Ein N**** darf nicht neben mir sitzen - David Mayonga - E-Book

Ein N**** darf nicht neben mir sitzen E-Book

David Mayonga

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Beschreibung

Er ist in der bayerischen Provinz groß geworden und spricht Dialekt. David Mayonga sieht sich in erster Linie als Bayer. Dennoch wird er aufgrund seiner Hautfarbe schon am ersten Tag im Kindergarten zurückgewiesen: "Nein, ein N**** darf nicht neben mir sitzen." Bis heute begleiten ihn rassistische Anfeindungen. Die Polizei durchsucht sein Auto, beim Einkaufen wird er mit "Was du wollen?" begrüßt.In seinem Buch gibt David Mayonga einen Einblick, warum wir Menschen solch eine Angst vor dem Anderssein haben. Warum wir diskriminieren und was wir tun können, um dem weniger Raum zu geben. Angereichert mit vielen persönlichen Erlebnissen ist das Buch ein Appell gegen Angst, Vorverurteilung und für eine Gesellschaft, in der wir Menschen danach beurteilen, wer sie sind und nicht, wie sie aussehen.

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Seitenzahl: 398

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Ich bin durch alles, was ich erlebt habe, zu dem geworden, der ich bin. Deshalb begleitet mich auch immer in der Musik die Frage: »Was bin ich für dich?« Hier hast du die Möglichkeit, einen Song anzuhören, den ich genau deshalb geschrieben habe – in einer ganz speziellen Version, die nur im Rahmen des Buches veröffentlicht wird. Einfach dem Link folgen und den Remix exklusiv als Soundtrack zum Buch hören!

http://bit.ly/reklessremix

Originalausgabe

4. überarbeitete Auflage

© Verlag Komplett-Media GmbH

2019, München/Grünwald

www.komplett-media.de

ISBN E-Book: 978-3-8312-6996-9

Bildnachweis Umschlag: Philipp Wulk

Lektorat: Redaktionsbüro Julia Feldbaum, Augsburg

Korrektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Umschlaggestaltung: Christian Hundertmark (C100 Studio) www.c100studio.com

Satz: Daniel Förster, Belgern

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim www.brocom.de

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

INHALT

VORWORT DER NEUEN AUFLAGE NACH DEM MORD AN GEORGE FLOYD

VORWORT VON HANNES RINGLSTETTER

PROLOG – ZU BESUCH BEIM AFD- INFOTREFFEN DES KREISVERBANDES MÜNCHEN-SÜD

Kindheit in Markt Schwaben

Der erste Tag im Kindergarten

Von Baggern, die mir nicht gehören dürfen

Rassismus - was ist das überhaupt?

Versuch einer Definition

Der Ursprung von Rassismus

Rassensystematiken

Rassismus ab dem 19. Jahrhundert

Die Wirkungsmacht von Rassismus

Rassismus und der Nationalsozialismus

Die neuen Rechten

die Grundschule und die grundschuld

Die Mär von der Chancengleichheit

Herkunftsbedingte Ungleichheiten

Gastbeitrag von Shahak Shapira

EIN SCHWARZER AUF DEM GYMNASIUM

Die Sache mit meinen Haaren

Gastbeitrag von Imoan Kinshasa

Und wo kommst du jetzt her? Die Schubladen und ich

GEJAGT UND ANGESPUCKT – JUGEND IN MARKT SCHWABEN

NUR WEIL ICH SCHWARZ BIN – ODER ETWA NICHT?

Gastbeitrag von Kaled Ibrahim

Racial Profiling und seine Folgen

Rapper T-Ser und die österreichische Polizei: #nichtmituns

Die Sache mit der Kriminalstatistik

Die kriminellen Flüchtlinge

Die AfD und die Kriminalstatistik – zwei Beispiele, die Angst schüren sollen

Gastbeitrag: Interview mit Franziska Schreiber

SCRATCHEN IM KINDERZIMMER – MUSIKALISCHE ANFÄNGE

Wir werden jetzt Stars - BMG-Major-Deal vor dem Abitur

Gastbeitrag von Chefket

ALLTAGSRASSISMUS - ODER EINFACH NUR VORURTEILE?

Alltagsrassismus - Versuch einer Definition

Die weiße Mehrheit entscheidet

Gefahren des Alltagsrassismus und wie man ihnen begegnen kann

Gastbeitrag von Malcolm Ohanwe

WIE DER ZIVILDIENST MIR HALF, MICH SELBST ZU FINDEN

Husarenlieder singen mit Herrn Sturm

DIE SACHE MIT DEM N-WORT

Warum ich als Kind immer weiß sein wollte

Das könnt ihr mir nicht wegnehmen – meine Werte, meine Kultur, mein Bayern

Gastbeitrag von Samy Deluxe

RASSISMUS IN DEN MEDIEN

Ghostbusters, La La Land und Co. – Schwarz-Weiß-Denken in Hollywood

Gastbeitrag von Tyron Ricketts

Diverses Hollywood?

Weiße Werbung

XENOPHOBLE - DIE ANGST VOR DEM FREMDEN

Was ist Xenophobie?

DER RASSISMUS IN UNS

Das Overton-Fenster

EPILOG – IM GESPRÄCH MIT EINEM SCHWARZEN RASSISTEN …

VORWORT DER NEUEN AUFLAGE NACH DEM MORD AN GEORGE FLOYD

Ich liege um sechs Uhr auf meiner Couch und sehe, wie sich der Himmel in diesem morgendlichen Grau immer weiter erhellt. Ich beobachte dieses Schauspiel seit zwei Stunden. Nebenbei.

Ich muss arbeiten. Ich muss schreiben. Ich mache keine Überstunden und werde für diese Arbeit nicht bezahlt. Und doch MUSS ich sie tun.

Das ist meine fünfte Nacht ohne Schlaf. Zum einen, weil ich in den ersten Nächten zu aufgewühlt war von den Ereignissen rund um den Mord an George Floyd. Zum anderen, weil ich in den letzten Nächten arbeiten musste. Ich musste die Nächte durcharbeiten, weil ich meinen Tag dem Kampf gegen Rassismus gewidmet habe. Ich habe tagsüber neben dem Kümmern um meine kleine Familie und den notwendigen Tätigkeiten in unserer frisch bezogenen Wohnung in jeder freien Minute versucht, Menschen in den sozialen Medien zu erreichen. Ich musste mit weißen privilegierten Menschen diskutieren, die mir Rassismus vorwarfen, weil ich sie öffentlich kritisiert hatte. Ich habe versucht, über öffentliche Talks und Interviews für Aufklärung zu sorgen, damit mir und allen anderen Menschen diese zermürbenden und vor allem immer wieder gleichen Diskussionen erspart bleiben. Ich habe alles an Kraft in den letzten Tagen aktiviert, was in mir noch zu finden war. Warum?

Weil ich nicht anders kann. Ich kann es mir nicht aussuchen, kann den Geist nicht abwenden von dem, was momentan passiert. Denn es passiert mir. Der Tod von George Floyd schmerzt mich, als wäre jemand gestorben, den ich kenne. Warum? Ich bin schwarz. Ich bin schwarz und in den 80er- und 90er-Jahren in Bayern aufgewachsen. Ich war in meinem Ort der einzige schwarze Mensch. Ich gehörte nirgendwo richtig dazu. Ich wurde so oft auf meine Hautfarbe reduziert und deshalb diskriminiert, dass ich als Kind unter Tränen zu meiner Mutter gesagt habe: »Ich will nicht mehr so braun sein. Ich will weiß sein wie die anderen. Ich will nicht mehr, dass mich die Menschen ärgern und verletzen.« Bis Rap in mein Leben kam. Durch meine Mutter hatte ich erste Einblicke in die Musik der afroamerikanischen Community. Von den popaffinen Songs wie I Need Love von LL Cool J oder Push It von Salt ’n’ Pepa führte mich meine Audioreise bald zu politischer Rap-Musik. Paris, Public Enemy, Ice Cube, KRS-One. Black Power. Zum ersten Mal hatte meine Hautfarbe eine positiv besetzte Komponente. Ich sah mich selbst in den Bewegungen von The Prodigy, Q-Tip und Lil Fame. Ich hörte meine Worte aus den Mündern von Chuck D, Jay-Z und Method Man. Meine komplette Jugend hindurch bis heute lebe ich diese Kultur, atme ich diese Kultur, brauche ich diese Kultur.

Mein ganzes Leben kämpfe ich hier in Deutschland gegen Rassismus. Mein bloße Existenz ist ein Fight dagegen. Immer an meiner Seite sind meine Brüder und Schwestern aus den USA, die mich stärken mit ihrer Musik, ihren Speeches, ihren Büchern. Und seit meiner Jugend erlebe ich deren Kampf gegen Rassismus und Polizeibrutalität. Für mich ist George Floyd nicht nur irgendein schwarzer Mensch, der von einem rassistischen Polizisten umgebracht wurde, während niemand der Umherstehenden etwas dagegen tun konnte und keiner der anderen Beamten eingeschritten ist. Für mich ist George Floyd einer von den Leuten, die mir geholfen haben, mein Leben hier in Deutschland leben zu können. Da es seine Community ist, die mir zur Seite stand. Der Schmerz, den ich fühle, den fühle ich aber auch, weil ich mich der Situation so verbunden fühle. Die Selbstsicherheit in den Augen des Polizeibeamten, als er auf dem wehrlosen Mann kniet, ist die gleiche, mit der mir der weiße Polizist, als ich zwölf Jahre alt war, die Hände auf ein Metallgeländer legte und mit einer Maglite draufschlug. Hier in Deutschland. In meiner Heimat. Nur ein paar Hundert Meter von meinem Zuhause entfernt. Es ist die Sicherheit des Beamten zu wissen, dass das Gegenüber sich nicht gegen diese Ungerechtigkeiten wehren kann. Es ist die Sicherheit, dass die Passanten sich nicht fragen: Oh, mein Gott, wie kann man einen kleinen Jungen so behandeln? Es ist die Sicherheit, dass sie sich fragen: Was der wohl angestellt hat?

In einem latent rassistischen System wird der eigene internalisierte Rassismus nicht unbedingt durch rassistische Handlungen sichtbar. Er wird durch das Gewährenlassen von Rassismen sichtbar, die man nicht als solche erkennt, weil man sie als »Normalität« erlebt. »Black Lives Matter« ist keine USA-spezifische Bewegung. Es ist eine globale Bewegung. Es ist auch eine Bewegung in Deutschland. Und ich schlafe nicht und arbeite, so, wie es momentan unzählige schwarze Menschen tun, damit es in Zukunft auch eine deutsche Bewegung wird.

In dem Jahr, in dem ich mit meinem Buch unterwegs war, habe ich so viel erfahren. Ich habe das Feedback in den Gesprächen am Büchertisch aufgesogen, ich habe mich mit schwarzen Menschen und POCs deutschlandweit über unsere Erfahrungen ausgetauscht, und ich war so froh zu merken, dass viele schwarze Menschen mit diesem Buch eine Möglichkeit haben zu spüren, dass sie nicht allein sind mit den Erfahrungen und dem Schmerz. Dass wir afrodeutsche, wir schwarze Menschen, wir schwarze POCs weitaus mehr sind als die Summe der rassistischen Diskriminierungen. Wir sind mehr als nur die Klischees, die jahrzehntelang über uns verbreitet wurden, und ich habe das Gefühl, genau jetzt ist die Zeit gekommen, wo immer mehr Menschen das begreifen. Und aus diesem Verständnis wächst auch hierzulande der Wunsch nach Veränderung, nach dem Aufbrechen alter Strukturen und vor allem nach der Auseinandersetzung mit den eigenen rassistischen Strukturen im Denken und Handeln.

Viele Menschen haben mir nach Lesungen gesagt: »Ja, und schau mal, was für ein toller Mensch du geworden bist, trotz all der schlimmen Erfahrungen, die du machen musstest.« Ich habe genau diese Problematik eingebaut in meine Lesung und gesagt: »Ich hatte das Glück, durch meine Mutter ein starkes Supportsystem zu haben. Ohne das wäre ich vielleicht an den Erfahrungen zerbrochen. Ohne dieses Supportsystem hätte ich vielleicht nach dem Prinzip des ›Labeling Approach‹ genau das Klischee erfüllt, das mir immer und immer wieder übergestülpt wurde. Ich wäre wütend und verbittert geworden, vielleicht sogar kriminell. Wir müssen deshalb auf die schwarzen Menschen achtgeben, die kein solches Supportsystem haben.«

Erst durch ein Gespräch mit einer schwarzen Psychologin habe ich das anders zu sehen gelernt. Sie sagte: »Das ist eine brutale Formulierung zu sagen, ›ist doch toll, was aus dir geworden ist … trotz all dem‹!«

Ich habe verdutzt gefragt: »Warum?«

Sie sagte: »Weil so der Einfluss auf deine Entwicklung komplett außen vor gelassen wird. Die Traumata, die du bewältigt hast, der ständige Stress durch rassistische Diskriminierung. Hast du dir denn jemals die Frage gestellt, was du für ein Mensch hättest werden können, wenn das alles nicht passiert wäre?«

»Nein«, antwortete ich, »denn ich war schon froh, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben.«

Das hat mich gelehrt, dass wir hier oft weit unter unserem Potenzial performen. Nicht nur, weil wir wenige Chance bekommen, sondern auch, weil der stetige Kampf gegen rassistische Anfeindungen unfassbar ermüdend ist.

Auch ich muss noch sehr viel aufarbeiten. Ich muss meine Identität neu zusammensetzen. Genau das habe ich durch das eine Gespräch und Hunderte andere Gespräche am Büchertisch mit schwarzen Menschen aus der gesamten Republik gelernt. Ihr werdet in diesem Buch Worte finden, mit denen ich mich beschreibe, die ich heute nicht mehr benutzen würde und die ich in der Neuauflage dieses Buches streichen werde. Es ist mir aber wichtig zu zeigen, wie tief diese rassistische Sozialisation in uns Deutschen sitzt. Ich habe mich als »Mischling« bezeichnet, als »dunkelhäutig«, als »andersfarbig«. Das waren für mich unaufgeladene Begriffe.

Ich habe sie nie hinterfragt.

Dabei ist »Mischling« ein Begriff aus der Rassenlehre. Genau der Lehre, die den Rassismus ins Leben gerufen hat. Auch »farbig«, »andersfarbig« oder »dunkelhäutig« sind unglaublich aufgeladene Begriffe, die ich in meinem Buch noch benutzt habe, weil ich mir selbst noch nicht sicher war, was für mich persönlich die annehmbarste Bezeichnung ist. Ich habe immer wieder gewechselt in den Bezeichnungen und erst spät gemerkt, dass auch mein Wortschatz im Hinblick auf meine Selbstbezeichnung einfach limitiert war. Ich konnte mich nicht mit dem Begriff POC als Selbstbezeichnung anfreunden, weil ich mich als schwarzen Menschen begriff. Als jemand, der »Black Power« als etwas Positives sieht. Aber ich habe gelernt, dass die Bezeichnungen »People of Color«, »Women of Color«, »Black and Indigenous People of Color« wichtige Bezeichnungen sind, die nicht vorbelastet sind. Die eingeführt werden mussten, um einen Diskurs über Rassismus führen zu können, ohne rassistisch aufgeladenes Vokabular zu nutzen.

Des Weiteren hat sich durch die »Black Lives Matter«-Bewegung auch in Deutschland einiges verändert. Der Begriff »Neger«, den ich als tiefe rassistische Beleidigung empfinde, wurde noch im Jahre 2019 als »nicht rassistisch« eingestuft. Das hat mir gezeigt, wie wichtig mein Buchtitel ist. Denn man kann nicht leugnen, dass der Satz »Ein Neger darf nicht neben mir sitzen« eine rassistische Beleidigung ist. Ich wollte zeigen, dass wir solche Sätze von Kindesbeinen an hören, und jedes Mal, wenn das Wort fällt, triggert es eine dieser traumatischen Erfahrungen. Es ist gleich, ob eine Süßspeise damit bezeichnet wird oder uns das Wort wo auch immer außerhalb der Erzählung von schwarzen Menschen über rassistische Beleidigungen begegnet.

In den letzten Wochen habe ich erlebt, dass ein Shift passiert. Weiße Menschen, die sich langsam der Auswirkungen des Rassismus in Deutschland bewusst werden, eines Rassismus, der für viele bis zu diesem Jahr 2020 einfach unsichtbar und somit nicht spürbar oder nachvollziehbar war. Jetzt scheint es, als wären wir einen Schritt weiter. Als müsste ich nicht mehr das Wort ausschreiben, damit Menschen begreifen, dass wir hierzulande ein Problem mit Rassismus gegenüber Schwarzen haben. Deshalb habe ich das Wort auf dem Buchumschlag streichen lassen – von dem wunderbaren schwarzen Grafiker und unglaublichen Künstler, mit dem ich schon seit Jahrzehnten zusammenarbeite, C100. Ich bin froh, dass auch in den Gesprächen mit meinem Verlag und meinem Co-Autor Nils immer wieder die Bereitschaft da war, sich mit den eigenen Limitierungen auseinanderzusetzen. Wir haben das gemeinsam durchgearbeitet. Wir alle haben durch die Arbeit an diesem Buch gemerkt, dass genau mit dieser Arbeit, dieser Auseinandersetzung mit den eigenen Limitierungen, den eigenen blinden Flecken und dem eigenen vermeintlichen Wissen über Rassismus in Deutschland hart ins Gericht gegangen werden muss. So können wir zusammen Seite an Seite für eine zukunftsfähige Gesellschaft einstehen und Rassismus erkennen und bekämpfen. So let’s talk about all this!

VORWORT VON HANNES RINGLSTETTER

Der David hat mich also angerufen und gefragt, ob ich ein paar Zeilen vorneweg schreiben mag – in sein neues Buch hinein. Thema: klar. Der Farbige in Bayern aufm Land, der Andere, der Besondere, der, der raussticht, umgeben von ewig gleichem Umfeld. Leicht kommt man auf den Trip beim Drübernachdenken, wie bitter es sich wohl anfühlt, mit den Blicken und den Sprüchen leben zu müssen von Anfang an, und man beginnt emphatisch mitzufühlen mit dem Burschen, der doch nur sein will wie alle anderen. Wie jedes Kind.

Dann aber hab ich mir dich noch mal angeschaut, und wie ich dich erlebe und was du alles aufgestellt hast in deinem Leben und wie talentiert du bist und wie offen und wie bayerisch in deinem Wesen. Also probier ich’s mal anders: Vielleicht war alles ein großes Glück! Vielleicht hat dich das »Anders-betrachtet-Werden« gerade zu dem gemacht, der du bist. Vielleicht hat es dich früh auf dich zurückgeworfen, weil nie ganz dazugehörend, dass du viel mehr schauen musstest, wer du bist, wie du dich ausdrücken willst, was du zu sagen hast. Vielleicht war das »Nicht-Sein-wie-alle anderen« genau die Chance, einen eigenen Charakter, Style und Way of Life zu definieren. Und eine eigene Sprache zu finden. Eine Sprache für Kreativität und Ausdruck und Leidenschaft – und Rap.

Ein Glücksfall also vielleicht einfach, jede dieser negativen Erfahrungen der Ausgrenzung, weil sie dich stärker gemacht haben in deiner Persönlichkeit und klarer in deinem Wollen, etwas anderes zu tun als die meisten anderen. Du bist anders geblieben und hast doch die Fähigkeit durch gerade diese Ausgrenzungserlebnisse erworben, es niemals mit anderen genauso zu machen. Also offen zu bleiben, angstfrei Menschen zu begegnen und cool zu sein mit jeglichen Formen von Leben, weil selbst immer unter Beobachtung. Viele Vorurteile aushalten zu müssen kann einen paradoxerweise zu einem Menschen werden lassen, der wenig Vorurteile besitzt anderen gegenüber. Weil man weiß, wie es sich anfühlt.

Begegne dieser wirren und oft so verschlossenen Welt weiter klar, stark, laut, herzlich, direkt, frei und liebevoll. Ist eh selten geworden diese Mischung. Das braucht die Welt. Und schon macht Anders-Sein wieder Sinn. Und somit auch dieses Buch.

PROLOG – ZU BESUCH BEIM AFD-INFOTREFFENDES KREISVERBANDES MÜNCHEN-SÜD

Es ist ein kalter Dienstagabend Ende November, als ich in meiner Wohnung in Neuperlach stehe und zu meiner Winterjacke greife. Die Kälte ist in den letzten Wochen in die bayerische Landeshauptstadt eingezogen, und ich verweigere mich dem allseits um sich greifenden Frieren.

Ich ziehe die Tür hinter mir zu, laufe die sechs Stockwerke meines Hauses hinunter und mache mich auf den Weg zur nahe gelegenen U-Bahn-Station. Die Blätter der Bäume, die den Pfad säumen, sind bereits komplett gefallen, und das Jahr hat den Herbst schon seit Längerem hinter sich gelassen. Ich steige in die U5 Richtung München Hauptbahnhof. Vom Gewusel am Hauptbahnhof laufe ich einige Hundert Meter zur Hackerbrücke und mache mich von hier auf weiter zu einer Gaststätte in den Münchener Westen. Sicher hätte ich vom Hauptbahnhof auch einfach einige Stationen weiter mit der S-Bahn fahren können, aber manchmal mag ich es einfach, zu Fuß zu gehen und in aller Ruhe nachzudenken. Ich bin von Haus aus ein nachdenklicher Mensch und grübele ständig über die verschiedensten Dinge, die mich beschäftigen. Heute ist aber ein Tag, an dem es nicht die Gewohnheit ist, die mich so viel nachdenken lässt.

Es ist dem Ort geschuldet, den ich im Begriff bin, aufzusuchen. Tausende Gedanken schwirren mir durch den Kopf, mein Atem gefriert in der dunklen Nacht, und ich bin froh, dass ich mir geistesgegenwärtig noch meine Goodbois-Mütze mitgenommen habe. Deren Slogan ist »Stand for something«, und genau darum wird es heute für mich gehen. Von der Hackerbrücke aus biege ich in eine spärlich beleuchtete Seitenstraße ein. Scheinwerferlichter von vorbeifahrenden Autos leuchten mir den Weg.

Nach wenigen Minuten habe ich mein Ziel erreicht und stehe inmitten einer kaum befahrenen Kreuzung vor einem großen beigen Gebäude. Durch die weißen Gardinen sehe ich bereits einige ältere Männer, die an massiven Holztischen sitzen und halb leere Weißbiergläser vor sich stehen haben. Bis hierhin wirkt die Szenerie altbekannt, »Boazn-Atmosphäre« halt. Der Name der Wirtschaft steht in Frakturschrift über dem Gebäude, daneben hängt ein Paulaner-Schild. Tegernseer wär mir lieber. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: 19:45 Uhr. 15 Minuten noch, bis es losgeht. Ich bin nicht aufgeregt, sondern stelle mir eher vor, jetzt gleich eine teilnehmende Beobachtung durchzuführen, wie damals im Pädagogikstudium. Ist es komisch, dass ich keine Aufregung oder Angst verspüre? Sollte ich nicht eigentlich sogar Angst haben?

Ich denke zurück an vergangenen Freitag und an das Turnier, auf dem ich gekämpft habe, die »Bavarian Open« im Brazilian Jiu-Jiutsu. Meine Leidenschaft. Ich bin ein Blaugurt, und in meiner Gewichtsklasse, den »Ultra Heavyweights +94 Kilogramm« gab es nur einen einzigen anderen Teilnehmer. Jemanden mit einem Braungurt, der also zwei Gürtelklassen über mir war. Für mich ein sogenannter »Superfight«. Ich gewann den Kampf nach Punkten, obwohl ich eigentlich unterlegen hätte sein sollen. Was soll mir also hier noch passieren?

Ich stehe vor dem Gasthof und bin gerade wahrscheinlich am falschesten Ort zum falschesten Zeitpunkt in ganz München, aber ich habe keine Angst. Ich möchte den Menschen, die sich hier alle zwei Wochen in einem Hinterzimmer treffen, mit Ruhe begegnen. Ich will zuhören. Ich will wissen, was in meinem München und in meinem Bayern vor sich geht, worüber bei diesen obskuren, halb öffentlichen Treffen geredet wird und wie die Menschen vor ihren halb leeren Weizengläsern auf mich, den »Schwarzen«, reagieren werden. Ich denke kurz an meine Mutter, von der ich so viel gelernt habe und die mich vor allem zum Frieden und zum gesellschaftlichen Miteinander erzogen hat. Sie würde nicht wollen, dass ich jetzt umdrehe. Jetzt, wo ich schon einmal hier bin. Und ich will das auch nicht. Ein einzelnes Auto fährt die sonst unbefahrene Straße entlang, ansonsten ist es ganz still. Ich genieße die Ruhe des Moments. Dann betrete ich die Gaststätte.

Der Vorderraum der Wirtschaft ist menschenleer und sieht relativ uneinladend aus. Einige rustikale dunkle Holztische stehen im Raum verteilt – mit dazu passenden, hölzernen Stühlen. An der Ecke blinken zwei Spielautomaten und trüben das sonst so klare Bild einer 80er-Jahre-Boazn. Einige Krüge mit dem Logo des TSV 1860, dem Verein der Münchener Löwen, stehen ordentlich platziert hinter mehreren Glasvitrinen, ein unscheinbares, kleines eingerahmtes Gemälde von Ludwig II. hängt schief an der Wand, und ein Deutschland-Sombrero liegt auf einer Ablage. Der Geruch von Malz und Holz liegt in der Luft, und aus dem vom Vorraum aus einsehbaren Hinterzimmer höre ich ein Stimmengewirr der Männer, die ich von draußen bereits gesehen habe. Dass ich mit Überschreiten der Türschwelle vor wenigen Sekunden eine Parallelwelt betreten habe, wird mir erst später klar. Ich blicke noch mal durch den leeren Gastraum. Alles wirkt unwirklich wie ein Filmset, als wolle man die Fassade einer urbayerischen Gaststätte aufrechterhalten. Alles hier wirkt gekünstelt und unecht, als hätte man das Bild des Originals hier hineingetragen und akkurat danach ausgebaut. Mich stören vor allem die vielen 1860er-Maßkrüge und Wimpel. Es wirkt, als hätten sie hier den Traditionsverein nur deshalb so überrepräsentiert, damit klar wird: Wir sind die Bewahrer der echten bayerischen Lebensart. Aber ich fühle, dass sie sich »unseren Verein« genommen haben, »unsere Tradition«, um Leute wie mich auszuschließen. Ich habe ein paar Jahre beim TSV 1860 Boxen trainiert. Daher kommt auch mein Bezug zum Verein. Einmal Löwe immer Löwe, sagt man dort. Aber zu diesen Löwen, die hier zu verkehren scheinen, fühle ich mich ganz und gar nicht zugehörig.

»Ah, Herr Mayonga.« Der Mann vor mir trägt ein weißes Hemd und darüber einen blauen Pullover. Lächelnd reicht er mir die Hand.

»Servus«, antworte ich fast schon übertrieben freundlich. Ich schätze ihn auf Mitte fünfzig, und er ist ganz offensichtlich der Leiter des heutigen AfD-Infoabends vom Kreisverband München-Süd, für den ich mich vor einigen Tagen per E-Mail angemeldet habe. Diese Treffen finden immer im zweiwöchentlichen Turnus statt, Adresse und Zeitpunkt werden vorab per E-Mail mitgeteilt, sind also nicht öffentlich einsehbar. Neben meinem vollen Namen musste ich auch meine Telefonnummer angeben. Um mich herum sitzen bereits ungefähr 20 Personen, größtenteils Männer ab 50. Nicht unbedingt eine sehr jugendliche Veranstaltung. Vereinzelt sehe ich auch Frauen und einige jüngere Männer, die aus der Münchener Kälte nach und nach in die Gaststätte drängen. Ich spüre die Blicke der Umhersitzenden, die an mir hängen, als hätte ich ein Fadenkreuz auf dem Körper, aber das kenne ich ja schon, seit ich ein Kind bin.

»Ach, setzen Sie sich doch hier hin«, sagt der Mann im blauen Pullover und bietet mir mit einer einladenden Handbewegung den Stuhl direkt vor ihm an. Hier stehen sein Laptop und der Beamer, der die Worte »Herzlich willkommen beim Info-Abend des Kreisverbandes München-Süd« auf eine Leinwand projiziert. Ein AfD-Wimpel mit der Aufschrift »Wir lieben Deutschland« steht in der Mitte unseres Tisches. Mir schräg gegenüber sitzen drei Frauen mittleren Alters, die mich etwas irritiert und abschätzig anstarren.

Ruhig bleiben, denke ich mir. Ruhig bleiben. Du hast einen Braungurt besiegt, keiner der Braunen hier kann es mit dir aufnehmen, spreche ich mir mantramäßig zu. Ich fahre meinen Puls hinunter. Eine der Frauen spricht mich an, kurz nachdem ich mich gesetzt und der Runde zugenickt habe.

»Sag amal, bist du sicher, dass du hier bei der richtigen Veranstaltung bist?«

Die Umhersitzenden lachen ein dumpfes, ausschließendes Lachen. Der Mann im blauen Pullover bittet um Ruhe und versucht, mich vorzustellen: »Das ist der Herr Mayonga, der ist Rapper.«

»Ah, wie heißt er denn?«, fragt die Frau, die sich wundert, dass ich hier bin, geheuchelt-interessiert nach.

»Rekless heißt er«, kommt vom Blaupullover, als säße ich nicht mit am Tisch.

»Roger Rekless«, ergänze ich und kann sehen, wie die Frau ganz offensichtlich ihr Handy hervorholt und nach meinem Namen im Internet sucht. Etwas, was der Sitzungsleiter ziemlich sicher vorher auch schon getan hat, denn seine Anschlussfragen implizieren, dass er mich kennt.

»Und also, Sie machen ja … Dinge, oder?«, fragt er nach, und ich muss grinsen.

Ja. Genau das ist mein Motto. Roger Rekless tut Dinge. Er muss meinen Instagram-Account entdeckt haben. »Ja, so alles Mögliche. Eigentlich mache ich alles, was mit Wort zu tun hat, Musik, Moderation, Rap, Diverses«, steige ich auf seine Frage ein.

»Ach, das ist ja interessant. Und beim Bayerischen Rundfunk sind Sie ja auch, oder?«

Ich verstehe, worauf er hinauswill und antworte ganz offen und ehrlich: »Ja genau. Ich habe da eine Sendung. Aber ich bin jetzt nicht für den BR hier. Wissen Sie, ich wollte mir das Ganze einfach mal anschauen.« Der Raum füllt sich, Stühle werden hin- und hergeschoben, und aus dem Vorderraum drängen immer mehr Interessierte ins Hinterzimmer. »Ich glaube, es ist eine ganz gute Idee, einfach mal miteinander zu reden, und da das hier ja ein Infoabend ist, dachte ich, komme ich als gebürtiger Münchener und Lokalpatriot einfach mal vorbei.«

Mein Gegenüber wirkt mit der Information etwas überfordert. »Recht hamse«, nuschelt er.

Ich erzähle von meinem Besuch beim politischen Gillamoos in Abensberg einige Monate zuvor. Im Rahmen einer Reportage für die Sendung von Hannes Ringlstetter war ich mit einem Kamerateam vom BR unterwegs und habe die Reden der Parteivorsitzenden angehört und kommentiert. Auch die der AfD. Abgesehen davon, dass Jörg Meuthen ziemlich schlechte politische Comedy abgeliefert hat, stach mir vor allem das Publikum ins Auge. Auf den Bierbänken saßen Bürger, die nach keiner besonderen politischen Agenda aussahen, neben Menschen mit Thor-Steinar-T-Shirts, die man eindeutig dem rechten Spektrum zuordnen konnte. Hinter den Bierbänken standen Vertreter der Identitären Bewegung, die das Publikum und uns Journalisten beobachteten. Wir wurden eingekreist. Einer machte heimlich Fotos von den Aufzeichnungen des Redakteurs, andere filmten uns auffällig, und sie kamen uns unangenehm nah. Damals hatte ich mit unserem Tonmann, einem ehemaligen russischen Boxer, ausgemacht, dass wir Rücken an Rücken kämpfen würden, falls uns jemand ans Leder wollen sollte. Deshalb war ich auch in dieser Situation nicht so angespannt, wie es die uns Einkreisenden gern gehabt hätten.

Ob der AfD eigentlich bewusst sei, wie nah die Identitäre Bewegung und ein rechtsextremes Spektrum ihnen ist, möchte ich von meinem Gegenüber wissen? Der Infoleiter weicht aus: »Ja, so Leute gibt es halt immer, das ist ja schwierig. Also wir sind hier ja keine Nazis, sonst wäre ich ja nicht hier, weil ich bin ja kein Nazi. Also hier sind ja keine Nazis jetzt, aber ich kann natürlich auch nicht für jeden im Raum sprechen.«

What? Checkst du eigentlich, was du da gerade gesagt hast, Oida? Denk ich mir. Aber der Leiter hatte sich selbst wohl nicht zugehört.

»LEBERKAAS!« Die gellende Stimme der untersetzten Wirtin, die sich von hinten an mir vorbeigeschoben hat, lässt mich zusammenzucken, während sie Gerichte verteilt und neue Bestellungen entgegennimmt. Der Hinterraum füllt sich immer mehr, die Veranstaltung hat noch nicht angefangen, und schon jetzt gibt es hier keine freien Plätze mehr.

»Machen wir den Vorderraum mit auf«, ruft der Mann im blauen Pullover quer über den Tisch dem Ehemann der Wirtin zu, der murrend die Tür öffnet. Es sind jetzt schon mehr als 30 Leute da. Bis zum Ende des Abends werden es weit über 50 sein.

»Was mogstn drinnga?« Die Wirtin ist ihren Leberkäse losgeworden und beugt sich mit ihren krausen Haaren zu mir herüber. Ich bestelle ein alkoholfreies Weißbier. »Und du?« Sie wendet sich an einem Gast am Nebentisch.

»I hätt gern an Russn!«

»Russn derf ma nimmer mehr sonng«, plärrt die Wirtin los. Dann fügt sie hinzu. »Neger derf ma ah nimmer sonng, nix derf ma mehr sonng.« Sie sagt das nicht zum Gast, sondern eher in den nahezu vollen Raum hinein und schaut mich dabei gackernd an.

Der Leiter macht eine abweisende Handbewegung und lacht hell auf: »Mei, die Sissi.«

Alles nur Spaß. Na klar, was sonst. Ich erinnere mich kurz an meine Jugend zurück. Ich bin 15 Jahre alt und will mir über den Sommer in Markt Schwaben Geld verdienen, um mir einen Plattenspieler zu kaufen. Der Sommer 1996 ist heiß und schwül, und mein Kumpel Bowdee und ich arbeiten den kompletten August im Bauhof unseres Ortes. Wir machen gerade Brotzeit und sitzen mit vier anderen Arbeitern an einem runden Tisch in einer Ecke des Café Seidl. Die anderen tragen orange Latzhosen, wir haben keine richtigen Arbeitsklamotten, sind ja auch schließlich nur für ein paar Wochen hier. Die Arbeiter unterhalten sich. Das Wort »Neger« fällt. Relativ zusammenhangslos. »Der ist ah a so a Neger«, ist der ungefähre Wortlaut. Ich verschlucke mich etwas an meiner Weißwurst, und mein Magen zieht sich zusammen. Mein Kumpel Bowdee, der neben mir sitzt, gibt einen Laut von sich. Ein dumpfes »He«. Die anderen schauen kurz ihn an und dann mich, den schwarzen Jungen, der ihnen gegenübersitzt. »Ja, net du …«, sagt einer von ihnen in meine Richtung, dann reden sie weiter. Ich bin Bowdee dankbar. Er hat nicht mal wirklich etwas gesagt, sondern den anderen nur durch ein Geräusch zu verstehen gegeben, dass dieses Wort nichts an diesem Tisch verloren hat.

Und jetzt, 22 Jahre später, sitze ich in dieser Wirtschaft, und jemand wie Bowdee ist nicht hier. Ich bin ein erwachsener Mann, aber habe hier keine Lobby. Niemanden, der Dinge geraderückt oder korrigiert. Niemanden, der etwas sagt, sich äußert oder wenigstens ein Geräusch macht. Niemanden, der die Wirtin aus ihrem Film herausholt und ihr irgendwie zu verstehen gibt, dass ich durch den inflationären Gebrauch dieses Wortes verletzt werde. Ich bin erst seit vier Minuten hier, und schon ist das Wort gefallen, das mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Dieses Wort, das mich verletzt, das so viele Menschen verletzt und das man aus vielen Gründen nicht mehr sagen sollte. Vor allem weil ich in erster Linie ein Mensch bin. Ein Mensch mit Gefühlen und Eigenschaften, mit Witz und Charisma, mit Emotionen, mit Freunden und einer wunderbaren Frau. Ein Mensch, der in Bayern geboren ist und hier seine kulturelle Identität gefunden hat. Ein Mensch, der mit Renate Maier gstanzelt hat, der im Radio live Facebook-Kommentare freestylt, der in der offenen Jugendarbeit beim Kreisjugendring München gearbeitet hat, Pädagoge ist und seit er 16 ist auf Bühnen steht. Ein Mensch mit Fehlern, Hoffnungen, Träumen und Wünschen. Ein Mensch wie du, der dieses Buch in seinen Händen hält. Aber all das, was mich zum Menschen macht, all das wird ausradiert von dem Wort Neger.

Ich schaue mich weiter um. Meine Anfangstendenz bestätigt sich: Es sind fast nur Männer anwesend und wenige Frauen, alle um die 40 aufwärts. Alle weiß. Niemand hier ist dunkelhäutig. Einige haben rote Biertrinker-Nasen und sehen etwas verbrauchter aus, wieder andere tragen weiße Hemden und haben Gel in den Haaren. Es scheint so, als sei hier jede Bevölkerungsschicht vertreten. Ein Mann wischt die Schweißperlen auf seiner Stirn an seinem roten Over-size-Shirt ab und hustet auf den Holztisch. Ich werfe einen Blick auf die handschriftlich verfasste Speisekarte. Drei der fünf aufgelisteten Gerichte kosten 8,80 Euro. 8,8. Heil Hitler! Ein Neonazi-Code. Das ist kein Zufall.

Mein alkoholfreies Weißbier kommt. »Neger!«, gellt es neben meinem Ohr.

»Na, an Russ hab i bstellt«, sagt der Gast, der zuvor bei der Wirtin, die »Nix derf ma mehr sonng«-Leier angetriggert hatte.

»Koan Neger? Mei jetzad hamma so vui vom Neger gredt, dass i ganz … Ja, was moch ma jetzt?«

Verwirrt steht die Wirtin mit ihrem Cola-Weizen, das sie »Neger« nennt, in der vollen Wirtschaft. Dann dreht sie sich zu mir, ihre Augen funkeln. »Na, da stell i den Neger amoi do her.« Sie nimmt einen großen Schluck von dem »Neger« und stellt das Getränk neben mein alkoholfreies Weißbier. Sie geht.

Der Neger am Tisch bleibt. Und ich auch. Es ist kurz nach sieben, und mir ist jetzt schon schlecht. Die Blicke fühlen sich wie Nadelstiche auf meiner Haut an. Zwar bin ich es gewohnt, besonders beobachtet zu werden, aber ich spüre eine passive Aggressivität, die sich mir gegenüber breitmacht. Meine Hautfarbe findet hier keinen Anklang. Ich könnte der Oberbürgermeister der Stadt München sein oder der Bundeskanzler, aber das zählt hier in diesem Raum und in dieser Umgebung nicht. Alles, was ich hier bin, ist der andere, der schwarze Mann. Und damit fehl am Platz. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Weißbier.

Der Mann im blauen Pullover greift zu einer vergoldeten Klingel und bittet um Ruhe. Es ist ein bisschen wie damals in der Schule meines bayerischen Heimatortes Markt Schwaben. Die Wirtschaft platzt mittlerweile aus allen Nähten. Zwischendrin läuft die Wirtin umher, und ihr abwechselnd gellendes »Leberkas«, »Gulasch«, »A Russ?!«, »Neger?« wird zum Soundtrack eines Abends, den ich nie vergessen werde.

»Also gut, dann fangen wir mal an, zuerst einmal freue ich mich, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid!«

Mein Gegenüber erhebt sich. Mir fällt auf, dass er sich mir gar nicht vorgestellt hat und das auch jetzt nicht tut, mich aber mit meinem Nachnamen begrüßt hat.

»Jeder bestellt, jeder versorgt? Dann können wir ja anfangen. Erst mal herzlich willkommen.« Gönnerhaft breitet er die Arme aus. »Wir haben heute ein buntes Programm vor uns.« Seine Stimme wabert durch die überfüllte Gaststätte, Ruhe kehrt ein. Dann beginnt es.

Die nächsten zwei Stunden werden mit die härtesten, die ich in einem Raum mit fremden Menschen verbracht habe. Es ist nicht so, dass ich in den kommenden Stunden angegriffen oder angefeindet werde. Niemand beleidigt mich hier offensichtlich (außer die Wirtin, die mir »aus Spaß« einen Neger hinstellt). Im Gegenteil: Derjenige, der den Abend moderiert, versucht, mir von Beginn an das Gefühl zu geben, ich sei nicht nur geduldet, sondern auch willkommen. Aber seine Freundlichkeit wirkt aufgesetzt wie eine Maske.

Ich kann bis hierhin eigentlich nichts Schlechtes über ihn berichten, aber ich erkenne seine Masche. Klar, er verharmlost erst einmal, dass Neonazis oder die Identitären der AfD nahestehen (»Schwarze Schafe gibt’s überall!«) und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Staat (»Der Verfassungsschutz ist ja eher unser Feind«). Und er bietet mir sogar an, nachdem ich bei ihm nachhorche, ob ich hier mit EC-Karte zahlen kann, mir das Geld auszulegen. Das ist schon etwas perfide, denn nur, weil er ja anderer Meinung ist als ich, kann ich ihm ja nicht böse sein, oder? Das ist die Taktik, die er und die AfD fahren: freundlich im direkten Umgang miteinander, menschenverachtend im Parteiprogramm.

Was war das für eine einfache Zeit, als Neonazis noch mit Springerstiefeln und Glatze umherliefen – wie damals die Typen aus Hohenlinden, die uns bei der Kramperljagd hinterhergelaufen sind – und sich eine Gesinnung nicht hinter einem blauen Pullover und einem netten Handschlag versteckt hatte. Seine Informationen, die er über mich hat und mir auch direkt vorhält, wirken zwar nicht direkt einschüchternd, erwecken aber sofort ein ungutes Gefühl in mir. Er teilt mir so sehr direkt mit: Dich, dich kenne ich. Wir alle hier kennen dich. Es ist dieses subversive Gefühl von Überwachung und Kontrolle, das schon in seinen Begrüßungsworten mitgeschwungen ist. Dieses laute Aussprechen meines Künstlernamens, gefolgt vom offensichtlichen Griff an das Handy der brünetten Frau, die mir schräg gegenübersitzt, gepaart mit den Worten »Aha, ein Rapper. Na dann schauen wir mal«.

Unsicherheit ist ein Gefühl, das nicht messbar ist, aber die AfD und die Repräsentativen des Kreisverbandes München-Süd wissen es sehr gut zu vermitteln. Wie der Blaue-Pullover-Mann mir so gegenübersitzt und etwas tapsig nach Eröffnungsworten ringt, merke ich bereits, dass er heute eine interessante Sonderrolle einnimmt. Ich bin mir sicher, dass zumindest er, der heute repräsentativ für diese Veranstaltung und somit auch für die Partei steht, einen Drahtseilakt vollführen muss. Zum einen muss er mir, dem dunkelhäutigen Gast, der für den Bayerischen Rundfunk auch schon mal verschiedene Parteien besucht und von deren Wahlkampf-Partys berichtet hat, das Gefühl geben, dass er hier willkommen wäre. Er kann mich nicht einfach wegignorieren oder mich mit in sein Feindbild einbeziehen, denn die AfD ist ja eine, zumindest auf dem Papier, demokratische Partei, und ich bin ein waschechter Bayer, wahrscheinlich bayerischer als die meisten anderen hier im Raum. Es ist also nicht nur mein gutes Recht, hier zu sein, sondern eigentlich demokratische Bürgerpflicht, um mir ein gesamtdeutsches Parteienspektrum einmal anzuschauen.

Auf der anderen Seite leitet er diesen Infoabend, den man retroperspektiv auch einfach nur als Stammtisch bezeichnen könnte. Seine Aufgabe ist es also, und das spüre ich im Verlauf des Abends, dafür zu sorgen, dass die Redebeiträge etwas gemäßigter als sonst vonstatten gehen, einfach weil die Partei und diese Versammlung sich nicht vor mir als offen rechts äußern können. Denn für mich, der ja sowieso scheinbar mit Presse und Medien zu tun hat, wäre das ein gefundenes Fressen. Der Blaue-Pullover-Mann muss also den Schein seiner demokratischen Partei waren, gleichzeitig aber auch die Stammgäste zufriedenstellen, die hier sind, um Dinge auszusprechen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass diese in einem demokratischen Land im Jahr 2018 ausgesprochen werden. Gar keine leichte Aufgabe.

Zuallererst beginnt der Blaue-Pullover-Mann damit, der im weiteren Verlauf dieses Kapitels auch einfach nur noch so genannt wird, darum zu bitten, Flyer gegen das »Global Compact for Migration« mitzunehmen und zu verteilen. Das Programm soll die erste globale und zwischen Regierungen unter der Ägide der Vereinten Nationen ausgehandelte Übereinkunft zur Abdeckung aller Aspekte internationaler Migration werden, was die AfD verhindern möchte.

Als Nächstes ergreift »Gerd« das Wort, der ähnlich wie der Blaue-Pullover-Mann den Eindruck von Seriosität erweckt. Er ist vermutlich Mitte 50, hat eine hohe Stirn und einen weißen Bart und trägt ebenfalls einen Pulli über seinem weißen Hemd. Allerdings einen grauen. Er wirkt … nett. Gerd soll von der vergangenen Europa-Wahlversammlung der AfD in Magdeburg berichten, und es klingt ein wenig so, als würde er Rapport erstatten. Als er sich unter lautem Applaus von seinem Stuhl erhebt, geht er einige Schritte auf meinen Tisch – dem Tisch, an dem sich auch Beamer, Laptop und der »Wir lieben Deutschland«-AfD-Wimpel befinden – zu und spricht den Blauen-Pullover-Mann an. Zwischendurch dreht er sich um und rotiert im Kreis, damit seine Worte auch bei jedem Anwesenden Gehör finden. Nach wenigen Sekunden spricht er bereits von einer »permanenten Berieselung durch die Medien«. Und er beginnt, seinen abwertenden Bericht über die Versammlung mit einer persönlichen Geschichte zu würzen, wie er mit dem Auto nach Hause fuhr und im Radio nichts anderes als »linke Indoktrination« lief. Gerd sieht darin eine große Gefahr, denn seine 16-jährige Tochter sagt, was im Radio liefe, das müsse ja stimmen. Und der Rest, »der kommt von den Lehrern«. Ein empörtes Raunen setzt ein, ein paar bejahende »Stimmt!«-Rufe von dem Tisch hinter mir erklingen. »Das Nächste ist vielleicht ein bisschen rassistisch«, erhebt Gerd erneut die Stimme, und ich schaue in das von der Wirtin angetrunkene »Neger«-Glas.

Ein bisschen rassistisch. What in a thousand fucks soll das denn sein? Gibt es das überhaupt? So »ein bisschen« rassistisch? Gibt es ein »bisschen« tot? Ein »bisschen gebrochene« Knochen? Ist etwas Rassistisches nicht immer rassistisch, oder gibt es da ein Barometer, von dem ich nichts weiß und das den Grad an Rassismus für den Gerd misst? Er lässt sich darüber aus, dass bei der eigenen Wahlvollversammlung, »überall da, wo Deutsche angetreten sind, destruktiv nachgefragt wurde«.

Aha, ich verstehe, Fragen mag man also nur, wenn sie nichts kaputt machen. Ich nehme mir vor, dem netten Gerd im Lauf des Abends noch eine Frage zu stellen. Sein Kopf errötet, und Zornesfalten legen sich auf seine hohe Stirn. Ich nehme einen Schluck von meinem alkoholfreiem Weißbier und lausche weiter. Gerd gestikuliert nun etwas mehr und geht quer durch den Raum, er spricht von der Gefahr einer Zerphaserung der AfD und von verschiedenen Interessengruppe, die in der Partei heranwachsen würden. Namentlich: Frauen, Schwule, Katholische. So was halt. Als Gerd abtritt, folgt ein lautes Klatschen, der Blaue-Pullover-Mann hebt noch mal Gerds besonderes Engagement hervor, und Gerd erntet erneut Applaus.

»NÜRNBERGER!« Die Wirtin ist hinter mir aufgetaucht und verteilt Nürnberger für 8,80 Euro. Dann nippt sie wieder an dem unbestellten Cola-Weizen und stützt sich demonstrativ auf mir ab. Gott, ist das unangenehm. Was mir noch an dem ersten Redebeitrag auffällt: Gerd, der als Delegierter zu einer Europa-Vollversammlung der AfD nach Magdeburg fuhr, scheint überhaupt kein Interesse an politischen Prozessen zu haben. Er wirkte völlig gelangweilt und genervt von diesem Wochenende, alles, woran ihm gelegen scheint, war, den Zuhörenden zu beweisen, wie viel er für die Partei gemacht hat. Wie er sich für sie aufgeopfert hat – im selben Atemzug holt er zu einem rhetorischen Rundumschlag aus und spricht von einer Indoktrinierung durch die linken Medien.

Der nächste Programmpunkt steht an. Der Blaue-Pullover-Mann klickt sich an seinem Laptop durch die schlicht gehaltene PowerPoint-Präsentation. Es geht um die rechten Ausschreitungen in Chemnitz vom 27. August 2018. Zumindest denke ich das kurz. Tatsächlich geht es allerdings um das vorangegangene Tötungsdelikt des 23-jährigen Yousif A. an dem Deutschkubaner Daniel H., aber eigentlich geht es auch gar nicht um dieses Tötungsdelikt, sondern um, wie sollte es anders sein, viel mehr. Vorrangig um die Medien, die bei den anschließenden Ausschreitungen eine Hetzjagd hineininterpretiert hätten. Aufgrund einer einzelnen Aufzeichnung, des »Hase du bleibst hier«-Videos, das zeigt, wie mehrere gewaltbereite Männer zwei junge ausländisch aussehende Männer jagen, wäre man von einer Hetzjagd ausgegangen. »Ich hab sofort danach im Internet gesurft, um Sachen zu verifizieren, weil jeder weiß, dass Fake News im Internet von allen Seiten massenweise vorhanden sind und man selbst wirklich filtern muss, was ist jetzt glaubhaft und was nicht. Für mich war das nie glaubhaft, das ein einzelnes Video so etwas beweisen soll.« Der Blau-Pullover-Mann schaut nach diesen Worten aufmerksam in die Runde und erntet breite Zustimmung.

Wow, das geht hier alles sehr schnell. Es wird davon ausgegangen, dass alle hier auf demselben Informationslevel sind. Und dieser ist nicht derselbe, auf dem ich mich bewege. Ich habe die Bilder von Chemnitz gesehen und war erschüttert, dass es in Deutschland möglich ist, dass 6000 Rechte und Sympathisanten wenige Meter von einem Tatort »Ausländer raus!« rufen und Hitlergrüße zeigen können. Ich saß zu Hause mit meiner Frau auf dem Sofa und sah, wie Jungs, die ausländisch aussahen, am helllichten Tag durch eine Straße gejagt wurden. Ich sah meine Frau an und wusste, dass genauso gut ich hätte gejagt werden können. Diese Jungs mussten Todesangst gehabt haben. Was da passierte, war offen ausgelebter Rechtsextremismus. Punkt.

Und angenommen, es wäre wirklich nur dieser einzige Übergriff gewesen, wäre das denn wirklich weniger schlimm? Ab wie vielen Übergriffen gestehen sich diese Leute um mich herum denn ein, dass dort eine rechtsextreme Straftat begangen wurde? Zwei Übergriffe? Drei Hitlergrüße? Vier Wohnheimbrände? Dafür kann es keinen Maßstab geben.

Ich schaue mich abermals um und blicke in die Gesichter, die so viel Zorn und Verzweiflung in sich tragen. Ich bin der einzige Schwarze hier, dem auch noch ein »Neger« hingestellt und der gefragt wurde, »ob er hier richtig sei«. Niemand hier versteht, dass ich – wenn ich dort gewesen wäre, ich mit meinen bayerischen Wurzeln, ich, der eigentlich ihr kultureller feuchter Traum bin – derjenige gewesen wäre, den sie gejagt hätten, derjenige, der um sein Leben hätte bangen müssen. Dass sie das nicht verstehen können, ist mir klar, auch dass sie mir, ihrem Landsmann, in so einer Situation niemals zu Hilfe eilen würden, aber sie versperren sich auch den Weg in eine Welt, in der sie es täten. Sie gehen einen unempathischeren einfacheren Weg der Verdrängung und haken alles als Fake News und einen geplanten Regierungscoup ab. Das Ziel der »Hetzjagd«-Verschwörung soll angeblich gewesen sein, den damaligen Innenminister Hans-Georg Maaßen zu entlassen.

Ich blicke zu der Frau mir schräg gegenüber und schaue ihr tief in die Augen. Ich frage mich, ob sie mir helfen würde, wenn die Wirtin mir hier ein Messer in den Rücken rammte. Einfach so, weil ich ein Neger bin. Dann schaue ich zum Blau-Pullover-Mann. Dann zu dem Mann neben ihm. Dann zu seiner Frau. Dann zu allen anderen. Nein, niemand würde mir helfen.

»CHILI CON CARN!«

»Also, jetzt gibt es hier eine Untersuchung von Tichys Einblick!« Der Blau-Pullover-Mann öffnet mit einem Doppelklick ein Video.

Was ich in den kommenden sieben Minuten sehe, ist so absurd, dass ich fast lachen muss. Es öffnet sich ein Vorhang zu einer Geisterbahn. »Tichys Einblick«, die Online-Zeitung des Publizisten Roland Tichy, die sich selbst als »Das liberal-konservative Meinungsmagazin« bezeichnet. Er hat ein Video über Chemnitz erstellt und berichtet von »neuen Erkenntnissen« zum viralen »Hase du bleibst hier«-Video. Demnach, so erklärt es Tichy, habe man die Frau, die das Video erstellt hat, ausfindig gemacht. »Eine Frau, die jeden Morgen früh um fünf aufsteht, um zur Arbeit zu gehen.« Was für ein Anfang. Was für ein Bild. Natürlich steht sie jeden Tag um fünf Uhr auf, um zur Arbeit zu gehen. Das soll wohl suggerieren, dass die Frau bereits von Anfang an von jeder Schuld befreit ist, da sie ganz offensichtlich hart und ehrlich arbeitet – und wer um fünf zur Arbeit geht, um zu arbeiten, ist ja schon per definitionem ein unbescholtener Bürger. Diese Frau behauptet nun also das Gegenteilige. Die vermeintlichen Opfer hätten die Deutschen provoziert. Es ist unklar, ob die beiden Männer im Video die Frau zitieren oder selbst interpretieren, sie sprechen davon, dass die beiden »arabisch aussehenden Jugendlichen Bier über die Demonstranten geschüttet hätten«. Die Begrifflichkeiten ändern sich hier ständig. Mal sind die gejagten Männer »ausländisch aussehend«, dann »arabisch aussehend«, dann schlichtweg »Ausländer«. Die Männer und die Frau, die um fünf Uhr zur Arbeit geht, sind zuerst Besucher eines »Schweigemarsches«, dann eines »Protestmarsches« und schließlich Teilnehmer eines »immigrationskritischen Demonstrationszugs«. Ja, was denn nun? Und warum trinkt man bei einem Trauerzug eigentlich Bier?

»GULASCH!«

Alles ziemlich verworren und vor allem überhaupt nicht faktenbasiert. Zwei weiße alte Männer unterhalten sich sieben Minuten lang über ein 19-sekündiges Video und sagen einzig und allein, dass das Gezeigte nicht stimmt und künstlich »von den Medien« hochstilisiert wurde. Wäre das Video ein Rapsong zum Thema gewesen, würde ich sagen, er ist unfassbar »whack«, weil er mir nix Neues erzählt. Ich hatte ja wenigstens gehofft, dass die Frau zu Wort kommt oder es irgendwie so etwas wie einen Faktencheck gibt, aber das Gezeigte hätte ehrlich gesagt auch jeder x-beliebige Mensch selbst produzieren können.

Das Video ist vorbei. Eine kurze Stille tritt ein. Ich hoffe insgeheim, dass alle Anwesenden kollektiv lachen und sich das Ganze hier als hanebüchener Scherz entpuppt, quasi als Parteigag. Nope.

»Bravo«, ruft jemand, in der vorderen Reihe grummelt einer »ziemlich starkes Video« in seinen Bart hinein. Ich bin fassungslos. Das Video war einfach nur eine plumpe Umdeutung. Die hart arbeitende deutsche Frau wurde in den Vordergrund gerückt und die Angegriffenen als Provokateure bezeichnet. Mehr nicht. Das muss doch jemand anderem als mir auch noch auffallen, denke ich. Aber vielleicht ist der Inhalt des gezeigten Videos auch gar nicht so wichtig. Denn nachdem der Applaus für Tichys Einblick verhallt ist, entpuppt sich der wahre Kern dieser Versammlung. Nach diesem Video gibt es keine vernünftige Sachgrundlage mehr. Jetzt kann jeder sagen, was er will, frei von Fakten. Eine stille Übereinkunft, legitimiert durch dieses abstruse Video, das sagt: Es gibt nur eine Wahrheit, und das ist die Wahrheit, die wir gern sehen wollen.

Es wäre ein Leichtes gewesen, die wirren Argumente im Video zu entkräften, vor allem den lapidaren Umgang mit Sprache und Begriffen, aber das will niemand mehr hören.

Let the games begin!

Jemand schräg links hinter mir erhebt die Hand und meldet sich zu Wort. Er ist etwas jünger als viele andere hier und wirkt eher wie jemand, der direkt einer Hornbach-Werbung entsprungen ist. Er trägt ein rotes Karohemd und benutzt auf jeden Fall Bartöl. Er räuspert sich. Seine Stimme hallt durch die Kneipe: »Die zwei Syrer, die das gemacht haben, die haben ja Sandhandschuhe getragen.«

»Quarzhandschuhe«, korrigiert der Mann im blauen Pullover.

»Ja genau. Anscheinend etwas, was auch bei der Antifa gern mal getragen wird. Nur mal so als Fakt.«

»CHILI CON CARN!«

Die Wirtin ist wieder da, verteilt das klumpige Chili, das sie auf einem Teller transportiert, und trinkt wieder von dem Cola-Weizen, das immer noch vor mir steht. Langsam verstehe ich, wie das hier läuft. Jeder darf einfach sagen, was er will, das dahintergestellte »nur mal so als Fakt« des Karohemdträgers legitimiert natürlich überhaupt nichts und hat schon fast etwas Komödiantenhaftes. Ich überlege kurz, mich zu melden und zu sagen: »Sie, ’tschuldigens, des is ma jetzt fast a weng peinlich, aber des war i aufm Video drauf. I und mei Bruader, mir homm des Ganze ogfangt. I woitt immer scho amoi am Nazi as Bier ausschütten aufm Naziaufmarsch, aah Trauermarsch, aah Demo, aaah, es wissts scho, wos i moan. Jetzad wollt i einfach sorry sonng und das des nimmer vorkimmt, oiso kanntats ihr a aufhern, an so an Schmarrn zum glamm, wos es do eich eineziagts!« (»Jo, Leute. Es wird euch wundern … Aber das auf dem Video bin ich. Und ja, ich und mein Bruder haben angefangen! Sorry for that! Wir hatten einfach Bock, die Besucher dieser Trauerdemo mit ihrem eigenen Bier zu überschütten. Aber ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Sorry!«) Aber ich lass es doch lieber bleiben.