Ein Laden voller Hygge-Glück - Rosie Blake - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Laden voller Hygge-Glück E-Book

Rosie Blake

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das perfekte Wohlfühl-Buch für kalte Tage: einkuscheln und loslesen.

Ein kleines Dorf entdeckt das Geheimnis des Glücks!
Der Winter naht bereits, als die Dänin Clara Kristensen nach Yulethorpe kommt. Doch die Stimmung in dem englischen Dorf ist gedrückt: Gerade hat die Besitzerin des letzten kleinen Geschäfts, eines Spielwarenladens, aufgegeben und ist weggezogen. Clara erkennt: Yulethorpe braucht Hilfe. Kurzerhand übernimmt sie das Spielzeuggeschäft und macht es zu einem Ort voller Wohlfühl-Glück – oder »Hygge«, wie man in ihrer Heimat sagt. Doch dann taucht der Sohn der Besitzerin auf. Joe ist ein durch und durch erfolgsgetriebener Großstadtmensch. Kann Clara ihm beibringen, dass es im Leben mehr gibt als Geld, E-Mails und Hektik? Nämlich Freunde, Wärme, Stille, Kerzenschein – und Liebe?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 439

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Es ist Herbst in Yulethorpe, und alle Bewohner des kleinen Ortes sind niedergeschlagen, was nicht nur am Wetter liegt. Ein Geschäft nach dem anderen musste schließen, und jetzt kehrt auch noch die Besitzerin des kleinen Spielzeugladens England den Rücken, um in wärmere Gefilde zu fliehen. Ein Glück, dass genau zu diesem Zeitpunkt Clara Kristensen auftaucht. Sie beschließt, den Spielzeugladen zu retten, um Kindern und Erwachsenen ein Stück Lebensfreude zu bewahren. Doch dann taucht der Sohn der Besitzerin auf, der Claras Motiven zutiefst misstraut. Was führt sie wirklich im Schilde? Denn dass jemand so viel Mühe aufwendet, ohne ans Geld zu denken, kann sich Joe beim besten Willen nicht vorstellen. Wird es Clara gelingen, den auf Gewinnmaximierung fixierten Joe, der keine Sekunde ohne Handy sein kann, zu einem entschleunigten Leben zu bewegen? Kann sie ihn für Spaziergänge, Essen mit Freunden, Kerzenlicht – und vielleicht sogar für die Liebe – gewinnen?

Autorin

Rosie Blake hat bereits während des Studiums Stücke geschrieben und sich dabei an Klassikern orientiert – auch an modernen: Die Aufführung von »Harry Potter: Das Musical« (mit dem Eröffnungssong »Der Schrank unter der Treppe ist mein Zuhaus’«) war ein großer Erfolg. Später verfasste sie Reportagen für verschiedene Zeitschriften und Magazine wie z. B. die Cosmopolitan. Ihre Karriere als Romanautorin begann 2014 mit einer romantischen Komödie.

Rosie Blake

Ein Laden voller Hygge-Glück

Roman

Aus dem Englischenvon Claudia Franz

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel»The Hygge Holiday« bei Sphere,an imprint of Little, Brown Book Group, London
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Rosie BlakeCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, MünchenRedaktion: Regina CarstensenAB · Herstellung: kwSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-23267-2V002
www.goldmann-verlag.de

Für Barnaby – unseren wunderbaren Sohn

Kapitel 1

Clara war erst zehn Minuten dort, als es geschah.

Alles hatte wie ein gewöhnlicher Dienstagabend begonnen. Der Pub war leidlich gut besucht. In der Ecke saß ein junges Paar. Der Mann hatte erkennbar Schwierigkeiten, auf der schmalen Holzbank eine bequeme Haltung zu finden; die hübsche Frau auf dem Stuhl ihm gegenüber war dezent in Jeans und einen schwarzen Kaschmirpullover gekleidet und hatte das rotblonde Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Eine etwas ältere Frau mit starkem Lidstrich und kastanienbraun gefärbtem Haar saß auf einem Barhocker am Tresen und leerte eine Flasche Rotwein. Der hünenhafte Barkeeper, der ihr gelegentlich nachschenkte, hatte eine Tätowierung am Arm, irgendeinen Vogel, den Clara nicht genau erkennen konnte. Ein weiterer Mann, etwa gleich alt, vermutlich aber nur halb so groß, schaute traurig in sein Glas. Er warf der Frau am Tresen verstohlene Blicke zu und strich sich das schüttere Haar über die kahle Stelle am Schädel. In einer Ecke, neben einem leeren Schwarzen Brett und gegenüber der Stehlampe, in deren Licht Clara ihr Buch las, blinkte und piepte in gewissen Abständen ein Spielautomat.

Plötzlich erschien eine Frau in der Tür. Ihre Haare waren nass, obwohl es nicht regnete. Sie trug einen türkisfarbenen Wollmantel und violette Gummistiefel. Mit ausgebreiteten Armen marschierte sie auf den Tresen zu. »Einen Gin Tonic, Gavin, einen doppelten. Und nicht zu viel Tonic bitte«, rief sie. »Ich bin am Ende«, verkündete sie dann. Sämtliche Köpfe drehten sich zu ihr um, auch der von Clara. »Aus und vorbei. Ich mach den Laden dicht. Als ich gerade in der Dusche war, dachte ich, Scheiße, ich kann nicht mehr. Schluss, aus, Feierabend.«

Gavin hielt inne, den Mund aufgesperrt, die Hand an der Ginflasche.

»Der Gin gelangt nicht von alleine ins Glas, Gavin«, sagte die Frau und zog den türkisfarbenen Mantel aus, unter dem ein knallpinkfarbener Thermoschlafanzug zum Vorschein kam. »Die Flasche nehme ich mit nach Hause. Meine ist leer, und ich brauche unbedingt etwas Starkes. Man braucht etwas Starkes, wenn man eine schwere Entscheidung getroffen hat. Baileys reicht in Momenten wie diesem nicht aus.«

»Immer mit der Ruhe, Louisa. Erzähl doch erst einmal, was los ist«, bat Gavin und holte ein Cocktailglas unter dem Tresen hervor.

Die Frau mit dem starken Lidstrich murmelte: »Was für ein Drama.«

Clara sah, dass Louisa ihr einen giftigen Blick zuwarf.

Gavin füllte das Glas mit Eiswürfeln. »Nun komm schon, Louisa, meine Liebe. Geteiltes Leid ist hal – «

Louisa trat an den Tresen. »Himmel, du klingst ja wie eine dieser geschmacklosen Grußkarten, Gavin. Aber gut«, sagte sie und warf ihren Mantel über einen Barhocker. »Auf einen Drink bleibe ich, aber du wirst mich nicht umstimmen. O nein, ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich gehe gleich wieder zurück und buche den Flug.«

»Den Flug?« Gavin machte eine unglückliche Bewegung und verschüttete Tonic Water.

»Den Flug. Ich bin auf und davon. Spanien. Hier halten mich keine zehn Pferde mehr«, verkündete Louisa, griff zu ihrem Glas und nahm einen Schluck. Nachdem sie sich theatralisch die Lippen geleckt hatte, erklärte sie: »Gin – die größte Erfindung aller Zeiten.«

»Und was wird aus dem Laden?« Gavin schaute sie an, die Finger wie zehn Würste auf dem Tresen aufgefächert.

»Der bleibt dicht«, antwortete Louisa nach einer Weile.

»Was meinst du mit ›der bleibt dicht‹?«

»Dicht eben. Schluss, aus, Feierabend. Ich werde in aller Stille schließen. Das merkt sowieso niemand.«

»Aber bald ist doch Weihnachten, und …«

»Frauen sind gar nicht in der Lage, in aller Stille zu handeln«, schnitt die Frau am Tresen Gavin das Wort ab. Ihre schmalen Lippen waren rot vom Wein, und ihr Gesicht wirkte verwittert, als würde sie an der freien Luft arbeiten.

»Roz!« Gavin schenkte ihr nach und warf ihr über die Flasche hinweg einen warnenden Blick zu.

Louisa schoss zu ihr herum. »Was soll das denn heißen?«

Der ganze Pub schien die Luft anzuhalten. Das Pärchen am Tisch lauschte sichtlich gebannt, und der Mann mit dem spärlichen Haarwuchs, der sich an seinem leeren Glas festhielt, starrte jetzt ungeniert hinüber. Selbst Clara, die sich nach dem langen Tag mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken eigentlich nur noch nach dem schmalen Bett oben im Dachgeschoss sehnte, konnte den Blick nicht losreißen.

»Bist du schwer von Begriff?« Roz reckte das Kinn und schaute von der Höhe ihres Barhockers auf Louisa hinab.

Die stand mit tropfendem Haar und knallroten Wangen da. »Von dir Dörrpflaume, die kein Feuer mehr im Arsch hat, lass ich mir gar nichts sagen.«

Der Mann mit der Glatze fuhr auf, ein wildes Funkeln in den Augen. »Hey, sie ist keine Dörrpflaume!« Dann schlug er schnell die Hand vor den Mund, als hätte er Angst, dass noch mehr Worte heraussprudeln könnten.

Louisa schaute ihn an. »Wirfst du dich für deine Geliebte in die Bresche, Clive?«

»Sie ist nicht meine …« Im selben Moment wurde er rot und senkte den Kopf, sodass nur noch die kahle Stelle zu sehen war.

»Keine Sorge, Clive, sie tut es sowieso nicht«, sagte Roz. »Die spielt sich nur auf. Gleich geht sie nach Hause, föhnt sich das Haar und besinnt sich eines Besseren.«

»Ah, verstehe.« Louisa knallte ihr Glas auf den Tresen. Einer der kaum geschmolzenen Eiswürfel hüpfte heraus und fiel zu Boden. »Du denkst offenbar, das gibt sich schon wieder. Das ist nur eine fixe Idee.«

»Eine von vielen«, sagte Roz mit Nachdruck und wandte sich erneut dem Tresen zu.

»Von wegen«, erwiderte Louisa. »Gavin, noch einen Gin«, rief sie und blitzte die Frau mit dem Rotwein weiter an. Die schien an ihren Fingern mit den dunkelviolett lackierten Nägeln etwas abzuzählen.

»Da war der Strickkurs, dann die glutenfreie Phase, dann dieses ganze Affentheater wegen Nick …« Sie hielt inne und verdrehte die Augen. »Nach Nick dann Reg … Ach ja, den Fimmel mit der Vogelbeobachtung nicht zu vergessen. Hier drinnen hast du Geld gesammelt, weil du unbedingt nach Island fahren wolltest, um Papageientaucher zu beobachten – wozu es natürlich nie gekommen ist. Clive hat fünf Pfund beigesteuert …«

»Alle denken, Papageientaucher seien Verwandte der Pinguine, dabei gehören sie tatsächlich einer ganz anderen Familie an«, murmelte Clive in sein Bierglas.

Mit so etwas hätte Clara nicht gerechnet, als sie vor ein paar Stunden zufällig in diesen Pub gestolpert war. Eigentlich wollte sie längst im Bett liegen, erschöpft, wie sie war. Aber das hier war besser als jede schmalzige Fernsehserie.

»… dann der Online-Kurs ›Englische Literatur für Erwachsene‹ oder der Buchclub, den du unbedingt ins Leben rufen wolltest. Nicht ein einziges Mal haben wir uns getroffen, sodass ich Mansfield Park vollkommen umsonst gelesen habe. Diese Fanny Price dürfte die langweiligste Frau der Literaturgeschichte sein. Ich dachte, ich sterbe, bevor ich das Buch durchhabe …«

Viel zu spät hatte sie sich auf die Suche nach einer Unterkunft für die Nacht gemacht, vollkommen versunken in den atemberaubenden Sonnenuntergang über der flachen Landschaft. Der Tee in ihrer Thermoskanne war noch heiß, als sie die orange- und rosafarbenen Fetzen am Himmel bewunderte. Die Fenster des Pubs warfen helle Flecken auf den Boden, und die Silhouetten der Menschen im Innern waren schon aus großer Entfernung zu erkennen.

Als sie sich dem Haus näherte, schaute sie zu dem gewaltigen Strohdach hoch, das auf den gekalkten Mauern lastete. Ein kleines handgeschriebenes Schild im Fenster verkündete »Bed & Breakfast«, und sie verspürte eine gewaltige Erleichterung. Beim Eintreten hievte sie den Rucksack hoch und hoffte inständig, dass noch ein Zimmer frei war. Sie sah schon das Steak mit Kidneybohnen vor sich, das sie vor einem prasselnden Kaminfeuer verspeisen und mit einem großen Ale hinunterspülen würde, um dann noch ein wenig in ihrem Buch zu lesen und schließlich ins Bett zu fallen. Die Realität sah anders aus.

Im Licht der nackten Glühbirne, die zwischen den schweren Holzbalken baumelte, konnte Clara die Flecken auf dem roten Teppich mit dem Schnörkelmuster nicht übersehen. Schlammverkrustete Blätter überzogen den Boden; weitere wehten herein, als sie in der Tür stand. Essen konnte man in dem Pub nicht, und für die »Übernachtung mit Frühstück« stand nur eine Dachkammer zur Verfügung. Auf einem Tablett lagen ein Minipäckchen Müsli und eine Banane.

Allerdings konnte sich Clara beim besten Willen nicht nach einer anderen Unterkunft umschauen, und die Bar wirkte durchaus gemütlich. Trauben von roten Samtstühlen gruppierten sich um walnussbraune Tische herum, und mitten im Raum stand ein hufeisenförmiger Tresen, an dem ein paar Gäste saßen. Clara bestellte gesalzene Essigchips, zwei Snickers und ein Pint des lokalen Ales. Nach dem zweiten Glas hatte sie ihr Verlangen nach einem ordentlichen Mahl vergessen und vertiefte sich zufrieden in ihr Buch, eingekuschelt in einen vielfach geflickten Sessel, der neben dem einzigen Heizkörper und der einzigen Lampe im Raum stand. Dann erschien dieser weibliche Wirbelwind mit den nassen Haaren, und der Abend nahm seinen Lauf.

»… der Pilates-Kurs, wo du nie aufgekreuzt bist. Ganz zu schweigen von der Töpferscheibe, die du auf Gumtree gekauft hast, weil du unbedingt deine eigenen Auflaufförmchen töpfern wolltest …«

Louisa schien in sich zusammenzusacken, als Roz’ Liste immer länger wurde. Sie presste die Hände auf die Ohren und schüttelte den Kopf, weil sie offenbar hoffte, dass die Frau irgendwann ein Ende fand.

»… und dann die Geschichte damals, als du das Giraffenbaby in Niger adoptiert und uns alle eingeladen hast, um uns die Dias von seinem ersten Lebensjahr zu zeigen – nur dass leider der Projektor defekt war …«

»Nein«, meldete sich Louisa mit lauter Stimme zu Wort. »Nein, nein. Dieses Mal fahre ich. Nach Spanien. Ich mach den Laden dicht. Ich werde den Flug buchen.«

»Du hängst aber doch an dem Laden«, sagte Gavin und schob ihr einen zweiten Gin Tonic hin.

»Sie wird es nicht tun, Gavin. Alles nur Gerede. Blablabla.« Roz war jetzt richtig in Fahrt.

»Von wegen«, sagte Louisa, die sich langsam im Griff hatte. »Ich werde den Laden schließen. Es kommt sowieso niemand. Man braucht mich hier nicht mehr.«

Clara fragte sich, was es wohl sein mochte, das niemand mehr brauchte. Hatte Louisa ein Internetcafé? Oder einen DVD-Verleih?

»Na schön, dann verschwinde eben. Buch deinen Flug. Wir werden dich vermissen«, sagte Roz und verdrehte abermals die Augen.

Die Blonde mit dem tiefen Pferdeschwanz war aufgestanden und trat zu Louisa. »Wir werden dich sehr vermissen. Willst du wirklich gehen?«

Roz knallte mit der Hand auf den Tresen. »Sie wird nicht gehen, Lauren.«

Die Blonde fuhr herum. »Man muss sie aber auch nicht fortekeln.«

Roz kniff die Augen zusammen.

Der Begleiter der blonden Frau war auf der Bank sitzen geblieben, schaute hilflos zu den Frauen empor und schob die Brille an die Nasenwurzel. »Schatz, sollten wir jetzt nicht lieber …« Er blickte zur Tür hinüber und wollte offensichtlich die Flucht ergreifen, bevor es zu Handgreiflichkeiten kam.

Die drei Frauen an der Theke funkelten sich immer noch an.

»Dann wird es auf der High Street keinen einzigen Laden mehr geben«, sagte Gavin. Sein Doppelkinn wabbelte. Clara verspürte das spontane Bedürfnis, hinter die Theke zu treten und ihn in die Arme zu nehmen.

»Ich kann die Verantwortung nicht mehr alleine tragen, Gavin«, sagte Louisa und breitete die Arme aus. »Das ist zu viel für eine schwache Frau.«

Bei dem Wort schwach prustete Roz in ihren Wein.

»He«, rief die Blonde.

Louisa schien es gar nicht bemerkt zu haben. »Ich kann einfach nicht mehr so weitermachen. Immer diese Hoffnung, dass sich etwas ändert. Es gibt nichts Schlimmeres, als in einem Spielzeugladen zu versauern, wo es eigentlich von glücklichen Kindern wimmeln sollte.« Sie war den Tränen nahe und ließ sich auf einen Barhocker sinken; die nassen Locken hingen ihr ins Gesicht. Clara war drauf und dran, zu ihr zu gehen und sie zu trösten. Nun legte aber die blonde Frau Louisa den Arm um die Schultern und redete beruhigend auf sie ein.

»Oje, jetzt öffnen sich sämtliche Schleusen.« Roz seufzte.

»Sie ist mit den Nerven am Ende«, fuhr die Blonde sie an.

Roz zuckte mit den Achseln und trank ihren Rotwein aus. »Diese Frau veranstaltet ständig irgendein Theater. Das kennen wir doch schon.«

»Gleich wirst du wieder von diesem Fest anfangen, was?« Louisa schaute sie trotzig an. »Das war wirklich keine Absicht damals.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, spottete Roz.

»Roz«, flüsterte Clive von seinem Platz in der Nähe.

Sie schaute ihn an. »Halt du dich da raus. Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich in Schutz genommen hättest.«

»Nicht schon wieder dieses Fest!« Gavin warf beiden einen Blick zu. »Könnt ihr die Sache nicht endlich auf sich beruhen lassen?«

Clara fragte sich, was in drei Teufels Namen bei diesem Fest passiert sein mochte, dass es die Stimmung derart vergiftete.

»Vergiss es, Gavin«, sagte Louisa leise und wischte sich das Gesicht ab. »Gib mir einfach die Flasche.«

»Ich weiß nicht …«

»Wenn du dich weigerst, geh ich eben. Ich habe noch tausend Dinge zu erledigen, und zur Not tut es der Baileys.«

Damit war sie, so schnell sie gekommen war, auch wieder verschwunden, in einem Wirbel aus Türkis. Kalte Luft rauschte herein, als sie die Tür aufriss und den Pub verließ. Sämtliche Blicke folgten ihr.

Kapitel 2

Clara war schon immer eine Frühaufsteherin gewesen. Die Sonne nagte bereits an dem dünnen roten Vorhang, der vor dem kleinen, in die Dachschräge eingelassenen Fenster hing. Clara kniete sich aufs Bett und zog den Stoff zurück.

Als sie in die Wintersonne blinzelte und die Aussicht erblickte, schlich sich ein Lächeln in ihr Gesicht. Sie legte den Riegel um und öffnete das Fenster. Beißende Kälte schlug ihr entgegen. Auf dem Rasen unten im Garten glitzerte der Frost, die Bänke waren weiß gefleckt. Jenseits der Hecke, die den Garten abschloss, eröffnete sich der Blick auf die Felder. In manche waren gleichmäßige Furchen gepflügt, auf anderen schimmerten grüne Flecken durch die dünne, in der Morgensonne funkelnde Diamantkruste. Rosafarbene und blassblaue Streifen zogen sich über den Himmel. Clara verspürte die vertraute Erregung, die das Anbrechen eines neuen Tags in einer fremden Umgebung begleitete.

Die Müslipackung und die müde tröpfelnde Dusche ignorierte sie. Stattdessen kramte sie in ihrem Rucksack und zog ihre Jeans und einen dicken Wollpullover an. Irgendwo fand sie auch noch eine Mütze, unter der sie die stumpfen, leicht fettigen blonden Haare verstecken konnte. Sie ließ ihre Sachen im Zimmer, schlich sich die Holztreppe hinab, durchquerte Bar und Küche und verließ den Pub durch die Hintertür.

Die Läden würden um diese Zeit noch geschlossen haben, das war ihr klar, aber sie hegte die stille Hoffnung, dass sie einen gutherzigen Bäcker finden würde, der sie schon einmal hereinließ. Den Geschmack von hefig warmen Backwaren hatte sie förmlich auf der Zunge, und sie schnupperte, ob vielleicht ein verräterischer Duft auszumachen war. In dem Städtchen schien es allerdings überhaupt keinen Bäcker zu geben. Und ein Café auch nicht. Als sie die Hauptstraße entlangging, registrierte sie vielmehr schockiert die vielen »Zu verkaufen«-Schilder in den Schaufenstern; bestenfalls ein paar Stühle oder Teppichrollen waren darin zu sehen. Andere Läden waren komplett vernagelt. Selbst Graffiti schienen uninspirierte Kringel aus hässlicher Sprühfarbe zu sein. In die Staubschicht an einem Schaufenster hatte jemand etwas geschrieben, in einem anderen hing ein Schild, das den Räumungsverkauf ankündigte.

Sie steckte die Hände in die Taschen. Der Wind frischte auf, als sie sich in der verlassenen Straße umsah. Unwillkürlich musste sie sich vorstellen, was in den Sommermonaten hier los gewesen sein mochte, wenn die Blumenkästen von Farben überquollen und in den gepflasterten Seitenstraßen unzählige Schätze warteten: versteckte Läden, hoch aufgetürmte Antiquitäten, Cafés, die Smoothies und Säfte anboten. Bestimmt waren viele Menschen durch das Dorf gebummelt, bevor sie zu einem Spaziergang durch die Felder aufbrachen und sich an der Landschaft erfreuten. Was war hier nur geschehen?

Selbst nach all den Jahren, die sie nun schon in England lebte, war sie immer noch überrascht, wie malerisch viele Städte hier waren, mit all diesen dicht aneinandergedrängten Häuschen. Sie waren so ganz anders als der Ort in Dänemark, in dem sie aufgewachsen war. Wie immer, wenn sie an ihr Zuhause dachte, hatte sie einen Kloß im Hals. Sie schluckte, damit er verschwand.

Dann blieb sie stehen und betrachtete ein ziemlich auffälliges Geschäft. An der weinroten Fassade stand in goldenen Lettern »Alden Toys«. Ein Spielzeugladen. Die Gestaltung war kitschig, fiel aber ins Auge. Clara runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass dies der frisch geschlossene Laden sein musste. Es erfüllte sie mit großer Traurigkeit, dass die Menschen, die in den nächsten Wochen Weihnachtsgeschenke besorgen wollten, vor verschlossener Tür stehen würden. Das dunkle Innere passte so gar nicht zu der munteren Fassade.

Sie erreichte das Ende der High Street, die hinter einer baumbestandenen Kurve verschwand. Auf der anderen Straßenseite stand eine kleine Kirche, die man durch ein überdachtes Friedhofstor erreichte. Dahinter begannen die Felder. Die Stadt war ein wunderschönes, romantisches Fleckchen, aber Clara hatte das Gefühl, der einzige Mensch hier zu sein. Sie schaute zur High Street zurück, schloss die Augen und holte tief Luft.

»Noch einmal, noch einmal.«

Sie riss die Augen auf, als sie die Stimme hinter sich hörte.

»Wirklich? Na gut.«

In einer Nebenstraße erklang ein Lied: »Fünf kleine Entchen gingen schwimmen, über den Berg und weit hinaus. Mama Ente sagt: ›Quak, quak, quak, quak‹, doch nur vier kleine Entchen kamen nach Haus …«

»Warum?«, fragte eine Kinderstimme.

»Das habe ich dir doch schon erklärt«, sagte die Frauenstimme. »Weil ein Entchen weggelaufen ist, mein Schatz. Also sind nur noch vier übrig.«

»Was ist mit der Ente, die weggelaufen ist?«

»Nichts Schlimmes.«

»Ist sie gestorben?«

»Nein. Ich bin mir sicher, dass sie nicht gestorben ist.«

»Hat sie sich das Bein gebrochen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Am Ende kommt sie ja zurück.«

»Warum?«

»Weil sie ihre Mama vermisst, vermutlich. Du würdest mich ja auch vermissen, oder?«

»Vielleicht.«

»Was meinst du mit vielleicht? Natürlich würdest du mich vermissen. Wer würde dir denn sonst Pfannkuchen machen?«

»Daddy.«

»Gut, da hast du natürlich recht. Und wer würde dir Saft geben?«

»Oma.«

»Unsinn. Oma würde dir nie Saft geben, weil er angeblich zu viel Zucker enthält.«

»Ich mag Zucker.«

»Ich weiß.«

»Noch einmal, noch einmal.«

Ein Seufzer war zu hören. »Na gut. Aber jetzt fange ich gleich da an, wo nur noch eine Ente übrig ist. Deine Aufmerksamkeitsspanne ist leider … RORY.«

Ein Kleinkind war aus der Seitenstraße gerannt und blieb wie angewurzelt vor Clara stehen, die Augen panisch aufgerissen. Dann machte es auf der Stelle kehrt und rettete sich hinter das Bein seiner Mutter.

»Was ist denn? Ich hatte dir doch gesagt, dass du nicht so renn – Oh, hallo.« Es war die rotblonde Frau von gestern Abend aus dem Pub – Lauren, die Louisa getröstet hatte. »Entschuldigen Sie bitte, wir stören die herrliche Ruhe hier.«

Clara betrachtete sie, ihr unfassbar glattes Haar, ihren Kamelhaarmantel und die Sommersprossen auf der Nase, die das einzig Unordentliche an ihr waren. »Kein Problem. Ich fand das Lied ziemlich lustig.«

Lauren legte den Kopf in die Hände, die in Lederhandschuhen steckten. »O Gott, wie peinlich.«

Clara lachte. »Nein, wirklich, es war wunderbar. Ich hatte es noch nie gehört«, erklärte sie. »Bei mir daheim kennt man dieses Lied nicht.«

»Wo ist denn bei Ihnen daheim?«

»In Dänemark. Bei uns geht es eher um Fische als um Enten.«

»Dann sind Sie ja weit weg von der Heimat«, stellte Lauren fest.

Clara nickte, verspürte aber keine Lust, das Thema zu vertiefen.

Lauren, die Claras Stimmungswechsel nicht bemerkte, erläuterte: »Nun, es geht um fünf Enten, die wegrennen und dann alle zurückkehren. Eine richtige Geschichte ist das nicht. Rory hat schon recht, wenn er ein paar Fragen an das Lied hat.«

»Rory recht, Rory recht.« Der kleine Junge begann, um seine Mutter herumzulaufen.

»Die Küken haben kein Gespür für Gefahr, aber an der Kompetenz der Mutter kommen einem doch Zweifel – ich meine, wenn man schon zwei verloren hat, würde man es sich gut überlegen, ob man sie noch einmal alleine losziehen lässt.«

Clara lachte. Das Geräusch schien in der Straße widerzuhallen. »Wirklich verantwortungslos, diese Entenmama.«

»Andererseits sollte ich mich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, da ich kaum ein einziges Kind bändigen kann«, sagte Lauren mit Blick auf Rory, der soeben kopfüber vom Ende der Bank herabhing. »Rory, pass auf.«

»Passauf, passauf, passauf«, wiederholte er und ließ mit einer Hand los. Seine Pudelmütze fiel zu Boden, und sein hellbraunes Haar wallte wie ein Vorhang herab.

»Um diese Zeit begegnen wir fast nie jemandem, aber Rory dreht durch, wenn er nicht rauskommt. Und ich hasse es ehrlich gesagt auch, zu Hause zu hocken und ständig daran erinnert zu werden, dass noch ein Stapel Bügelwäsche auf mich wartet und die Spüle von Töpfen überquillt.« Lauren streckte eine Hand aus, während Rory nun auf wackeligen Beinen zurückgetrippelt kam. »Ach so, Entschuldigung, ich heiße Laur – RORY! NEIN!«, rief sie. Die ausgestreckte Hand sauste hinab, um Rory daran zu hindern, ein leeres Schokoladenpapier aufzuheben. »Lauren«, beendete sie den Satz und nahm ihren Sohn auf den Arm. »Und das hier ist, wie du schon gehört hast, Rory.«

»Ich heiße Clara.«

»Schön, dich kennenzulernen«, sagte Lauren, während Rory nun wild strampelte, damit sie ihn wieder freigab. »Setz dich auf die Bank«, rief sie, als Rory in die andere Richtung davondüste. »Verflucht, er scheint auf einem Ohr taub zu sein«, kommentierte sie lachend. »Tut mir leid, Kinder sind nicht die höflichsten Zeitgenossen. Letzte Woche ist er im Supermarkt zu einem alten Mann gegangen und hat ihn aufgefordert, ihn ins Pipimännchen zu boxen. Ich stand vor dem Müsliregal und wäre am liebsten im Boden versunken.«

Clara verzog das Gesicht und bewunderte Lauren für ihre Energie. »Weißt du übrigens, wo ich hier etwas zu essen bekomme?«, fragte sie dann. »Eigentlich hatte ich gehofft, irgendwo ein Schokocroissant oder einen Muffin kaufen zu können. Oder wenigstens … Na ja, mit einem Kaffee wäre ich schon zufrieden.«

Lauren zuckte mit den Achseln, und ihr Lächeln erlosch. »So etwas gibt es nur noch online. Oder im großen Supermarkt in der nächsten Stadt, falls du ein Auto hast. Aber da fährt man eine Weile.«

Clara schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Auto.«

»Sehr umweltfreundlich.«

»Nein, ich habe einfach nie einen Führerschein gemacht. Bei uns zu Hause kosten Autos ein Vermögen, und ich bin immer überall zu Fuß hingegangen. Damals in …« Clara ließ den Satz in der Schwebe, weil sie den Namen ihrer Heimatstadt nicht aussprechen wollte. Sie wollte nicht einmal mehr daran denken. »Es besteht also keine Aussicht, irgendwo etwas zu bekommen?«

Lauren seufzte und schlang die Arme um den Oberkörper. »Früher gab es mal das Bertie’s. Das war ein großartiges Restaurant, in dem man auch wunderbar frühstücken konnte, nicht übertrieben gesund, aber einfach göttlich – French Toast, Banane und eine Menge Bacon mit Ahornsirup. Mir fehlt Bertie«, sagte sie wehmütig.

»Wo ist er denn hin?«

»Er hat das Restaurant vor über sechs Monaten in die nächste Stadt verlegt, als einer der Letzten, die gegangen sind. Und jetzt …« Lauren zeigte auf den Laden von »Alden Toys«. »Aber sag das bloß nicht laut. Wenn Du-weißt-schon-Wer uns hört, bricht die Welt einer kleinen Person zusammen, ehe es acht Uhr geschlagen hat. Das wirst du nicht erleben wollen.«

Clara nickte. Ihr war klar, dass Lauren sich alle Mühe gab, die Sache herunterzuspielen, aber ihr wehmütiges Lächeln sprach Bände.

»Es ist ein Trauerspiel«, sagte Lauren und schaute sich um. »Als wir vor fünf Jahren hierhergezogen sind, war es ein unglaubliches Fleckchen Erde. Es gab unabhängige Läden, und die Leute grüßten sich auf der High Street. Mittlerweile sind viele vertraute Gesichter verschwunden, und die Läden, nun ja …« – sie zeigte auf die zugenagelten Fenster – »du hast es ja selbst gesehen. Jetzt bleibt nur noch der Pub. Roz verkauft Milch und Postzubehör, aber sie hat komische Öffnungszeiten, die ich mir nie merken kann. Vielleicht kannst du es ja dort versuchen.«

Rory war wieder zurückgekommen und schob seine behandschuhte Hand in Laurens.

»Roz?«, wiederholte Clara und dachte an rote Haare und übertriebenen Lidstrich. »War die nicht gestern im Pub?«

»Ah, du hast es also auch mitbekommen«, sagte Lauren und nickte. »Himmel, was für ein Drama. Louisa und Roz sind sich überhaupt nicht grün. Sie sind zwar Nachbarinnen, verhalten sich aber nicht gerade nachbarschaftlich. Offenbar sind irgendwelche alten Geschichten im Spiel.« Sie winkte ab. »Geschichten aus den späten Achtzigern. Und dann war da dieses Drama bei dem Fest, aber das erspare ich dir lieber.«

»Klingt aber spannend«, sagte Clara.

»Lass mich einfach sagen, dass sie im nächsten Jahr den Wurfstand nicht mehr hatten …«

»Wuffstand, Wuffstand.« Rory drehte sich um die eigene Achse und unterbrach Clara, die eigentlich nachhaken wollte.

Lauren kramte in ihrer Handtasche. »Gestern Abend habe ich wirklich gedacht, ich müsse Schiedsrichterin spielen. Tatsächlich hat sich hier noch nie ein derartiges Drama zugetragen.« Sie holte ein Taschentuch heraus und wollte Rory einen Flecken von der Wange reiben. »Wir gehen ungefähr einmal im Monat aus, daher war ich begeistert, dass es ausgerechnet an unserem freien Abend passierte. Es hat mich davor bewahrt, unentwegt über Rorys Impfungen und seine innige Beziehung zu George zu reden.«

»George?«, fragte Clara.

»Aus Peppa Wutz«, erläuterte Lauren. »Darin besteht im Wesentlichen meine Welt zurzeit.«

Als er den Namen Peppa Wutz hörte, schaute Rory auf. Im nächsten Moment verpasste er seiner Mutter, die ihre Anstrengungen mit dem Taschentuch aufgegeben hatte, fast einen Kopfstoß. »George sehen, George. Nach Hause, George.«

»O Gott, was habe ich da nur angerichtet«, sagte Lauren, als er an ihrer Hand zog. »Ich geh jetzt besser.«

»Schön, dich kennengelernt zu haben«, sagte Clara und beugte sich zu Rory hinab. »Dich auch, Rory«, fügte sie hinzu, worauf er sich quiekend hinter Laurens Mantel versteckte.

»Bleibst du lange hier?«, fragte Lauren, Rorys Gequengel ignorierend.

»Eigentlich wollte ich nach Cambridge weiter«, sagte Clara.

Lauren nickte. »Eine tolle Stadt. Man kann wunderbar mit dem Stechkahn fahren. Schade, dass du nicht in der Gegend bleibst. Eine neue Freundin würde mir guttun.«

»Ich Freund«, sagte Rory und zog am Saum ihres makellosen Mantels.

»Klar, das bist du«, sagte Lauren und zauste sein Haar. »Eigentlich meinte ich eine Freundin, mit der man Wein trinken und über andere Freunde lästern kann«, flüsterte sie Clara zu.

»Freunde lästern?«, wiederholte Rory. Sein Gehör war offenbar ziemlich gut.

Lauren zog eine Grimasse.

Bei dem Anblick schlich sich ein Lächeln in Claras Gesicht. »Wirklich schade«, wiederholte sie und wusste plötzlich, wohin sie als Nächstes gehen würde.

Kapitel 3

Joe stand mit dem Rücken zur Tür und klopfte seinen Ärmel ab. Sein Anzug war maßgeschneidert, aber der Stoff spannte ein wenig an den Schultern. Es wurde dringend Zeit, dass er mal wieder ins Sportstudio ging. Er reckte sich und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster.

Zu seinen Füßen, jenseits der Scheibe, breitete sich London aus. Die Themse schob sich schmutzig grau um eine Biegung, und in der Ferne war die Spitze des Riesenrads zu erkennen. Da die Sonne noch nicht vollständig aufgegangen war, lag die halbe Stadt im Schatten. Nur die Büros, die vor ihm aufragten, glänzten im Licht. Er schaute auf die Dächer von East London hinab, auf das Straßengewirr und auf die Köpfe der Menschen, die unter ihm durch das Viertel wimmelten. Was würden sie sehen, wenn sie heraufschauten? Nur die elegante Fassade aus Chrom und Stahl und vollverglasten Wänden. Niemand würde aus der Entfernung erkennen können, wie er in seinem dunkelblauen Nadelstreifenanzug dastand, die Schuhe poliert und die Krawatte zu einem Windsorknoten gebunden. Es verlieh ihm ein Gefühl der Überlegenheit, dass die Leute dort unten nicht ahnten, dass er sie beobachtete.

Im Spiegelbild zeigte sich ein schmaler Lichtstreifen, dann der Schatten einer Person, die eintrat. Er schluckte, zu allem bereit. Nachdem er sich umgedreht hatte, nickte er Pam zu. Sie verließ den Raum sofort, weil er sie instruiert hatte, ihnen keinen Kaffee anzubieten. Mit einem letzten Blick auf den Mann, der soeben reingekommen war, biss sie sich auf die Lippe und schloss die Tür hinter sich.

»Morgen, Joe«, sagte der Mann und schritt durch den Raum. An der Schulter seines gut geschnittenen Armani-Anzugs befand sich ein Fleck. Das bestärkte Joe noch einmal in seinem Vorhaben, als er ihm die Hand schüttelte.

»Matt, danke, dass du kommst.«

Matt zog eine Augenbraue hoch. »Das ist ja alles höchst mysteriös. Pam wartete schon auf mich, als ich erschien. Sie hat mich verschleppt, ehe ich auch nur den Computer anschalten konnte.« Er legte die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken.

Joe schaute weg. »Ja. Sie musste eine halbe Stunde auf dich warten.«

Matt ließ sich nichts anmerken. Er schaute auf Joes angebissenes Croissant auf dem Schreibtisch am anderen Ende des Raums und leckte sich die Lippen. Das brachte Joe noch mehr auf. »Pam hat mir von ihrem jüngsten Enkel erzählt. Er ist so alt wie meine Nancy. Ich sagte, wir könnten die beiden doch verkuppeln …« Seine Stimme verlor sich, und er runzelte leicht die Stirn.

Joe musterte ihn, den Kopf zur Seite geneigt. Er hatte gar nicht gewusst, dass Pam Enkel hatte. Schließlich begann er mit seinem sorgfältig geplanten Spielchen. »Ich vermute, du weißt, warum ich dich herbestellt habe?«

Die Falte an Matts Stirn vertiefte sich, die sonst so glatte olivfarbene Haut zwischen seinen Augenbrauen zuckte. »Sicher nicht, um mir von den diesjährigen Squash-Ranglisten zu berichten, würde ich mal vermuten.« Seine Stimme war tiefer geworden und verlor mit jedem Wort an Farbe.

Joe bemühte sich gar nicht erst um ein Lächeln. »Dein Team hat dich mitgezogen. Jules hat in zwei Monaten zwei neue Kunden gewonnen. Paddy ist morgens um halb fünf im Büro, um die Folgen deines Schlendrians auszubügeln …«

Matt wich zurück, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst. Sein Mund klappte auf, aber es kam kein Ton heraus.

»Die Chefs in den oberen Etagen«, Joe schaute an die Decke, »haben genug von den Ausreden deines Teams. Du warst mal ein Zugpferd, aber du hast seit Monaten kein neues Geschäft mehr angeleiert. Und die Pleite mit Anderson hat das Fass zum Überlaufen gebracht.«

»Das habe ich Karen doch schon erklärt: Mein Mitarbeiter … er hat die Präsentation vermasselt. Unsere Zahlen stimmten nicht.«

Joe hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Früher hättest du das gemerkt.«

Matt verstummte. Joe sah weg. Er gefiel sich selbst nicht in dieser Rolle, zumal er plötzlich daran denken musste, dass Matt ihn im letzten Jahr gedeckt hatte. Sie hatten einen wichtigen neuen Kunden zum Mittagessen eingeladen, aber Joe, der verschlafen hatte, kam erst zum Nachtisch. Matt hatte sich einen Spaß daraus gemacht und niemandem etwas davon erzählt. Andere Kollegen hätten die Episode zum Anlass genommen, ihm ein Messer in den Rücken zu stoßen. Er schüttelte den Kopf und verdrängte die Erinnerung.

»Ihr feuert mich also?«, sagte Matt mit fahler Stimme, die Handflächen erhoben. »Ist es das?«

Joe räusperte sich und versuchte sich zusammenzureißen. Er wünschte, Paul hätte diese Angelegenheit übernommen. So etwas lag ihm. Joe verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß und zählte an den Fingern Gründe auf: »Regelmäßig zu spät im Büro. Oft bei Sitzungen verhindert. Die Zahlen stimmen nicht. Ineffizientes Team-Management …«

Matt lauschte. Seine Wangen fingen an zu glühen, als die Liste gar kein Ende nahm.

Joe hielt inne und schaute ihn an. »Reicht das als Warnung, Kumpel?«

»Wir sind keine Kumpel.«

Wieder räusperte sich Joe. Er hatte nichts Besseres verdient.

»Hör zu, für uns zählt nur, dass du die Dinge regelst und wieder zu Topform aufläufst. Wir wollen, dass du wieder gute Zahlen vorlegst. Dass du Geschäfte reinholst.«

Matts Augen waren stumpf, als er Joe anschaute. »Ich habe dich wirklich falsch eingeschätzt. Eigentlich dachte ich …« Er hielt inne, richtete sich dann auf und reckte das Kinn. »Du bist ein eiskalter Bastard, weißt du das?« Joe zuckte nicht mit der Wimper. »Dich und die reichen Saftsäcke da oben interessieren nur Profit, Profit, Profit.«

»Der hat dich auch mal interessiert.«

»Daran hat sich auch nichts geändert.« Matt warf die Hände in die Höhe, und Joe wich einen Schritt zurück. »Ich habe einfach ein bisschen mehr Zeit zu Hause verbracht. Wir haben unser erstes Kind, Joe. Du weißt doch, wie lange wir versucht haben, ein Baby zu bekommen. Himmel.« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich war den Tränen nahe, verdammt, als ich dir an jenem Abend in der Bar erzählt habe, was wir durchmachen. Am Anfang war es hart, aber jetzt wird es allmählich leichter. Jetzt schläft sie fast durch. Ich möchte Suzie helfen. Sie schafft das nicht alleine, Joe.«

Joe hob die Hand. »Ich weiß, und es tut mir auch leid, aber …«

»Einen Scheißdreck tut es dir.«

In Joe rastete etwas aus. Er wollte nicht hier sein, wollte das nicht tun müssen. Das verlieh seiner Stimme eine unnötige Härte, als er sich rechtfertigen zu müssen glaubte. »Wir stehen unter Druck, Matt, das weißt du. Dir ist doch auch klar, was hier im Moment los ist. Durch dich haben wir die Fusion mit Anderson Corporate vermasselt. Die Kline Brothers sind uns zuvorgekommen. Wir waren zu langsam. Wir müssen besser sein. Nimm das einfach als erste förmliche Warnung.« Er hielt inne, bevor er hinzufügte: »Du kannst noch von Glück sagen.«

»Glück? Wie nachsichtig von dir, Kumpel, vielen herzlichen Dank.« Matt erhob die Stimme. »Einfach eine erste förmliche Warnung. Du weißt doch, dass sie einen Grund finden werden, mich zu feuern. Das weißt du genau.«

Joe wich seinem Blick aus. Das wollte er gar nicht hören, weil er nur zu gut wusste, dass er an Karen berichten musste. Ihm war selbst klar, wie das lief. Matt war angezählt. »Dir wird nichts passieren«, sagte er kleinlaut, und seine Zuversicht schwand.

Matt blitzte ihn an. »Nun, wenn das alles war, bewege ich besser meinen ineffizienten Arsch, kehre zu meinem nutzlosen Team zurück und mache mich an die Arbeit.«

Joe schaute wieder zur Fensterfront.

»Du solltest hoffen, dass du niemals in eine Situation gerätst, in der du auf ein bisschen Nachsicht angewiesen bist«, sagte Matt und wandte sich zum Gehen. Joe verfolgte seine Bewegungen in der Fensterscheibe. An der Tür blieb Matt stehen und drehte sich noch einmal um. »Es gibt mehr im Leben als diesen Job, lass dir das gesagt sein, Kumpel.«

Joe zuckte stumm mit den Achseln. Als er Matt gehen sah, klopfte er noch einmal seine Ärmel ab. Der Lichtstreifen erlosch, als die Tür hinter ihm zufiel.

Die Sonne war jetzt vollständig aufgegangen. Die Lichtreflexe am Bürogebäude gegenüber blendeten Joe für einen Moment. Er holte sein Handy heraus, kontrollierte seine E-Mails und fand den neuesten Stand zu ihrem derzeitigen Geschäft. Außerdem verriet sein Display, dass seine Mutter angerufen hatte. Vermutlich ging sie, wie immer, in aller Herrgottsfrühe spazieren und wollte vom Sonnenaufgang schwärmen. Er seufzte. Dafür fehlten ihm jetzt die Nerven. Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens steckte er das Handy wieder in die Tasche. Er würde später zurückrufen.

Kapitel 4

Louisa warf das Handy entnervt fort. Es landete zwischen zwei großen Haufen aussortierter Kleidungsstücke.

»Glotz nicht so«, sagte sie in Richtung des Käfigs, der in der Zimmerecke stand. »Du weißt doch, dass ich dich nicht mitnehmen kann. Stichwort Vogelgrippe.«

Der Papagei warf ihr über den Schnabel hinweg einen vernichtenden Blick zu und stolzierte demonstrativ über seine Stange, behutsam einen Fuß vor den anderen setzend. »DUBISTGEFEUERT«, rief er, bevor er sich wieder zur Ecke hindrehte.

»Schmoll du nur«, sagte Louisa, hielt eine senfgelbe Jacke hoch und warf sie auf den linken Stapel. Ein großer rötlicher Kater, der sich vor dem Kamin räkelte und seine Pfoten leckte, schaute auf. »O Gott, du nicht auch noch. Könnt ihr euch nicht zusammenreißen? Mein Gewissen plagt mich ohnehin schon, das müsst ihr nicht noch schlimmer machen.«

Im offenen Koffer lagen Handtücher, Badezeug, Bücher und Kleidungsstücke wild auf einem Haufen. Louisa hatte eine Stunde lang nach ihrem Pass gesucht und war jetzt entsetzlich in Eile. Die Küchenuhr machte alles noch schlimmer, da die Batterien schon seit einem Jahr leer waren und Louisa jedes Mal einen Herzinfarkt bekam, wenn sie dachte, es sei wirklich 11:05. Ihr war bewusst, dass sie schon wieder vor sich hin redete, aber seit dem Vorabend im Pub, wo sich diese verdammte Roz so aufgeführt hatte, konnte sie nicht anders. Sie hatte Lady CaCa alles darüber erzählt, aber nun war der Vogel empört, weil er den Koffer gesehen hatte.

»Könntest du dich bitte wieder umdrehen, ich würde die Geschichte gerne zu Ende erzählen«, sagte sie zu dem Käfig. »Ich lass dich auch für ein paar Minuten raus.« Sofort schaute der rötliche Kater auf und sträubte das Fell; die gelben Augen wirkten misstrauisch. »Keine Panik, Roddy, sei nicht albern.«

Das Versprechen hatte gefruchtet. Der Papagei drehte sich um und schritt über die Stange zur Käfigtür, wo er mit herrischem Blick zusah, wie Louisa nach dem Riegel griff. »SUPERKLASSE, SUPERKLASSE.«

Plötzlich klingelte es an der Tür. Louisa fluchte und ließ die Hand sinken, bevor sie den Käfig berührt hatte. Der Papagei krächzte wütend auf.

»Mist. Warte kurz, mein Schatz.«

Lady CaCa trottete an ihren Platz zurück, vollführte eine schwungvolle Drehung und starrte wieder in ihre Ecke. »DUBISTGEFEUERT, DUMISTSTÜCK.«

Louisa verdrehte die Augen. Lady CaCa war wirklich eine höchst divenhafte Papageiendame. Zögernd blieb Louisa neben dem Türöffner stehen. Aus keinem der Fenster konnte man auf die High Street hinabschauen. Es dauerte nicht mehr lange, bis das Taxi eintreffen müsste, daher drückte sie vorsichtshalber auf den Knopf der Sprechanlage.

»Reg? Bist du das? Du bist zu früh«, sagte sie.

Eine unbekannte Stimme antwortete: »Nein, hier ist Clara. Sie kennen mich nicht, aber ich bin … Clara eben.«

Louisa ließ den Knopf los und betrachtete den Kater, der sich jetzt wieder die Pfoten leckte. »Wer ist Clara?«, fragte sie. Der Kater schaute nicht einmal auf.

Louisa zuckte mit den Achseln, drehte sich wieder um und drückte auf den Türöffner. »Kommen Sie hoch.« Sie schaute sich in der Wohnung um, die mit ihrer gesamten Garderobe übersät war.

Als sie die abgeblätterte Tür öffnete, waren auf der schmalen Treppe Schritte zu hören. Eine junge blonde Frau erschien. Sie trug Jeans, einen weichen Wollpullover und eine violette Strickmütze. Ihre Haut war unglaublich glatt, und aus den leuchtend blauen Augen strahlte ein Lächeln. Das Gesicht kam Louisa irgendwie bekannt vor. Sie runzelte die Stirn.

»Danke. Tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze«, sagte die Frau, als sie die oberste Stufe erreicht hatte. »Himmel, bin ich schlecht in Form.« Sie lachte und hielt sich die Seiten. »Ich muss mich nach jeder Etage hinsetzen.« Irgendetwas an ihr ließ Louisa das Herz aufgehen. Sie merkte, dass sie das Lächeln umstandslos erwiderte.

»Kommen Sie doch rein«, sagte sie und schloss die Tür. »Aber … wer sind Sie denn nun eigentlich?«

Die Frau richtete sich auf. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. »Ich heiße Clara und wohne im Pub. Gestern Abend war ich auch dort.«

»O Gott.« Louisa warf die Hände in die Luft. »Was für ein Abend. Ein Stück Möhrenkuchen?«, fragte sie.

»Sehr gerne. Ich war gerade auf der Suche nach einem Café oder so. Ich habe nämlich noch nicht gefrühstückt.«

»Nach einem Café können Sie lange suchen«, sagte Louisa, hob einen fuchsiafarbenen Sarong vom Boden auf und warf ihn in Richtung Koffer. »Der Kuchen steht auf dem Küchentresen. Ich habe ihn gestern gebacken. Es ist der Lieblingskuchen von Lady CaCa.« Sie nickte zu dem Käfig hinüber. »Schneiden Sie sich einfach ein Stück ab. Oder besser noch, schneiden Sie mir auch eins ab, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich packe gerade. Mein Flug, müssen Sie wissen.«

»Ach so, natürlich.« Clara durchquerte den Raum, steuerte um die Haufen herum und zuckte zusammen, als der Papagei schrie: »DUBISTGEFEUERT!«

Louisa wühlte jetzt hinten im Kleiderschrank herum und wedelte mit der Hand. »Tut mir leid, wie es hier aussieht. Dieses Chaos. Ich würde es gerne auf die Packerei schieben, aber tatsächlich sieht es hier oft so aus.« Sie holte ein Paar bronzefarbene Flip-Flops heraus und grinste. »Hurra! Ich wusste doch, dass sie hier irgendwo sind«, sagte sie und hielt sie hoch.

Clara betrachtete den mächtigen orangefarbenen Kuchen und nahm ein Messer. »Sie gehen also wirklich fort? Wohin fahren Sie denn?«

Louisa, die sich gerade über eine Schublade unter dem Schlafsofa beugte, schaute gar nicht auf. »Madrid«, rief sie.

Clara legte ein Stück Möhrenkuchen auf einen Teller. »Wie romantisch«, seufzte sie und dachte an gewundene Sträßchen mit Kopfsteinpflaster, strahlende Flamencotänzer an jeder Ecke, gewaltige Sangria-Krüge und Menschen, die auf sonnenbeschienenen Plätzen standen und lachten.

Louisa verschwand jetzt fast unter dem Sofa, nur die Füße schauten noch heraus. »Dort sind es im Moment achtzehn Grad, können Sie sich das vorstellen? ACHTZEHNGRADIMNOVEMBER«, rief sie so laut, dass sich der Kater aufsetzte und nach der Geräuschquelle umsah. Unvermittelt tauchte ihr Kopf wieder auf und schwebte über dem Oberbett, während der Rest des Körpers hinter dem Schlafsofa verschwand. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie es sich anfühlt, Temperaturen von achtzehn Grad zu haben. Der Sommer scheint Ewigkeiten her zu sein und hat uns vorwiegend Regen beschert. Ich sehne mich nach Sonne – Sonne im Gesicht, an den Armen, im Nacken, im Rücken. Meine Füße sollen brennen auf dem Sand, und ich möchte ins kalte Meer gehen und sagen: ›Herrlich, was für eine Erfrischung‹, weil es nämlich derart HEISS draußen ist.« Im nächsten Moment war ihr Kopf wieder unter dem Bett verschwunden. »Ich möchte keine schlechte Stimmung verbreiten, aber Sie verstehen mich sicher.«

Clara ging zu einem Barhocker und setzte sich. »Na ja, ich bin Hitze eigentlich gar nicht gewöhnt. In Dänemark sind im Moment nur drei Grad.«

»DREI Grad?« Louisas Kopf erschien über dem Oberbett, mit wild zerzausten Locken. »Gütiger Gott, wie soll man da überhaupt etwas zustande bringen?« Sie wirkte entsetzt. »Ihr solltet Winterschlaf halten, wie die Bären.«

»Nun ja«, Clara lächelte, weil sie an die Winter daheim denken musste: die Monate mit den vor sich hin köchelnden Eintöpfen, den dampfenden gløgg-Tassen, dem prasselnden Kaminfeuer, »in gewisser Weise tun wir das auch.«

Als sie die violette Mütze abnahm und das Haar auf ihre Schultern fiel, erlosch ihr Lächeln für einen Augenblick. Die Winter ihrer Kindheit, als sie alle um den großen Eichentisch herumgesessen hatten, Schüsseln mit dampfenden Fleischbällchen vor sich, gehörten der Vergangenheit an. Sie blinzelte, weil sie sich nicht unentwegt mit diesen alten Geschichten herumquälen wollte.

Lady CaCa hockte in der Ecke und behielt Clara, die ihren Kuchen aß, über den Schnabel hinweg im Auge. Gelegentlich schlug sie aggressiv mit den Flügeln gegen die Käfigstäbe.

Louisa setzte sich jetzt auch auf einen Barhocker. Sie trug einen großen Hut mit gewaltigen, seitlich aufgenähten Sonnenblumen. »Ignorieren Sie sie einfach.« Sie zeigte auf den Käfig. »Lady CaCa ist immer eifersüchtig, wenn jemand kommt und meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Außerdem, ich sagte es ja schon, ist Möhrenkuchen ihr Lieblingskuchen.« Sie schnitt eine Ecke von ihrem Stück ab, legte sie auf die Messerschneide und trug sie zum Käfig. Der Papagei bedachte das Bröckchen mit einem wilden Blick und drehte sich wieder zur Wand um. Louisa seufzte. »Ich fürchte, ihre schlechte Laune wird bis zu meiner Abreise anhalten. Ihr ist vollkommen klar, dass ich packe.«

»Was wird denn überhaupt aus ihr?«, fragte Clara und steckte sich noch ein Stück Möhrenkuchen in den Mund. »Der Kuchen ist übrigens ausgezeichnet«, sagte sie mit vollem Mund.

Louisa nickte. »Ich weiß. Backen kann ich gut, immer schon. Das ist eines meiner großen Talente. Neben dem Legen von Tarotkarten. Oh, und der Glasbläserei. Im Kitesurfen habe ich mich noch nie versucht, aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich das auch ziemlich gut könnte. Was können Sie gut, Clara?«

Clara wirkte für einen Moment irritiert. »Na ja, ich denke … Nun ja, ich …«

»Nun kommen Sie schon. Jeder hat irgendwelche Begabungen. Die Leute reden nur nicht gerne darüber, aus lauter Bescheidenheit, was albern ist. In manchen Dingen bin ich absolut unfähig. Ich habe mal versucht, Geige zu lernen – grauenhaft, als hätte ich jeden Abend in meiner Wohnung jemanden massakriert. Und dann puzzeln. O Gott, ich werde so wütend, dass ich sämtliche Teilchen begradige, damit sie zusammenpassen – das treibt mich absolut in den Wahnsinn. Dafür backe ich ausgezeichneten Zitronenkuchen.« Sie hatte die Arme ausgebreitet. Die Sonnenblumen wackelten, wenn sie den Kopf schüttelte.

»Aber was wird denn jetzt aus Ihren Tieren?«, wiederholte Clara ihre Frage, um von ihren Begabungen abzulenken – oder dem Mangel an solchen.

Louisa fuchtelte herum. »Vor der Abreise muss ich Gavin noch meinen Schlüssel vorbeibringen. Er wird sich um die Tiere kümmern. Das hat er auch getan, als ich zur Schüttelmeditation in Thailand war.«

»Verstehe«, sagte Clara, die sich nicht zu fragen traute, was es mit der Schüttelmeditation auf sich hatte. Sie wischte sich einen Krümel von der Oberlippe.

Louisa hielt inne und fuhr sich langsam mit der Hand über den Mundwinkel. »Was kann ich eigentlich für Sie tun?« Im nächsten Moment sprang sie vom Barhocker, und der Sonnenhut fiel herunter. »Ich habe nur noch wenige Minuten, um zig Dinge zu erledigen. Wenn Sie mir helfen, können wir bei der Arbeit reden.«

Clara glitt von ihrem Barhocker. »Klar. Was soll ich denn tun?«

Louisa zeigte auf eine Rolle mit Müllbeuteln, die auf dem Küchentresen lag. »Lebensmittel. Holen Sie sämtliche verderblichen Lebensmittel aus dem Kühlschrank. Letztes Mal hatte ich das vergessen und bin bei der Rückkehr fast draufgegangen, weil die Gänseleberpastete Beine bekommen hatte.«

Clara rümpfte die Nase und griff nach der Rolle.

»Also …« Louisa kehrte zu dem Haufen Kleidungsstücke zurück, der auf dem Bett lag, warf sich ein paar über die Schulter, hielt andere hoch und trug den Berg allmählich ab. »Was kann ich für Sie tun?«

Clara hatte den Kühlschrank geöffnet und betrachtete den Inhalt: etliche Flaschen Rosé-Sekt, dann Muscheln und Oliven. Eine dicke Scheibe Räucherlachs war viel zu schade zum Wegwerfen. Clara nahm eine halbe Zitrone und steckte sie in den Beutel. »Na ja, ich hatte mich gefragt … Gestern Abend im Pub habe ich mitbekommen, wie Sie sagten, dass Sie weggehen. Ich war nämlich auch da, müssen Sie wissen, und habe dort …«

»Das sagten Sie bereits.« Louisa hielt inne und betrachtete einen gestreiften Badeanzug. »Gütiger Gott, was für ein Wirbel. Roz hängt natürlich am Tresen herum und stiftet Unruhe. Da bin ich einfach ausgerastet. Sie treibt mich wirklich auf die Palme … Ich wusste übrigens gar nicht, dass Gavin Zimmer vermietet. Wie wunderbar, dass er so viel Unternehmergeist …«

Clara saß mit offenem Mund da, weil Louisa sie unterbrochen hatte.

»Entschuldigung, Entschuldigung, Sie wollten gerade etwas sagen.« Louisa bedeutete ihr fortzufahren und stopfte den Badeanzug in die Seitentasche ihres bereits prall gefüllten Koffers.

»Na ja, ich habe mich nur gefragt, ob Sie sich vielleicht vorstellen könnten, dass ich auf Ihre Wohnung aufpasse und nach den Tieren schaue. Aber es klingt so, als hätten Sie bereits Vorkehrungen getroffen. Das war ja auch nicht anders zu erwarten …« Claras Worte verloren sich.

»Kommen Sie und setzen sich mit mir drauf«, rief Louisa.

»Wo drauf?«

»Auf den Koffer. Los, das Taxi müsste jeden Moment eintreffen, und ich möchte nicht, dass der Fahrer meine Unterwäsche sieht. Andererseits, wenn es Reg ist, hat er sie bereits gesehen … Entschuldigung, fahren Sie fort.«

Clara ging durch den Raum und setzte sich neben Louisa, die wieder den Sonnenblumenhut trug, auf den Koffer. Auf dem Nachttisch stand ein silberner Fotorahmen: Louisa und ein absolut atemberaubender Mann. Verträumte graue Augen, dunkelbraunes Haar, Dreitagebart in einem braun gebrannten Gesicht. Louisa hatte ihm den Arm um die Taille geschlungen und den Kopf an seine Schulter gelegt. Er dürfte zwanzig Jahre jünger sein als sie, eher in ihrem Alter. Clara hatte fast vergessen, was sie eigentlich sagen wollte.

»Das war’s eigentlich schon. Aufs Haus aufpassen und … Na ja, ich habe mich gefragt, was aus dem Laden wird. Ich habe schon einmal ein Geschäft geführt, und da dachte ich, sozusagen als Gegenleistung … Miete kann ich nämlich nicht zahlen, aber ich könnte umsonst arbeiten. Es wäre doch schade, kurz vor Weihnachten zu schließen.«

Louisa verzog das Gesicht. »Man kann von Glück sagen, wenn am Tag auch nur ein einziger Kunde kommt.«

»Dann lassen Sie es mich versuchen. Soweit ich das von außen beurteilen kann, ist es ein wunderbarer Laden.«

»Es war ein wunderbarer Laden«, sagte Louisa. »In einer wunderbaren Gegend.« Sie verstummte und verlor sich in der Vergangenheit, während sie nebeneinander auf dem Koffer saßen.

»Eigentlich wollte ich weiterreisen, aber es gefällt mir hier. Eine Art Bauchgefühl, falls Sie verstehen, was ich meine«, sagte Clara und legte die Hand auf ihren Unterleib. »Ein Gefühl tief im Innern, das mir sagt, dass ich bleiben soll.«

Louisa zog eine Augenbraue hoch. »Und da behaupten die Leute, ich sei exzentrisch …«

Clara spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie erhob sich von dem nunmehr verschlossenen Koffer. »Es war einfach ein alberner Gedanke, der mir ganz spontan gekommen ist. Aber jetzt lasse ich Sie mal alleine, damit Sie fertig werden«, erklärte sie und griff nach ihrer violetten Mütze.

Louisa stand ebenfalls auf und blickte sich in der Wohnung um, die nicht ein Stück ordentlicher aussah. »Mit diesem Chaos kann ich Sie unmöglich zurücklassen«, sagte sie. »Ich habe seit 1973 schon nicht mehr geputzt. Im Gästezimmer sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.«

»Nein, natürlich nicht. Das hätte ich mir ja auch denken können«, stammelte Clara.

»Aber wenn Sie darauf bestehen …« Louisa seufzte und bedachte sie mit einem herrischen Blick. »Wenn Sie mich eindringlich darum bitten …«

Clara registrierte den Meinungsumschwung. »O ja, das tu ich.« Sie nickte. »Ich bitte Sie sehr darum. Das ist doch eine hübsche Wohnung. Ich mag sie sehr, und ich würde mich auch gut um Ihre Haustiere kümmern.« Sie zeigte zum Käfig und zum Teppich hinüber.

»In der Tat, irgendjemand müsste nach Lady CaCa und Roddy sehen«, dachte Louisa laut nach.

»Das würde ich sehr gerne tun. Und ich kann auch putzen, kein Problem«, fügte Clara hinzu. »Es wäre wunderbar, in der Fremde eine eigene Wohnung zu haben, statt ständig in irgendwelchen Pubs zu hausen.«

Louisa war quer durch den Raum in die Küche gegangen und wühlte in einer Schublade neben dem Kühlschrank herum. Erschrocken sah Clara, dass sie ein gewaltiges Schlachtermesser herausholte. »Nun …« Ihre Armreifen klirrten bedrohlich. Nachdem sie noch einmal in die Schublade gegriffen hatte, hielt sie einen kleinen Schlüsselbund hoch. »Der Ersatzschlüssel«, verkündete sie. »Lady CaCa … Roddy …«, sie blickte zum Käfig und dann zum Teppich hinüber, »darf ich euch eure neue Mitbewohnerin vorstellen, Clara.«

Clara, die vor Schreck erbleicht war, strahlte über das ganze Gesicht. »Oh, wunderbar. Ist das wahr? Großartig. Ich kann es kaum fassen.«

An der Tür klingelte es.

»ICHHABDAEINGANZMIESESGEFÜHL«, rief der Papagei im selben Moment, als Louisa verkündete: »Ah, das Taxi.« Sie warf Clara den Schlüssel zu, lief zu ihrem Koffer und murmelte: »Pass, Fahrkarten, Pass, Geld, Pass, Unterwäsche, Pass, Kleidung, Pass, Bücher, Pass, Mütze, Pass, Badeanzug, Pass.«

»Ach so«, Clara stand mit dem Schlüssel in der Hand da, »gibt es noch irgendetwas, das ich wissen muss?«

»Keine Zeit, keine Zeit. Ich maile Ihnen die Details. Schreiben Sie mir Ihre E-Mail-Adresse auf.« Louisa reichte ihr einen Stift und hielt ihr den Handrücken hin.

Clara begann zu schreiben. »Allerdings kontrolliere ich meine E-Mails nicht wirklich regel – «