Ein Meer aus Licht und Farben - Sylvia B. Lindström - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Meer aus Licht und Farben E-Book

Sylvia B. Lindström

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach einer schmerzlichen Trennung sieht Sylvia Brandis in Deutschland als alleinerziehende Mutter ohne Job und festen Wohnsitz einer ungewissen Zukunft entgegen. Also gibt sie ihrem Leben eine ganz neue Wendung und wandert mit ihrem dreijährigen Sohn Hauke nach Schweden aus – ein Land, das sie lediglich aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern kennt. Ihr Sehnsuchtsort ist eine heile Welt mit einsamen Wäldern, Seen, gemütlichen Holzhäusern, mit freundlichen und toleranten Menschen. In einer solchen friedvollen Idylle soll Hauke aufwachsen. Doch der Alltag auf Öland, einer Insel im Südosten Schwedens, wo sie schließlich landet, sieht anders aus: Wer hier Fuß fassen will, darf sich für keine Arbeit zu schade sein. Und so gründet Sylvia zusammen mit einem öländischen Fischer eine kleine Firma, die Holzpferde herstellt. Sie verdingt sich zudem als Dolmetscherin, Zeitungsbotin, Aushilfskraft im ambulanten Pflegedienst, Märchenerzählerin für Kinder und Erwachsene und Spezialistin für Problempferde. Nach der Hochzeit mit Haukes »Wunschvater« ist ihr Glück allerdings noch lange nicht perfekt. Denn das Leben hat noch weitaus mehr mit Sylvia vor …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 321

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Sylvia B. Lindström

Ein Meer aus Licht und Farben

Mein Neubeginn in Südschweden

eISBN: 978-3-95910-325-1

Eden Books

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe

Copyright © 2021 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edenbooks.de | www.edel.com

1. Auflage 2021

Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

Die zitierten Zeilen im Kapitel »Kalksteppe mit Nachtigall« entstammen dem Gedicht »Den Meningslösa Hettan« von Bruno K. Öijer aus dem Band Medan Giftet Verkar (Verlag W&W, 1990).

Projektkoordination: Juliane Noßack und Julia Gommel-Baharov

Lektorat: Dr. Matthias Auer

Covergestaltung: Johanna Höflich

Innenabbildungen: © RedKoala / Shutterstock 238303792

E-Pub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhaltsverzeichnis

Schweden für Anfänger

Willkommen im Niemandsland

Kalksteppe mit Nachtigall

Der Gegenwert von Liebesbriefen

Epilog

 

 

Für den kleinen und den großen Hauke.

Es sollte zwar eigentlich umgekehrt sein –doch ich habe so viel von beiden gelernt …

SCHWEDEN FÜRANFÄNGER

Nach Norden, das stand bald schon für mich fest. Es war ein aus der Krise geborenes Abenteuer. Nach einer unglücklichen Zeit mit einem Mann, der mir nicht gutgetan hatte, wollte ich die persönliche Niederlage schließlich in etwas Positives umwandeln. Mit Schweden hatte meine Sehnsucht nach einem neuen Leben endlich einen Namen: Wer denkt bei Astrid Lindgrens Heimat etwa nicht an idyllische Dörfer wie Bullerbü und starke Mädchen wie Pippi Langstrumpf?

Mein Entschluss stand fest: In diesem lustigen und toleranten Land, das ich bislang einzig aus Büchern meiner Kindheit kannte, wollte ich in Zukunft ohne den vergangenen Beziehungsstress glücklich und zufrieden leben.

Wenn schon Abschied, dann auch richtig, sagte ich mir, denn an Sehnsuchtsorten wohnt das Glück. Glück bringt Spaß, das weiß jeder, und womöglich kann es sogar verzaubern: Vielleicht macht es aus dir einen nagelneuen Menschen – oder aber einfach nur dich selbst. Beide Alternativen schienen mir verlockend, jede auf ihre Art.

Eines setzte ich mir von Anfang an zum Ziel: Das Haus, nach dem ich suchte, sollte mitten auf dem Land liegen. Oder von mir aus auch mitten im Wald. Wenn schon Nachbarn, dann bitte in gehörigem Abstand. Und auch keine größere Stadt in der Nähe. Dafür gern einen verwunschenen See. So ein rotes Holzhaus mit weißen Tür- und Fensterrahmen sollte es sein.

Als Deutsche stellt man sich ja gemeinhin Schweden gern so vor. Eine Veranda mit Blick in die schöne, friedvolle Natur. Elche und Rehe in Sichtweite. Eine gemütliche Wohnküche mit einem Holzofen, in dem ein Feuer bollert, wenn es draußen wieder kälter wird. Jetzt allerdings stand der Sommer vor der Tür. Da war das ganze Leben einfacher. Doch wie oder wo in Schweden sollte ich ein solches Traumhaus finden?

Ich nahm Kontakt zu einem auf Skandinavien spezialisierten Hamburger Makler auf.

»Wenn Sie auf ein paar Bequemlichkeiten verzichten können, habe ich einige malerische abgeschiedene Holzhäuser für ein Ei und ein Butterbrot im Angebot«, sagte er.

»Und was kostet so ein Butterbrot?«, fragte ich.

»Ungefähr so viel, wie Sie in Hamburg für eine Garage bezahlen müssen.«

Das hörte sich vielversprechend an und entsprach beinahe meinem Budget.

Ich hatte allerdings eher an mieten als an einen Kauf gedacht.

»Und was bedeutet ›auf Bequemlichkeit verzichten‹?«

»Ein Plumpsklo in einem separaten Gebäude und kaltes Wasser – aus einer romantischen Schwengelpumpe auf dem Hof. Doch durchaus Elektrizität, in den meisten Fällen jedenfalls«, lautete die Antwort.

»Damit kann ich leben«, dachte ich laut, und er antwortete: »Sie hören demnächst von mir …«

Er hielt sein Wort. Bald schon lag ein dicker DIN-A4-Umschlag im Briefkasten.

Ich zog mich sofort mit ihm in mein Zimmer zurück, las die Beschreibungen der Objekte und sah wieder und wieder die Fotos diverser roter, gelber und braun gebeizter Holzhäuser an.

Dann suchte ich die Orte auf der Schwedenkarte meines alten Schulatlasses, fuhr mit dem Finger von einem verwunschenen Ort zum nächsten, ließ mir die schwedischen Namen auf der Zunge zergehen und begann von meinem neuen Leben zu träumen.

Meine Pläne fanden nirgendwo Beifall. Ganz im Gegenteil.

»Schweden?«, fragten Freunde und Bekannte. »Warum ausgerechnet Schweden?« Was ich dort zu suchen hatte, fand man völlig rätselhaft, denn ich kannte niemanden im ganzen Land und beherrschte nicht einmal die Sprache. Was sei das für eine leichtfertige Laune? Woher diese unverantwortliche Lust auf Abenteuer? Für eine junge Mutter jedenfalls völlig unpassend und zudem auch egoistisch. Denn ich nähme meinem kleinen Sohn damit den Vater. Und Blut sei nachweislich immer noch dicker als Wasser …

Mein Sohn Hauke hatte ein großes Herz und eine blühende Fantasie. Man konnte sich mit ihm bereits gut unterhalten. Ich konnte es kaum fassen, dass es demnächst bereits drei Jahre her sein sollte, dass er in Rendsburg nach den neun bislang schwierigsten und tränenreichsten Monaten meines Lebens dann endlich zur Welt gekommen war.

Ich kann das hübsche, glatte Gesicht des Kaiserschnittbabys noch immer vor mir sehen. Die Krankenschwester hatte es auf einem enormen Kissen soeben in mein Bett gelegt, und, noch benommen nach der Narkose und den Strapazen seiner schwierigen Geburt, betrachtete ich das namenlose Menschenwesen und stellte erstaunt fest, dass man tatsächlich jemanden lieben kann, den man nicht im Geringsten kennt.

Der Kindsvater war abwesend. Ich hatte bereits damit gerechnet, dass es an mir liegen würde, dem Kleinen einen Namen zu geben.

Mein Vater hatte uns Kindern gern Theodor Storms dramatische Novellen vorgelesen: Vor allem die um den Schimmelreiter und Deichgrafen Hauke Haien hatte mich besonders fasziniert.

»Was hältst du von ›Hauke‹?«, fragte ich das Baby auf dem Kissen.

Ein passender Name, wie mir schien. Meiner Liebe zur Literatur, den Pferden und meiner Heimat Schleswig-Holstein geschuldet.

Der Neugeborene nuckelte zufrieden an seinem Daumen. Offenbar hatte er nichts gegen den Namen einzuwenden.

Plumpsklo und kaltes Wasser aus dem Brunnen draußen auf dem Hof. Warum nicht? Das war mal etwas Neues und jedenfalls besser als Einsamkeit zu zweit.

Noch ehe ich weiter über mögliche und machbare Einschränkungen im Alltag nachsinnen konnte, erreichte mich ein Anruf aus Göteborg. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich. Erst in gebrochenem Deutsch, dann fuhr sie auf Englisch fort.

»Sylvia. Ich habe gehört, du möchtest bis auf Weiteres mein altes Bauernhaus in Tegelvik mieten?«

»Da wissen Sie ja mehr als ich«, erwiderte ich leicht verblüfft.

»Wir sagen Du in Schweden«, verbesserte sie mich. »Ich heiße übrigens Eva.«

»Schön. Dann erzähle mir doch bitte etwas mehr über Tegelvik.«

Das tat sie gern. Es handelte sich um den Elternhof ihres Vaters, den zuletzt dessen jüngerer Bruder Åke als Landwirt bewirtschaftet hatte. Doch der sei vor gut zwanzig Jahren Rentner geworden und ins nahe gelegene Dorf gezogen. Seitdem sei das Bauernhaus unbewohnt.

»Und dein Vater, Eva?«, fragte ich.

»Oh, der ist 94 und erfreut sich bester Gesundheit. Er wohnt seit über siebzig Jahren in Falkenberg, das Leben auf dem Land ist nichts für ihn. Er hat mir kürzlich den Hof überschrieben. 450 Hektar Wald gehören dazu, die verwalte ich mithilfe einiger Fachleute, und das Acker- und Weideland ist an einen Bauern in der Gegend verpachtet. Doch das große Bauernhaus steht schon allzu lange leer. Mein Onkel Åke hat das Notwendigste renoviert, es ist nun absolut bewohnbar. Ein schönes Haus in wunderbarer Lage. Ich bin sicher, es wird dir gefallen«, sagte sie. »Ich habe gehört, du hast ein kleines Kind?«

Sie hatte von meinen Umzugsplänen und so manchem familiären Detail von einem dänischen Pferdezüchter erfahren, der jeden Herbst nach Schweden zur Bockjagd fuhr. Ein flüchtiger gemeinsamer Bekannter.

»Ja. Einen Sohn. Er wird in diesem Sommer drei.«

»Oh«, sagte sie auf eine Weise, die mir verriet, dass sie Kinder mochte und leider selbst keine hatte. »Wann kommt ihr beide denn, um euch das Haus mal anzusehen?«

Ich zögerte noch, doch sie fuhr bereits fort: »Mir passt es gut am kommenden Wochenende. Nehmt die Fähre von Grenå nach Varberg. Die Überfahrt dauert gut vier Stunden, das wird deinem kleinen Jungen gefallen. Ihr esst gut, auf der Fähre gibt es ein ausgezeichnetes Büfett. Und ich warte in Varberg am Hafen auf euch und fahre dann mit meinem Auto voran.«

Tegel bedeutet »Ziegel«, und vik bedeutet »Bucht«. Das schlug ich sofort in dem schwedisch-deutschen Wörterbuch nach, das ich mir kürzlich angeschafft hatte. Tegelvik, murmelte ich leise vor mich hin, als ich Hauke in eine Decke wickelte und in seine alte Kinderkarre setzte. Er passte gerade noch hinein. Ich konnte jetzt unmöglich still sitzen.

Auf unserem langen spontanen Spaziergang ruckelte die Karre über den grasbewachsenen Mittelstreifen der endlosen Wirtschaftswege außerhalb des Dorfes, und ich erzählte meinem Sohn von unserer bevorstehenden Reise.

»Wir fahren mit einem großen Schiff nach Schweden. Was hältst du davon?«, fragte ich, und Hauke erwiderte, so wie es einem Nachwuchs-Optimisten seines Kalibers entsprach: »Oh ja, toll!«, um erst nach einer Weile zu fragen: »Was ist eigentlich Schweden, Mama?«

Ich erklärte es ihm, und er hörte aufmerksam zu.

»Gibt es in Schweden Tiere?«, wollte er wissen und war zufrieden, als ich sagte: »Klar. Jede Menge. Es wimmelt sogar geradezu von Tieren.«

Dann hörten wir auf zu reden, und gegen meine sonstige Gewohnheit sang ich beim Gehen ein einfaches Lied. Es kam mir gerade in den Sinn und verwandelte sich sogleich in einen Ohrwurm. Der Text war ebenso holprig wie der Weg, auf dem ich nun getrost voranschritt.

In meinem Lied reiste Hauke mit seiner Mama in ein Wunderland mit gastfreundlichen Elchen, Füchsen und Rehen, die alle kein einziges deutsches Wort verstanden. Als ich es zum dritten Mal gesungen hatte, war Hauke eingeschlafen, und ich sang es, um mir Mut zu machen, noch ein viertes Mal – diesmal ganz für mich allein.

Nach Schweden! Mitten in der Nacht fuhren wir los.

Ich habe es nicht gern eilig und hatte für die Fahrt nach Grenå sechs Stunden berechnet.

Leicht schlaftrunken machte Hauke es sich in seinem Kinderstuhl auf dem Rücksitz bequem. Sein persönliches Gepäck bestand aus den beiden Stoffkatzen Anja und Nang und der unverzichtbaren Kuscheldecke, einem pastellfarbenen Schlafsack aus vergangenen Babytagen. Auf der leeren Bundesstraße schaltete ich das Fernlicht an und sang unser neues Schwedenlied:

Hauke und seine Mama

Das ist wohl der Hammer

Fahren bald nach Schweden

Wo die Elche leben

Und die Füchse schwedisch reden

Wo die Mäuse nagetanzen

Jeder fröhlich ist im großen Ganzen

Und auf seine eigene Art.

Darauf freu’n sie sich

Ziemlich fürchterlich …

Mein tapferer, kleiner Reisekamerad summte anfangs leise mit, doch verstummte bald und wachte erst wieder auf, als wir die Grenze nach Dänemark bereits passiert hatten.

1,82 Meter lang. Und blonde halblange Haare. So hatte Eva sich selbst beschrieben. »Ich bin leicht zu erkennen«, hatte sie gesagt.

Abgesehen von der Haarfarbe traf die Beschreibung auch auf mich zu: 1,82 Meter lang, halblange dunkle Haare. Wir würden uns am Zoll im Hafen von Varberg kaum verfehlen können.

Mein betagter blauer Kombi wurde von den Zollbeamten freundlich durchgewinkt.

Die schlanke blonde Frau, die, an ihren Kleinwagen gelehnt, schon nach uns Ausschau hielt, sah aus, wie man sich eine typische Schwedin vorstellt: blond, blauäugig und sportlich-elegant.

Nun hatte auch sie uns entdeckt, hob eine Hand und machte mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Mir fiel ein, dass ich, falls wir uns aus den Augen verloren, keine Adresse des Hauses hatte. Doch meine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Auf der Straße herrschte wenig Verkehr, und nicht nur Eva fuhr sehr langsam.

Die Zeiger der Uhren schienen sich hier in Schweden wie erwartet und erhofft im Allgemeinen ein wenig langsamer zu drehen. Ich begann mich zu entspannen. Was sollte eigentlich schon schiefgehen mit dem eifrigsten aller Reisebegleiter an meiner Seite, der hellwach aus dem Autofenster sah und alles kommentierte?!

»Ich sehe einen Vogel, Mama! Ein gelbes Haus. Einen Mülleimer. Und ganz viel Wasser.«

Der reißende Fluss zu unserer rechten Seite hieß Ätran. Das wusste ich aus meinem Schulatlas. Auch der Hof Tegelvik liege im Ätrantal, hatte Eva mir am Telefon gesagt.

Wir bogen links ab, und die schmale Landstraße schlängelte sich bald durch eine liebliche grüne Landschaft mit roten oder gelben Holzhäusern hinter weiß gestrichenen Zäunen. Selbst die meisten Stallgebäude waren aus Holz gebaut. Hier weideten ein paar Kaltblutpferde, dort einige Kühe oder Schafe. Nichts zeugte von der Massentierhaltung, die in Deutschland bereits gang und gäbe war, und dem Sterben aller kleineren Höfe, einer Folge von Brüssels Landwirtschaftspolitik.

»Eine Tigerkatze, Mama. Ich sehe ein Huhn! Und noch eins! Ganz viele. Da liegt eine Plastiktüte. Da ein Fahrrad mit einem Platten …«, hörte ich vom Rücksitz her.

»Welche Farbe, glaubst du, hat das Haus von Tegelvik?«

»Ich sage rot!«, rief Hauke.

»Ich setze auf gelb.«

»Rot ist aber am schönsten, Mama!«

»Na gut, dann sagen wir rot!«

Das Haus war weiß, und es war riesig. Es lag außerhalb eines Dorfes mit dem gut gelaunten Namen Östra Frölunda. Wir waren am Gutshof mit seinem schlossähnlichen Wohngebäude und der Wassermühle vorbeigefahren und einem Schotterweg in Richtung Wald gefolgt. Und dort, am Waldrand, umgeben von Weiden, auf denen friedvoll eine Herde weißer Kühe graste, lag die Einfahrt zu Tegelvik, die in einem kleinen Rondell mit Wildwuchs und einer Linde endete.

Eva hieß uns willkommen und zeigte Hauke den imposanten Haustürschlüssel, so groß wie ihre Hand. Dann schloss sie auf und führte uns durch das Haus mit seinen vielen leeren Zimmern.

Außer einem Küchentisch, zwei Stühlen und einem spartanischen Bett mit Eisenrahmen in einem der Zimmer im oberen Geschoss war das herrschaftliche Holzhaus unmöbliert. Die Küche war geräumig, das Wohnzimmer mit Parkettboden und offenem Kamin glich einem Saal, in dem man tanzen konnte.

Das große Zimmer direkt im Anschluss an die Küche hatte Eva bereits als Haukes Kinderzimmer vorgesehen.

»Gefällt es dir, Hauki?«, fragte sie. An den nordfriesischen Namen Hauke konnte sie sich einfach nicht gewöhnen, hatte es bereits mit Åke und Håkan probiert und war nun schließlich bei Hauki geblieben. Der Name klang lustig und irgendwie ein bisschen japanisch. Und Hauke hatte nichts dagegen.

Er versicherte Eva, dass er das Zimmer sehr möge.

Hauke hatte bislang noch kein eigenes Zimmer gehabt, und ich zweifelte daran, dass er wirklich hier allein schlafen wollte, während sich mein zukünftiges Schlaf- und Arbeitszimmer (das mit dem Eisenbett!) unterm Dach des Hauses befand. Aber all das würde sich finden, wenn wir wirklich hierherzögen.

Eva hatte eine Thermoskanne mit Kaffee, eine Flasche Limonade für Hauke, belegte Brote und Hefegebäck aus ihrem Picknickkorb gezaubert und rasch den Küchentisch gedeckt.

»Setzt euch. Höchste Zeit für fika«, sagte sie.

Fika? Das war ganz offenbar ein wichtiges schwedisches Wort, das man sich merken musste.

Eva gab mir recht. Fika ist eine Mischung aus gemütlichem Kaffeetrinken und Picknick. Man kann anstatt Kaffee auch Saft trinken und isst dazu belegte Brote oder Kuchen, gern mit Zimt und Zucker bestreutes Hefegebäck, kanelbullar genannt.

Fika bedeutet Atemholen im Alltag, fünf Minuten Pause und macht in Schweden nicht nur den Arbeitstag, sondern ganz allgemein das Alltagsleben »menschlich«. Dank Evas Käsebroten mit Gurkenscheiben und Kaviarcreme schmeckte dieses allererste schwedische Wort überaus gut, und es würde uns keinerlei Schwierigkeit bereiten, es für immer im Gedächtnis zu behalten.

»Nur der Form halber«, sagte Eva. »Du und Hauke, ihr würdet hier im Hause dann allein leben?«

»Stimmt genau.«

»Du bist also …« Sie warf einen schnellen Blick auf Hauke, der im Nachbarzimmer mit einem großen Kasten Holzbauklötze voll und ganz beschäftigt war. »… alleinerziehende Mutter?«

Ich nickte. Das entsprach im Grunde ja der Wahrheit, denn als unverheiratete Mutter hatte ich nach damaliger Rechtsprechung automatisch das alleinige Sorgerecht für mein Kind.

»Und was arbeitest du? Ich meine, womit wirst du euch ernähren?«

»Gute Frage«, sagte ich, denn auch darüber hatte ich selbstverständlich bereits nachgedacht. »Ich habe während der letzten Jahre hauptsächlich mit Pferden gearbeitet. Habe junge Sportpferde ge- und verkauft und sie zu- und eingeritten.«

»Das klingt spannend. Aber hier in Schweden wird ein solches Geschäft ohne die richtigen Beziehungen und Sprachkenntnisse sicher zunächst einmal recht schwierig sein«, gab Eva zu bedenken.

»Ich weiß. Zum Glück habe ich beruflich noch ein anderes Standbein.«

»Ach ja?« Sie wirkte erleichtert.

»Ich schreibe.«

»Ausgezeichnet«, sagte Eva. »Als Schriftstellerin bist du natürlich in der Wahl deines Wohnorts unabhängig.«

»Weitgehend jedenfalls.« Ich bemühte mich um einen leichten, selbstbewussten Ton. Natürlich ist Schreiben oft ein unsicherer Broterwerb, was Eva aber zum Glück nicht wirklich klar war. Während der letzten Jahre hatte ich mich zudem so intensiv dem Pferdegeschäft gewidmet, dass mein zweites berufliches Standbein dabei ein wenig zu kurz gekommen war.

Ich war bereits mit Anfang zwanzig und ohne ein abgeschlossenes Studium freie Mitarbeiterin bei einigen Rundfunksendern gewesen und hatte ab und zu Buchbesprechungen für ein paar größere Wochenzeitungen verfasst, vor allem aber kürzlich das Manuskript für mein erstes Jugendbuch abgeliefert. Es war eine Auftragsarbeit für einen Hamburger Verlag. Dort hatte man eine Autorin mit literarischen Ambitionen und gleichzeitigem Pferdesachverstand gesucht, keine ganz gewöhnliche Kombination. Meiner Lektorin, einer engagierten Tierfreundin, hatte eine realistische Pferdegeschichte vorgeschwebt, die einmal nicht dem gängigen, sentimentalen Mädchenkitsch entsprach.

Mein Jugendroman spielte im Pferdehändler-Milieu »zweiter und dritter Klasse«, in dem ich mich bestens auskannte. Der Held war ein von Gleichaltrigen gemobbter Junge, ein Einzelgänger mit einem besonderen Draht zu Pferden. Das Manuskript war kürzlich angenommen worden, und ich hoffte nun auf einen neuen Buchvertrag.

Es handelte sich um Taschenbücher, von denen man als Autor kaum reich wird. Doch ein weiterer Vorschuss würde uns während der ersten Monate im neuen Land finanziell über Wasser halten. Und irgendwie würde es danach schon weitergehen.

»Du scheinst jedenfalls zu wissen, was du willst«, sagte Eva anerkennend. »Das ist gut so. Hier in Schweden gibt es viele starke Frauen. Ich lebe übrigens auch allein.«

»Das hat klare Vorteile«, sagte ich forscher, als mir eigentlich zumute war.

Sie nickte. »Obwohl, ich habe mir das im Grunde nicht selbst ausgesucht. Es ist dann irgendwie so gekommen.«

»Ja, das verstehe ich«, warf ich ein. Kam nicht so oder so das meiste im Leben schließlich anders als geplant?

Ich dachte plötzlich daran, dass mir der Abschied noch bevorstand: vom Dorf, vom Hof und von den Pferden.

Scheiden tut grundsätzlich weh. Sowohl von dem, woran du dich eher zwangsläufig gewöhnt hast, als auch von dem, was dir ans Herz gewachsen ist. Und selbst von einem Partner, mit dem du alles andere als glücklich warst …

Der kolossale Haustürschlüssel lag auf dem Küchentisch.

Eva hatte sich verabschiedet. Sie fuhr nach Göteborg zurück, wo sie einen Laden mit exklusiven Stoffen aus Übersee, meist Indien und China, betrieb.

Nach unserer Probenacht im Haus sollten wir bei unserer Abfahrt den Schlüssel einfach in den Briefkasten an der Hofeinfahrt werfen. In der folgenden Woche erwartete Eva dann meine Entscheidung, und sie hoffe, wie sie sagte, auf Hauke und mich als ihre neuen Mieter.

Im Kamin war alles für ein Feuer vorbereitet, selbst eine Schachtel mit langen Streichhölzern fehlte nicht. Ich bereitete Hauke und seinen beiden Stoffkatzen aus zahlreichen Decken und Kissen, die wir mitgenommen hatten, und der unverzichtbaren Kuscheldecke ein Lager auf dem Fußboden und kroch selbst in meinen Schlafsack.

Benommen und angenehm erschöpft von allen Eindrücken der langen Reise starrten wir in die knisternden Flammen. »Gute Nacht, kleiner Lieblings-Hauke«, sagte ich, und er murmelte kaum hörbar, den Daumen bereits im Mund: »Nacht, Mama!«

Wie sonderbar. Hier waren wir, auf Tegelvik. Vor Kurzem noch ein Ort unserer Fantasie und nun sogenannte Wirklichkeit. Das große, einsame Haus schien uns freundlich gesonnen.

Ein altes Haus wünsche sich junge Bewohner, hatte Eva beim Picknick, nein, bei der fika, behauptet. Doch wollten wir hier wirklich wohnen? Würden wir uns hier zu Hause fühlen? War nicht im Grunde Schleswig-Holstein doch am besten für uns? Ich wusste auf all diese Fragen keine Antwort.

Mein schwankender Mut war etwas, womit ich kaum gerechnet hatte. Ich hatte mich für entschlussfreudiger gehalten. Doch ich fühlte mich hin- und hergerissen.

Und auch meine Lektorin fand einen Umzug ins Ausland keine gute Idee für zukünftige Buchprojekte. »Du musst schon leicht für mich erreichbar sein«, sagte sie. »Ich kann mit einer jungen, unbekannten Autorin nicht ständig Auslandsgespräche führen, das wird dem Verlag mit Sicherheit zu teuer.«

So war das vor dem Zeitalter des Internets, und ich lenkte zerknirscht ein: »Ja. Das verstehe ich.«

Und dann war da das Dorf, in dem ich mich zu Hause fühlte und von dem ich zuweilen heute noch träume: Tielenhemme an der Untereider, diesem wilden, malerischen Fluss, der durch vogelreiche Feuchtgebiete mäandert und in dessen kühlem, klarem Wasser sich Aale, Barsche, Brassen, Hechte, Schleien, Zander und Forellen tummeln.

Es war für mich ein ganz besonderes Dorf. Einzig seiner Fläche nach riesig bei nur rund 120 Einwohnern. Es gab zwei Wirtshäuser und keinen Durchgangsverkehr. Zwar hatte das Sterben der kleineren und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe bereits begonnen. Doch noch wurde die Mehrzahl der Höfe im Dorf bewirtschaftet.

Ich lebte dort sehr gern und mochte die eigensinnigen Menschen, die Natur und den hohen, mächtigen Flachlandhimmel über den weit auseinanderliegenden Gehöften. Noch in der Dämmerung und selbst mitten in der Nacht konnte man im Frühjahr bei offenem Fenster die geisterhaften Schreie der Wiesenvögel hören. Kiebitze und Bekassinen, deren aufgespannte Flügel im Sturzflug ein unheimlich wummerndes Geräusch erzeugen. Die klassische Musik norddeutscher Feuchtgebiete, auch das Meckern der Himmelsziegen genannt. Wollte ich alldem wirklich den Rücken kehren?

Schließlich rief ich Eva an, um ihr schweren Herzens abzusagen.

»Gut, von dir zu hören«, fiel sie mir sofort ins Wort. »Ich habe gerade ein paar schöne indische Stoffe herausgesucht und meine Tante Maj-Britt gebeten, euch Gardinen für alle Fenster zu nähen. Die für Haukis Zimmer sind am buntesten und schönsten. Du wirst sehen, was das für einen Unterschied macht. Und hast du jemanden, der dir beim Möbeltragen hilft? Sonst kann ich meinen Onkel Åke fragen, der ist noch immer stark wie ein Bär und springt sicher liebend gern ein.«

»Das Möbeltragen ist nicht das Problem«, hörte ich mich zögernd sagen.

»Umso besser. Ihr kommt doch? Ab wann soll der Mietvertrag denn gelten? Erster Juni, schafft ihr das?«

»Eva, ich weiß nicht so recht …«

»Findest du die Miete zu teuer?«

»Nein.«

Der Mietpreis, 3.500 Kronen im Monat (was damals rund 1.000 D-Mark entsprach), war ein angemessener Betrag für ein derart großes Haus, weder zu teuer noch besonders billig.

»Das freut mich, Sylvia. Sind wir uns dann also einig?«

»Hhmm …«

»Darauf hatte ich gehofft. Dann bis bald. Und schönen Gruß an Hauki!«, flötete Eva und hatte bereits aufgelegt, als ich verblüfft feststellte: Nun gab es endlich kein Zögern, kein Zaudern und kein Zurück mehr. Es war entschieden!

Manche Begegnungenim Leben scheinen im Rückblick wie von unsichtbarer Hand inszeniert.

So traf ich, kurz bevor der Umzug aktuell wurde, völlig unerwartet Nora wieder. Wir hatten uns vor mehr als zehn Jahren zum letzten Mal gesehen und danach völlig aus den Augen verloren.

Nun war sie überraschend aus der Schweiz zur Taufe meiner beiden Neffen erschienen, auch das bei Weitem mehr Zufall als Planung, und wir setzten uns endlich mal wieder an einen Tisch.

Beste Freundinnen aus Kindertagen sind durch nichts zu ersetzen. Während dein gesellschaftsfähiges erwachsenes Ich im Wohnzimmer Hof und die Gäste zum Narren hält, schmollt oder spielt – je nachdem – dein inneres Kind im Hinterzimmer, und einzig eine alte Freundin kann es sehen und verstehen.

Wir waren in den entscheidenden Jahren zwischen zehn und fünfzehn unzertrennlich, wenngleich ein ungleiches Paar gewesen. Ich lang, dünn, dunkel, sie blond und zwar schlank, aber dennoch irgendwie kompakt. Während ich zu meiner wachsenden Verlegenheit ständig über meine eigenen endlosen Beine stolperte, war Nora bereits damals weltgewandt und witzig und gab mir Halt und Sicherheit.

Ich hatte mich zuweilen gefragt, womit ich die große Ehre ihrer Freundschaft eigentlich verdiente, das Geschenk dann aber dankbar angenommen. Sie ließ mich ihr im Grunde verletzbares und weiches Ich kennenlernen, das sie den anderen nicht zeigte, und vertraute mir ihre romantischen Träume hinter der ironischen Fassade an. Ich wusste, sie hatte schauspielerisches Talent und machte sich gern über alles lustig. Doch als beste Freundin war sie fürsorglich und selbstlos, und man konnte sich in jedem Fall auf sie verlassen.

»Was hast du für Pläne?«

Auf diese Frage erzählte mir Nora, dass sie wieder nach Norddeutschland ziehen wolle, denn das Leben in der Schweiz sei ihr zu steril. Von Kulturarbeiterin wollte sie auf Grundschullehrerin umsatteln, ein handfesterer Beruf in jedem Fall, und ich zweifelte nicht an ihrem Talent und ihrer Eignung, für ein Schulkind, zumindest vorübergehend, einer der wichtigsten und einflussreichsten Menschen zu sein. »Und du?«

»Ich ziehe nach Schweden. In ein großes, altes Haus mitten auf dem Land. Das ist eigentlich alles, was ich bislang über meine Zukunft weiß. Das Weitere wird sich schon finden«, fügte ich rasch hinzu und erntete zum ersten Mal keinerlei Kritik. Im Gegenteil. »Mensch, wie spannend! Schweden, das passt toll zu dir, und alles wird bestimmt ganz wunderbar!«

Ein Hoch auf Kinderfreundschaften!

Nora und ich organisierten meinen Umzug gemeinsam. Sie hatte gerade etwas freie Zeit vor Beginn ihres Studiums, und ich nahm ihr Angebot, mir zu helfen, dankbar an.

Während Hauke bei einem Babysitter im Dorf blieb, packten wir zahlreiche Umzugskartons und die wenigen Möbel, die ich mitnehmen wollte, in meinen Pferdehänger und fuhren abends los. Die Reise dauerte die ganze Nacht. Wir wechselten uns mit dem Fahren ab. Und redeten und redeten – fast wie in den guten alten Zeiten.

Nora war gerade Single. Ich beneidete sie aufrichtig darum.

Die Trennung von Haukes Vater war längst überfällig. Man prüfe sorgsam und genau, wen man zum Vater seines Kindes macht. Das wusste ich nun im Nachhinein. Was geht im Kopf und was im Herzen eines anderen Menschen vor? Wer ist der Unbekannte, neben dem du morgens aufwachst? Gegen welche Kindheitsmuster und Verletzungen hat er sich heimlich zu behaupten? Mit diesen quälenden Fragen wollte ich mich in Zukunft nicht länger herumschlagen.

»Bis bald«, sagte Nora, als wir mit leerem Pferdehänger wieder in Tielenhemme ankamen, und wir nahmen unsere alte Freundschaft von da an wieder auf. Die bedeutet mir bis zum heutigen Tag sehr viel, selbst wenn wir uns nur allzu selten sehen und eigentlich auch nicht oft genug miteinander reden. Doch ich denke oft an Nora. Mit unvermindertem Stolz auf meine älteste und beste Freundin und in alter Anhänglichkeit. Und erinnere mich gern an diese nächtliche Reise in jener Zeit, in der wir in alter Solidarität beide ein neues Leben begannen, an ihre Sehnsucht nach der Heimat und meine nach der Ferne.

Heimweh und Fernweh. Die sind in Sachen Menschsein ja ein alter Hut. Die beiden Pole, zwischen denen du dann irgendwo deine Zelte aufschlägst. Doch bei näherer Betrachtung ist der Unterschied zwischen zwei vermeintlichen Gegensätzen manchmal in der Praxis eher haarfein!

Hauke feierte seinen dritten Geburtstag noch in Tielenhemme auf dem Hof.

Kurz darauf hieß es dann Koffer packen und Abschied nehmen. Von einem Zuhause, das bereits keines mehr war. Vom besten aller deutschen Dörfer, den schönen Pferden und dem heimatlichen platten Land. Ein Lebewohl für immer, wie es sich erweisen sollte.

Ich reichte den Staffelstab der Verantwortung für das Seelenheil meines wetterwendischen Partners gern an seine nächste Freundin weiter, die ich oberflächlich kannte. Sie fuhr im Dorf die Bäckerwaren aus.

»Viel Glück!«, sagte ich. »Wird schon werden. Ich werde euch jedenfalls nicht in die Quere kommen.«

Nun konnte ich endlich für mein Kind die fantasievolle und gut gelaunte Mutter werden, die es eigentlich vom ersten Tag seines Lebens an verdient hatte.

Meine beiden eigenen Pferde, zwei Hengste namens Piet und Español, hoffte ich später nachholen zu können. Denn der große Stall, der zu Tegelvik gehörte, stand ja leer und bot genügend Platz.

Für meinen frischgebackenen Dreijährigen sah der Abschied anders aus. Er maß die Zeit noch hauptsächlich in Augenblicken, und ich ließ ihm gegenüber die Dauer unserer Abwesenheit wohlweislich in der Schwebe. Bei unserer Abreise wollte ich kein Drama, sondern Heiterkeit.

»Wir bleiben in Schweden, solange es uns dort gefällt«, sagte ich, und in diesem Sinne machten wir uns voller Unternehmungslust und Neugier auf den Weg.

Tegelvikbegrüßte uns mit strahlendem Hochsommerwetter.

Bei unserer Ankunft lag der riesige Schlüssel, so wie mit Eva verabredet, unter einem Blumentopf auf der Veranda. Von nun an unser Schlüssel zu unserem neuen Haus.

Hauke lief aufgekratzt durch alle Zimmer und nahm sie in Besitz. Er staunte über Noras und meinen Versuch, alles etwas wohnlich und gemütlich einzurichten. Das große Haus wirkte noch immer recht kahl und leer mit den wenigen Möbeln, die im Pferdehänger Platz gefunden hatten, doch auch das hatte seinen Reiz.

Voller Freude begrüßte er seine alten Spielsachen, die in dem an die Küche grenzenden Zimmer auf ihn warteten. Dann packte er geschäftig seinen Minirucksack aus, während ich nach der langen Autofahrt erst einmal halb matt mit einem Becher Instant-Cappuccino in der Küche saß und alles auf mich einwirken ließ.

»Mama, die Elche aus deinem Lied sind da!«, meldete wenig später eine exaltierte Stimme aus dem neuen Kinderzimmer.

»Na bitte.«

»Und der allergrößte steht vor meinem Fenster.«

»Na, toll!«, antwortete ich gähnend. Wirklichkeit und Fantasie waren in Haukes Welt noch keine krassen Gegensätze, und das war gut so.

Doch dann zupfte eine kleine, warme Kinderhand mich ungeduldig am Arm, und ich erhob mich etwas widerstrebend.

Tatsächlich! Draußen im Wildwuchs des seit vielen Jahren bereits vernachlässigten Gartens stand ein enormer Elchhirsch mit einem Gardemaß von mehr als zwei Metern Schulterhöhe. Nun hob er den Kopf und sah uns für den Bruchteil einer Sekunde direkt in die Augen, bevor er mit für seinen klobigen Körper erstaunlich federnden Tritten eleganter als jedes edle Dressurpferd in Richtung Wald davonschwebte.

»Unglaublich!« Ich nahm Hauke auf den Arm, und wir blickten dem ersten Elch unseres Lebens noch nach, als der Nadelwald von Tegelvik dessen Silhouette längst in seinem schwarzen Grün verschluckt hatte.

»Herzlichen Glückwunsch, Hauke. Ein Glücksbringer-Elch. Ich glaube, die sind ganz schön selten. Wer einen von ihnen trifft, der darf sich sofort etwas wünschen.«

»Oh, toll! Und was wünschst du dir?«, fragte er.

»Ich wünsche mir, dass wir hier glücklich werden. Und dass das alte Haus uns mag und nett zu uns ist. Und du?«

»Ich … wünsche mir ein großes Käsebrot. Mit einer kleinen Gurkenscheibe drauf«, sagte Hauke nachdenklich und mit großem Ernst. »Fika. Genauso wie mit Eva, Mama. Weißt du noch?«

Frühstück auf Tegelvik sah von nun an folgendermaßen aus: Zum Pyjama-Picknick am Vormittag auf der Veranda breitete ich eine Wolldecke auf der Steintreppe des Eingangsaltans aus, und diesen improvisierten Tisch deckten Hauke und ich dann gemeinsam mit Limonade, Cappuccino, Keksen, Gummibärchen, roten Äpfeln, einer halben Avocado für jeden und ein paar Fischen aus Salzlakritz.

Ein Specht schlug am Giebel des Hauses den Rhythmus des neuen Tages an, der leichte Wind in den hohen Wipfeln des Fichtenwaldes säuselte seine Melodie.

Es war mir tatsächlich doch noch in letzter Minute gelungen, meine Lektorin mit einer Textprobe zu überzeugen. Der neue Buchvertrag war unterschrieben, der Vorschuss bereits angewiesen. Wir würden vorerst nicht verhungern! Doch die Arbeit an dem neuen Kinderbuch schob ich vorerst noch auf. Es gab so viel anderes zu tun, und wir mussten uns erst einmal am neuen Ort zurechtfinden.

Wir nutzten die freien Tage für Ausflüge in die Umgebung. Zunächst erkundeten wir den Wald vor unserer Haustür, und es überraschte mich, wie lange ein Dreijähriger wohlgemut und ohne zu murren über Stock und Stein laufen und dabei ununterbrochen reden konnte.

Evas Wald war alt genug, um seiner Besitzerin in absehbarer Zeit ein ansehnliches Vermögen abzuwerfen.

Anfangs wählte ich schmalere Pfade, doch ich merkte bald, wie leicht man sich hier verlief. Der Wald war dunkel, die Fichten riesig. Man musste den Kopf weit in den Nacken legen, um hoch oben ihre Wipfel zu orten. Wir waren scheinbar die einzigen Menschen auf der ganzen Welt.

»Schweden, Hauke«, sagte ich. »Guck dich ganz genau um. Das ist der schwedischste Wald, den ich je gesehen habe!«

»Mir ist unheimlich …«, meinte Hauke.

»Mir auch ein kleines bisschen«, gab ich zu.

Wir kehrten also auf den befahrbaren Kiesweg zurück und näherten uns einer Schneise, in der alles abgeholzt worden war. Es sah aus wie ein Schlachtfeld. Was für eine Verwüstung! Einzig Baumstümpfe und die abgeschlagenen Fichtenzweige waren zurückgeblieben.

Erst später lernte ich, dass die enormen forstwirtschaftlichen Maschinen immer eine solche Verwüstung hinterlassen. Für den Waldbesitzer arbeiten sie kostengünstiger und benötigen weitaus weniger Zeit, als für ein behutsames Verjüngen des Baumbestandes erforderlich wäre. Dazu setzen umweltbewusste Forstwirte auch heute noch Arbeitspferde ein, die nicht nur den Boden schonen, sondern auch Birken und kleinere Bäume unbeschädigt weiterwachsen lassen.

Kalhygge. Das schwedische Wort klingt brutal, und Anblick und Auswirkungen sind es auch. Der fortan ungeschützte Waldboden verarmt, da der Humus in der Sonnenwärme mineralisiert und die Nährstoffe dann ausgewaschen werden. Brennnesseln und Fingerhut schießen hoch, und schließlich sorgen neue Setzlinge (oft sind es erneut Fichten) für eine weitere Generation der tristen forstwirtschaftlichen Monokultur.

»Es ist überhaupt nicht schön hier«, stellte Hauke fest. »Aber trotzdem gefällt es den Tieren.«

Er hatte recht. Gerade in diesen hässlichen Kahlschlägen wimmelte es von Rehen, besonders zur Stunde der Dämmerung. Und auch unseren Elchhirsch mit den imposanten Schaufeln trafen wir hier wieder. Oder war es vielleicht sein großer Bruder oder etwa ein alter Onkel?

Wir erweiterten bald den Radius unserer Exkursionen und fuhren gemächlich im Auto über Land.

Aus Gründen der Gemütlichkeit hatte Hauke auf dem Rücksitz des Wagens eine Daunendecke, ein großes Kissen, die beiden Stoffkatzen Anja und Nang und seine Kuscheldecke immer griffbereit. Und neben mir auf dem Beifahrersitz stand eine Tasche mit Proviant und anderen nützlichen und angenehmen Dingen.

»Hauke reist mit einem Sack voller Überraschungen«, nannte ich diese Touren. Die Überraschungen waren einmal eine Packung mit Seifenblasen, ein andermal ein Luftballon, ein kleines Buch, ein Block und ein paar Stifte oder eine bunte Zeichnung. Und derart ausstaffiert sahen wir uns nun gemeinsam Schweden an!

Die Landschaft des Ätrantals war lieblich: Seen und Wälder. Verwunschene Gehöfte. Auf den Straßen herrschte kaum Verkehr. An den Wegrändern wuchsen wilde Blumen. Wir sahen Rehe, Hasen, Dachse, Reiher und Kraniche. Die Weiden waren von Steinmauern umgeben. An einer spielte ein Wurf junger Füchse. Und über allem ruhte eine große und besänftigende Stille.

Wir kommunizierten mit den Menschen bislang meistens in Gebärdensprache. Die Landbevölkerung war überaltert, und lediglich die Jüngeren beherrschten Englisch. Das war gut so, fand ich. Denn es machte das Projekt des Schwedischlernens dringlicher.

In Deutschland war ich trotz zahlreicher Bekannter oft allein gewesen. Hier hingegen, ganz auf mich gestellt, fühlte ich mich nicht im Geringsten einsam. Nicht zuletzt, weil Haukes Gesellschaft alles so heiter machte und seine Fantasie selbst den Dingen eine Seele gab und sie so zum Leben erweckte.

»Du, weiße Wolke«, rief er, als wir auf unserer Veranda saßen. »Wie schwebt es sich da oben so, wird dir nicht manchmal schwindelig?«

»So ein Quatsch, du kleines Körperkind!«, zwitscherte die Wolke zurück. »Und pass bloß auf, sonst verwandle ich mich in Regen und pinkle dir auf den Kopf!«

»Du, Mond!«, rief er, wenn er abends, viel zu spät für Kinder ordentlicher Mütter, am Wohnzimmerfenster stand. »Was isst du am liebsten zum Frühstück, bevor du morgens untergehst?«

»Moose und Flechten, mein Freund«, wisperte der gutmütige, alte Mond mit einer Stimme, die meiner verdächtig ähnelte. »Und manchmal brate ich mir auch ein Spiegelkuckucksei.«

»Du, kleine Fichte! Gefällt es dir, so klein zu sein, wenn alle anderen Bäume um dich herum so hoch und riesengroß sind?«

»Klein sein bedeutet groß sein, du junger, dummer, deutscher Drömel«, lispelte die Fichte, und Hauke war außer sich.

»Mama, hast du das gehört, was die kleine Fichte sagt?«

»Habe ich. Nicht zu fassen! Ganz unglaublich!«

Schweden war für uns noch ein Märchenland. Die unverständliche Sprache klang melodiös und leicht elegisch. Die Menschen, bildeten wir uns ein, waren hier viel netter und klüger als anderswo. Alles war neu. Selbst der unglaubliche Sternenhimmel der länger werdenden Nächte.

Ich zeigte Hauke die Milchstraße und den Großen Wagen. Mehr Sternbilder kannte ich leider nicht, doch er staunte nicht schlecht. Ein großer Bollerwagen, den jemand über eine Straße aus Milch zog? Aber wer war dieser jemand?

»Das erzähle ich dir ein andermal«, sagte ich.

Es war bald August. Die Sonne schien noch zuverlässig jeden Tag, der unbeschwerte Sommer war noch lange nicht zu Ende. Doch die Luft wurde rauer, und es roch diskret nach Herbst. Langsam, aber sicher holte uns die Wirklichkeit ein.

»Morgen fange ich an, Schwedisch zu lernen!«, verkündete ich, und Hauke rief: »Gut! Dann tue ich das auch!«

Åke und Maj-Brittwaren die ehemaligen Pächter und Landwirte von Tegelvik und unsere ersten schwedischen Bekannten, dank derer wir dann gemächlich und unabdinglich vom Wunderland unserer Fantasie in den realen schwedischen Alltag glitten.

Die imposante Feldsteinscheune, etwa fünfzig Meter vom Wohnhaus entfernt, hatte ihnen damals Platz für gut hundertfünfzig Kühe, Stiere und Jungtiere und ein paar Schweine für den Hausbedarf geboten. Nun stand sie seit über zwanzig Jahren bereits leer, für Hauke und mich ein etwas obskurer und spannender Ort, in dem wir manchmal flüsternd und klopfenden Herzens Hand in Hand auf Entdeckungstouren gingen. Ich betrachtete die große Scheune auch im Hinblick auf die Möglichkeit, irgendwann meine beiden Pferde aus Deutschland nachholen zu können. Mein junger schwarzer Friesenhengst hieß Piet, der etwas ältere schneeweiße Andalusier Español, auf Deutsch: der Spanier! Doch Schweden war damals noch kein Mitglied der EU und die Einfuhr von Pferden daher mit diversen bürokratischen Hindernissen verbunden.

Eines Abends klopfte es derart laut und ungeduldig, dass wir erschrocken zusammenfuhren. Wir hatten wie gewöhnlich nicht abgeschlossen, und schon schob sich ein schwergewichtiger Bär von Kerl mit breitem Gesicht unter einem dichten weißen Haarschopf durch die Haustür, um mit der Selbstverständlichkeit eines Hausherrn barfuß und festen Schrittes die Küche zu betreten.

»God kväll, gott folk!«, brüllte er uns an. »Guten Heute, liebe Leute. Und välkommen – willkommen – auf Tegelvik!«

Er schlug sich krachend mit beiden Handflächen auf die kräftigen Schenkel und quetschte kurz darauf wie in einem Schraubstock erst meine und dann Haukes Hand in seiner rechten Pranke. Meinen leicht verwirrten Blick auf seine nackten Füße kommentierte er mit: »Schuhe immer aus im Haus. So ist das hier in Schweden!«

Eine erneute Lachsalve folgte. Hauke verschwand unauffällig in seinem an die Küche grenzenden Spielzimmer, während ich dem ungebetenen Gast höflich Platz anbot.

Er ließ sich schwer auf einen der Küchenstühle sinken, wies mit beiden Daumen auf seine Brust und sagte: »Åke.«

»Hallo, Åke. Ich bin Sylvia.« Er winkte ab und schien das längst zu wissen. »Und das ist mein Sohn …«

»Hauki! Weiß ich. Brudertochter Evas kleiner älskling – Liebling!«

Er rollte mit den Augen und machte den verzückten Ausdruck seiner blauäugigen Nichte nach. »Hast du keinen Kaffee?«, fragte er dann.

»Selbstverständlich!« Ich setzte hastig den Wasserkocher in Gang und bereitete uns zwei Becher mit Instantkaffee zu, was er mit kaum verhohlener Missbilligung beobachtete.

»Milch und Zucker!«, befahl er, schlürfte dann provozierend laut und bemerkte: »Richtig äcklig! Schnellkaffee ist gar nicht gut!« – trank jedoch in aller Seelenruhe weiter.

Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und fragte: »Wo in Deutschland?«

»Schleswig-Holstein. Nördlich von Hamburg …«

»Hamburg? Reeperbahn. Galante Damen!«

Er feixte und redete mit seiner dröhnenden Stimme weiter auf mich ein, nun endgültig auf Schwedisch, denn sein Vorrat an deutschen Wörtern schien erschöpft. Dass ich ihn ganz offenbar nicht mehr verstand, störte ihn nicht im Geringsten. Einzig ich fühlte mich dumm.