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"Selbst eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig". Ausgehend von diesem Wort von Charles Dickens werden nicht nur viele schwierige Lebenssituationen beleuchtet, sondern vor allem "kleine Schlüssel" gesucht, die hilfreiche Hinweise und Hoffnung geben können, dass eine Lösung gefunden werden kann.
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2017
für Miriam, Christoph und Hannah
Gerd Köthe
Gedanken, die Türen öffnen können
© 2017 Gerd Köthe
Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7439-2088-0
Hardcover:
978-3-7439-2089-7
e-Book:
978-3-7439-2090-3
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Vor vielen Jahren schickte mir jemand eine Karte zu, auf der ein Wort vonCharles Dickens1zu lesen war:
„Selbst eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig.“
Die Bild-Worte von der Tür und von dem kleinen Schlüssel haben mich sofort angesprochen und seitdem auf viele„kleine Schlüssel“aufmerksam werden lassen, die selbst„schwere Türen“öffnen können.„Schwere Türen“gibt es so viele: schwierige Lebenssituation-en, eine Lebenskrise, eine Krankheit mit all den Veränderungen, die sie mit sich bringen kann; Probleme in Beziehungen, zu Hause oder bei der Arbeit. Und schwer wird es vor allem dann, wenn wir allein stehen vor solchen und anderen „schweren Türen“, wenn keine rechte Hoffnung aufkommt, dass sich wieder etwas zum Positiven wenden kann.
Es tut gut, wenn wir gerade dann einen„kleinen Schlüssel“in die Hand bekommen. Die Betonung liegt dabei ganz aufkleinerSchlüssel. Der eine wunderbare Schlüssel, mit dem wir alle Schwierigkeiten schnell meistern können, wird eher ein unerfüllbarer Wunsch bleiben. Aber viele kleine Schlüssel gibt es wohl. Schlüssel, die einen selbst und andere weiterbringen, die auf Hilfen aufmerksam machen und Hoffnunggeben, dass einmal eine Lösung gefunden wird, auch wenn sie jetzt noch gar nicht erkennbar ist.
In den folgenden Betrachtungen möchte ich auf solchekleinen Schlüsselhinweisen. Dies können unteranderem sein: Begegnungen, Gespräche, ein ermutigendes, tröstendes oder auch kritisches Wort, eine Anregung, ein Hinweis. Kleine Schlüssel finden wir oft auch überraschend in Geschichten, in einzelnen Worten aus der Bibel oder in Versen aus Gesangbuchliedern. Deren bildhafte Sprache macht es möglich, eigene Erfahrungen einzubringen und zugleich auf eine Stimme zu hören, die tröstet und eine neue Aussicht aufschließt.
Der hier zusammengestellte Schlüsselbund ist natürlich ein sehr persönlicher. In den Texten weise ich auf die Schlüssel hin, die mir im Lauf der Jahre besonders wichtig geworden sind und die sich bewährt haben. Gleichwohl bin ich auf viele kleine Schlüssel erst richtig durch Begegnungen aufmerksam geworden: bei Gesprächen mit einzelnen oder auch in Gruppen. Da ist jede Situation anders und voller Überraschungen. Die persönliche Begegnung ist ja auch sozusagen ein Haupt-schlüssel.
Es versteht sich wohl von selbst, dass die Hinweise aufkleine Schlüsselwenigerals Ratschläge noch gar als stets passende Lösungen anzusehen sind. Sie weisen hin auf eventuell erweiternde Blickwinkel und können sich vielleicht hilfreich erweisen als kleine Wegweiser. Den eigenen Weg muss dann jede(r) selber für sich finden und gehen. In den Märchen wird immer mal wieder von einem „Wink“ erzählt, der gegeben wird und den zu beachten sich als vorteilshaft erweist.
Die Bilder vom Schlüssel und der Tür sind – wie andere Bilder auch – mehrdeutig und für viele nicht nur positiv besetzt. Für Menschen, denen momentan eher Türen verschlossen sind, mögen sie auch schmerzlich oder gar provozierend sein. Dennoch vertraue ich auf die ermutigende Kraft, die in diesen Bildern enthalten ist. Vielleicht ermutigen die Hinweise auf die kleinen Schlüssel, sie selber mal auszuprobieren. Und auch wenn jemand bisher den Möglichkeiten des christlichen Glaubens eher skeptisch gegenüber stand, kann er oder sie vielleicht doch die positive Kraft, die gute Macht vieler Bilder, Worte und Lieder spüren, die unversehens als kleine Schlüssel auch schwere Türen öffnen können.
Die Betrachtungen könnten auch ein kleiner Beitrag sein zu einer heute ehersuchenden, fragenden Spiritualität(vgl. das Kapitel„Wohl dem, der fragt“S.43). Dabei ließe sich im„Kästchen“der christlichen Spiritualität manch„kleiner goldener Schlüssel“finden (vgl. das Abschlusskapitel„Der goldene Schlüssel“). Gerade im Gegenüber und Miteinander anderer Sichtweisen werden die Schätze erkennbar, an denen wir als rastlos Beschäftigte oft achtlos vorüber gehen.
Alle Betrachtungen gehen von einigengemeinsamen Voraussetzungenaus:Zuerstgehe ich davon aus, dass unser Leben nicht nur einem blinden Zufall oder Schicksal entspringt oder aus dem Nichts kommt, um dann ebenso im Nichts der Bedeutungslosigkeit wieder zu verschwinden. Vielmehr vertraue ich darauf, dass unser Leben in Gott seinen Grund und sein Ziel hat. Dieses Ziel kann uns schon mitten im Leben nahe kommen und im Kontakt mit ihm werden wir auchSchlüsselentdecken, die uns helfen, das Leben aufzuschließen. Von psychologischer Seite aus siehtC.G. Jungin diesem Kontakt zur Mitte, zur Transzendenz nichts Unvernünftiges, sondern etwas Klares und Heilsames. Therapeutisch gesehen findet er„alle Religionen mit einem überweltlichen Ziel äußerst vernünftig, vom Standpunkt einer seelischen Hygiene aus gesehen.“2
Zweitensgehe ich mit vielen von einer grundlegenden Spannung oder Polarität des Lebens aus. Viele solcherGrundspannungenoderPolaritätenbestimmen unser Leben, als entgegengesetzte und zugleich sich bedingende bzw. ergänzende Richtungen. Theologen, Philosophen und Psychologen weisen auf diese Grundspannungen des Lebens hin (z.B.Paul Tillich,C.G. Jung,Wilhelm Schmid). So sehr wir uns auch oft nach Harmonie und Einheit sehnen, die Realität draußen und in uns selbst ist zunächst oft von mannigfaltigen Unterschieden, Gegensätzen, Widersprüchen und Spannungen bestimmt. An ihnen vorbei werden sich Türen zum Leben wohl nicht öffnen.
Drittensgehe ich davon aus, dass gerade durch Gegensätze, Spannungen, Schwierigkeiten oder Konflikte hindurchWandlungen, konkreteVeränderungenangestoßen und möglich werden können, die dann auch von uns beherzt ergriffen werden wollen. Stillstand scheint nirgendwo ein lohnendes Lebensziel zu sein. Sich auf einen solchen Prozess der Wandlung lebenslang einzulassen, ist mir immer wichtiger geworden.
Viertens:Alles Große fängt ganz klein an. DiekleinenErfahrungen, Impulse, Gaben, Aufgaben, Veränderungen, Herausforderungen und Fortschritte sind es, auf die wir vor allem achten sollten. Sie sind in demBild vom „kleinen Schlüssel“besonders angesprochen.
Fünftens: Für mich war es immer wichtig, neben der Theologie auch andere Bereiche, die sich Menschen zuwenden, einzubeziehen. In praktischer Tätigkeit als Seelsorger in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie in Aus-und Weiterbildung (Klinische Seelsorge, Gestaltseelsorge) konnte ich mich vielen Konzepten und Verfahren in Psychologie bzw. Psychotherapie annähern und mit dem eigenen theologisch-spirituellen Bereich verbinden. In der Seelsorge brauchen wir heute diesen weiten Rahmen und das Gespräch mit anderen Disziplinen, wenn wir Menschen ganzheitlich gerecht werden wollen.
Viele der behandelten Themen, Fragen oder Stichworte wurden zunächst in Gesprächsgruppen – auch kontrovers - besprochen. Vielleicht können ja die Betrachtungen hier und da noch etwas von der Lebendigkeit und Vielseitigkeit der Gespräche erkennen lassen. - Und selbstverständlich verträgt dieser„Kleine Schlüssel“auch Widerspruch, ganz andere Sichtweisen. Mein Blick auf die vielen angeschnittenen Themen ist ja nur einer von vielen möglichen.
Jede der einzelnen Betrachtungen kann natürlich allein für sich gelesen werden, so dass die Lektüre vielleicht weniger anstrengend als anregend empfunden werden kann - und hoffentlich auch hier und da etwas kurzweilig und mit einer Prise Humor.
Herzlich danken möchte ich meiner TochterHannah Köthefür das Bild vom Brunnen und die Beratung bei der Gestaltung sowieWaltraud Renate Schmidt,die mir zum Abschied meiner Dienstzeit den „kleinen“ Schlüssel mit einer Miniatur der „schweren Tür“ schenkte.
Gerd Köthe, Kassel, im April 2017
In demMärchenvom„Wasser des Lebens“wird von einem König erzählt, der lebensbedrohlich erkrankt ist. Ein alter Mann, der den drei betrübten Söhnen des Königs begegnet, sagt ihnen:„Ich weiß noch ein Mittel, das ist das Wasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wieder gesund; es ist aber schwer zu finden.“(Brüder Grimm, Kinder und Hausmärchen, Band 2, S. 66)Die beiden älteren Söhne machen sich nacheinander auf den Weg, das„Wasser des Lebens“zu suchen, landen aber in einer engen „Bergschlucht“, da sie vor allem auf ihren eigenen Vorteil aus sind und „hochmütig“ an einem „Zwerg“ vorbeigehen, der ihnen die entscheidenden Hinweise geben könnte, wo das rettende Wasser zu finden sei. Der jüngste Sohn zieht los in liebender Besorgtheit um den Vater, achtet auf den „Wink“ des Zwerges und die Sache kommt nach vielen Irrungen und Umwegen schließlich zu einem guten Ende.
Wie gerne würden auch wir, für uns selbst und für andere, ein solches Mittel, ein erfrischendes, heilsames, Leben weckendes Wasser finden! Doch die Suche danach ist bei uns nicht weniger mühsam. Oft müssen erst beschwerliche Wege gegangen werden. Mancherlei Rückschläge, Einbrüche und Intrigen kann es geben. Bisweilen wird die Geduld hart auf die Probe gestellt und die Frage bleibt lange offen, ob sich denn das rettende„Wasser des Lebens“für andere oder für uns selbst überhaupt noch finden lässt.
Das Bild des Wassers ist auch keineswegs nur positiv. Es ruft sehr unterschiedliche Erinnerungen und Eindrücke in uns wach, hilfreiche ebenso wie bedrohliche. Es kann wie in dem Märchen ein Bild für Leben und Lebendigkeit überhaupt sein, für eine unverzichtbare, lebenserhaltende Kostbarkeit. Andererseits erinnert es auch an eine bedrohliche Seite des Lebens. Halt- und Bodenlosigkeit, die Angst zu versinken, überschwemmt zu werden, ist auch mit dem Bild des Wassers verbunden. Wir sprechen bildhaft davon, dass einem „das Wasser bis zum Hals stehen“, einer wie ein „Eisblock“ erstarren, seine Lebendigkeit verlieren, wie „einfrieren“ könne. Und auch die Gefahr der Trockenheit, der „Dürre“ und Leere steht gleichsam als Gegenpol mit vor Augen.
Und dennoch kann das Wasser immer wieder neu zu einemZeichen lebendiger Seelenkraftwerden. Gerade indem wir die gefährlichen Stellen, die Abgründe oder Stürme nicht übergehen, sondern als Herausforderung annehmen und uns ihnen stellen. Indem wir aufmerksam dafür werden, wie und wodurch unser „Lebenswasser“ versiegen kann, geschieht es manchmal überraschend, - oft ohne genau sagen zu können wieso gerade jetzt dass die Lebensquelle, das„Wasser des Lebens“wieder anfängt zu sprudeln. Ein neues Strömen, eine neue Bewegung, eine neue Lebendigkeit wird wieder möglich. Das müssen dann auch nicht gleich ganz überwältigende Erlebnisse sein. Auch kleinere Erfahrungen können so erfrischend sein wie ein Schluck vom„Wasser des Lebens“. Das Gefühl des wieder strömenden Lebens, der Freude, lebendig zu sein, entwickelt sich meist eher langsam, nicht so stürmisch!
Und wie einkleiner Schlüsselistes, zunächst einmal solche Augenblicke oder Chancen zu beachten, in denen wieder etwas in Fluss kommt, etwas „auftaut“ und das Leben wieder zu strömen beginnt: Vor allem wieder gewagteBegegnungen mit Menschenfür die wir uns aufschließen, die uns mit ihrem Verständnis und ihrer Lebendigkeit erfrischen; Kontakte insbesondere auch zu Kindern, die uns zu den Quellen der eigenen Kindheit und Lebendigkeit führen können. Und besonders: endlich wieder zugelasseneGefühle, die manchmal lange Zeit ganz verborgen waren, angestaut, wie vereist blieben, wie z.B. Erfahrungen derFreudeoder derTraurigkeit,die uns wieder anschließen können an den Fluss des Lebens. Ein körperlicher Ausdruck dieses Fließens können dann auch dieTränensein, die endlich wieder fließen. Sie befreien und machen Mut, sich berechtigt zu fühlen, alle Gefühle fließen zu lassen, anzunehmen.
Wichtig ist es auch, dieQuellenin sich wieder zu entdecken: dieBegabungen, die Gaben, die in jedem, in jeder stecken; an diese Gaben anzuknüpfen, sie zu gebrauchen, sie zu entfalten; und auch zu wissen, wohin, zu welchen Quellen wir gehen können, um„lebendiges Wasser“zu bekommen.
EinSchlüsselfür Christen kann es auch sein, sich an ihre eigeneTaufezu erinnern. VonMartin Lutherwird erzählt, er habe sich auf seinen Tisch die Worte geschrieben:„baptizatus sum“(ich bin getauft). Immer wenn es ihm schlecht ging, wenn er an sich selbst und an seiner Aufgabe zweifelte, hat er auf diesen Satz gesehen und sich damit in Erinnerung gerufen: Da ist schon ein anderer, der mich ins Leben gerufen hat, der will, dass ich lebe. Einer, der mir etwas Unverlierbares mitgibt: ein geliebter Mensch zu sein!
Im Klostergarten der heutigenVitos-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen, wo ich die längste Zeit meines beruflichen Lebens als Pfarrer gearbeitet habe, steht direkt neben der Klosterkirche einBrunnen mit sprudelndem Wasser. Für mich ist er immer eine„Mitte“, einZeichengewesen, dass doch„Ströme lebendigen Wassers“fließen, auch wenn wir glauben, sie nicht mehr spüren zu können. Er ist mir wie eine Einladung, nicht nur auf sich selber, auf die eigenen Leistungen, Mängel oder Verletzungen zu schauen. Da ist nocheine andere Quelle. Und wir können – unterwegs, suchend - dem nahe kommen, der„dem Durstigen geben wird von der Quelle lebendigen Wassers umsonst“.(Offenbarung 21,6)
Ein ganz wesentlicher Wunsch in unserem Leben ist, von anderen Menschen gesehen, beachtet, wertgeachtet, geschätzt zu sein. Es gibt wohl keine oder keinen, der sich nicht danach sehnte. Es tut uns gut, wir leben auf, wir werden freudiger gestimmt, wenn wir die Beachtung und Wertschätzung anderer Menschen erfahren. Es stärkt andere und auch uns selbst, wenn wir selber zu solch guten Erfahrungen beitragen können. Am schönsten ist es, wenn es ganz überraschend geschieht: Einer, eine denkt an mich, ruft mich an, schreibt mir, fragt nach mir, nimmt sich ein wenig Zeit. Wir können ansprechen, was uns gerade bewegt. Ich spüre: ich darf sein, der ich bin. Ich brauche mich nicht verstecken. Als der, der ich bin, bin ich im Blick, bin ich „angesehen“.
Nicht wenige leiden darunter, dass sie diese gute Erfahrung in ihrem Leben viel zu wenig machen konnten. Ja, wenn es ihnen gut ging, wenn sie Leistungen vorzeigen konnten, dann gab es schon mal Lob und Anerkennung. Doch wenn es nicht so gut lief, wenn es Schwierigkeiten gab, wenn einer krank wurde, wenn die sonst übliche Stabilität ins Wanken geriet, blieb die gewünschte Annahme und Wertschätzung dann nicht oft genug aus? Enttäuschung und Verbitterung sowie die Neigung, sich dann ganz zurückzuziehen, sind oft die Folge.
Ich möchte hier aufzwei kleine Schlüsselhinweisen, die helfen können:Der erste: Konzentrieren Sie sich nicht zu sehr auf die Menschen, bei denen Sie eher Distanz oder gar Ablehnung spüren. Deren Verhalten mag viele Gründe haben: uneingestandene Ängste, Vorbehalte und Vorurteile, alte Verletzungen, die sich in die Beziehung zu Ihnen einmischen können.Daherhalten Sie sichzunächst eher an die Menschen, die Ihnen jetzt im Augenblick Annahme und Wertschätzung entgegenbringen!Lassen Sie sich aufschließen für Angebote der Nähe und Begleitung. Die Hinwendung zu denen, die Sie annehmen, lässt die anderen, die das so nicht können, weniger wichtig werden. Bedenken Sie vor allem auch, dass Menschen immer nur auf begrenzte Weise Annahme und Halt geben können. Wünsche nach einer absoluten Annahme oder Liebe führen leicht zu einer Überforderung der anderen, gegen die sie sich dann wehren.
Undder zweiteSchlüssel: Es kann hilfreich sein, sich nicht alle Annahme und Wertschätzung von sich selbst und von anderen Menschen zu erwarten. Wer es wagt, auch mal über sich selbst hinauszuschauen, dem werden vielleicht auch Worte wie diesevon Huub Oosterhuis3gut tun:
„Liebes Licht, Stimme vom Himmel, die sagt,daß wir sein dürfen jetzt, die wir sind.“
Oder jene wunderbaren Worte des Jesaja:
“Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! Weil du wertgeachtet bist in meinen Augen und ich dich lieb habe.“(Jesaja 43, V. 1 u. 4)
Tag für Tag, bei einem Gebet oder eventuell zum Schluss eines kleineren Entspannungstrainings, können Sie solche oder andere Worte wie einen Lichtstrahl in sich fallen lassen und dabei die Wärme eines angenommenen Lebens spüren.
Worte können für uns eine wichtige Rolle spielen. Manche sprechen sogar von der „Macht der Worte“. Andere freilich auch davon, wie ohnmächtig wir uns bisweilen mit unseren Worten fühlen. Worte können wie ein Segen sein. Es gibt aber auch Worte, die sich wie ein Fluch auswirken, aus dessen Bann wir nur schwer herauskommen. Worte können uns tief berühren und erfreuen. Manchmal können wir mit Worten auch etwas in Bewegung bringen. Doch ebenso kann es geschehen, dass Worte ganz an uns vorbeigehen, uns kalt lassen. Auch die Worte, die wir anderen sagen, können ins Leere gehen, andere gar nicht erreichen oder sie vielleicht ganz anders treffen als wir es gewünscht haben. So unterschiedlich, fast gegensätzlich können unsere Erfahrungen mit Worten sein.
Die Worte, die uns gut tun, die wir als ermutigend und aufbauend erleben, sind oft ganz einfache Worte. Schon dass und wie wir etwa bei unserem Vornamen genannt werden, kann sich positiv auswirken. Jemand kennt mich, fragt nach mir, ist an mir interessiert. Das tut gut. Auch mit manch anderen Worten kann sich schnell ein Raum der Geborgenheit und des Wohlwollens auftun: „Schön, dass ich dich wieder sehe; gut, dass Du da bist; ich bin gern bei Dir; ich mag Dich; das gefällt mir an Dir; das hast Du gut gemacht!“ Solche guten Worte klingen oft noch lange in uns nach. Sie sind wie ein kostbarer Schatz, der uns mitgegeben ist.
Und einen solchen kleinen Schatz von guten Worten zu kennen und im Herzen zu bewahren, ist umso wichtiger als wir an der Erfahrung auch von bösen, ja vergiftenden Worten nicht vorbeikommen. Wir werden manchmal ganz unvermittelt von ihnen getroffen, und wir tun uns vielleicht beim Austeilen auch nicht immer gerade schwer. Leicht stellt sich dann eine vergiftete Atmosphäre ein. Die Last der „bösen“ Worte kann so erdrückend werden, dass es schwer fällt, einen neuen Anlauf zu wagen, mit neuen Worten wieder eine Brücke zum anderen zu schlagen. Hilfreich – wieeinkleiner Schlüssel– ist dabeidie Erinnerung an gute Worte, die wir mal gehört oder auch gelesen haben. Worte, die trotz allem, was wir erleben, ihren guten Klang und die Orientierung, die sie geben, nie verloren haben. Es könnenWorteaus der Bibel sein, vielleichtaus den Psalmen, Worte wie diese:
„Gott der Herr ist Sonne und Schild“(Ps. 84 V.12)
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“(Ps. 31 V.9)
„Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? (Ps.27 V.1)
Oder ein Wort Jesu wie dieses:
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen
geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.(Matth.25 V.40)
Vielleicht sind es auchLiedverseaus dem Gesangbuch. KleineGebete, Worte und Melodien, die einmal bei uns angekommen, bei uns auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Worte auch, die uns unabhängiger machen, auf andere, neue Möglichkeiten hinweisen. Sie können uns auf eine Quelle, auf ein Gegenüber konzentrieren, das uns ermutigt, uns mit neuem Vertrauen dem Leben zuzuwenden. Mir hilft es, wenn ich mich etwa an die Worte desLiedeserinnere:
“Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus. Frei sind wir, da zu wohnen und zu gehen. Frei sind wir, ja zu sagen oder nein. Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.“ 4
Diese Worte ebenso wie die Melodie sagen mir: Trau der Wirklichkeit einer Liebe, die auch dir gilt. Vor dir öffnet sich der Blick auf eine Landschaft, auf ein Leben, in dem es wieder Lebendigkeit, frischen Wind und die Weite einer barmherzigen Liebe geben wird. Ein Leben, in dem du dich geborgen, beschützt fühlen kannst. Vielleicht kennen Sie ähnliche Worte, Gedichte, Liedverse. Trauen Sie der Kraft, die davon ausgehen kann.
Auch kritische Worte können ein Gegenüber, ein Korrektiv sein, das uns gut tut, z.B.Wortewie dievonC.G. Jung:
„Bekanntlich versteht man in psychologischer Hinsicht gar nichts, was man nicht selber erfahren hat.“
und„Ohne Not verändert sich nichts, am wenigsten die menschliche Persönlichkeit.“
Mein Favorit unter den Lebens-Worten der Dichter ist ein Wort vonTheodor Fontane5:
„Jeder glückliche Augenblick ist eine Gnade und muss zum Danke stimmen.“
Ein bekanntes Motiv in den Märchen ist das „verbotene Zimmer“ oder die „verbotene Kammer. Im Märchen„Blaubart“6sagt der zu einer Reise aufbrechende König mit dem blauen Bart zu seiner jungen Frau:„Da hast du die Schlüssel zu dem ganzen Schloss, du kannst überall aufschließen und alles besehen, nur die Kammer, wozu dieser kleine goldene Schlüssel gehört, verbiete ich dir; schließt du die auf, so ist dein Leben verfallen.“
Das Märchen„Eisenhans“ erzählt von einem Königssohn, dessen goldener Ball beim Spielen im Hof in den Käfig des„wilden Mannes“, des Eisenhansfällt.Der König„verbot bei Lebensstrafe die Türe des Käfigs zu öffnen.“Der wilde Mann will den Ball nur herausgeben, wenn der Knabe die Tür des Käfigs öffnet: der Schlüssel„liegt unter dem Kopfkissen deiner Mutter, da kannst du ihn holen“.
In den Märchen sind die Bilder von derTürund vom „kleinen goldenen Schlüssel“von tieferer Bedeutung. Es geht um Wandel oder Veränderung, um den Beginn eines neuen, beschwerlichen, ja gefährlichen Weges, der dennoch gewagt werden muss, um ein „ganzer Mensch“ zu werden. Die ganze Fülle des Lebens soll sich dem Sohn oder der Tochter des Königs erschließen. Und beide sind nicht nur irgendwelche Personen, sondern jede, jeder von uns ist prinzipiell eine solche Königstochter oder ein solcher Königssohn!
Bruno Bettelheim7hat in seinem Klassiker„Kinder brauchen Märchen“überzeugend dargelegt, wie wichtig und hilfreich Märchen - in ihren hellen und dunklen Bildern, in ihren dramatischen Geschichten - für eine ganzheitliche emotionale Entwicklung von Kindern sein können:
„Die Märchen vermitteln wichtige Botschaften auf bewußter, vorbewußter und unterbewußter Ebene… Da es in ihnen um universelle menschliche Probleme geht und ganz besonders um solche, die das kindliche Gemüt beschäftigen, fördern sie die Entfaltung des aufkeimenden Ichs; zugleich lösen sie vorbewußte und unbewußte Spannungen.“ – „Niemals flößt das Märchen dem Kind ein Unterlegenheitsgefühl ein. Es vermittelt vielmehr Zuversicht, Hoffnung auf die Zukunft und das Vertrauen auf einen glücklichen Ausgang.“
Aber nicht nur Kinder brauchen Märchen, auch Erwachsene brauchen sie. Denn Jahrhunderte lang haben Erwachsene vor allem anderen Erwachsenen Märchen erzählt. Kinder waren nie ausgeschlossen, aber nicht die einzigen Adressaten. Viel später erst hat man sie vorwiegend Kindern erzählt, obwohl sie eigentlich von Krisen und Problemen, von Entwicklungs- und Reifungs-Geschichten handeln, die viele Lebensstufen oder Lebensalter betreffen.
Märchen erzählen Geschichten, und dies in vielenBildern, Zeichen, Symbolen,die in etwaTraumbilderngleichen. In der Ausdrucksweise der Bildsprache weisen diese Bilder auf eine tiefere Wirklichkeit, auf ein tieferes Ganzes hin. Sie künden von uralter Weisheit und sprechen auch Sehnsüchte und Hoffnungen an, die über die sichtbare Welt hinausgreifen. Seinen eigenen Weg im Leben zu erahnen, zu erkennen und ihm unbeirrbar zu folgen, dafür ist die Sprache der Bilder oft wirksamer als das Bemühen, alles bis ins letzte Detail rational zu erfassen.
Ein wichtigerkleiner Schlüsselkann es daher sein,die Bilder oder Symbole in den Märchen für sich selber wieder als Lebensbilder zu entdeckenund sie von vornherein auf sich selber zu beziehen. Einige Beispiele möchte ich dafür nennen:Könige oder Prinzensind ein Bild für das„Selbst“, für den zu seinem Ziel findenden Menschen. Wir alle haben eine„königliche Berufung“!In uns allen ist etwas angelegt, das sich entfalten möchte. Der Mensch soll zu seiner ihm möglichen„herrscherlichen Würde“gelangen. Die Bilder von der Hochzeit, vom Antritt eines großen Erbes, von der Inthronisation sind symbolische Aussagen über die Menschwerdung des Menschen.
Der Brunnenist ein Ort, wo Diesseits und Jenseits miteinander verbunden sind (z.B. in Eisenhans, Frau Holle, der Teufel mit den drei goldenen Haaren). Oft braucht es eine Zeit des Wartens, bis geholfen wird. Das Herauskommen aus dem Brunnen ist wie eine neue Geburt ins Leben hinein. Aus der anderen Welt fließen Belebung und Reichtum herüber in die reale Welt. Der Mensch am Brunnen, in Beziehung auch zur jenseitigen Welt, ist Bürger zweier Welten.
Der Waldist ein Bild für die Seele. Er birgt viel Leben, gehört zum Leben. Er ist ein Bereich, der oft vom Leben ausgeschlossen und schmerzlich vermisst wird. So ist der Wald ein Hinweis auf diesen vom Leben ausgesparten Bezirk, von dem bisweilen eine unheimliche Stille ausgeht.
Der goldene Ballist natürlich auch ein Bild für Ganzheit, für das„Selbst“. Einen solchen goldenen Ball haben wir alle! Es ist nur wichtig zu wissen, wo wir ihn verloren haben. Meist ist er ja dort zu finden, wo wir ihn am wenigsten vermuten, etwa in der aggressiveren oder auch erotischen Seite unseres Lebens.
Der Baumwird auch sonst häufig mit dem Menschen verglichen: Er steht aufrecht wie der Mensch, wächst, vergeht, trägt Früchte. Er steht in Verbindung sowohl zur Erde wie auch zum Himmel. Aufgabe für jeden Menschen individuell ist es, seinen Baum, sich selber zu finden, ihn zu lieben, auch mit seinen Wunden und toten Ästen, mit der ihm eigenen Schönheit und den Früchten, die zu ihm gehören.
Auch die den Märchen eigenetypische Entwicklungsgeschichtegilt es, für sich selber zu erschließen mit all den verschiedenenStadien eines Weges, die dazu gehören:Abschied, Abreise, Aufbruch; Begegnung mit der gefährlichen Welt; erste Bewährung; Ohnmacht und Krise; der Helfer; die rettende Tat; das Ziel, Hochzeit, Fest, Thronbesteigung.Abkürzungen, Umgehungen, Aussparen oder vermeiden einzelner Stadien sind weder sinnvoll noch möglich. Es geht durch Höhen und Tiefen und der Kontrast eines auch möglichen Scheiterns an der Lebensaufgabe steht stets mit vor Augen.
Ein weitererkleiner Schlüsselkann es sein, sich zu fragen:Kann ich michan ein Märchen erinnern, vielleicht an ein Lieblingsmärchen aus meiner Kindheit?Oder vielleicht auch nur an ein einzelnes Märchenmotiv oder Bild?und wenn ja, dann versuche doch mal, diesem, deinem Märcheneine neue Überschriftzugeben! Mit einer solchen neuen Überschrift trifft man oft schnell ins Schwarze, berührt einen zentralen Punkt im eigenen Leben!
Als ich das Experiment bei mir selber machte, erinnerte ich mich sofort an das Bild vomEisenhansin unserem Märchenbuch aus frühen Tagen: ein Mann im Sumpf, mit langen Haaren, rostig rot, etwas unheimlich, aber zugleich anziehend. Ganz schnell gab ich dem Märchen eineneue Überschrift: „Von der Befreiungdieses Märchens und seine Geschichte mit mir selber zu tunhaben könne. Ein Grundthema, eine Grundmelodie und auch Aufgabe war für mich mit dieser Überschrift getroffen.
Und darauf kommt es ja an, sich von den Gestalten, Bildern, Symbolen und Entwicklungen in den Märchen anrühren zu lassen, sich einbezogen, sich mit hinein genommen zu fühlen, um dann - in einem fast spielerischen Umgang damit - Berührungspunkte im eigenen Leben wahrzunehmen, bis hin zum Impuls und Bereitwerden für neues, mutiges Handeln. Die Lebenshilfe, die Märchen uns auf diese Weise geben, ist vielleicht vergleichbar mit der Hilfe, die die Aufmerksamkeit für Träume oder Traumbilder uns schenken kann.
Abschließend möchte ich besonders aufdie Interpretationen vieler Märchen von Eugen Drewermann8hinweisen. Auch wenn man sonst manche Position Drewermanns nicht teilen mag, seine Märcheninterpretationen sind von großer Kenntnis und Einfühlung gekennzeichnet. Sie eröffnen neue, spannende Einblicke in die Erzählungen und die Dynamik der Märchen. Viel Neues und zutiefst Berührendes habe ich von diesen Interpretationen gelernt.