Ein makelloser Abstieg - Matthias Frings - E-Book

Ein makelloser Abstieg E-Book

Matthias Frings

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Beschreibung

Der Fernsehmoderator Simon Minkoff kann nicht mehr auf die Straße gehen, ohne sofort von Fotohandys ins Visier genommen zu werden. Doch es ist nicht nur die fehlende Privatheit, die ihn an seinem Beruf stört. Im Lauf der Jahre sind ihm Quotendruck, Sparzwang und die Gästeauswahl nach Marketinggesichtspunkten immer suspekter geworden. Als er die Verleihung des Bayerischen Fernsehpreises moderiert, kommt es zum Eklat. Minkoff schmeißt hin. Von heut auf morgen und ohne jede Erklärung. Sofort ist ihm die Presse auf den Fersen und Minkoff flieht mit seiner Frau Vivian. Doch auch sein Privatleben ist zerrüttet: Nach und nach begreift Simon, dass Vivian schwer alkoholkrank ist. Er zieht aus und beginnt ein völlig neues Leben jenseits der Öffentlichkeit. Doch ganz so privat ist er nicht: Der junge Journalist im Haus gegenüber begreift nach einiger Zeit, welch lukrative Geschichte sich ihm hier bietet. Minkoffs Geheimnisse werden ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Oder trügt der Schein? Steckt vielleicht eine ganz andere Geschichte hinter der Geschichte?

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Über Matthias Frings

Matthias Frings, 1953 in Aachen geboren, war Journalist und Fernsehmoderator und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er studierte Anglistik, Germanistik und Linguistik. In den 80er Jahren veröffentlichte er mehrere erfolgreiche Sachbücher, darunter »Liebesdinge. Bemerkungen zur Sexualität des Mannes.« Ab 1986 arbeitete er als Radiomoderator beim SFB. Von 1993 an war er Redaktionsleiter und Fernsehproduzent. Bekannt wurde er als Moderator der Sendung »Liebe Sünde«.

Informationen zum Buch

Der Fernsehmoderator Simon Minkoff kann nicht mehr auf die Straße gehen, ohne sofort von Fotohandys ins Visier genommen zu werden. Doch es ist nicht nur die fehlende Privatheit, die ihn an seinem Beruf stört. Im Lauf der Jahre sind ihm Quotendruck, Sparzwang und die Gästeauswahl nach Marketinggesichtspunkten immer suspekter geworden. Als er die Verleihung des Bayerischen Fernsehpreises moderiert, kommt es zum Eklat. Minkoff schmeißt hin. Von heut auf morgen und ohne jede Erklärung. Sofort ist ihm die Presse auf den Fersen und Minkoff flieht mit seiner Frau Vivian. Doch auch sein Privatleben ist zerrüttet: Nach und nach begreift Simon, dass Vivian schwer alkoholkrank ist. Er zieht aus und beginnt ein völlig neues Leben jenseits der Öffentlichkeit. Doch ganz so privat ist er nicht: Der junge Journalist im Haus gegenüber begreift nach einiger Zeit, welch lukrative Geschichte sich ihm hier bietet. Minkoffs Geheimnisse werden ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Oder trügt der Schein? Steckt vielleicht eine ganz andere Geschichte hinter der Geschichte?

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Matthias Frings

Ein makelloser Abstieg

Roman

Inhaltsübersicht

Über Matthias Frings

Informationen zum Buch

Newsletter

Erstes Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Zweites Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Abspann

Impressum

Alles Unglück der Welt rührt daher, dass die Menschen nicht in ihren Wohnungen bleiben.

Blaise Pascal

Wenn ich nicht verliere, kann der andere nicht gewinnen.

Boris Becker

Erstes Buch

1

Dabei hatte es so gut angefangen. Mit dem letzten Flugzeug war er schon am Mittwochabend aus Köln eingeflogen, weil tags drauf Christi Himmelfahrt war und er den Freitag zum Moderationsschreiben benötigte. Also schwänzte. Keine Konferenzen, keine Studioproduktion. Keine Interviews, Auftritte, Fotosessions. Vier Tage Freiheit. Über so viel Planlosigkeit hatte er lange nicht verfügt.

In Unterhemd und Shorts, zufrieden wie ein Dreijähriger, saß er vor dem, was Vivian einen »Haufen bunter Knete« nannte: einer Schüssellandschaft vorwiegend orientalischer Speisen, bestehend aus mariniertem Gemüse, Couscous, Oliven, dünn geschnittenem Schinken, Dips und Pasten, dazu warmes Oreganobrot. Zur Feier des Feiertags hatte sie einen Sauvignon Blanc aus Südafrika geöffnet. »Zum Niederknien gut«, bemerkte sie mit theatralischer Ironie.

Simon aß und träumte. Er liebte diese gelenkschwere Müdigkeit, die jede Schweigsamkeit entschuldigte. Sie saßen nebeneinander, tunkten ihr Brot in Auberginen- und Sesampaste, tauschten spärlich Neuigkeiten aus: In einem ihrer Cafés hatte die Spülmaschine einen Stromausfall im gesamten Parterre ausgelöst, und ihm war eine Großmoderation in Feindesland angetragen worden.

Der Abend hatte flauschig geendet. Zwar hatten sie nicht miteinander geschlafen, aber seit langer Zeit mal wieder geschmust wie ein junges Pärchen. Er war es sogar gewesen, dem zuerst die Augen zufielen. »Geh ins Bett«, hatte sie gesagt und ihm zärtlich auf den Hintern geklopft. »Du bist ja todmüde.«

Im Bett – sie verfügten über getrennte Schlafzimmer – schaffte er es nicht einmal, das Licht zu löschen. Er registrierte es, als er mitten in der Nacht aufwachte. Sein Herz raste. Er stemmte sich hoch, versuchte noch einen Zipfel des Traums zu fangen. Es war um Füße gegangen, formvollendete Füße, so makellos olivfarben, dass man sie für Hände halten konnte. Dabei hatten sie ihre Form verändert, waren zu Greifgliedern gewuchert, zu Klauen.

Er schlug das Laken beiseite und setzte sich auf. Die Schlafzimmerluft war verbraucht. Verdrossen erhob er sich und öffnete ein Fenster. Draußen war die Luft kaum besser, klebrig, Ergebnis staubiger Frühsommertage. Von fern hörte er den Klatschrhythmus eines Schlagers. Irgendwer nahm das Wort Feiertag wörtlich und grölte alkoholbefeuert.

Simon, der nicht vollends aufwachen wollte, stand mit geschlossenen Augen am Fenster. Kurz breitete er die Arme aus, um Abkühlung herbeizuzwingen, aber kein Lüftchen wollte sich für ihn regen. Was hatte ihn so bang gemacht, dass sein Blut immer noch im Habacht-Modus pulste? Er versuchte ruhig zu atmen, war aber zu ungeduldig und müde, um es lange durchzuhalten. Seufzend legte er sich wieder ins Bett, doch nicht wie üblich auf den Bauch, sondern halbhoch gebettet auf den Rücken.

Dann passierte es.

Ein Klingeln an der Wohnungstür, gefolgt von ungeduldigem Klopfen. Blitzschnell saß er aufrecht. Während er vergeblich nach seinen Hausschuhen tastete, warf er sich den grauen Bademantel über und sah zur Uhr: halb vier – eine Zeit für Wasserrohrbruch, Diebstahl oder Feuer. Barfuß riss er die Wohnungstür auf, blinzelte in die Flurbeleuchtung und wollte seinen Augen nicht trauen: Eine attraktive dunkelhaarige Frau im fadenscheinigen Kleidchen schubberte sich am Treppengeländer: »Hallo, ich bin die Carmen! Ich glaube, ich kann dir noch eine Menge beibringen!«

Fassungslos starrte er die Frau an, deren Lächeln leicht in Schieflage geraten war. Dann blickte er auf seine nackten Füße, in ihrer Verletzbarkeit fast obszön zur Schau gestellt. Eindeutige Angebote von weiblichen Fans waren an der Tagesordnung. Von männlichen auch. Sogar parfümierte Höschen hatte man in seiner Post gefunden, aber eine so eindeutige Akquise war ihm noch nie untergekommen. Später würde er die Geschichte als Anekdote zum Besten geben, aber was wäre gewesen, hätte die rassige Carmen andere als die Waffen der Frau zum Einsatz gebracht? Panisch knallte er die Tür zu.

Vor einigen Wochen erst waren in der Redaktion Morddrohungen eingetroffen. Nicht zum ersten Mal. »Du linke Sau, dir werden wir die dreckige Zunge rausreißen oder abschneiden!!!« Zum wiederholten Mal hatte ihn ein geschulter Polizist aufgesucht, ihm die Broschüre für gefährdete Personen des öffentlichen Lebens überreicht und gute Ratschläge erteilt. Immer auf verschiedenen Wegen das Haus verlassen beispielsweise. Na super, hatte Simon gedacht. Wenn ich aus der Haustür trete, kann ich mir also überlegen, ob ich linksrum oder rechtsrum gehe. Das wird helfen!

»Vier Tage sind viel zu wenig! Ich will da nicht wieder hin!« Simon fröstelte. Am Wetter konnte es nicht liegen, das Thermometer zeigte selbst nach Mitternacht noch zwanzig Grad an. In Berlin war Mitte Mai der Sommer ausgebrochen, aber ihm saß noch der nächtliche Besuch von Carmen in den Knochen.

»Köln ist doch eine gute Stadt, und die Rheinländer sind nett!«, versuchte Vivian ihn aufzumuntern.

»Nett!« Simon ließ das Wort mit Abscheu von der Zunge rollen. »Die Hauptstadt der blonden Strähnchen und originellen Socken. Zwangshumoristen in Schnellfickerschühchen!«

»Ich weiß nicht, ich finde Köln toll.«

»Die einzige Stadt der Welt, wo man Versace für einen angesagten Designer hält!«

Sie waren an den innerstädtischen Lietzensee gefahren und hatten in einem nicht sonderlich guten, aber lauschigen Gartenlokal zu Abend gegessen. Anschließend waren sie mit der letzten U-Bahn Richtung Neukölln gefahren und kurz vorher an der Station Südstern ausgestiegen, um noch einen Gang durch den Jahnpark zu machen, den alle nur Hasenheide nannten. Simon mochte den Park, weil er auf pittoreske Art heruntergekommen war. Vivian teilte diese Sichtweise nicht unbedingt, wusste aber, dass die Nacht eine der wenigen Gelegenheiten war, wo er ungestört spazieren gehen konnte. Parks waren normalerweise tabu. Die Besucher schlenderten, ließen ihre Blicke schweifen und erkannten ihn dabei mit hundertprozentiger Sicherheit. Dann war es mit der Privatheit vorbei. Sie verlangten Autogramme, wollten ein Foto oder einfach nur mal mit jemandem vom Fernsehen quatschen, auch wenn sie nicht immer genau wussten, wer er war und was genau er moderierte. Hauptsache prominent. Heute schien es Simon besonders wichtig, sein Quäntchen Privatheit auszukosten. Ein gestohlener Spaziergang im Dunkeln. Er legte den Arm um ihre Schulter, aber sie duckte sich weg. »Zu warm«, sagte sie. Sowieso erstaunlich, dass er sich nach dem Vorfall so schnell wieder im Griff hatte.

Wie in jedem Restaurant war ihnen auch im Gartenlokal der beste Platz offeriert worden. Gleich am See hatten sie gesessen und waren, nachdem die übrigen Gäste lange genug geäugt und geflüstert hatten, unbehelligt geblieben. Zu Beginn von Simons Karriere hatte Vivian sich in solchen Situationen oft in den Nacken oder auf die Schulter geschlagen, weil sie dachte, ein Insekt hätte sie gestochen. In Wahrheit waren es die Blicke seiner Fans. Sie verabscheute das: Augen, die sich widerwillig vom Promi lösten und sie ins Visier nahmen. Gefräßige Augen, besonders in Frauengesichtern: Mal gucken, mit wem der Minkoff sich so abgibt. Stolz hatte sie sich früher aufgerichtet und ihr Gesicht trotzig in die Welt gehalten. Heute versuchte sie nur noch, ihre Begutachtung zu ignorieren, so gut es ging.

Auch der Kellner am Lietzensee war keine Ausnahme. Der asymmetrischen Frisur und seiner Ungeschicklichkeit nach handelte es sich um eine studentische Aushilfe, Universität der Künste oder Architektur. Er erkannte Simon sofort, gab sich aber cool, bemüht, kein Aufhebens zu machen. Trotzdem waren seine Fragen nur an Simon gerichtet. Jeder Blick erkundete, ob es ihm schmeckte und er sich wohlfühlte.

Trotz der sommerlichen Temperaturen hatte Simon Kalbshaxe bestellt. »Gibt’s ja kaum noch!« Vivian nahm nur einen Salat mit Putenbruststreifen, gönnte sich dazu aber eine Flasche 98er Pouilly-Fumé.

Ein Rentnerehepaar trat an ihren Tisch. Besonders die Frau – zu braun, zu viele klirrende Armreifen – konnte sich der unausgesprochenen Übereinkunft, Simon in Ruhe zu lassen, nicht beugen. Mit offenem Mund hatte sie gestarrt und ihrem Mann hinter vorgehaltener Hand die Ergebnisse ihrer Observation mitgeteilt. »Wir wollen nicht stören«, setzte der alte Herr unsicher an, »aber könnten wir vielleicht ein Autogramm bekommen?«

Vivian wollte bitten, wenigstens bis nach dem Essen zu warten, doch Simon kam ihr zuvor: »Ich habe leider keine Autogrammkarten dabei!«

»Eine Serviette tut’s auch«, versicherte die Frau schnell und schubste ihren Mann nach vorn.

Es fiel Simon immer noch schwer, Autogrammwünsche abzulehnen. Außerdem hatte er gelernt, dass ein Autogramm schneller gegeben als seine Verweigerung erklärt ist. Doch weder Simon noch der Mann hatten einen Stift dabei. Also wurde der Kellner herangewinkt.

»Na, dann gibt’s wenigstens ein Autogramm auf ein Blöckchen und nicht nur auf eine schnöde Serviette«, lächelte Simon gezwungen und setzte seinen Namenszug unter Bitte ein Bit!

»Vielleicht noch ein Foto?«, drängelte die Frau.

»Bitte!«, sagte Simon zweideutig.

Die Frau nahm dies als Aufforderung. Während sie ihre Digitalkamera aus der Handtasche zog, setzte er sich mit Fotolächeln schon einmal in Position.

»Unser Essen wird kalt«, konnte Vivian sich nicht verkneifen.

»Na los!« Die Frau stieß erneut ihren Gatten an. Brav stellte er sich neben Simon auf, griff nach dessen rechtem Handgelenk, hob es in die Kamera und sagte: »Guck mal, Mutti, jetzt winkt es!«

Simon saß starr. Sein gefrorenes Lächeln drückte solche Fassungslosigkeit aus, dass der Rentner das Handgelenk erschrocken fallen ließ: »Komm jetzt!« Eilig zog er seine Frau fort.

»Hast du das gehört? Es! Es winkt!«

Vivian bestellte zwei Cognac, dann noch mal zwei, aber auch als Simon wieder über Belanglosigkeiten plauderte, merkte sie ihm die Bemühung an. Es war keine tiefschürfende Erkenntnis, seinen Beruf als Rolle zu begreifen, er hatte das längst akzeptiert. Seine Bildschirmfigur war Montage, somit sächlich. Was aber, wenn die elektronische Erscheinung Minkoff den privaten Simon längst gefressen hatte?

»Die Leute sind einfach nur dumm und taktlos!«, tröstete Vivian ihn.

Er zündete sich eine Zigarette an und blickte dem Rauch nach, der sich im Licht bunter Lampions kräuselte. Vergebens versuchte er sich daran zu erinnern, wann er noch ganz er selbst gewesen war, der, für den er sich hielt: begabt für Freundschaft und Liebe, kein Statushengst, aber ehrgeizig, Spuren zu hinterlassen, auf eine erfrischende Art oberflächlich und Gott sei Dank zu feige, seinen wahren Beweggründen stets auf den Grund zu gehen. Doch ihm fiel keine Gelegenheit ein, wo man ihm nicht durch den Filter seines Mediums begegnet wäre. Sri Lanka, Denver, Kapstadt – überall gab es diese entsetzlich reiselustigen Deutschen, die ihn sekundenschnell aus seiner privaten Haut zurück in den Apparat jagten. »Oh, I didn’t know you’re a tv-star!«, staunte dann die nette Malerin in Oslo, mit der er sich so angenehm unterhalten hatte, und es flirrte in ihren Augen.

Simons Vorschlag, noch einen Gang durch die Hasenheide zu machen, war aus einem Fluchtimpuls erwachsen, vor allem aber aus dem Wunsch nach Trost und Nähe. Der Himmel war so dunkel, als hätte jemand eine Decke über die Welt geworfen. »Wer weiß, vielleicht lässt mich der Sender ja zurück nach Berlin ziehen?«, sinnierte er und legte Vivian einen Arm um die Taille. Diesmal protestierte sie nicht.

»Tolle Idee! Dann klingelt von morgens bis abends das Telefon: die Redaktion, die Presse, Veranstalter von Benefizgalas. Nicht zu vergessen die durchgeknallten Fans an der Wohnungstür!«

»Willst du mich loswerden?«

»Quatsch!« Vivian gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Aber die Sache mit dieser Carmen ist schon beängstigend, oder?«

»Wahrscheinlich hätte ich auf ihr Angebot eingehen sollen!«

»Finde ich auch!« Vivian lief ein paar Schritte vor, wohl wissend, dass er sie kneifen oder knuffen würde.

»Was, glaubst du, hätte Carmen mir noch beibringen können?«, rief er und verfolgte die quietschende Vivian über eine Wiese.

»Oh, eine ganze Menge!«, giggelte sie und ließ sich bereitwillig einfangen.

Er umschlang sie und biss in ihr Ohrläppchen. »Ich dachte, du hättest mir alles beigebracht, was man über geheime Obsessionen von Frauen wissen muss?«

»Es heißt nicht ohne Grund geheime Obsessionen!«

Simons linke Hand rutschte unter ihren leichten Leinenrock und fand mit traumwandlerischer Sicherheit sein Ziel. »Wenn du es mir sagst, werde ich dein willenloser Sexsklave!«

»Simon!«, kicherte sie und machte sich los. »Zwei Schnäpse, und schon wirst du zum Lustmolch.«

»Wir könnten zu dem kleinen See gehen und es im Wasser treiben!« Simon schnappte nach ihr, bekam aber nur ihren Ellenbogen zu fassen. Er zog sie an sich, küsste ihre Augen und ließ seine Hand über ihre Brüste fahren, bis die Nippel hart wurden. Sie hatte Lust, das spürte er. Sie würden sich lieben heute Nacht, lange und bissfest.

»Ich weiß, es klingt spießig, aber Sex in freier Natur ist unbequem. Nichts als Insekten und Sand im Getriebe. In Wirklichkeit geht nichts über das gute alte Bett!«

Vivian nahm seine Hände von ihren Brüsten, trat hinter ihn und schob ihn wie ein Kleinkind Richtung Parkausgang. Ihr Lachen war eine Geschenkverpackung.

Hätte er unnachgiebiger sein sollen, drängender? Nach elf Jahren Zweisamkeit waren sie nicht mehr neu füreinander, Gewinn und Niete zugleich. Ihre Gefühle lagen wohlgeordnet. Simon stützte sich auf die bewährte Grammatik ihrer Liebe. Diese Liebe fühlte sich echt an, und er hatte in den letzten Jahren ein Gespür für das Nicht-Künstliche entwickelt. Vielleicht empfand Vivian ihre Liebe aber als zu lasch? Träumte sie davon, weggeschwemmt zu werden? Andererseits war sie in Wesen und Verhalten so ausgeglichen, wie das nur bei Frauen der Fall war. Sah er sie über ihren Rezeptbüchern brüten oder am Herd Geschmacksnuancen ausprobieren, konnte er nicht umhin, die Abgemessenheit ihrer Bewegungen zu bewundern. Eine zierliche Bestimmtheit ging von ihr aus, wenn sie kochte, Einkaufslisten ins Telefon diktierte oder Anweisungen zu Garzeiten und Temperaturen gab.

Sicher, stiller war sie geworden in der letzten Zeit. Aber war das nicht der nötige Schritt ins Erwachsenenleben? Nicht Hinnahme der Gegebenheiten, sondern ein Stand in festen Schuhen, und dennoch Lust und Tauglichkeit nicht verloren zu springen. Simon vergrub die Hände in den Hosentaschen und machte ein paar hüpfende Schritte. Wäre es hell gewesen, hätte sie auf seinem Gesicht ein Lächeln gesehen.

Vielleicht war er eine Ausnahme, aber immer noch konnte er sich an Vivian begeistern, an ihren kühlen Augen, die in Momenten der Ekstase gefährlich ins Dunkle changierten, der Schmunzelfalte nur um den rechten Mundwinkel, der Art, wie sie im Weggehen mit nichts als einem winzigen Hüftschwung eine Begegnung kommentieren konnte. Flüchtig und fest empfand er sie, liebte ihre zupackenden Hände, geschickt an Messer und Mann, das versunkene Innehalten, bevor sie einen wichtigen Entschluss fasste, die Tatsache, dass sie Parfüm weder benutzte noch brauchte. Simons Talent, aus Intuition in Bruchteilen einer Sekunde die eine, die richtige Frage zu formulieren, machte ihn zum Sklaven. Intuition war unberechenbar und konnte mit keinem Trick der Welt herbeibefohlen werden. Deshalb beneidete er Vivian. Sie gründete auf einem Wurzelwerk, das ihr Halt gab. Und damit ihm.

Viele Paare, die sie kannten, führten eine Beziehung wie die Wetterkarte: eine turbulente Abfolge von Hochs und Tiefs, Kampf der Fronten. Bei ihnen war von Anfang an vieles stabil gewesen. Beide wollten nicht heiraten, sie verabscheuten das Pulen des Staates in ihrer Privatheit. Überrascht hatten sie festgestellt, auch keine Kinder zu wollen. Besonders Vivian hatte sich schwer getan, das zuzugeben. Frauen ohne Kinderwunsch galten als herzlos oder karrieregeil. Sie war nichts von beidem, nur überzeugt davon, die nährende Seite ihrer Persönlichkeit in ihrem Beruf als Köchin genügend zur Geltung zu bringen. Bei Simon lag die Sache anders: Nie hatte er das Bedürfnis verspürt, Vater zu werden. Kinder waren ihm gleichgültig. Früher hatten sie geglaubt, ihre Bekannten behandelten sie deswegen wie Gefühlskrüppel, jedoch nach und nach entdeckt, wieviel Neid da mitschwang. Die emotionale, körperliche und finanzielle Überforderung vieler Jungeltern brauchte ein Ventil und fand es in ihnen, dem erfolgreichen, kinderlosen Paar.

Wenn Simon nach seiner Beziehung gefragt wurde, sagte er: »Es geht uns sehr gut!« Er meinte es so. Natürlich war ihr Leben nicht nur Mai. Er neigte zu Panikhandlungen und Jähzorn, sie zu klösterlicher Verschlossenheit. Vielleicht lag hierin der Grund, warum ihr Sexleben zu wünschen übrig ließ. In den ersten Monaten hatten sie selten einen anderen Platz aufgesucht als das Bett. Meist lebten sie bei Vivian, die eine kleine, aber niedliche Zweizimmerwohnung im Berliner Westen ergattert hatte. Neben dem französisch tuenden Balkon war die offene Küche, die gleichzeitig Schlafzimmer war, der Clou gewesen. Rund um ein Himmelbett befanden sich Regale mit Lebensmitteln und Küchenutensilien, dazu zwei Kochplatten und ein viriler Kühlschrank in Schwarz. Manchmal hatten sie tagelang das Bett nicht verlassen, und wenn der berühmte Hunger danach kam, war es nicht weit. Ob Stulle, Pudding oder ein Omelett – alles konnte im Sitzen, Knien oder Liegen zubereitet werden. Manchmal warteten sie nicht einmal bis nach dem Sex. Bis dahin hatte Simon das ganze Getue ums Kochen verlacht, doch seit er Vivian kannte, buchstabierte auch er Essen und Sex auf die gleiche Weise. Ab sofort waren Spaghetti al arrabiata etwas, das schlanke Frauenbeine hinablief, Eiskrem gehörte in die beiden Kuhlen gleich oberhalb ihres Hinterns, und eine Zucchini – wer hätte das gedacht – fand in ihm ein winselndes Futteral.

Damals konnte Simon nicht aufhören, sie anzufassen. Ihre Fragilität trieb ihn zur Weißglut. Er verflüssigte sich fast bei dem Versuch, ihren Porzellankörper so ungezähmt wie möglich zu jonglieren, stets mit ihrem Bersten kokettierend. Alles nur Spiel, denn unter ihrer Blässe pulsierte sehr rotes Blut. »Jetzt fick ich dich durch!«, konnte sie aus heiterem Himmel rufen und sich mit Händen und Schenkeln, Zähnen und Klauen nehmen, worauf sie Lust hatte. Sie sagte ihm, wie sehr sie seinen Körper begehrte, die Brust, deren dunkle Behaarung vom Bauchnabel wie der Rauch eines Lagerfeuers aufstieg, besonders aber, was unterhalb des Rauchs loderte. Wortlos hatte sie ihm beigebracht, wieviel Stärke sich im Innern der Hingabe verbirgt und wie wenig es mit Unterwerfung zu tun hatte, wenn sie auf Knien seine Zehen lutschte, als besäße er zehn Penisse zusätzlich. »Sex oder Frühstück?«, hatte sie manchmal gefragt, und er antwortete mit »Ja«. Das schönste Bild der ersten Monate: beide auf dem Küchenbett, er halb liegend, ein Kissen im Rücken, rauchend, sie kaltblütig auf seinem Schwanz hockend, einen Kaffee in der einen Hand, ein Croissant in der anderen und ein bemerkenswert unschuldiges Lächeln im Gesicht.

Leidenschaft kennt keine Dauer, Simon wusste das. Er behielt diese Zeit lieber wie ein Geschenk in Erinnerung, als ihren Verlust zu betrauern. Förmlichkeit war eingekehrt im Aufeinandertreffen ihrer Körper. Es hatte Zeiten mit wenig Sex gegeben und Zeiten, wo sie mit kindlicher Verschwörermiene aus einem winzigen Funken noch einmal loderndes Feuer entfachen konnten. Doch seit drei, vier Jahren war etwas geschehen, das Simon nicht greifen konnte. Wie vorsichtig sie ihre Worte setzte, wenn sie ihn abwies. Es schien ihr wichtig, jedes Nein mit der Hoffnung auf ein nebulöses Später zu verbinden. Ihre Augen sprachen von einer Verheißung, die ihm gezwungen vorkam. Vielleicht fand sie ihn nicht mehr attraktiv? Er hatte ein paar Kilo mehr auf den Rippen als zu ihrer Schlafzimmerküchenzeit, sie ein paar weniger. Er beschloss, mit ihr zu reden, und versuchte bis dahin, seinem Vorhaben keine Überschrift zu geben. Sie liebten sich doch. Sie liebten sich, und sie würden eine Lösung finden.

2

»Hier! Nur einmal noch! Lächeln!«

»Zu mir! So ist gut! Nochmal! Okay, und jetzt über die Schulter!«

»Hierher! Ich, ich! Krieg ich noch bisschen Bewegung?«

Männergebell, anmaßend. Scheißegal was der Fernsehhampel denkt. Hauptsache, er guckt ins Objektiv. Bloß nicht wackeln! Und Augen auf, verdammt!

»Sekunde noch! Zu mir bitte! Hierher!«

Wenn Simon Minkoff nach dem Inbild seines Berufs gefragt wurde, beschrieb er die »Fotografenwand«. In voller Pracht war sie nur bei den zwei oder drei wirklich großen Galas des Landes zu sehen. Wenn sich zu viele Zeitungen, Zeitschriften, Agenturen und Internetportale akkreditiert hatten, ließ die Eventagentur Podeste bauen und stapelte die Fotografen in die Höhe. Eine gleißende Wand entstand so, durchpulst wie ein Körperorgan. Adrenalin, Ambition, Sorge, Verzweiflung – die Wand schrie, befahl, flirtete, bat manchmal sogar um Gnade, kalkuliert nur, aber immerhin.

Die Fotografenwand war die Ouvertüre zur großen Oper des Medienzeitalters. Angeschwollene Limousinen gehörten dazu, Licht!, Licht!, Licht!, und eine kreischende Fanlandschaft. Das Herzstück aber bildete der rote Teppich. Kein Zauber ohne ihn, keine Wandlung vom Menschen zum Star. Wer ein Glanz geworden ist, darf profanen Boden nicht mehr berühren. Der rote Teppich liegt nicht auf dem Asphalt, er schwebt. Man kann von ihm herunterfallen. Daher die Angst der Unerfahrenen und ewig Unsicheren. Das Herausgehobensein stellt banalste Dinge in Frage: Wie geht das Gehen? Wie setzt man einen Fuß vor den anderen? Welche Muskeln müssen stimuliert werden, damit ein telegenes Lächeln entsteht?

Simon war mit dem Taxi gekommen. Seine Agentur hatte ihm keine genauen Instruktionen gegeben, also lotste er den Fahrer zum Hintereingang des Theaters, erfahrungsgemäß waren dort die Organisatoren zu finden. Er bezahlte, gab ein Autogramm »für die kleine Verena« und stieg fünf Stufen in das schmucklose Vestibül hinab. Von der Stuckorgie der Fassade war hier nichts übrig. Ausrangierte Scheinwerfer auf Stativen versuchten müde, dem Raum etwas Nostalgie einzuhauchen. In der Mitte aufgereihte Stehtische, dürftig mit Nessel verkleidet und nach Alphabet geordnet. Darauf Kartons mit Einladungslisten, Platzkarten, Einladungen zur Aftershow-Party und vielen bunten Bändchen. Die Plastikhandschellen waren die Währung des Abends, ermöglichten je nach Farbe den Zugang zu diversen geschlossenen Bereichen bis hin zur Königsklasse, der VIP-VIP-Lounge.

Galas waren weiblich, regiert von einer besonderen Spezies – der PR-Frau: blond, stimmstark, einen Knopf im Ohr und ein limonadiges Lächeln unter der Nase, das beleidigend rasant verschwinden konnte. Hungrige Assistentinnen in Schwarz beugten sich über eng bedruckte Listen, während ihre arrivierteren Kolleginnen die eintreffenden Gäste bespielten. Obwohl die meisten brav anstanden, schien es im Raum zu wuseln, ein akustisches Wuseln, sich einsingende Stimmen, aus Gewohnheit ein klein wenig naserümpfend. Simon war allein gekommen und wusste nicht, wohin mit sich. Gern hätte er Bekannte begrüßt, aber die Anwesenden kannte auch er nur aus dem Fernsehen.

»Geht gleich los, winziges Sekündchen noch!« Die für ihn zuständige Blonde horchte in ihren Ohrknopf, während sie einen dicken Stapel Ausdrucke durchwühlte. »Ich bin die Lea!«

Eine Virtuosin ihres Fachs, konnte sie gleichzeitig hören, sprechen, schreiben und kunstgerecht strahlen. Simon wusste, dass sie sich selbst Mut zulächelte. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, die negativen Botschaften aus munter gezwitscherten Sätzen zu fischen. Das »Sekündchen« meinte, dass er noch lange auf seinen Wagen würde warten müssen.

Niemand sprach es je aus, aber die Vorfahrt der Limousinen war ein sorgfältig geplanter Krieg. Wer sich durch Talent oder chirurgisches Blendwerk eine Vorfahrt erarbeitet hatte, bemaß seinen Kurswert danach, wann er vorgefahren wurde: die größten Stars zuletzt, der Rest hatte sich einzureihen. Besonders weibliche B-Ware ohne aktuelle Erfolgssendung, aber mit neuem Vorder- oder Hinterteil legte es darauf an, auf den letzten Drücker zu erscheinen. Das brachte manch wirklichen Star dazu, für eine sehr lange Weile in der Toilette zu verschwinden: »Ich mach den Teppich doch nicht vor dieser Rummelplatzkönigin!«

Simon waren die Spielchen egal. Sowieso absurd, läppische zweihundert Meter mit einer Staatskarosse zurückzulegen. Offensichtlich sollte die Welt glauben, Stars würden mit Rädern unter den Füßen geboren. Die PR-Frauen mochten seine Unkompliziertheit. Er wusste es nicht, aber genau deshalb wurde er oft später vorgefahren, als es seinem Status entsprach. Über die Stehtische hinweg schickte er Lea das international adäquate Zeichen und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen.

Bevor er sie anzünden konnte, rannten drei Teenager auf ihn zu, zwei Mädels und ein Junge. Offensichtlich hatten sie die Absperrung durchbrochen, denn zwei sonnenbebrillte Männer mit dicken Armen waren ihnen auf den Fersen.

»Eine Unterschrift, nur eine Unterschrift!«, bettelte eins der Mädchen. Gemalte Pandaaugen und schwarze Fingernägel, sonst nicht unbedingt seine Klientel. Doch bevor sie Simon erreichte, hatten die Wächter sie schon beim Wickel.

»Schon gut«, wiegelte er ab und griff nach dem Autogrammbuch. Drei Autogramme, drei Handyfotos, dreimal herzlich lächeln.

»Echt geil«, bedankte sich das Pandamädchen, wurde aber von den Bodyguards schon hinter die Absperrung verfrachtet.

Simon versuchte nun endlich, sich im böigen Frühlingswind eine Zigarette anzuzünden.

»Mensch, Alter, du auch hier!«

Er blickte auf. Mit seinem Markenzeichengrinsen stand Sebastian Leber vor ihm, Moderator einer Spielshow im Z DF. Seine weißblonde Igelfrisur sah frisch gebaut aus. Simon war schon zwei Mal Gast in Lebers Sendung gewesen und hatte neben anderem Unsinn ein Kickerspiel mit lebendigen Figuren dirigieren müssen. Er mochte die Show, liebenswürdiges Wohnzimmerfernsehen aus der Steinzeit. Leber mochte er auch, zu jung und zu pfiffig zwar für solche Sendungen, aber abgebrüht genug, sich bei erster Gelegenheit in ein besseres Konzept abzusetzen.

Leber zog Simon an sich und beklopfte dessen Rücken. Dann breitete er die Arme aus: »Ich bedanke mich bei Jesus, Christus, dem Heiligen Geist und bei meinem Drogendealer!«

»Träum weiter, Sebastian! Nie und nimmer kriegst du eins von den goldenen Dingern. Da musst du schon Schopenhauer als großes TV-Event verfilmen oder halb Zentralafrika mit Kinderkliniken zuscheißen!«

»Ganz schön herb drauf! Aber wahrscheinlich hast du recht.« Leber piekste Simon in die Seite. »Es gibt da so Leute, denen es gleich von der Nase in den Mund läuft!«

»Bloß kein Neid! Goldene Kamera und Grimme hintereinander weg ist zwar nicht zu verachten, heißt aber auch: Das war’s dann! Für die nächsten Jahre darf ich im Publikum hocken und Kamerafutter spielen.«

»Armer Kerl! Bleibt also doch nur der Drogendealer! Pass auf, erst mal muss ich meine Freundin finden. Die ist irgendwie in ihrem riesigen Abendkleid verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Und falls ich die Preisverleihung überstehe, nehmen wir hinterher vielleicht eine kleine Erfrischung, was?« Er rieb sich die Nase wie ein Kätzchen und verschwand, verschwörerisch nach allen Seiten blickend, im Hintereingang.

Simon versuchte noch einmal seine Zigarette anzuzünden, diesmal mit Erfolg. Tief sog er den Rauch ein und hielt ihn so lange wie möglich in der Lunge. Mit einem wohligen Seufzer stieß er ihn wieder aus. Zum ersten Mal an diesem Abend berührten seine Füße den Boden. Es gab keinen Grund für den fast körperlichen Widerwillen, den ihm die Gala einflößte, im Gegenteil: Weil er für seine Talkshow MM – Minkoff und Menschen in der letzten Saison gleich zwei Großpreise eingeheimst hatte, blieben ihm die Strapazen eines Preisträgers erspart. Wochenlang bevor er die Goldene Kamera erhalten hatte, musste er die gesamte Buntpresse bedienen. Immerhin hatte er sämtliche Homestorys abgelehnt, was er sich als Verdienst an die Brust heftete. In Wahrheit hatte Vivian sich quergestellt: »Das ist dein Beruf, nicht meiner. Die Schmierlappen von der Boulevardpresse kann ich so wenig brauchen wie eine Prostata!« War sie bei der Verleihung der Kamera noch gerne mitgekommen, hatte er beim Grimme schon sämtliche Verführungskünste und einen sündhaft teuren Escada-Fetzen aufbieten müssen, sie nach Marl zu lotsen. Marl ist leicht zu finden: Es liegt am Ende der Welt. Worte wie »Eternit« kommen einem dort in den Sinn, sein Leben lang bei C&A einkaufen müssen, Vorgärten und Vorwerk-Staubsauger. Doch wie sehr er auch über Marl herzog, er war stolz auf seinen Preis. »Gewinnen« konnte man ihn nicht, man bekam ihn verliehen und war damit in der ewig pubertierenden Welt des Fernsehens erwachsen geworden.

Der Sender war selig gewesen. Nach außen hin gab man sich gewohnt abgebrüht, bezeichnete ein Wort wie »Qualitätsfernsehen« als Widerspruch in sich, doch heimlich hatte man sich nach dieser Anerkennung gesehnt wie nach einer positiven Besprechung in der FAZ. Man hatte ihn sogar gebeten, die eher schmucklose Trophäe im Foyer aufstellen zu dürfen, und es hatte ihn mit boshaftem Entzücken erfüllt, dass die Neider unter den Kollegen nun täglich als Erstes daran vorbeidefilieren mussten.

»Simon, wenn Sie mögen, können wir!«, krähte Lea am Rand der Damenhaftigkeit. Als sie seine zerstreute Miene sah, packte sie ihn kurzerhand beim Ellenbogen und dirigierte ihn zur Straße, wo B MWs in Reih und Glied glitzerten.

»Vielen Dank für die Hilfe!«

»Dafür nicht!«, wehte es noch von Leas Lippen, während der Rest ihres Körpers sich schon auf dem Absatz umgedreht hatte.

Ein junger Fahrer stieg aus und riss mit mutmaßlich ironischem Schwung den Schlag auf. Er trug einen erstaunlich gut sitzenden schwarzen Anzug, sah aber trotzdem nach Russenmafia aus. Warum fanden eigentlich alle, es zeuge von Stil, sich unter pfundweise Gel die Haare nach hinten zu schlenzen?

Stöhnend ließ Simon sich in die cremefarbenen Lederpolster fallen: »Hätte ich doch auf meine Eltern gehört und wäre Orthopäde geworden!«

»So waren meine Eltern ganz und gar nicht«, kam es prompt vom Fahrer.

»Wie waren sie denn?«

»Totale Hippies und gegen jeden bürgerlichen Beruf. Meine Mutter ist schon ganz früh nach Nepal ausgewandert.«

»Hart«, murmelte Simon. »Und dann haben Sie beschlossen, kein Bürger, sondern ein ehrbarer Proletarier zu werden?«

»Das hier ist nur ein Nebenjob. Ich habe zuerst Betriebswirtschaft studiert, mache aber jetzt Mundstücke.«

»Mundstücke.«

»Für Holzblasinstrumente! Um genau zu sein: die Blättchen in Holzblasinstrumenten. Das beste Holz dafür gibt’s in Portugal, Robinie, und da machen wir auch die Blättchen.«

»Und? Läuft es gut?«

»Nee«, lachte der junge Mann. »Dann würde ich ja nicht fahren!«

Simon grinste. Es war wie immer: Kaum stellte er eine harmlose Frage, bekam er die kuriosesten Geschichten zu hören. Wer hatte jemals über Blättchen in Mundstücken von Holzblasinstrumenten nachgedacht? Weil dies für die nächsten sechs, sieben Stunden seine letzten privaten Sekunden waren, richtete er noch eben seinen Schwanz, kontrollierte den Sitz der Krawatte, wischte imaginäre Schuppen von der Schulter und gönnte sich einen entnervten Gesichtsausdruck. Dann brachte er sich für die Gala-Schicht in Stimmung: langsam ausatmen, den Atem von alleine wieder kommen lassen, Solarplexus wahrnehmen. Gesichtsmuskeln auch. Ganz ruhig: Es geht um nichts heute Abend, null, nada, niente. Du bist souverän, locker, freundlich. Nicht von Journalisten provozieren lassen, keine VIVA-Moderatorin anbaggern, nicht zu viel trinken.

Er hatte lange gebraucht, um zu begreifen, dass man ein Gesicht nicht »aufsetzt«. Man stellt es her, zieht es gewissermaßen von innen an. Die Maske hinter dem Gesicht stülpt sich aus und gibt den Zügen den gewünschten Ausdruck. Töricht, das Therapeutengerede von der Maske, die man nur absetzen müsse, um zum ominösen wahren Ich zu gelangen. Als gehörten Masken nicht zu unserer Persönlichkeit, spannender meist als jedes mickrige Selbst. An Abenden wie diesem war die Maske Teil der Berufskleidung. Wer ernsthaft versuchte, sein ungeschütztes Gesicht dem öffentlichen Starren auszusetzen, würde Schaden nehmen.

Immer wieder von kurzen Stopps unterbrochen, schlichen sie um den weitläufigen Platz. Zwanzig Minuten später und hundertfünfzig Meter weiter waren sie endlich am Ziel. Nachdem der Limousine vor ihnen eine junge Frau in geschlitztem Weiß und ein alter Mann mit Industriellengesicht entstiegen waren, hüpfte Simons Fahrer wie eine gut geölte Feder aus dem Sitz und riss ihm die Tür auf. Rücken durchgedrückt, Augen gerade, schien er ganz in seiner Mission aufzugehen, den prominenten Fahrgast formvollendet zu eskortieren. Doch Simon spürte genau, mit welcher Gier er die öffentliche Zurschaustellung bis ans Herz sog.

Showtime. Simon gab den Minkoff. Der Gang jugendlich frisch, doch langsam genug, damit die Fans ihre Fotos schießen konnten. Nach rechts und links geblickt, nicken hier, lächeln dort, ein »Hallo, guten Abend!« gutgelaunt in die Abendluft geschwänzelt. Der rote Teppich lief schnurgerade auf die Fotografen zu, knickte dann abrupt nach rechts ab. Die Autogrammjäger suchten die Nähe der Fotografen, weil sie wussten, dass jeder Star hier zum Stehen kommen musste. »Hallo Simon, bitte!«, flehten sie und streckten ihm ihre Stifte hin. Nicht um ein Autogramm gebeten zu werden gehörte zu den großen Demütigungen seines Geschäfts.

Wie gewöhnlich säumten die einfacheren Gemüter das Defilee. Man schaute in Gesichter, die von zu viel Bier und Chips bei stundenlangem Fernsehkonsum zeugten. Feist und rot waren sie oder von erschreckender Blässe, ein Abbild ungewollter Einsamkeit. »Sie machen das ganz toll«, rief eine ältere Frau im pfefferminzfarbenen Sommerkleid und krallte sich in seinen linken Anzugärmel. Ein dürres Mädchen bedankte sich für ihr Autogramm: »Ich hab am Dienstag deine Sendung gesehen!«, eine Bemerkung, die ständig fiel und auf die ihm nie eine gescheite Antwort einfallen wollte. Er posierte für Erinnerungsfotos, wurde umarmt, betatscht, nahm Komplimente entgegen und hatte immerhin am tuntigen Zwergpinscher eines mächtigen Hip-Hop-Türken seine Freude. »Danke, Sie sind viel zu nett zu mir!«, sagte er dann. Und: »Höre ich da jemanden aus Hessen?« Oder er fragte, was die Leute am Abend noch so vorhatten.

Während ein verschwitzter junger Mann für ein Foto den Arm um seine Schultern legte, kontrollierte Simon diskret, wie weit die Prozession hinter ihm gediehen war. Nur Kollegenschweine badeten ungebührlich lange in der Menge und verursachten so einen Rückstau. »Ich muss mal wieder«, sagte er mit entschuldigendem Lächeln, was ihm das erwartete kollektive »Oooch!« einbrachte. Dann ging er zurück auf die Mitte des Teppichs, um sich der Fotografenwand zu stellen. »Bei den Soap-Sternchen schießen wir uns warm«, sagten die Fotografen oft. Ihrem Geschrei nach zu urteilen, waren sie inzwischen heiß.

Wie er es gelernt hatte, schickte Simon seinen Blick im Zeitlupentempo von links nach rechts. Er achtete penibel darauf, jedes Objektiv zu bedienen. Die untere Reihe zuerst, arbeitete sein Lächelgesicht sich Reihe für Reihe nach oben vor. Durch das hysterische Gebrüll (»Simon, hierher!«, »Mal zu mir, bitte!«) durfte man sich nicht irritieren lassen. Bei seinem ersten roten Teppich hatte er sich wie ein Tanzbär gefühlt, der vor kreischendem Pöbel Kunststückchen vorführen soll. Mit unbequemer Miene hatte er sich halbherzig verweigert, die »Lächeln bitte!«-Rufe ignoriert und schnell Reißaus genommen. Wie der letzte Aufrechte war er sich vorgekommen, tapfer der Selbstvermarktung trotzend. Wie naiv und überheblich das war, hatte ihm bei nächster Gelegenheit ein Fotograf vor Augen geführt: »Die Redaktionen, die wir bedienen, kaufen uns nur Bilder von lächelnden Stars ab!«, hatte er in einem Ton gesagt, den man für Trotzkinder reserviert. »Ich kann das schönste seriöse Porträt der Welt von dir schießen, aber keiner kauft mir das ab! Cindy Müller will ’ne geile Party mit schönen Menschen sehen. Wenn du nicht lächelst, verdienen wir nichts, so einfach ist das!«

Mit einem nachdrücklichen »Dankeschön!« verabschiedete Simon sich von den Fotografen und wandte sich nach rechts. Der rote Läufer markierte die Mitte einer monumentalen Freitreppe. Vor ihm keuchte eine beliebte Volksschauspielerin in ihren Achtzigern die Treppe hoch, ständig in Gefahr, an einem Herzinfarkt dahinzuscheiden oder über ihre Schleppe zu stolpern. Simon schloss auf und bot ihr seinen Arm an.

»Hau bloß ab!«, zischte die reizende alte Dame. »Muss ja nicht unbedingt nach Altenheim aussehen!«

Bevor er reagieren konnte, hatte er ein Mikrofon im Gesicht: »Herr Minkoff, können Sie uns mal vormachen, wie ein Partylöwe brüllt?«

»Wie bitte?«

Die Society-Reporterin, ein spätes Mädchen im Look einer minderjährigen Prostituierten, ließ ihre Augen himmelwärts rollen. Sie beugte sich strategisch vor, um Simon einen Blick in ihren Ausschnitt zu erlauben: »Wir haben uns was Originelles überlegt: Jeder soll mal brüllen wie ein Partylöwe! Daraus schnippeln wir dann eine witzige Collage zusammen!« Perlendes Lachen.

»Ein andermal gern«, sagte Simon und ging weiter.

Auf die oberen Stufen hatte die Eventagentur je fünf Statisten in Preußenuniformen platziert, irgendwo zwischen Friedrich II. und Wilhelm II. Blick voran, hielten sie rußende Fackeln in den Händen. Wieso Soldaten, dachte er? Was eigentlich ist so festlich an einem Spalier von Männern, deren Handwerk das Töten ist? Er spürte einen heftigen Anfall von Verdruss und bedauerte, Vivian nicht an seiner Seite zu haben. Weil ihr jede öffentliche Inszenierung gleichgültig war, fiel es ihr leicht, Auftritte wie diesen als Spiel zu nehmen, harmlos und auf eine nette Art kindisch. In letzter Zeit allerdings hatte sie nur verächtlich »Ach, das Getue« gemurmelt, wenn von seinem Beruf die Rede war. Doch selbst wenn sie ihn heute hätte begleiten wollen, wäre es nicht möglich gewesen. Der Andrang war so groß, dass der Veranstalter nur für die ganz großen Stars zwei Karten rausgerückt hatte.

»Du lachst noch nicht mal, wenn ’ne Kuh im Korsett vorbeigeflogen kommt!« Das war unverkennbar Helma, seine Redaktionsleiterin.

»Sehe ich so muffelig aus? Ich dachte gerade, wie öde es ist, mutterseelenallein hier vorzutanzen.«

»Wer ist hier allein?«, lachte sie und hakte sich bei ihm ein. »Pass auf, bevor ich es vergesse: Jauch fragt an, ob du noch mal bei der Promiausgabe von Wer wird Millionär mitmachst. Sie fänden dich toll, aber das muss ganz schnell entschieden werden. Dann will die HÖR ZU ein Statement zu Krimiserien im Allgemeinen und Henning Mankell im Besonderen. Dein Management hat zwei Anfragen für Galamoderationen, einmal Telekom, das andere … Jenaer Glas? Ich weiß es nicht mehr, mach dich schlau. Und deine Agentur bittet um dringenden Rückruf, weil dein Ghostwriter für die Kolumne in tv movie krank ist. Ob du das ausnahmsweise selber schreiben könntest?«

»Kleine Frau, große Klappe«, pflegte sie sich vorzustellen. Manchmal sagte sie auch »Kleiner Arsch, großer Ehrgeiz«, aber das nur unter Freunden. Tatsächlich kaum größer als anderthalb Meter, war es gut möglich, dass sie es bis ganz oben schaffen würde. Sie hasste nichts und niemanden außer ihrem Vornamen, wusste jeden nach seiner Bauart zu nehmen, war loyal und feuerfest. Zur Feier des Tages steckte sie in einem weißen Hosenanzug. Die Hosen hatten so viel Schlag, dass die Pumps, die sie zehn Prozent größer machten, diskret darunter verschwanden. In ihre kurz gehaltenen blonden Locken hatte sie eine weiße Blüte gesteckt.

»Blumenarrangement geplündert?«, feixte Simon

»Woher weißt du das?«

Simon lachte und legte ihr einen Arm um die Taille: »Ich kenne doch meine Redaktionsvorsteherin. Und deshalb weiß ich auch, dass du jetzt liebend gern ein Bier zischen würdest!«

»Vorsicht, er fährt die Charmeur-Tour«, konstatierte sie und lotste ihn schnurstracks zur nächsten und gewiss auch besten Bar. Simon orderte für Helma ein Pils und schnappte sich ein Glas Champagner von einem gut gefüllten Silbertablett. »Wie bist du überhaupt an die Einladung gekommen? Hier herrscht strengstes Kastenwesen.«

»Och, war noch eine über.« Sie hatte das so auffällig beiläufig gesagt, dass er lachen musste, als er vom Barmann das Bier für sie entgegennahm.

»Dann trinken wir auf die Resterampe!« Er brauchte nicht viel , um sich vorzustellen, wie Helma an ihre Einladung gekommen war. Sie vereinte zwei Wesenszüge, die in Kombination äußerst selten vorkamen: Sie liebte Sex und war diskret. Als »Doppelfenster«, wie sie sich bezeichnete, hatte sie freie Auswahl, und da ihre ästhetischen Kriterien so großzügig bemessen waren wie ihr Herz, war das Reservoir potentieller Eroberungen unermesslich. Helma konnte von abstehenden Ohren oder einem dicken Hintern schwärmen wie andere von internationalen Schönheiten. Auch Simons mehr als ausgeprägte Kiefer – er selbst nannte sich »Nussknackerfresse« – fand sie wunderschön. Sollte sie ein Auge auf ihn geworfen haben, verstellte sie sich gut. Simon war bekannt dafür, Affären am Arbeitsplatz zu verabscheuen. Der tiefere Grund dafür war frappant: Er war treu, ohne ein Dogma daraus zu machen. Die verschwiemelte Heimlichkeit von Seitensprüngen fand er eher unbequem als unmoralisch. Außerdem kam die Journaille früher oder später jedem Ehebrecher auf die Schliche. Es gab immer einen Hotelportier, Vermieter oder Tankwart, der für dreißig Silberlinge Schmutzwäsche feilbot. Dennoch ging es nicht nur um die Angst vor Entdeckung, er war schlicht der Überzeugung, dass man einander nicht betrügt. Lieben und ehren – diese Formel traf exakt sein Empfinden. Dabei war er kein unterleibsloser Heiliger. Viel unterwegs, gab es genügend attraktive Frauen, die rasend gern einen Fernsehstar in ihre Trophäensammlung aufgenommen hätten. Simon war mehr als einmal in Versuchung gewesen, doch er hatte stets nein gesagt. Mit einer Ausnahme.

»Noch ein Glas Champagner?«, riss Helma ihn aus seinen Gedanken.

»Würde ich gern, aber dann muss ich die ganze Zeit pinkeln!«

Eine belastbare Blase zählt unabdingbar zur beruflichen Qualifikation eines Fernsehgesichts. Für die Ausstrahlung wurde die Gala zwar auf zweieinhalb Stunden geschnitten, vor Ort aber dauerte sie mindestens doppelt so lange. Der Sender sah es ungern, wenn in den Sitzreihen hässliche Lücken klafften, weil jemand eine schwache Blase hatte.

Langsam wurde es Zeit, die Plätze einzunehmen. Beide waren sie im Parkett gelandet, Helma allerdings außer Kamerareichweite. Er saß in Reihe zehn, eine unverhofft gute Platzierung. An der Sitzordnung ließ sich peinlich genau der aktuelle Marktwert ablesen. Entwürdigend, wenn man Jahr für Jahr weiter hinten landete. Viele Kollegen kamen lieber gar nicht, als vor den Augen der gesamten Branche degradiert zu werden. Vor ein paar Jahren noch hatte Simon im Rang gesessen und sich naiv über den guten Blick gefreut.

»Falls wir uns nie mehr wiedersehen!« Helma stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss aufs Kinn.

»Vielleicht ziehen sie’s ja flott durch!?«

»Hat ’ne Kuh drei Beine?«, seufzte Helma.

Er versuchte zu seiner Sitzreihe zu gelangen, kam aber nur langsam voran. Küsschen hier, Handschlag dort. Manchmal war sogar jemand dabei, den er nett fand. Das Schauspielhaus prunkte mit Klassizismus in Bleu und Lindgrün, Wandmalereien, Stuck und Gipsbüsten von den Humboldts bis Schinkel. In Wahrheit stammte die Preußenpracht aus den Fünfzigern und war Made in DDR, aber das wusste hier niemand. Als Simon Platz genommen hatte, inspizierte er die umliegenden Reihen: vor ihm die Preisträger des Abends, außerdem die Laudatoren und die Verlegerfamilie, die den Preis gestiftet hatte. Dazu kamen ein Innenminister, ein Ministerpräsident, ein Bürgermeister, die ganz großen Schauspielstars und Publikumslieblinge, ein Fußballgott und eine Eislauflegende. Garniert war der Auflauf mit ausgesuchtem Frischfleisch. Es musste nicht extra ausgesprochen werden, doch wenn Nachwuchsschauspielerinnen für ihren Bekanntheitsgrad viel zu nah an der Bühne saßen, wurde im Gegenzug eine gehörige Portion Brust erwartet.

Allenthalben reckten sich Hälse in anatomisch fragwürdige Höhen. Besonders Schauspieler haben die Fähigkeit, gleichzeitig leise und unglaublich schnell zu sprechen, was in der Summe fast einen Windstoß erzeugt. Zwischen den beiden angeblich erotischsten Frauen der Republik wurde ein Blickkrieg ausgetragen. Ein krachlederner Sportmoderator zückte blitzschnell einen goldenen Taschenspiegel und legte mit geübtem Griff etwas Puder nach.

Freundlich nach links und rechts grüßend, fühlte Simon sich verpflichtet, pro forma mit seinen Sitznachbarinnen zu flirten. Leider hatte er zwei Nieten gezogen. Links saß das Gesicht einer beliebten Einrichtungsshow, die das Genre der dreist-untalentierten Moderatorinnen mitbegründet hatte. Erkennungszeichen war ihre überkandidelte Garderobe. Heute hatte sie sich in eine Art tragbaren Vogelkäfig geworfen, aus dem an strategischen Stellen steife Stoffblumen wucherten. Die Frau zu seiner Rechten moderierte die Spätnachrichten eines Privatsenders. Sie hielt sich für die Erfinderin des Intelligenzquotienten, war aber bestenfalls als Konsumentin von Speed rekordverdächtig. In Windeseile beglückte sie ihn mit einem Symposion zum Thema Transatlantiker in der CDU, die auch immer spärlicher gesät seien. Mehrmals warnte sie davor, auf diese Weise die »Indentifikation« mit der jüngeren Geschichte zu beschädigen. Simon überlegte kurz, wie er sie dazu bringen könnte, sich am schönen Wort »Authentizität« zu versuchen, aber eine bombastische Synthesizer-Fanfare vereitelte seinen Plan.

In einem normalen Schauspielhaus würden nun die Lichter ausgehen, hier wurden sie hochgefahren. Kameras brauchen sehr viel Licht. Die gleißende Helligkeit brachte außerdem schweißtreibende Temperaturen mit sich. Hier waren die Damen im Vorteil: Einerseits gezwungen, so viel Fleisch zu zeigen, wie es ihr offizielles Alter erlaubte, waren die luftigen Roben immerhin dem Tropenklima angemessen. Simon und seine Geschlechtsgenossen hingegen schmolzen in ihren Smokings auf Normalformat. Im Laufe des Abends würde man diverse Herren bei dem Versuch beobachten können, salzige Rinnsale aufzuhalten, die von den Schläfen die Ohren entlang suppten, um ekzemfördernd im Hemdkragen zu versickern. Simon war nicht der einzige Mann, der den Moment fürchtete, wenn er daheim sein Jackett auszog und riesige Schweißflecken unter den Armen und Gott weiß wo entdeckte. Glamour sah anders aus. Er roch auch anders.

Zu üppiger Auftrittsmusik kämpfte sich eine hinreißende Frau in schulterfreiem Rot durch eine Nebelwand. Ohne Blick nach unten schritt sie die Showtreppe hinab. Simon klatschte frenetisch. Er wusste nur zu gut, wie halsbrecherisch die paar Stufen sein können. Der starre Lächelblick nach vorn erfordert Übung wie Gottvertrauen. Es ist wie mit der Tasse Kaffee, die man durch den Raum trägt: Nur solange man nicht draufschaut, schwappt nichts über. Selbstsicher und elegant eine Showtreppe hinabzuschreiten, ist eine enorm unterschätzte Kunst.

Die Besten der Besten! / Show! Emotion! Musik! Entertainment! / Die Frage aller Fragen: Wer sind die Preisträger am glanzvollsten Abend des Jahres? / große Gefühle / Und nun: Ein deutscher Weltstar! / Freue mich, dass ich den ersten Preis des Abends / Mutige, großartige Künstlerin! / Vielen, vielen Dank, eine große Ehre! / Musik / Applaus / Fernsehunterhaltung vom Feinsten / Bedanke mich bei meiner Familie, meinem Team, meinem Sender, meinem Intendanten, bei allen, die an mich geglaubt haben, bei meinem Vater/ kranken Vater/ Mutter/ toten Mutter.

Simon war auf Autopilot gegangen. Der hatte vier Einstellungen: aufmerksam schauen, begeistert schauen, lachen, herzlich applaudieren. Das Schlachthauslicht ließ niemanden vergessen, stets im Bild sein zu können. Scheußlich, stundenlang zu dieser Hab-Acht-Stellung verdonnert zu sein. Je länger die Veranstaltung dauerte, desto infantiler kam er sich vor: Ich muss mal! Ich hab Hunger! Ich hab Durst! – Das waren die Klagen des kleinen »Simi« auf Urlaubsfahrt in den Süden gewesen.

Bedanke mich zuallererst bei meinen Fans! /neuer Film / standing ovations / grazie a tutti / always a great pleasure to be in your beautiful city /Engagement / gerechte Welt / Armut und Unterdrückung / neues Buch / standing ovations / profound honour / overwhelmed / Nachwuchspreis / Lachen / Schluchzen / Weinen / Mann, ist das geil!

Der Drang, sich von der Masse zu entfernen, indem man vor sie tritt, zeigte sich besonders in einer obskuren Fähigkeit: An den Saalkameras befindet sich neben dem Objektiv ein rotes Signalfeld. Wird auf eine Kamera geschnitten, gibt sie Rotlicht. Obwohl es winzig ist, weiß jeder im Saal sofort, wann er im Bild ist. Große Kunst, wie Medienmenschen intensiv mit ihren Sitznachbarn tuscheln, dann urplötzlich den Kopf Richtung Kamera reißen und ein Strahlelächeln absetzen.

Charakterschauspieler / großer Dreiteiler / Riesenquote / lauer Applaus / Ballett / Bossa Nova / neue CD / beste Talkshow / nichts ohne mein Team / Fanfare / Lebenswerk / Ministerpräsident / lebende Legende / Meister seines Fachs / Vorbild / Geschichte geschrieben / Messlatte / standing ovations / Tränen / Danke.

Simon checkte kurz die Position der Kameras und gönnte sich einen Sehnsuchtsblick auf die Armbanduhr. Halbzeit erst. Seine Blase meldete sich, vor Augen das kontraproduktive Bild eines kühlen Bieres. Um sich von beiden Bedürfnissen abzulenken, studierte er die Großbildleinwände links und rechts der Bühne. Bei den Publikumsschüssen sahen einige Kollegen nicht mehr taufrisch aus: glänzende Nasen, verrutschte Dekolletees, abgestürzte Frisuren. Er versuchte herauszufinden, welchen der unvorteilhaft aussehenden Stars der Bildregisseur aus purer Bosheit ausgewählt hatte. In dieser Hinsicht konnte er beruhigt sein: Er kannte den Regisseur, eine Muskelschwuchtel, mochte ihn und hatte sicherheitshalber ein klein wenig mit ihm geflirtet, um bei Galas wie dieser auf der sicheren Seite zu sein.

Sobald die Abspannmusik erklang, war niemand mehr zu halten. Schluss mit Contenance. Unter den Rolltiteln lagen zwar noch Saalbilder, aber das große Nesteln hatte schon begonnen. Schuhe wurden diskret wieder angezogen, Kleider gerichtet, Hosen zugeknöpft, Gürtel enger geschnallt. Alte Damen schossen gazellengeschwind Richtung Toilette. Trinker peilten auf kürzestem Weg die nächste Bar an.

Simon wartete unter einer Brahmsbüste auf Helma. Sehnsuchtsvoll träumte er sich in sein Wohnzimmer: Beine hochgelegt, ein Glas Rotwein in der Hand oder etwas zu rauchen. Was für ein unbezahlbarer Luxus, sich fläzen zu können, vulgär zu reden oder schlicht zu schweigen.

»Hochinteressanter Abend!«, rief Helma schon von weitem, ihr Codewort für langweilige Veranstaltung. Selbst sie, die immer noch aus einem versteckten Kniff ihrer Persönlichkeit ein Strahlen hervorkramen konnte, sah geschafft aus.

»Ich fand’s besser als erwartet.« Simon sagte die Wahrheit und wunderte sich, warum es so verlogen klang.

Helma hakte sich bei ihm ein. »Harndrang? Hunger? Durst?«

»Alles drei! Und genau in der Reihenfolge!«

Rauchen hatte Helma erst gar nicht erwähnt, weil Simon schon mit gierigen Fingern eine Filterzigarette aus seiner Schachtel klopfte. Während sie nur mit Trippelschritten vorankamen, zerriss man sich rechts und links schon das Maul. Es gehörte sich nicht, die Giftspritzen gleich vor Ort zu setzen, das hob man sich für Drinks an der Bar und den Telefonmarathon des folgenden Tages auf, aber einige Gäste konnten die Wörter nicht bei sich halten. Fetzen drangen an ihr Ohr – »… abgesaugt und aufgespritzt …«, »… saß doch wirklich frech neben seinem Stecher …«, »… die Laudatio war so romantisch wie ein verstopftes Pissoir!« Helma ließ einen Stoßseufzer hören, als sie die entmutigende Schlange vor der Damentoilette sah, die kollektiv von einem Bein aufs andere trat.

»Kommst halt mit zu den Männern!«, lud Simon sie ein.

»Spinnst du?«

»Kannst dir auch in die Hose machen! Außerdem traut sich sowieso niemand, was zu sagen, wenn ich bei dir bin. Ich pass schon auf!«

Als er die Toilettentür öffnete und Helma das Geräusch laufenden Wassers hörte, kapitulierte sie. Bei den Pissoirs schirmte er sie galant mit dem Körper ab und fand im nächsten Raum eine freie Kabine für sie. »Ich warte auf dich«, versprach er und suchte auch für sich selbst eine. Was für ein Hochgenuss, nach stundenlangem Sitzzwang alle Schleusen zu öffnen! Der perfekte Moment, dachte er, einen Mann auf der Höhe seiner Arglosigkeit zu ermorden. Am liebsten hätte er sich auf den Boden gelegt, Arme und Beine weit von sich gestreckt und laut gesungen. Aber er durfte sich nicht gehenlassen. Es war wie beim Marathonlauf: Stand die Körpermaschine erst einmal still, spürte man den Schmerz und konnte sich nicht wieder aufraffen. Er schloss seinen Hosenstall, klappte den Deckel nach unten und setzte sich hin. Ein winziger Moment Privatheit nur noch. Das Gesicht in den Händen vergraben, kroch Übelkeit in ihm hoch. Dann schoss ihm durch den Kopf, dass er gerade dabei war, seine Frisur zu ruinieren. Er atmete tief durch, betätigte die Spülung und verließ die Kabine.

»Wo bleibst du denn?« Helma stand mit verschränkten Armen vor der Kabine.

»Gott, ihr Weiber legt es wirklich drauf an, noch schneller zu pinkeln als wir«, nölte Simon. Er hielt ihr die gläserne Schwingtür auf, und sie mussten wieder an den Urinalen vorbei.

»Scheiß aufs Händewaschen, nix wie raus hier!«, wisperte Helma und deutete mit diskreter Kopfbewegung zur Seite. Simon folgte ihrem Blick und hätte fast laut losgeprustet: Alle Männer starrten sie an, drehten dann wie auf Kommando den Kopf wieder zur Kachelwand. Ertappte Sextaner. »Fabelhaft! Da hätten wir ja das Klatschthema des Abends: Minkoff und Frau Schneider treiben es auf dem Herrenklo!«

»Was ist denn los? Bist doch sonst nicht so eine Spaßbremse!«

»Entschuldige, ich … ach, weiß auch nicht. Wir kippen uns jetzt einen hinter die Binde und … und …«

»Und ewig singen die Wälder!«, sagte Helma.

Simon prüfte langhalsig, ob die Luft rein war, und zog sie blitzschnell aus der Toilette. Nach der Pinkelruhe schlug ein Ozean von Satzfetzen über ihnen zusammen. Hart erarbeitete Laune perlte eisern durch die Säle, forciertes Lachen und Wortkaskaden mit vielen Ausrufezeichen.

»Keine Feigheit vor dem Feind!«, rief Helma, als habe sie es mit einem Schwerhörigen zu tun. »Komm, wir machen eine Runde Schaulaufen! Dazu sind wir schließlich da.«

Zur Aftershow-Party hatte man die repräsentativen Salons des Hauses gemietet. Weil aber noch weitere tausend Gäste nur zur Party geladen waren, reichte der Platz bei weitem nicht. Durch einen mit weißer Plane überdachten Gang erreichte man eine glasglitzernde Ladenpassage, die für die Party aufgemotzt worden war. Schilder, Auslagen, Papierkörbe – alles, was auf den Alltagszweck hindeutete, war hinter weißen und goldenen Stoffbahnen verschwunden. Dazu hatte man einen Londoner Stylisten eingeflogen, der ausschließlich auf Faltenwürfe spezialisiert war. Zwei Tage lang hatte er nichts anderes getan, als Kilometer von Stoff zu drapieren. Nichts mehr erinnerte an eine schnöde Passage, das Dekoteam hatte die Realität erfolgreich dahingemetzelt.

»Bevor meine Interviews losgehen, sollten wir schnell noch was essen und trinken!«, drängelte Simon.

»Okay: Du bist heikel mit dem Essen, also hole ich uns was zu trinken!« Helga sah aus wie eine Stewardess, die die Lage der Notausgänge erläutert. »Das beste Büffet findest du da hinten neben dem Blumengedöns – Kirschblüten am Fudschijama oder so! Für mich bitte alles, was fett und matschig ist. Für dich keine Zwiebeln, keinen Knoblauch und nichts was tropft!«

Simon salutierte. »Jawoll!«

Im Weggehen drehte sie sich noch einmal um. »Ach, und keinen Käse. Der bleibt in den Zähnen stecken. Sieht auf Fotos scheiße aus!«

Simon nickte und ließ sich ergeben Richtung Büffet schieben. Weit kam er nicht.

»Wunderbar, dass man sich mal wieder trifft!« Die einzige Unterhaltungschefin einer öffentlich-rechtlichen Anstalt verpasste ihm zwei schlabberige Wangenküsse. Lange schon versuchte sie ihn abzuwerben.

Simon war nicht interessiert, aber geschmeichelt: »Wie schön, Sie zu sehen! Wir sprechen uns später noch, ja!?« Wie immer war er heilfroh wenn sein Gegenüber die Art der Begrüßung vorgab. Häufig vergaß er, auf welcher Intimitätsstufe man sich letztes Mal getrennt hatte: Händeschütteln und »Sie« oder die Hamburger Variante: Handschlag und »Sie«, aber mit Vornamen? Es gab den unverbindlichen Klaps auf die Schulter und die kurze Umarmung, die moderate Umarmung inklusive Schulterklopfen sowie die Umarmung mit pferdestehlendem Kuss, den Kuss pur auf eine Wange (oder beide) und schlussendlich – selten, aber wirkungsvoll – den Handkuss. Aus Unsicherheit geriet Simon die jeweilige Herzlichkeitsbezeugung oft zu einem linkischen Gehampel, bei dem ein Schulterklopfen oder ein Kuss merkwürdig vage in der Luft kleben blieben.

»Oh, du auch hier!«, tönte eine tuntige Stimme aus Frauenmund. Bei Anlässen wie diesem arbeitete die überschminkte Matrone mit extrem grellen Outfits, an denen keine Kamera vorbeikam. Heute hatte sie sich für ein Dirndl in den Ausmaßen Baden-Württembergs entschieden. Ihre untergewichtige Karriere als Komikerin polsterte sie mit Skandalen auf. Letztes Jahr hatte sie eine Tumoroperation an ihren Haussender verkauft. Gnädig hielt sie ihm eine Wange hin, begrüßte aber gleichzeitig schon einen neuen Bekannten: »Oh, du auch hier!«

Endlich am Büffet, wurde Simons Magen zum Raubtier. Es gab Lazy Lobster in der Karkasse, Jakobsmuscheln auf einer Estragon-Granatapfelvelouté und Kalbsfiletspitzen in Bananenblättern. Er nahm von allem etwas und fügte noch ein paar Austern sowie ein Sorbet vom belgischen Klosterbier hinzu. Seine Ausbeute behutsam balancierend, machte er sich auf den Rückweg. »Für den kleinen Hunger zwischendurch?«, rief jemand ironisch. Ohne die vollen Teller aus den Augen zu lassen, lugte er zur Seite. Sebastian Leber winkte von Ferne mit etwas, das wie ein Zwerghuhn aussah, eine Wachtel vielleicht. Seine Freundin stand neben ihm. Die hatte er also wiedergefunden, dafür aber seine Frisur verloren. Das Haargel hatte seinen Dienst aufgekündigt und die blondierten Spitzen gefällt.

»Warst schwimmen?«, feixte Simon.

Leber knabberte einen letzten Rest vom Wachtelbein, steckte es sich grinsend in die fettigen Strähnen und rollte kannibalenhaft mit den Augen. Genau deswegen mochte Simon ihn: Er war ein Kind. Ein ambitioniertes Kind zwar, aber ein Kind.

»Schnell, schnell, ich habe einen Tisch für uns klar gemacht!«, zischte Helma, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie schnappte sich die Teller und führte ihn zu einem Stehtisch. Neben ihrem Pils prickelte müde ein blasses Getränk.

»Schorle? Das ist nicht dein Ernst!?!«

»Wenn du auf nüchternen Magen Alkohol kippst, kannst du die Interviews gleich vergessen!«, befand sie knapp.

Wie aufs Stichwort näherte sich ein Fernsehteam der ARD. »Können wir eben?«, fragte der Reporter, ein Mann Mitte fünfzig mit schulterlangen grauen Locken. Simon kannte ihn seit Jahren. Er hatte eine legendäre Konstitution und war auf jeder größeren Gesellschaft zu finden, häufig an fünf, sechs Abenden die Woche, manchmal auf zwei oder drei Partys pro Abend. Auf eine verquere Art bewunderte Simon ihn: Wie konnte man einen Beruf ertragen, der aus Lawinen von Smalltalk, Alkohol, Neid und Hybris bestand? Abend für Abend adoptierte Vulgäradelige, kamerageile Pipimädchen, bräsige Friseure. Ein Königreich für meine Jakobsmuscheln, dachte er sehnsüchtig, ließ sich aber nichts anmerken. Der Reporter gab dem Kameramann ein Zeichen, und schon erstrahlte das Kameralicht. Obwohl klein und mit Gaze abgedeckt, tauchte es die Szenerie in brutales Weiß. Diese Kühle sollte in den kommenden Stunden sämtliche Anwesenden verfolgen. Helma hatte schon eine Puderdose gezückt und betupfte fachmännisch Simons Gesicht: »Okay, ihr könnt!«

Der Graukopf hatte seinen schwachen Tag und fragte Simon nach den Highlights des Abends. So flau starteten sonst nur Anfänger. Seit auch die Öffentlich-Rechtlichen auf dem Boulevard anschaffen gingen, musste man sich schon etwas Pfiffigeres ausdenken. Simon hatte jede Variante von »originellen« Gala-Interviews erlebt. Mal sollte er seine Antworten singen, dann sie pantomimisch darstellen. Man hatte ihm Stoffpuppen und Zeichenstifte in die Hand gedrückt, ihn zu tanzen aufgefordert, einen Zauberer gebeten, ihm während des Interviews die Brieftasche zu stehlen, und ihn genötigt, die Körbchengröße anwesender Schauspielerinnen zu erraten. Ein Reporter hatte sich nicht gescheut, ihn nach der erotischen Komponente von Beerdigungen zu fragen. Um den Interviewmarathon durchzustehen, verpflichtete er Helma, zwischen den Interviews Rotwein zu besorgen. Als sie gegangen war, dröhnte eine vertraute Stimme: »Von einem gewissen Niveau an kann man nicht besser sein als andere, nur anders!« Die Sentenz kam von einem schwergewichtigen Großschauspieler, den Simon ins Herz geschlossen hatte, seitdem sie nach einer Talkshow gemeinsam die Hotelbar dezimiert hatten. Simon nahm noch einen Schluck tote Schorle, trat dann unbemerkt hinter den Schauspieler und kniff ihn in den Hintern.

»Oh, wer fasst mir gerade an den Po?«, fragte der mit Buster-Keaton-Miene in die Kamera. Dieser Satz würde es gewiss in den Beitrag schaffen!

Im Akkord Interviews zu geben war Schwerstarbeit. Schlimmer war nur, keine zu geben. Wenn Simon sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er in den VIP-Bereich lugen. So zahlreich waren dort die Kamerateams, dass die anheimelnde Lichtstimmung eines Schlachthauses herrschte. Die Ausgezeichneten hatten ohne Unterlass stolz und dennoch bescheiden zu strahlen. Ihn schauderte, als er das vor falscher Dankbarkeit verzerrte Gesicht eines Showmasters sah. Dessen Image als Mann des Volks saß so fest wie seine Haut. In der Arbeit allerdings entpuppte er sich als cholerischer Despot, der alle Frauen des Stabs entweder betatschte oder als »Trockenfotzen« bezeichnete. Talent und Charakter, das hatte er in sechs Jahren Fernseharbeit gelernt, fanden sich selten im selben Körper.

Simon plauderte mit sämtlichen öffentlich-rechtlichen Sendern inklusive der Dritten, mit allen Privaten, diversen Zeitungen, Radiostationen, Internetradios und Online-Diensten. Er wurde ernst für eine saarländische Schwulenpostille und war lustig bei einer Schülerzeitung aus Norderstedt. Als sich ein Team von n-tv näherte, gab er Helma ein nicht sonderlich diskretes Zeichen, für Rotweinnachschub zu sorgen. Die schoss ihm einen Warnblick, trottete aber ergeben zur Bar. Simon war zwar Profi, aber manchmal schien seine private Person die öffentliche Hülle sprengen zu wollen. »Kack die Wand an!«, empörte er sich dann. »Was ist mit mir? Was ist mit meinen Wünschen?« Wenn er »Kack die Wand an!« rief, herrschte Alarm. Dann musste man ihn außer Hörweite schaffen, bevor sein Mundwerk Schaden anrichten konnte. Schweren Herzens nahm sie ein Glas Rotwein vom Tablett einer türkischen Servicekraft, blickte ihr einmal tief in die Augen und ging zurück zu Simon.

»Jetzt reicht’s aber!«, erklärte der gerade mit kaum unterdrücktem Zorn einer jungen Reporterin. Das Mädel zuckte zusammen. Um reifer zu erscheinen, hatte sie sich in ein kleines Schwarzes mit weißem Pelzkragen geschmissen. »Ja, gut«, hauchte sie und zog mit ihrem Kameramann geknickt ab.

»Was ist passiert?«, fragte Helma, aber Simon brummte nur ungnädig »Praktikantenstadl«.

Solange jeder zweite Schulabgänger in die Medien wollte, war der Nachschub an Praktikanten unendlich. Sie arbeiteten viel, kosteten wenig oder nichts und waren für ihre Ausbeutung noch dankbar. Die Privatsender wären auf der Stelle zusammengebrochen, hätte man ihnen die preiswerten Allzweckwaffen gestrichen. Doch ob das Pelzmädel wirklich Praktikantin war oder nicht, machte letztlich keinen Unterschied. Auch Reporter wurden neuerdings so schlecht bezahlt, dass sie sich kaum noch Mühe gaben. Stattdessen versuchten sie mit einem Trick auf ihr