich eine Kluft zwischen der traditionellen religiösen Sprache einerseits und der Erfahrung der Menschen andererseits. Viele Menschen suchen eine spirituelle Erfahrung, das ist eine Chance. Doch die Art und Weise, wie die etablierte Tradition mit den heiligen Texten umgeht oder das fehlerhafte Verhalten religiöser Repräsentanten erschweren vielen den Zugang zum Glauben. So wenden sich Suchende zunächst nicht an die institutionalisierte Religion. Spirituelle Traditionen aus Indien oder Asien scheinen dem persönlichen Bedürfnis einfacher zugänglich.

CHR: Diese Beobachtung teile ich. Spirituelle Wahrheiten lassen sich leicht mit dem individualisierten Lebensstil des Westens verbinden, ob sie nun aus den religiösen Traditionen Asiens oder aus der christlichen Mystik stammen. Die Kirche hat stets versucht, persönliche Erfahrung, die Geschichte aller und das Institutionelle zusammenzuhalten. Natürlich gibt es immer eine Spannung zwischen den Polen. Das liegt in der Sache selbst. Die Kirchengeschichte ist voll von Konflikten zwischen charismatisch und mystisch begabten Frauen und Männern einerseits und der Kirche als Ordnungsmacht andererseits. Im Christentum lässt sich die religiöse Erfahrung letztlich in eine Heilsgeschichte einbinden, die Gott eröffnet hat. Der Einzelne wird eingeladen, in diese Geschichte einzuschwingen und mitzutun. Die eigene religiöse Erfahrung oder das mystische Erlebnis stehen nicht am Anfang. Sie sind aber wichtig und werden ernst genommen. Sie werden von der Offenbarung her beurteilt und stehen nicht über allem. So will Ignatius von Loyola in den Exerzitien, den geistlichen Übungen, zu religiösen Erfahrungen hinführen und lehrt dann die Unterscheidung der Geister. Dies ist eine große Kunst, weil wir Menschen gerade im Innersten blinde Flecken haben und uns allzu gern mit einer Absolutheitserfahrung identifizieren. Nach der geistlichen Lehre ist daher die Demut, das Sich-zurücknehmen-Können, das klarste Zeichen für den echten Mystiker.

MB: Wenn du von Heilsgeschichte redest, so muss ich sagen, dass dieser Begriff meinem Judentum fremd ist. Ich lese die Tora als Weisung zum Handeln, zur Ausübung der Gebote. Gewiss gibt es die Heilserwartung auch im Judentum, sowohl individuell als vor allem auch kollektiv. Zentral und konstitutiv ist sie aber nicht. Ich erachte sie als sekundär, als eine Folge der realen Geschichte des jüdischen Volkes. Es geht im Judentum darum, die Gesetze der Tora zu befolgen, damit eine gerechte Gesellschaft entstehen kann. Doch kommen wir nochmals auf religiöse Erfahrung zurück. Heutige Zeitgenossen glauben doch wirklich nicht mehr, dass die Kirchen in Sachen Spiritualität noch eine Kompetenz haben!

CHR: Spirituelle Kompetenz muss heute Kernkompetenz der Kirche sein. Viele institutionelle Aufgaben, die sie früher wahrnahm – Krankenhäuser und Schulen führen, Sozialarbeit leisten etc. – sind von säkularen Institutionen übernommen worden. Was in der Zuständigkeit der Kirche verbleibt, ist das Religiöse und Spirituelle im engeren Sinn. Nicht dass sie sich darauf beschränken soll, doch hier ist sie durch die soziologische Entwicklung besonders gefordert. Religiöse Erfahrungen sind ein anthropologisches Phänomen. Die säkulare Welt kann damit oft nicht umgehen. Zuweilen werden visionäre Menschen sogar für psychisch krank erklärt. Ich bin dankbar, dass Spiritualität immer mehr salonfähig wird. Da sollte die Kirche mithelfen.

MB: Grundsätzlich teile ich diese Meinung. Es ist aber wichtig, nicht bei religiösen Bedürfnissen stehenzubleiben. Sie entpuppen sich rasch als neue Götter, wenn wir nicht für eine Wirklichkeit offen bleiben, die schon vor uns da war und größer ist als wir selbst. Bedürfnisse, so spirituell sie erscheinen, dürfen weder unterdrückt werden, noch das Maß der Dinge sein.

CHR: Ja, glauben ist ein Vollzug, kein religiöses Bedürfnis. Erich Kästner sagt: «Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.» Am Sonntag Gottesdienst mitzufeiern ist zum Beispiel für Katholiken eine gebotene Handlung, nicht immer ein Bedürfnis. Ohne Pflege des Sonntags und des Siebentagerhythmus zerfällt sowohl die Glaubensgemeinschaft als auch die innere spirituelle Wachheit.

MB: Lebt der heutige Mensch aber nicht in einer völlig säkularen und von der Marktwirtschaft bestimmten Welt, in der spirituelle Fragen nicht mehr relevant sind?

CHR: Was willst du damit sagen? Unsere Fragen hätten sich aufgelöst oder würden durch die säkulare Zivilreligion beantwortet?

MB: Ich denke an die westliche Kultur, die sich ganz im Diesseitigen entfaltet. Die metaphysischen Wahrheiten haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Religiöse Begriffe wie zum Beispiel Erlösung werden, sofern man sie überhaupt noch verwendet, ganz innerweltlich gedeutet. Zu Neujahr sagt man heute: «Ich wünsche dir ein gutes und glückliches Jahr.» Glück hat Heil ersetzt. Gottes Segen braucht scheint’s auch niemand mehr. Das Diesseitige aber hängt zu einem großen Teil von materiellen Komponenten ab. Die neoliberale Marktwirtschaft ist das System, das Glück gewähren soll. Die Gesetze des Marktes sind an die Stelle der Gesetze der Tora getreten.

CHR: Leider ist dies auch für viele Katholiken eine Realität geworden. Ihr Glaube hat sich aufgelöst. An die Stelle des Extra Ecclesia nulla salus, außerhalb der Kirche kein Heil, ist das Extra mercatum nulla salus getreten. Außerhalb des Marktes gibt es für viele kein Glück mehr. Dabei sind nicht der Markt und die Wirtschaft an sich das Problem, sondern die Totalökonomisierung, die alle Lebensbereiche nur noch unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit beurteilt.

MB: Kürzlich war ich hier in Zürich in einem neu eröffneten Supermarkt. Das wirkte wie ein Konsumtempel! Hier suchen die Menschen nach Glück. Ich kaufe so viel, so teuer, so luxuriös wie möglich ein, was ich zu brauchen glaube. Die entscheidende Frage ist: Wie werde ich glücklich? Die Marktwirtschaft behauptet, sie könne dieses Glück geben. Und jeder könne es erreichen, sofern er sich Mühe gibt. So wie die Religion behauptet hat: Wenn du den richtigen Glauben hast und danach lebst, dann kommst du ins Paradies.

CHR: Wie werde ich glücklich? Das ist die alte Frage der Philosophie. Der Christ fragt: Wie komme ich zur Fülle des Lebens? Wie komme ich in den Himmel? Das sind alles Metaphern dafür, wie das Leben gelingen kann. Rein innerweltlich gelingt es nicht, weiß der Christ. Es braucht nicht nur das Zusammenspiel von transzendent Geistigem und Materiellem. Darüber hinaus bleibt das Leben immer Fragment. Das Fragment aber weist über sich hinaus auf das Ganze hin, wie Dietrich Bonhoeffer in Erinnerung gerufen hat.

MB: Wissenschaftsgläubigkeit und Marktwirtschaft haben eine Wirklichkeit hervorgebracht, die so eindimensional geworden ist, wie der Philosoph Herbert Marcuse es vorausgesehen hat. Wissenschaft und technologischer Fortschritt, die zu mehr Wohlstand führen, sind aus jüdischer Sicht aber nicht schlecht. Sie werden als Gabe Gottes verstanden und verleihen dem Menschen eine Würde, die seine Verantwortung mehrt.

CHR: Da kann ich von ganzem Herzen zustimmen. Die Hinwendung zum konkret Machbaren ist eine große Errungenschaft der Moderne. Es ist einfach nur die halbe Wahrheit. Als religiöser Mensch bin ich überzeugt, dass letztlich der Geist die Materie prägt. Man muss den Menschen zum Geistigen hinführen. Das braucht Zeit. Sonst bleibt der Mensch in seinen Bedürfnissen stecken. Heute produziert die Wirtschaft um ihrer selbst willen Bedürfnisse. Wirtschaft dient nicht mehr dem Menschen und dem Gemeinwohl, sondern dem Wirtschaftswachstum. Das ist ein Teufelskreis.

MB: Emmanuel Levinas unterscheidet zwischen Bedürfnissen und Sehnsucht, zwischen dem, wonach gegriffen werden kann, und dem, was sich jedem Zugriff entzieht. Während Bedürfnisse gestillt werden können, vertieft sich die Sehnsucht durch Erfüllung und wächst immer wieder neu.

CHR: Damit ist eine Bewegung zum Geistigen hin gegeben. Der Mensch ist ein Wesen, das letztlich vom Sinn lebt. Er ist auch ein Beziehungswesen und will geliebt werden. Er lebt aus der Freundschaft, oder wie Martin Buber sagen würde: «Alles wahre Leben ist Begegnung.» Wenn liebende Beziehung und Sinn wegbrechen, geraten die Menschen in ein Burnout. Beziehung und Sinn zu stiften ist aber vornehmlich eine Aufgabe der Religion. Martin Buber übersetzt in seiner «Verdeutschung der Schrift» den Aufruf sela in den Psalmen mit «Empor!», weil er weiß, dass der Mensch sich nach oben ausrichten muss. Er spricht vom großen Du, an dem der Mensch wird. Ich bin nicht gegen Wirtschaftsentwicklung, doch die Totalökonomisierung muss bekämpft werden. Die Eigengesetzlichkeiten von Politik, Philosophie, Religion sind entscheidend und müssen respektiert werden. Säkularisierung bedeutet ja gerade eine Ausdifferenzierung verschiedener Bereiche, die dann nach je eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. In diesem Sinne bin ich ganz für Säkularisierung.

MB: Jede Generation und jede Epoche hat ihre spezifischen Herausforderungen. Es gilt, sie zu meistern und Lösungen zu finden, als Beitrag zum Wohl späterer Generationen und zur gesamten Kultur. Vor welchen Herausforderungen stehen aus deiner Sicht das Christentum und die katholische Kirche heute?

CHR: Die Kirche muss an erster Stelle den Sinn christlicher Weltdeutung, Normen und Werte einsichtig vermitteln können. Sie steht im Dienst der Botschaft des Evangeliums. Wenn du aber nach dem Beitrag zu unserer Kultur fragst – dieser ist vielfältig und hat sich an Brennpunkten der Entwicklung zu zeigen: In Bezug auf die Gesellschaft haben wir von einer entfesselten Wirtschaft gesprochen. Zudem müssen wir uns angesichts der Globalisierung von nationalem Denken verabschieden. Die Digitalisierung wiederum eröffnet neue Welten der Kommunikation und Wahrnehmung, die uns grundlegend verändern werden. Eine besondere Herausforderung auf mehr anthropologischer Ebene besteht zudem heute darin, den Menschen als geschlechtliches Wesen zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen Sex und Gender, also zwischen der biologischen und der kulturellen Komponente menschlicher Geschlechtlichkeit, scheint mir dabei äußerst hilfreich. Beide Pole müssen respektiert werden. Hinter der frommen und traditionellen Sprache versteckt sich oft ein biologistisches und materialistisches Denken, das sich nicht auf die Geschichte einlässt.

MB: Die Geschlechterfrage ist auch im Judentum brisant. Die Tora hat die Rollen von Mann und Frau rechtlich und kultisch festgelegt. Für den, der in der Tora den zeitenthobenen Willen Gottes sieht, ist die Genderdiskussion ein Angriff auf Tora und Gott. Doch es entspricht genuin der rabbinischen Tradition, dass die Tora immer neu ausgelegt werden muss. Die Gelehrten haben die Pflicht, sich in die Quellen der Halacha hineinzulesen und nach Lösungen zu suchen, die die Stimme der Tora für unsere Zeit erklingen lassen.

CHR: Ähnlich stellt für traditionelle Katholiken die Genderdebatte einen Angriff auf Gott und das Naturrecht dar. Doch der Mensch ist ein kulturelles Wesen. Gott hat sich auf den Menschen und seine Geschichte eingelassen. Auch die menschliche Geschlechtlichkeit ist bei allen Grundkonstanten, die ich keineswegs leugnen will, vielgestaltig und veränderbar. Sie muss im Dialog zwischen Glauben und wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltet werden. Leider ist in gewissen kirchlichen Kreisen diese Unterscheidung zum ideologischen Kampffeld geworden. Was dem Gender-Denken alles vorgeworfen wird ist lächerlich. Sachlichkeit ist gefragt, und vielleicht müssen dafür sogar andere Worte gefunden werden.

MB: Im Judentum sprechen wir davon, dass die Tora in der Sprache der Menschen redet. Sie enthält also nicht nur sogenannte ewige Wahrheiten, sondern auch Zeitbedingtes. Die historische Kritik der Moderne hat dies ja sehr betont, zuweilen auch verabsolutiert. Doch ungeachtet dieser Zerrform: Die Stellung der Frau kann sich im Lauf der Geschichte verändern. Ihre Rechte wie auch ihre Pflichten können ausgeweitet werden. Im 19. und 20.Jahrhundert war die Emanzipation der Frau einer der Streitpunkte zwischen progressiven und orthodoxen Strömungen des Judentums. Doch selbst in der Orthodoxie gibt es heute emanzipatorische Bestrebungen. Es gibt Gemeinden in Israel und vor allem in den USA, in denen Frauen auch aus der Tora lesen und sich an der Leitung des Gottesdienstes beteiligen. Es gibt auch einige wenige orthodox ordinierte Rabbinerinnen. Allerdings bekommen sie in orthodoxen Gemeinden keine leitenden Rabbinatsstellen.

CHR: Die Liturgie ist natürlich ein hochsensibler Bereich für die Geschlechterfrage. Vor Gott öffnet der Mensch seine Innerlichkeit. Im gemeinsamen gottesdienstlichen Feiern trifft das Intime der Beziehung zu Gott auf die Intimität menschlicher Beziehungen. Da können sehr archaische Empfindungen mitspielen. Die Beziehung zum Heiligen will und muss zum Beispiel rein sein, während die geschlechtlichen Beziehungen oft auch mit Empfindungen des Unreinen einhergehen. Die Geschlechtertrennung in der Liturgie und die klare Rollenzuteilung von Mann und Frau stehen für die Geordnetheit des Menschen vor Gott.

MB: Die Sexualität ist ein sensibler Bereich für die Religion. Sie rührt an den Ort, wo Leben weitergegeben wird und der Mensch das Leben in seiner vitalsten Form erfährt.

CHR: Und Gott will dem Menschen ja die Fülle des Lebens geben. Weil Sexualität jedoch ambivalent ist, wollen unsere religiösen Traditionen sie formen. Sie grundsätzlich zu verdrängen, wäre ein Irrweg.

MB: Dass die Bibel den Beischlaf mit dem Wort Erkennen umschreibt, zeigt ihre positive Sicht der Sexualität. Es weist auch darauf hin, dass sich gerade in der Sexualität Abgründe auftun, die der Mensch im Alltag verdrängt. Der Griff nach der Frucht vom Baum der Erkenntnis führt sogleich dazu, dass sich Adam und Eva ein Feigenblatt umbinden.

CHR: Die patriarchale Lesart von Genesis 3 hat sich verheerend auf das Frauenbild in der christlichen Geschichte ausgewirkt. Die Hochstilisierung der Stelle zu einem Sündenfall, obwohl da nichts fällt – nicht einmal die Frucht fällt zu Boden–, ließ Eva zur Verführerin werden. Die Schuld in diesem Text besteht in einer Grenzüberschreitung, die nicht gemacht werden darf und doch gemacht werden muss, denn der Mensch kann ohne Erkennen nicht leben. Wenn der Text aber die Unterordnung der Frau unter den Mann als Folge des Ungehorsams beschreibt, dann müsste doch klar sein, dass der ideale und paradiesische Zustand eben die Gleichstellung von Mann und Frau ist. Im christlichen Leben und in der Liturgie wird ja gerade Erlösung gefeiert. Dabei wird der Mensch in die eschatologische Vollendung hineingenommen, und die Unterordnung muss überwunden sein. Aus dieser Perspektive gilt es die Regel der katholischen Kirche, ausschließlich Männer zum Priesteramt zuzulassen, in Frage zu stellen, nicht allein aus einem säkularen und egalitären Denken entsprechend heutigem Zeitgeist. Gerade im Gottesdienst darf sich aber nicht zu viel Gesellschaftliches einschleichen, erst recht kein Patriarchat oder Geschlechterdiskriminierung.

MB: Letztlich scheint mir die Frage der Geschlechter in der Liturgie aber doch nur ein Aspekt zu sein. Es geht um Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau im gesamten Lebensvollzug.

CHR: Christliche Liturgie will etwas von Erlösung und Heil vergegenwärtigen. Daher hat die Geschlechterordnung darin einen hohen Stellenwert. Doch du hast recht, es geht natürlich um umfassende Gerechtigkeit, und dies ist nicht einfach Gleichmacherei. Es scheint mir heute in der westlichen Gesellschaft – viele andere Kulturen stehen da an einem anderen Ort – auch nicht mehr in erster Linie um die Frage der Emanzipation der Frau zu gehen. Dieser Blick engt ein. Vielmehr geht es grundlegender um die Gestaltung von Männer- und Frauenrollen. Unterschiede bleiben und Übergänge sind fließend, ohne Frage. Doch es braucht eine neue, stets flexible Zuordnung, An- und Abgrenzung. Die Rollenverteilung in vormodernen Gesellschaften, in denen die Frau für den Privatbereich zuständig ist und der Mann für die Öffentlichkeit, ist schon lange und zu Recht überholt.

MB: Es geht in der Geschlechterfrage weniger um Theologisches als um eine gesellschaftliche Ordnung. Die Reaktionen darauf sind auch vor allem psychologisch bestimmt. Die Angst vor Veränderung und noch mehr vor Chaos und Ausgeliefertsein an die Triebe bestimmt das Handeln und Denken der Menschen.

CHR: Körper und Sexualität bleiben für jeden Menschen eine Herausforderung. Das Triebhafte muss humanisiert werden. Das christliche Inkarnationsdenken fordert uns heraus, uns immer neu damit auseinanderzusetzen. So brauchen wir in der Kirche eine grundlegende Neubewertung von Leiblichkeit und Sexualität. Allzu lange hat eine neuplatonische Verachtung des Leiblichen den Glauben bestimmt. Spirituelles Suchen und ethisches Streben tendieren selbst in der säkularen Gesellschaft zu einer gewissen Weltflucht.

MB: Nicht nur das Christentum ist durch den Platonismus geprägt worden. Auch in der jüdischen Tradition kennt man körperfeindliche Tendenzen. Ungute asketische Bewegungen gibt es bis heute unter uns. Die Aufteilung in ein spiritualisierendes und weltflüchtiges Christentum auf der einen Seite und ein fleischliches und diesseitsorientiertes Judentum auf der anderen Seite ist viel zu einfach. Die sexuelle Revolution der 68er-Generation mit ihrem Infragestellen jeglicher Autorität und aller herkömmlichen Werte hat zudem auch im Judentum extreme Gegenreaktionen hervorgebracht. In ultraorthodoxen Kreisen hat sich in den letzten Jahren die Tendenz verstärkt, jede Körperlichkeit zu verdecken und jede Erotik aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.

CHR: Dass verdrängte Sexualität in perversen Formen zurückschlagen kann, hat die Kirche schmerzhaft erleben müssen. Noch sind wir dabei, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Kirche aufzuarbeiten. Zudem ist es offensichtlich, dass gerade im religiösen Fundamentalismus das ganze Leben durch die Abwehr der Sexualität diktiert wird. Wenn allein die Sexualnormen die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft bestimmen, stimmt etwas nicht mehr. Und wenn die Sexualität in religiösen Kreisen so tabuisiert wird, dass sie scheinbar keine Rolle mehr spielt, dann dreht sich im Verborgenen erst recht alles um sie.

MB: In unserer Kultur dominiert das Empfinden, dass wir uns in der Diesseitigkeit eingeschlossen haben. Das gilt nicht nur für das Thema Sexualität. Messbarkeit und Machbarkeit, Technik und äußerer Fortschritt bestimmen alles. Deshalb sehnen sich heute viele Menschen nach Spiritualität. Der klassische und militante Atheismus, der Religion überhaupt als unwirklich ansieht, ist zwar in den letzten Jahren nochmals aufgeflammt, doch die Mehrheit der Menschen sucht nach etwas Geistlichem. Die etablierten Religionen haben für diese Menschen häufig noch keine adäquate Sprache gefunden.

CHR: So gibt es eine neue Hinwendung auch zu den religiösen Traditionen. Religion ohne Gott, fordert zum Beispiel Alain de Botton. Er will die ästhetischen, rituellen und sinnstiftenden Aspekte der traditionellen Religion nutzen, ohne glauben zu müssen. Unter den Menschen, die sich den spirituellen Traditionen Indiens oder dem Zen-Buddhismus zuwenden, kenne ich viele, die ein weiteres und wacheres Bewusstsein suchen. Ich freue mich über dieses Suchen sehr. Zugleich weiß ich, dass Glaube nicht einfach die Stillung eines religiösen Bedürfnisses ist. Für die biblische Tradition steht auch nicht ein besonderes Bewusstsein im Zentrum. Am Anfang ist weder der Gedanke noch der Geist. Der Mensch beginnt nicht vom Ich aus zu wachsen, so gut dieses Wachstum auch wäre. «Im Anfang war das Wort», heißt es im Johannesprolog. Es geht dem Menschen ein Sprechen voraus, eine Tradition, eine heilige Schrift und natürlich Gott. Menschsein ist immer schon Antwort.

MB: Daher sind die klassischen literarischen Gattungen im Judentum, die Auslegung und der Kommentar, oft Thema von Streitgesprächen. Sie sind Bestandteile der Tora selbst. Die Verschriftlichung dessen, was wir in der jüdischen Tradition als mündliche Tora bezeichnen, wird nicht weniger auf Moses zurückgeführt als der Pentateuch selbst. Erst durch sie erhält der Text seine Bedeutung und bleibt die Tora lebendig.

CHR: Als Christen würden wir dies wohl nicht so formulieren. Der Johannesprolog spricht vom Wort, das Fleisch geworden ist in Christus. Er hat die Tora in einer so vollkommenen Weise gelebt, dass Christen ihr Leben als Teilhabe an seinem Leben sehen. Doch ebenso wie die Gabe der Tora ist die Offenbarung in Christus über das Wort des Evangeliums vermittelt. Auch für Christen ist die Bibel nicht ein toter Text. Er steht in einer lebendigen Tradition, wie auch das Luthertum weiß. Sola scriptura im wortwörtlichen Sinne gibt es nicht. Die Aussage bezeichnet vielmehr den entscheidenden Bezugspunkt. Sich mit der eigenen Tradition auseinanderzusetzen ist aber wie ein Sprechen mit Glaubenden, die in einer früheren Generation gelebt haben.

MB: Für das rabbinische Judentum sind die traditionellen Kommentare zur Bibel eine Selbstverständlichkeit. Man kann den Urtext nie alleine lesen. Das würde zu einem biblischen Fundamentalismus führen. Wir lesen die Tora stets mit der lebendigen Interpretation unserer Vorgänger zusammen. Die Midraschim oder der Kommentar eines Raschi aus dem 11.Jahrhundert gehören zum festen Bestandteil des Lernens. Die Texte verschiedener Jahrhunderte bringen wir miteinander ins Gespräch und diskutieren sie heute weiter.

CHR: Es ist ein kreativer Prozess, mit Quellentexten zu arbeiten. Auch die Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition ist Archäologie oder Ethnologie in der Zeit. Man taucht in ein anderes Universum ein. Dabei erfährt der Gläubige Sinn. Ein äußerer Standpunkt, von dem aus man die Gegenwart kritisch hinterfragen kann, wird erschlossen. Jeder Historiker weiß, dass die Welt auch noch anders sein könnte, als sie heute gerade ist. Die Religion eröffnet mit solcher Textarbeit einen größeren Interpretations- und Handlungsspielraum. Wer würde heute sonst noch altorientalische Liebeslieder lesen, wenn sie nicht im Hohen Lied in die Bibel überliefert worden wären?

MB: Der Lernende erschafft sich letztlich aus den Texten der Tradition selbst immer wieder neu. Lektüre und Studium religiöser Traditionen weiten den Horizont enorm.

CHR: Der Mensch ist ein Sprachwesen, auch wenn es gehoben klingen mag. Paul Ricœur spricht von narrativer Identität. Auf die Frage «Wer bist du?» kann ich nur mit einer Geschichte antworten. Ich muss erzählen, wer ich bin. Doch in verschiedenen Situationen erzähle ich unterschiedlich. Und in verschiedenen Lebensphasen erzähle ich auch anders. Das erzählende Ich hält alles zusammen. So gibt es auch verschiedene Erzählungen des Glaubens. Doch es braucht den Koordinatennullpunkt, in dem das Ganze zusammengehalten wird. Dazu ist das eigene Ich zu klein. Für alle, die sich auf die Bibel berufen, ist dieser Bezugspunkt Gott. Für Christen werden zudem die verschiedenen biblischen Narrative durch Christus bzw. das Evangelium zusammengehalten, weil sich in der Erzählung seines Lebens alle anderen Worte kristallisieren. Viele Bekehrungen zu einem christlichen Leben beginnen denn auch mit der Lektüre eines bestimmten Textes.

MB: In meiner langjährigen Tätigkeit am Zürcher Lehrhaus sind mir immer wieder Menschen begegnet, die eine fixe Vorstellung von einem Text hatten. Durch die verschiedenen Lesarten aus der jüdischen Tradition wurden ihnen die Augen geöffnet. Sie erlebten eine Befreiung, weil sie unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten sahen. Diese Vieldeutigkeit zuzulassen, zeichnet die jüdische Tradition besonders aus.

CHR: Etymologisch kommt das Wort Text von Textur, von Gewebe. Der Text ist also wie ein Teppich. Man kann sich auf ihm niederlassen. Verschiedene Muster können herausgelesen werden. Heinrich Heine meinte, die Bibel sei ein portatives Vaterland. Sich in einem Text oder in der Sprache bergen, ist wie in Gott ankommen. Ich habe das Zuhausesein in der Sprache auch im Theater oder in guter Literatur erlebt, nicht nur bei frommen Texten. Kultur und Religion gehören daher für mich zusammen. Dass sie in der Moderne so stark auseinandergebrochen sind, erlebe ich als Verlust.

MB: Sich im Text bergen! Das ist leichter gesagt als getan! In der hebräischen Bibel gibt es viele Gewaltgeschichten, die nicht eben leicht verdaulich sind. Da fordert zum Beispiel Gott dazu auf, die kanaanäischen Völker beim Einzug ins verheißene Land zu vernichten. Oder da gibt es in der Tora die Geschichte des Pinchas, der einen israelitischen Mann und dessen midianitische Geliebte mit einer Lanze durchbohrt; Gott selbst schenkt ihm dafür ewige Priesterschaft. Dies ist störend für unsere Ohren.

CHR: Wie gehst du mit diesen Texten um? Wir Christen beziehen uns angesichts solcher Texte immer auf die Evangelien und auf Jesus, den gewaltlosen Wanderprediger, der selbst Gewaltopfer am Kreuz geworden ist. Von der Botschaft des heilenden Wanderpredigers und des auferstandenen Christus her werden dann das Alte Testament sowie die scheinbar Gewalt legitimierenden und die diskriminierenden Texte, die es im Neuen Testament gibt, relativiert und eingeordnet. Die Wehe-Rufe Jesu gegen die Pharisäer oder die Polemik des Paulus wider seine Gegner sind für die Interpretation heute auch herausfordernd.

MB: