Ein neuer, ein ganz anderer Ort - Koschka Linkerhand - E-Book

Ein neuer, ein ganz anderer Ort E-Book

Koschka Linkerhand

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Beschreibung

Irgendwann im 18. Jahrhundert, irgendwo in den Appalachen in einer puritanischen Missionsgemeinde, behauptet eine Pfarrersfrau, einst Pirat gewesen zu sein. Anne Burleigh sagt es nicht laut, sondern leise, nur für sich – während kein Weg aus ihrem arbeitsreichen Alltag in dem viel zu kalten Landstrich führt. Miss Cleave, die Lehrerin ihrer Kinder, ermutigt Anne, sich den alten Geschichten übers Lesen und Schreiben anzunähern. Können Buchstaben tatsächlich etwas verändern? Welche Rolle spielt dabei die schweigsame Miss Cleave – und welche deren Freundin Rebecca, eine zum Puritanismus bekehrte Tscherokesin? Anne navigiert sich durch Wörter und ihr Begehren und bricht schließlich zu einer Reise durch das koloniale Nordamerika auf. Gibt es einen Weg zurück zur Seeräuberei?

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Seitenzahl: 522

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Alle Charaktere und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen mögen daher vorkommen, sind aber unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2021

Erste Auflage: September 2021

Lektorat: Katja Schurter

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von mauritius images / age fotostock

ISBN 978-3-89656-675-1

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Für Conny

„Denn das war mein ganzes Wunder mit ihr – dass sie außer mir war und nicht in meinem Innern, dass sie nicht eine Projektion meines Traumes oder meiner Sehnsucht war, sondern ein selbständiges Wesen, außerhalb meiner Phantasie, außerhalb meiner Einbildung, dass ich sie nicht erträumt, nicht erdichtet hatte, dass sie nicht in meinem Herzen, sondern – in meinem Zimmer war.“

Marina Zwetajewa,

Erzählung von Sonjetschka

Prolog

Ein Kind schreit

Das Kind fängt an zu schreien, keine Stunde, nachdem ich eingeschlafen bin. Sein Wimmern dringt in meinen Traum, in verschwommene Bilder von Sonnenlicht, einer bewegten Fläche, die so heftig gleißt, dass ich die Augen zusammenkneife; dazu ein Gefühl starken Schaukelns, wie man es von Schiffen kennt oder vom Schnaps. Dort will ich bleiben, wenigstens noch für einen Augenblick; aber das Wimmern wird lauter. Alles beginnt zu wimmern, Sonne, Meer und Schiff, sogar das Segel und die Planken wimmern, dann schreien sie gellend, und diesem Schreien habe ich nichts mehr entgegenzusetzen und meine Augen gehen auf.

Es ist völlig dunkel. Am Himmel müssen Wolken sein, die Mond und Sterne verschlucken; ich sehe kaum meine Geliebte, die sich neben mir aufrichtet, um das Kind zu versorgen. Es liegt zwischen uns, hier draußen hat niemand ein Bett. Durch die Bewegung dringt kalte Luft an meine Seiten. Es ist nicht sonderlich klug, im April in die Wälder zu gehen, weit fort von allem, und auf der feuchten Erde ein Nachtlager aufzuschlagen, noch dazu mit einem Säugling.

Ich bleibe still liegen, ich habe nicht viel mit diesem Kind zu tun. Seine Mutter wiegt es in ihren Armen, während ich meinen Umhang zurechtrücke. Sie singt zu ihm in einer Sprache, die ich nicht verstehe, und ich werde ein wenig traurig; vielleicht liegt es auch an der Kälte, die mir in alle Glieder gekrochen ist. Dazu sind Brot, Käse und Wasser fast aufgezehrt. Was wir morgen essen, ob wir den richtigen Weg finden werden, ist ungewiss.

Es bleibt zu hoffen, dass das zweite Kind nicht aufwacht. Noch schläft es fest und wärmt mir die Füße. Das Kleine aber hört nicht auf zu wimmern.

Er muss Ruhe geben, sage ich, – was, wenn uns jemand hört?

Wer sollte uns hören?, fragt sie zurück. – Wir sind zwei Tagesreisen von der Mission entfernt. Warum sollten sie in der Nacht nach uns suchen, wenn man die Hand vor Augen nicht sieht? Und Wölfe und Bären nähern sich keinem Kind, das von Gewehren bewacht wird. Kümmere dich also lieber darum, dass das Gewehr parat ist, wenn wir es brauchen.

Sie zieht an ihrem Kleid, das zum Teil unter meinen Schenkeln klemmt, und ich wende mich vorsichtig, um den Schlaf des größeren Kindes nicht zu stören.

Nimm ihn, sagt sie, – meine Haut ist zu kalt, ich kann ihn nicht mehr wärmen.

Ich nehme den fest gewickelten Säugling in Empfang, und für einen Augenblick hört er auf zu schreien. Ich kann sein Gesichtchen nicht sehen, aber er riecht nach Milch und nach seiner Mutter; ich drücke ihn an mich, dass nur der Kopf aus meinem Umhang hervorschaut.

Wir gehen auf eine lange Reise, flüstere ich dem Kind zu. – Wenn du schnell schläfst, ist es gleich Morgen, die Sonne geht auf und wir reiten raus aus diesem Wald und kommen aufs flache Land und dann ans Meer. Ich werde dir das Meer zeigen, es ist weit und glasklar und manchmal geht der Wind sehr stark. Aber ich werde dich gut festhalten …

Und wahrhaftig, das Kind beruhigt sich. Gleich wird es eingeschlafen sein.

Meine Geliebte legt sich wieder neben mich, ich spüre ihre warme Hüfte an meiner.

Was weißt du vom Meer?, murmelt sie. – Als Kind habe ich Geschichten davon gehört, aber ich kenne niemanden, der selbst dort war. Es soll sehr weit weg sein.

Eines Tages kommen wir sicherlich dort an. Ich kenne mich aus, ich reise nicht zum ersten Mal. Glaubst du mir das?

Jedes Wort, sagt sie. Ihr Kopf wird schwer und schwerer auf meiner Schulter, und sie fängt schon an, tief zu atmen.

Ich bleibe wach und sehe in die Schwärze hinauf und sehe uns zu viert auf dieser Lichtung liegen, meine Geliebte, die Kinder und mich, mannhaft in der Mitte – als könnte ich mehr ausrichten als einer der drei Anderen. Wenn ich meinen Wächter Julian Snaterbek noch hätte: Er würde mich auslachen. Aber hier draußen gibt es keine Wächter, wir sind mutterseelenallein auf unserer Reise, und über diese Reise wird nichts geschrieben stehen in meiner Chronik.

Erster Teil

Die Chronik der Anne Burleigh

1

Das erste Mal, dass nachts ein Kind schrie und meine Träume störte, liegt über neun Jahre zurück. Damals gab es ein anderes Wir, dem mein Mann vorstand, der gute Pfarrer Joseph Burleigh, Hirte einer puritanischen Gemeinde in den bitterkalten Bergen Appalachiens.

Damals war es Burleigh, der sich abwandte und zur Wand drehte, wenn Josie, unser Erstgeborener, nachts schrie. Josie schrie und schrie, auch wenn er längst satt und trocken war, und wenn ich verzweifelte über sein Schreien und den Säugling auf ein Brett binden und an der Wand aufhängen wollte, mahnte Burleigh mich zur Geduld: Die Mutterpflicht sei der heiligste Gottesdienst der Frauen. Ich hätte keinen Grund, mir die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen. Ich versuchte, auf ihn zu hören und mich meinem Kind als Dienende zu nähern und klaglos, fraglos alles zu tun, damit es dick und rosig würde und Gott und den Menschen ein Wohlgefallen. Ich schmierte seine Bäckchen mit Ziegentalg ein, damit sie noch weicher würden, und kämmte ihm sein bisschen blondes Haar zur Locke, die vorn aus dem Häubchen herausschaute. Ich schlug mich nicht schlecht, mein Kind lebte und gedieh, und die anderen Frauen in der Mission sagten, es lasse sich gut an mit meiner Mutterschaft, vermutlich liege es daran, dass ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren nicht die Allerjüngste sei. Ihr Lob ging mir tief ein wie die Reden meines Mannes. Andere Menschen gab es nicht mehr.

Ich stand an der Wiege meines Kindes, dessen Schreien und nie enden wollende Unzufriedenheit – Tag und Nacht und Nacht und Tag – alle Kraft aus mir zog. Dann wandte ich mich von ihm ab, um die Stube auszufegen, Essen zu kochen, die Tiere und das Herdfeuer zu füttern und im grünen Licht der Hütte Kinderkleider zu nähen, die Mrs. Eden, die Nachbarin, mir vorschnitt. Dabei wartete ich, dass Burleigh nach Hause käme; dann würde ich wieder Essen kochen und hernach die Schüsseln auswaschen und spätabends die Stube ausfegen – immer im Kreis herum. Ich verließ die Hütte nur, um nach den Hühnern und der Ziege zu sehen und wenn mich ein Bedürfnis überkam. Dann ging ich weiter als nötig, bis zum Waldrand, und hockte mich ins feuchte Gras; und malte mir aus, einen Umhang und feste Stiefel anzuziehen und ins Tal hinabzusteigen, um nie mehr zurückzukehren.

Drei Dinge habe ich vor vielen Jahren mit heraufgebracht, während der wochenlangen Reise von der atlantischen Küste in die Berge: das Kind in meinem Bauch; mein grünes Fenster; und die Räuberbande im Innern.

Aber ich will der Reihe nach erzählen, wie es sich gehört – auch wenn ich nur mir selbst erzähle.

***

Das Fenster hatte ich mir als Hochzeitsgeschenk erbeten: ein Fenster aus der Alten Welt, ein großes Viereck aus mehreren Reihen grünlicher, in Blei gefasster Glasscheiben, die Bullaugen ähnelten. Auf der beschwerlichen Fahrt hatte ich mich immerzu um das Fenster gesorgt, das dann in die südliche Wand unseres neuen Hauses eingesetzt wurde und den Blick aufs Tal, zuvörderst aber auf das Haus der Nachbarin freigab. In den Bullaugen meines Fensters verformte sich das Nachbarhaus etwas, gerade Linien schlängelten und rundeten sich; ich durfte nicht zu lange auf einen bestimmten Kreis starren, ohne dass mir seltsam wurde im Kopf. Dennoch hätte ich um nichts in der Welt auf mein Fenster verzichtet, das von allen bewundert wurde. Abgesehen vom Gemeindehaus hatten die anderen Häuser hier nur winzige Fenster mit hölzernen Läden, ohne Glas, sodass der Wind und die Blicke der Anderen hineingingen, wie es ihnen gefiel.

Burleigh lobt sehr, dass die Gemeindemitglieder durch wachsame Blicke füreinander Sorge tragen. Schwach sei der Mensch und Irrwege gebe es viele, genauso wie einfache Missgeschicke. Eines Sonntags hob er Mrs. Eden hervor, die durchs Fenster beobachtet hatte, wie die Haube der alten Mrs. Moore, die am Herdfeuer eingenickt war, Feuer fing. Nur dank Mrs. Edens Zetermordio konnte sie aufgeweckt und mit einem Krug Wasser übergossen werden. Mrs. Burleigh hätte sich auf diese Weise nicht retten lassen, scherzte Mrs. Eden nach der Predigt, nur einen grünlichen Schein hätte man von draußen gesehen, während ich drinnen lichterloh verbrannt wäre. Ich lächelte zurück und dachte, das wäre kein zu hoher Preis dafür, wenigstens ab und zu, wenn Burleigh nicht zu Hause war, ohne die Blicke der Anderen zu sein.

So lebe ich seit vielen Jahren in Demut und in Fruchtbarkeit – während im Innern der Räuber Snaterbek spottet und mir im rechten Augenblick den Mund zuhält. Mrs. Joseph Burleigh, Mutter von sechsen, nein fünfen, erwidert Mrs. Edens Lächeln und tut ihre Pflichten stumm wie ein Fisch. Auch den Tod ihres jüngsten Kindes Mary hat sie standhaft hingenommen. Wie Burleigh sagt: Wenn ein Kind stirbt, fließen Tränen, aber die junge Seele steigt jubelnd hinauf zu Gott.

***

Schon das erste Burleigh-Mädchen hatte ich Mary nennen wollen, damals vor sechs Jahren, aber Burleigh bestand darauf, sie guter Sitte gemäß Anne zu taufen, nach ihrer Mutter. Ob mein Name ein guter Tausch ist gegen den der Mutter Gottes, sei dahingestellt. Ich habe etwas Angst vor dieser Tochter: vor ihrem kichernden Lachen und ihrer Weinerlichkeit, ihrem runden Bauch und ihren mausfarbenen Zöpfen. Das Kind ist mir fremd, und sie weiß es so gut wie ich.

Ansonsten haben wir vier Jungen, darunter ein Zwillingspaar: bewegliche Dinger, gegen die nichts zu sagen ist. Die Größeren haben eine gute Lehrerin, Miss Jelena Cleave, eine gottesfürchtige Frau. Auch von ihr träume ich manchmal, denn sie ist nicht nur gottesfürchtig, sondern auch schön mit ihrer verhangenen Stimme und ihren Fingern, die am Sonntag behutsam durchs Gesangbuch blättern.

Einmal war ich sehr glücklich: als ich am Schulhaus vorbeikam, an jeder Hand einen Zwilling, und Miss Cleave mich zurückhielt, um mir von den Unarten Georgies zu berichten, des Zweitältesten. Georgie ist eine Plage, aber als ich an diesem Tag nach Hause kam, habe ich ihn geküsst und geherzt für seine Unartigkeit. Kommen Sie doch einmal zum Tee, Miss Cleave, hätte ich fast gesagt, mit meiner Räuberstimme; und sie, recht schüchtern, wenn es nicht um ungezogene Kinder geht, hätte den Blick gesenkt und bejaht. Wie gerne ich mit Miss Cleave gesprochen hätte und vielleicht noch anderes getan. Aber ich habe sie nicht zum Tee eingeladen. Die Vorstellung von Miss Cleave an unserem Tisch, dem Burleigh vorsteht, mit seinen ewig gefalteten Händen, flankiert von den Jungen und von Anne, die auf ihren Zöpfen herumbeißt; Burleigh, der sich nach dem Betragen der Kinder erkundigt und nach der Gesundheit der alten Moores und mittendrin ich mit der Suppenkelle: Nein.

Darum lade ich niemanden ein. Hier glauben sie, dass ich melancholisch bin; doch ich bin nur still, und manchmal schließe ich die Augen und sehe in mein anderes Leben zur See. Ich sehe meine Geliebte Mary, lieblicher denn je, und Klein Mary, meine Erstgeborene, die mir näher ist als alle Burleigh-Kinder zusammen. Sie ist ein Seeräuberkind, gezeugt und geboren am Wasser. Ich sehe sie in weiten roten Hosen am Ufer stehen und den Horizont absuchen mit ihren schwarzen Augen, an der Seite vielleicht einen größeren Jungen, der ihr das Fischen und das Jagen beibringt. Dieser Junge ist der Einzige, den ich mir an Marys Seite vorstellen mag. Klein Mary hat keinen Vater zu fürchten und keine Mutter und keinen Gott. Sie ist allein und stark, wie ich es einmal gewesen bin. Die harte Schönheit dieses Kindes strahlt in meinem Kopf.

An meine Geliebte denke ich, die, da sie nun einmal tot ist, im Himmel sitzen und über Klein Mary wachen müsste, die ihren Namen trägt.

***

Mary Burleigh, mein Jüngstes, hätte mir Klein Mary wiedergeben sollen. Ich hatte nicht mehr mit einem neuen Kind gerechnet. Burleigh ist weit in den Sechzigern, und es ist nicht, dass ich an unseren fünfen nicht genug hätte. Die Geburten und der ewige Maisbrei haben meinen Körper schwerer und träger gemacht, und jedes Mal, wenn ich ein Kind von der Brust nahm, hoffte ich, es möge das letzte gewesen sein. Aber dann, zweieinhalb Jahre nach den Zwillingen, kam dies neue Töchterchen, und ich nannte es Mary und begann aufs Neue zu träumen. Ich würde ihr einen Hund schenken und ihr rote Hosen nähen und das Meer zeigen, egal wie viele Wälder wir dazu durchfahren müssten. Anne wäre dann alt genug, um sich um das Haus und ihre Brüder und ihren alten Vater zu kümmern.

Doch Mary war zart und bekam das Fieber, ehe sie vier Monate alt wurde, und eines Morgens, als ich mit der Wäsche am Bach kniete, vor Kälte so eilig schrubbend wie nur möglich, kam Burleigh und sagte, dass die kleine Mary tot sei. Ich lief zum Haus, in die Stube, zur Wiege, und wirklich: Marys Gesicht war wächsern, ihr Körper schon kühl nach der Hitze der letzten Tage. Burleigh kam mir nach, legte mir seine schweren Hände auf die Schultern und tat seinen Sonntagsrock an.

Er weiß nichts von Marys Aufgabe, den alten Geschichten neue Kraft und neue Farbe zu verleihen.

Es ist Februar; morgens verschluckt der Nebel, der überm Tal hängt, jeden Laut, er löst jede Sicht, jede Spur auf in weißliche Schleier, die sich an die Kleider und an die Gedanken hängen. Es ist ein langsames Verschwinden in den Tod. Die Geschichten von den beiden Marys, von Kapitän Calico, meinem Freund Julian Snaterbek und von der Queen Anne’s Revenge, unserem Schiff, haben die Reise herauf in die Berge nicht gut überstanden. In diesem Leben, in dieser Hütte voller Kinder sind sie durcheinandergeraten und verblasst. Zuweilen, wenn ich an meine alten Freunde denke, erschrecken mich ihre blutarmen Züge.

Hier in der Missionsgemeinde, wo in allen Winkeln der Teufel sitzt, habe ich meine eigenen Geister. Burleigh und die anderen Missionare wissen nicht, dass in mir eine Bande Seeräuber krakeelt und alles beurteilt, was geschieht. Ich kann mir nicht helfen. Manchmal sitze ich in Burleighs Sonntagspredigt und Julian Snaterbek schneidet Gesichter zu seinen schönen, tief gefühlten Worten.

Einst hast du mit nackten Gliedern auf dem Oberdeck gesessen, Anne Burleigh, raunt er in mein Ohr, – trankst Bier, aßest gestohlene Krapfen und spieltest Karten, und es war dir ganz einerlei, ob Sonntag war.

Wie gut, dass er nach außen hin unsichtbar ist. Unter Puritanern ist der rechtschaffene Gott allgegenwärtig, und auch ich führe Seinen Namen im Mund und schaue nach rechts und links, dass man mich für ausreichend fromm befindet.

In Burleighs Hütte, ja in der gesamten Mission gibt es keine Kammern, keine Innenwände, hinter denen ich mich verbergen könnte. Alles ist belegt von Vorräten und von Kindern, und draußen herrscht Frost. Was ich von früher besitze, ist wenig: die silberne Uhr meines Vaters; ein kleines Gemälde der Jungfer Maria aus meinem Elternhaus, das Burleigh über die Wäschetruhe gehängt hat; und einen Seefahrerblick nach Nord und Süd und hinaus ins Weite. Manchmal, wenn ich kaum mehr etwas erkenne im grünen Dämmerlicht der Hütte, stelle ich mich an den Abhang am Tscherokesenpfad und blicke über die steinernen Wellen der Berge, ob mich nicht ein Schiff abholt und in ein neues Land bringt, an einen anderen Ort als diesen.

2

In einer Missionsgemeinde mitten im Tscherokesengebiet wird mit dem Tod eines Säuglings nicht viel Federlesens gemacht. Mary Burleigh ist das erste Kind, das mir wegstarb; aber in der gesamten Mission, die nur ein paar Familien umfasst, ist es das dritte in diesem Winter. Auch den Waterhouses war ein kleines Mädchen gestorben, und bei den Moores hatte der vierjährige Patience tagelang Schleim und Blut gehustet und war nicht mehr aufgestanden.

Es heißt, die Tscherokesen trauern im Voraus, wenn ihnen im Winter ein Kind geboren wird: Die Feuchte und die Kälte hier oben sind keine gedeihliche Gegend für kleine Kinder. Sicherlich, es geschieht zum Lobpreis Gottes, dass wir hier wohnen und die Heiden bekehren, aber für meinen Geschmack sind wir viel zu weit hinaufgegangen. Burleigh jedoch ist überzeugt, dass wir am Platze sind.

Das Wir umstand das frische Grab, ich mit dem Spaten und Burleigh mit seiner Bibel und seiner Gicht in den Füßen; von der übrigen Gemeinde war nur unser Nachbar Mr. Waterhouse gekommen, zusammen mit seiner Frau Rebecca, die von den Tscherokesen stammt. Der Trauergottesdienst würde erst am Sonntag sein. Trotzdem fand Burleigh viele milde Worte, während die Jungen, blau vor Kälte, schon unruhig wurden und Anne, die vernarrt in den Säugling gewesen war, nicht aufhörte zu schluchzen. Ich hielt ihr einen Zipfel meines Umschlagtuchs unter die Nase, selber arm und ungetröstet.

Wie soll ich es hinnehmen, dass auch diese Mary mich verlassen hat?

Und Burleigh sprach ein letztes Gebet und mahnte die Kinder zum Gesang, und sie sangen mit ihren dünnen Stimmen Jesus, Heiland meiner Seele, wie er sie’s gelehrt hat; und plötzlich löste sich eine Gestalt von der weißen Nebelwand über uns und näherte sich lautlos wie ein kleiner Geist. Das Wir sah ihr erstaunt entgegen.

Miss Cleave!, schrie Georgie, und wir blickten den Abhang hinauf, der den Friedhof von den Häusern und den Gärten trennt, und sahen Jelena Cleave durch die dichten Schleier zu uns hinuntersteigen. Sie ging vorsichtig, etwas unbeholfen, und ihr wollener Umhang hing schwer an ihr.

Annie hat mir von Ihrem Verlust erzählt, sagte sie bescheiden, und Anne sah aus ihrem verrotzten Gesicht zu ihr auf. Miss Cleave gab ihr ein winziges Bündel in die Arme: ein locker verknotetes Schnupftuch, in dem es sich regte. Ein Schnäuzchen witterte nach links und rechts.

Ich wollte dir etwas anderes Hübsches bringen, nun, da ihr kein Kleines mehr habt.

Ein Hörnchen!, schrie Georgie, und die Kinder umdrängten das Bündel, aus dem zwei kleine graue Hände wuchsen, die sich in Annes Ärmel verkrallten. Anne heulte auf und sah doch entzückt auf das kleine Ding mit dem buschigen Schwanz, während die Jungen lange Hälse machten. Josie und Georgie bestürmten ihre Schwester, ihnen das Tier zu überlassen; die Zwillinge hüpften kreischend auf und ab, um einen Blick zu erhaschen. Geschrei kam auf, als es sich aus seinem Tuch und aus Annes Armen befreite und in eiligen, aber recht kraftlosen Sprüngen davonlief – verfolgt von seiner neuen Herrin und ihren Brüdern. Burleigh runzelte die Stirn und rief den Kindern Drohendes hinterher; dann klappte er das Buch zu und setzte sich in Bewegung. Ich blieb zurück, an meiner Seite Miss Cleave, die sich sogleich verabschiedete und mit den Waterhouses fortging; sie hätten noch zu buttern.

Das war das Ende von Mary Burleighs Beerdigung.

***

Am Sonntag erzählte Miss Cleave, sie habe das Hörnchen im Spätherbst gefunden und mit nach Hause genommen, wo ihre Katze es säugte wie ein eigenes Junges. Als der Winter kam, sei es noch zu schwach gewesen, um in die Wälder zurückzukehren, und so habe sie es bei der Katze gelassen. Jetzt aber sei es zu wild, bei aller ihm verbliebenen Zartheit, und die Katze beiße es weg; es brauche, sagte Miss Cleave, eine gute Seele, die sich kümmere und es wärme und behüte bis zum Sommer.

Anne nickte und nahm sich des Hörnchens an. Als Burleigh sie fragte, welchen Namen sie ihm geben wolle, war sie unschlüssig wie immer, wenn sie etwas entscheiden soll; aber da es das einzige zahme Hörnchen in der Mission ist, liegt darin kein Schaden. Sie trägt es im Ärmel und im Kragen mit sich herum, irgendwo schaut stets der kleine graue Busch hervor; und das Hörnchen hat schnell begriffen, dass Anne seine Herrin ist, und lässt fast nur im Haus von ihr ab.

Wir besitzen zwei Ziegen, einige Hühner und einen Kaninchenstall, für den die älteren Kinder zuständig sind. Das Hörnchen, dies federleichte Ding, ist zerbrechlicher und zerzauster als alle unsere Haustiere. Ich habe es gern; ich ignoriere seine Zerstörungen im Haus, die die der Kinder nicht übertreffen, und gebe ihm Maiskörner und Rübenstücke in die Händchen; und während es eifrig kaut, liebkose ich mit zwei Fingern den grauen, silbrig schimmernden Pelz, der es vor dem Wind beschützt. Nachts erlaube ich ihm, eingerollt auf Annes Bett zu liegen. Das ist nur gerecht, denn Anne hat als Einzige im Haus keinen Bettgenossen.

Josie und Georgie teilen sich ein Bett, ebenso die Zwillinge; und natürlich Burleigh und ich. Dabei ist es Anne, die – obwohl groß und dick für ihr Alter – mehr Angst hat als alle Anderen. Sie hat Angst vor ihren großen Brüdern, vor der Dunkelheit, vor Bären, Wölfen und Salamandern und sogar vor Hunden. Auch Miss Cleaves Tadel fürchtet sie – Miss Cleave, die sicherlich das sanftmütigste Geschöpf ist, das dieses Mädchen je zu Gesicht bekommen wird!

Zu einem Teil ist Burleigh schuld an Annes Angst; er redet den Kindern zu viel vom Teufel ein. Der Verführer, sagt er, lauere überall, um die Kinder zu verderben: im Müßiggang, im Ungehorsam, im Fluchen und in der Unsauberkeit. Meine Tochter, die um Längen gehorsamer und sauberer ist als ihr Bruder Georgie, hat eine Neigung, vor Teufelsangst den Kopf zu verlieren. Nachts ist sie zwei-, dreimal an unser Bett getreten und sprach mit zitternder Stimme, ihr sei der Teufel erschienen, mit Bocksbeinen und rauchenden Nasenlöchern. Sie könne nicht mehr liegen. Burleigh erhob sich dann ächzend auf die Ellbogen, was ein Weilchen dauerte, und sagte sehr ruhig: Gib ihm keine Macht über dich, Kind, und geh wieder schlafen.

Während sich Anne über den klammen Bretterboden in ihr Bett zurücktastete, tat sie mir ein wenig leid. Als Josie klein war, habe ich ihn manchmal, in besonders kalten Nächten, mit zu uns genommen. Damals hat mich sein weiches Körperchen getröstet, und ich liebte den Geruch seines flaumigen Nackens. Aber fünf Kinder später lasse ich mich nicht mehr darauf ein. Burleigh als ständiger Beischläfer ist mir anstrengend genug. Wenn Klein Mary bei mir wäre: Vielleicht dürfte sie mit in mein Bett. Aber ich glaube nicht, dass Klein Mary nachts Angst haben würde.

Annes unterdrücktes Weinen nur fünf Fuß von uns entfernt hat mich einige Male vom Einschlafen abgehalten. Es ist gut, dass sie jetzt das Hörnchen hat.

***

Die Wahrheit ist: Als ich die Wiege zu den Waterhouses zurückgebracht hatte, war ich erleichtert, den schmalen Gang im hinteren Teil der Hütte, wo die Wäschetruhen stehen, wieder leer zu sehen. Nein, wir haben keinen Platz für weitere Kinder. Das Wir ist groß genug und das Haus zu klein. Schon die Zwillinge mussten wir so dicht neben uns betten, dass ihre nackten Füßchen uns fast ins Gesicht hängen. Burleigh ist zu alt, um die Hütte zu vergrößern, und ich darf diese Männerarbeit nicht tun. Wenn Josie und Georgie etwas älter und geschickter sind, sollen sie es richten.

Die übergroße Nähe der Kinder hat den angenehmen Effekt, Burleigh von seinen ehelichen Betätigungen abzuhalten. Es ist nicht, dass er es ganz und gar unterließe; er vertritt den Standpunkt, dass Eheleute einander auch körperlich erfreuen sollten. Leider versteht er es nicht sehr gut, mich zu erfreuen. Immer habe ich an Mary Reed gedacht, wenn es so weit war, und in mir die Bilder gesucht, die über die Jahre fad geworden sind. Ich habe sie wohl zu sehr ausgekostet: besonders die Erinnerung an unsere Wollust. Mit diesem blassen Mary-Schmerz in Burleighs Armen zu liegen, verzehnfacht das Gewicht seines Körpers auf mir.

Überhaupt habe ich es hier oben sehr mit der Schwere zu tun. Sie sitzt in der nassen Wäsche, die ich alle paar Tage vom Bach nach Hause trage, und in den klebrigen Händen der Kinder; und besonders in Burleighs und meinem Ehebett, wenn es ihm einfällt, mich zu erfreuen. Als Mann Gottes ist Burleigh sehr daran gelegen, Andere zu erfreuen. Wenn mich unter seinen Händen doch einmal die Lust überrascht, nehme ich es ihm übel: Es ist nichts, was in dieses Bett, in dieses Leben gehört.

Und so kommt mir zupass, dass Burleigh sich, seit die Zwillinge neben uns schlafen, seltener über mich begibt. Wenn er es doch tut, stößt er mit großer Wahrscheinlichkeit ans Schienbein von Frankie oder an Bradfords kleines, meist zerschundenes Knie. Bradford ist, wie die größeren Jungen, ein guter Schläfer; aber sein Zwilling jammert viel. Ein paar Mal ist es vorgekommen, dass Frankie, von Burleigh aufgestört, zu heulen begann, sogleich unterstützt von Bradford; worauf Burleigh sich wie ein gichtiger alter Kater in seine Betthälfte zurückfallen ließ, erbost über mein gereiztes Lachen. Ich stand auf und tröstete die Zwillinge, während die Vergnügtheit langsam verflog und ich zu frieren begann.

***

In der Woche nach Mary Burleighs Beerdigung überließ ich mich meinen Träumereien. An den Trauergottesdienst kann ich mich kaum erinnern. Am Montagabend klopfte Mrs. Eden mit Gewürzkuchen und allerlei anderen Leckereien, um zu sehen, wie ich mich hielt. Sie brachte den bitteren Schnaps, den sie in der Abgeschiedenheit ihrer Hütte aus Rüben und Äpfeln verfertigt, und erklärte, die Trauer um ein kleines Kind sei eine Frauenangelegenheit und rechtfertige ein Gläschen zu zweien. Ich nahm es gern und ließ Mrs. Eden eine Dreiviertelstunde lang reden, bis Burleigh kam, worauf sie geschäftig aufstand. Am Dienstag schickte Mrs. Waterhouse ihre Tochter mit kaltem Braten herüber, den ihr die Jungen schon vor der Haustür abjagten. Burleigh wies dem Mädchen mit guten Worten den Heimweg und verprügelte anschließend Georgie, der schrie, der Braten wäre von der Botin schon halb aufgegessen gewesen. Es half ihm nicht viel; abends behandelte ich seinen Hintern mit Salbe, während die Zwillinge, die keinen Braten abbekommen hatten, mit großen Augen daneben standen.

Am Mittwoch schlug das Wetter um, es stürmte zum Gotterbarmen, und wir mussten drinnen bleiben – alle sieben. Der Hagel, der gegen mein grünes Fenster trommelte, und der Höllenlärm der Kinder, die nicht zur Schule gehen konnten, übertönten die Totenstille in mir, und wie so oft hätte ich die Kinder erschlagen mögen und war gleichzeitig froh über ihr Geplapper, ihre ewigen Fragen und die warme Haut der Zwillinge, als ich sie mit einem nassen Lappen abrieb. Das Wir rettete mich vor der Mary-Pein in meinem Innern; wie es auch umgekehrt manchmal der Fall ist.

Nachmittags zerbiss das Hörnchen zwei Gesangbücher und Burleigh drohte, ihm den Hals umzudrehen. Mit erhobenen Fäusten jagte er es durch die Stube, und die Kinder schrien und lachten wie irr, als das Hörnchen auf einem Dachbalken Platz nahm und, einen dort versteckten Brotkanten hervorziehend, hinabäugte. Ich warnte sie mit Blicken und mit Worten; sie wussten zu gut, dass ihr Übermut in Schlägen enden würde. Bei Josie und Anne verfingen meine Worte, und sie beruhigten sich. Aber Bradford und Frankie sind noch zu klein, um zu bedenken, dass sie sich – anders als das Hörnchen – vor Burleighs Rute nicht ins Gebälk retten können; und auch Georgie ist in solchen Momenten unrettbar, die geborene Unvernunft. In ihm gibt es eine Kraft und einen Trotz, denen nur mit Befehlen begegnet werden kann. Als Burleigh entkräftet mitten in der Stube stehen blieb, den Blick noch immer auf das Hörnchen geheftet, vielleicht auch auf die heimgegangene Seele unseres toten Kindes, nahm ich die Dinge in die Hand.

Georgie, zieh Vaters Mantel an und hol ein Huhn fürs Abendbrot.

Nein!, rief Georgie, der das Schlachten verabscheut, obwohl er mit seinen sieben Jahren kräftig genug dafür ist. Klein Mary, dachte ich, würde ohne ein Wort hinausgehen, um ihrer Mutter ein Huhn zu schlachten.

Ich packte Georgie und warf ihn aus der Hütte, und als er wenig später mit dem blutigen Huhn zurückkam, aufgelöst in Regen und Tränen, aber endlich still, hatte ich mit Anne angefangen, das Abendbrot zuzubereiten, und es war Friede in Burleighs Haus. Frankie und Bradford, glänzend vor Sauberkeit, kugelten sich träge auf unserem Bett und schliefen schon fast. Ich spürte, wie der Würgegriff sich lockerte.

Am Donnerstag besserte sich das Wetter und die Kinder rannten hinaus in die Schule und in die Wälder. Mrs. Eden wiederholte ihren Besuch, ihre Gaben und ihr Geschwätz. Abends, nach dem Melken der Ziegen, trat ich vor die Stalltür und hielt meine Nase in die nächtliche Dunkelheit. Wider alle Klugheit versuchte ich, den Tulpenbaum zu riechen, der den Frühling ankündigt, ohne Erfolg.

***

Am Freitag kam endlich Miss Cleave. Auch sie brachte Gewürzkuchen, den ich längst nicht mehr sehen konnte, und herzliche Grüße von den alten Moores; sie erkundigte sich nach dem Hörnchen. Ich rief Anne herbei und schickte sie dann so schnell wie möglich zu den Kaninchen zurück, wo sie genügend zu tun hatte. Das Hörnchen blieb bei uns und sprang wieder hinauf ins Gebälk. Josie und Georgie hielten sich vor ihrer Lehrerin verborgen; nur die Zwillinge kamen herbeigelaufen und staunten die Frau an, die noch nicht oft in unserer Hütte gewesen war. Ich war froh, am Tisch zu sitzen, die Hände im Schoß wie eine melancholische Dame, statt mit der Suppenkelle zu hantieren; überdies schüchterte es Miss Cleave etwas ein.

Sie nahm auf einem der fünf Stühle Platz und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich schloss die Augen: Wie sollte es mir schon gehen?

Dann dachte ich, dass ich nicht schwierig und merkwürdig erscheinen wollte vor Miss Cleave. Ich öffnete die Augen und sah sie im grünen Dämmerlicht der Hütte sitzen, mit einem breiten, sehr hellen Gesicht wie der Erzengel Gabriel bei der Verkündigung. Der Eindruck wurde stärker, als sie sich zu Frankie hinabbeugte, der verlangte, auf den Schoß genommen zu werden. Miss Cleave sah den weißblonden Pummel an wie einen überzarten Säugling: als hätte sie noch nie ein kleines Kind auf dem Schoß gehabt. Sie hob Frankie empor, nahm ihn vorsichtig auf die Knie und hielt ihn fest zwischen ihren Händen; sie fürchtete wohl, er würde sich kopfüber zu Boden stürzen. Frankie, dem das bald zu langweilig wurde, zappelte kräftig und ließ sich zwischen Miss Cleaves Beinen hinuntergleiten. Dort ergriff ihn Bradford und verkroch sich mit ihm in eine andere Ecke.

Ich lachte, als Miss Cleave ihnen getroffen hinterherblickte. Sie stimmte ein und sagte: So lange sie nicht ordentlich gehen und sprechen können, sind sie mir immer etwas unheimlich. Mir scheint, alle kleinen Kinder sind Heiden, nicht nur die indianischen.

Ja, das sind sie wohl.

Wir schwiegen. Ich aß ein Stück von ihrem Kuchen, er schmeckte erstaunlich gut und lieblich nach Sommer – trotz der frühen Jahreszeit war er mit Honig gesüßt. Miss Cleave sagte, sie habe in Mrs. Moores Vorräten noch ein Gläschen gefunden. Ich schnitt mir ein zweites und ein drittes Stück ab, ich hatte wenig gegessen in den letzten Tagen, und auch Miss Cleave griff mehrmals zu. Der Kuchen war noch warm und ich hatte lange nichts so Gutes zu mir genommen; ich musste mir Zwang antun, einen Teil für Burleigh und die Kinder übrig zu lassen.

Ich trug den Kuchen zur Anrichte, setzte mich wieder und nahm allen Mut zusammen: Möchten Sie mir etwas vorlesen, Miss Cleave?

Aus der Heiligen Schrift, meinen Sie?

Nein, sagte ich hastig, – lieber etwas anderes. Ich möchte gern eine Geschichte hören …

Überrascht sah sie mich an: Können Sie nicht lesen?

Nein.

Scham stieg in mir auf. Fast alle in unserer Gemeinde können lesen – vielleicht bin ich die Einzige, die es nicht kann. Aber da ich die Kirchenlieder auswendig weiß und Burleigh fast täglich aus der Bibel vorliest, habe ich keinen Gebrauch für diese Kunst.

Mr. Burleigh hat am Anfang versucht, mich die Buchstaben zu lehren, sagte ich. – Aber dann kam der Auszug, die Kinder …

Und Sie sind selber nicht zur Schule gegangen?, fragte Miss Cleave.

Ich wurde ärgerlich. Dieses Puritanerfrauchen konnte sich wohl nicht vorstellen, dass nicht überall in der Welt so eifrig gelernt wurde wie in den Missionsgemeinden! Was wusste Jelena Cleave, die ihr Leben in Studierstuben zugebracht hatte, von der Zeit, bevor ich Burleighs Frau wurde? Im Unterschied zu ihr, die wohl kaum über eine Pfütze hüpfen konnte, ohne sich nass zu machen, war ich zur See gefahren!

Ich hatte Besseres zu tun, sagte ich etwas grob. Gleich darauf tat es mir leid, denn Miss Cleave rückte ein Stückchen von mir ab; jedoch ließ sie sich nichts weiter anmerken und sah sich um. Doch wir haben kaum Bücher im Haus, die keine Bibeln oder Gesangbücher wären; abgesehen von den paar Bänden meines Vaters, die in ein Regal hoch über unseren Köpfen gezwängt stehen. Schließlich nahm sie Josies Schreibtafel, die noch auf dem Tisch lag.

Ich habe ihm und Godwill heute ein Gedicht diktiert, sagte Miss Cleave. – Es hat einmal in der Zeitung gestanden, ich glaube, es ist ein indianisches Gebet. Es preist auf sehr schöne Weise die Unterwerfung unter den göttlichen Willen.

Der Pfad der Tränen

So viel zu tragen, all der Schmerz

Ließ uns schier verzweifeln.

Den Glauben verloren

Mussten wir lernen:

Es gibt keinen Pfad zurück

Wir können nirgendhin zurück.

Erst rannen die Verse durch mich hindurch wie Wasser, wie Burleighs endlose Bibelverse. Dann geschah etwas Seltsames, das mir lange nicht mehr passiert war: Ich bemerkte, dass es schöne Worte waren. Ich sah sie Miss Cleaves Mund entsteigen wie Blumen, rote und weiße und gelbe, die nach Frühjahr und Hoffnung dufteten; und jedes einzelne gab dieser Hütte ein wenig mehr Licht. Die Worte versammelten sich um Miss Cleaves Kopf und bildeten um ihn eine goldene Krone aus Blumen und Federn, und das Wörtchen nirgendhin war das schönste Kleinod darin.

Miss Cleave las und las. Es waren eine Menge Verse, die der arme Josie hatte aufschreiben müssen; doch ich habe nur diese behalten:

Nirgendhin.

Wir können nirgendhin zurück.

Ich sagte: Vielen Dank, Miss Cleave.

Als sie wenig später ging, sah ich ihr lange nach. Jetzt ist es also geschehen, dachte ich und musste lachen: Der Erzengel hat mich in meiner Stube besucht. Miss Cleave hat an meinem Tisch gesessen, mit ihrem hellen Gesicht und ihrer verhangenen Stimme, grünlich beschienen. Oh, diese hellen Gesichter, wie hatte ich sie vergessen können? Meine Geliebte Mary hatte eines gehabt – und Nathan Korinth, mein Lehrer. Er war mir lange nicht mehr in den Sinn gekommen.

Ich sitze am Tisch in Burleighs enger Hütte. Auf dem Stuhl, auf dem Miss Cleave gesessen hat, ist noch etwas Feuchtigkeit von ihrem Umhang, die ich mit furchtsamer Hand berühre. Auf dem Tisch liegt Josies Tafel. Ich würde das Gedicht mit den Lippen berühren, es einatmen, ja ablecken – wenn es nicht gar zu unsinnig wäre.

Ich sitze am Tisch und meine Augen kosen Annes Hörnchen, das im Gebälk rumort, denn es ist ein Teilchen von Miss Cleave, das bei mir geblieben ist. Wie sie den Abhang zum Friedhof hinunterkam: Schon in diesem Augenblick hätte ich die Helligkeit sehen müssen. Aus einer fernen Gegend muss sie zu mir gekommen sein, einer klaren und sonnigen Gegend mit Palmen und salziger Luft, die die Lippen rissig macht wie der Winter hier oben … Ich kann nicht an Miss Cleaves Mund denken, der Verse spricht, ohne vor Scham und vor Hoffnung zu vergehen. Alle Tage, an denen ich sie gesehen habe, steigen in mir auf: wenn sie über Georgie geschimpft hat oder Burleigh grüßen ließ; und auch ihr Schimpfen und ihr Gruß sind Blumen geworden, die an ihr und mir emporranken und ihre leuchtend roten Kelche in den Himmel recken.

Oh, dieses Leuchten wieder in mir zu haben!

3

Es ist nicht leicht, der Reihe nach zu erzählen; aber die Dinge brauchen ihre Ordnung. Meine Geschichte darf nicht durcheinandergeraten, ich darf sie nicht vergessen, sonst wäre ich denen hier oben ganz und gar ausgeliefert. Es gibt drei Marys in meiner Geschichte und eine Menge Annes, und jetzt gibt es Miss Cleave.

An vieles erinnere ich mich nicht sehr genau – vor allem erinnere ich mich, dass am Ende alle tot waren und ich alleine weiterleben musste.

Woran ich mich entlanghangeln kann, hübsch der Reihe nach, sind meine Namen: Anne Burleigh, geborene Brennan, legitimierte Cormac, zum Ersten verheiratete Bonnie, zum Zweiten verheiratete Burleigh. Ich bin in Irland geboren und als Kind nach Amerika gefahren und auf den Baumwollpflanzungen von Charles Town groß geworden. Mit siebzehn habe ich den Säufer James Bonnie geheiratet und mit achtzehn angeheuert beim Piratenkapitän John Reckham, genannt Calico, und unter seiner Führung geraubt, getötet und geprasst. Ich habe Calico ein Kind geboren, Klein Mary, und auf der Insel Kuba zurückgelassen. Ich war die Geliebte der Mary Reed, einfacher Seemann wie ich selbst, geboren zu Devon in England und verreckt im Kerker zu Port Royal, kurz nachdem alle unsere Gefährten gehenkt worden waren. In einer langen Reihe wurden sie aufgehängt, während Mary und ich im Karren knieten und zusahen, wie das Urteil es befahl. Etwas von ihren Seelen muss dabei – während des jubelnden Aufstiegs zu Gott – in mich gefahren sein. Seither trage ich sie mit mir herum: die Seele und die Stimme meines Freundes Snaterbek vor allem. Er gibt acht, dass sie mich nicht am Ende doch noch hängen. Zusichern kann er’s mir nicht.

Von Port Royal bin ich nach Charles Town zurückgefahren und habe den Pfarrer Burleigh geheiratet und bin ihm in den Westen, in die kalten Berge Appalachiens gefolgt. Was hätte ich sonst tun sollen, überreich an Seelen und Stimmen, aber allein in Charles Town, South Carolina? Alle waren sie tot.

***

In Wirklichkeit weiß ich nicht, ob Miss Cleave ihr Leben tatsächlich in Studierstuben verbracht hat. Es ist unter Missionaren nicht üblich, nach der Zeit im Leben zu fragen, bevor der Ruf zur Mission erging. Ich habe einmal sagen hören, Miss Cleaves Familie stamme aus Böhmen in der Alten Welt, wo es gebirgig sei wie hier.

Sie ist vor einiger Zeit in die Gemeinde gekommen; sie kam alleine und sie blieb es auch, das scheint ihr natürlicher Zustand zu sein. Miss Cleave wohnt in einer winzigen Hütte, einem Anbau an das Haus der alten Moores, das auf der uns entgegengesetzten Seite ans Land der Waterhouses grenzt. Moores Hütte war eins der ersten Häuser hier oben und ist, mit seinen zahlreichen Anbauten, bis heute das zweitgrößte: ein wunderliches Riesentier in verschiedenen Grautönen der Verwitterung. Nur das Gemeindehaus, das ans Grundstück der Moores grenzt, ist noch größer.

Jeremiah Moore war der Weggefährte von Vater Isaac Eden, der die Mission vor einer Unzahl von Jahren gegründet hat. Nach Vater Edens Tod hat Burleigh zugesagt, sein Amt zu übernehmen, und ist mit mir und unseren Truhen und Josie in meinem Bauch von Charles Town aufgebrochen, Richtung Nordwesten in die fast unbesiedelten Berge. Als wir eintrafen, stand die verwitwete Mrs. Eden am Wegrand und schloss mich fest in ihre Arme; und ich wusste, so schnell käme ich hier nicht wieder weg.

Jetzt ist es einige Jahre her, dass sich Mr. und Mrs. Moore in einen ihrer Anbauten zurückgezogen haben und der Gemeinde die große Stube als Schulhaus zur Verfügung stellen. Die Moores sind sehr fromm, vielleicht frommer noch als Pfarrer Burleigh, und das Studium der Heiligen Schrift ist dem Herrn wohlgefällig.

Die Missionsgemeinde, dies größere Wir, nahm Miss Cleave während eines herbstlichen Sturms in Empfang. Als der Sturm zu Ende war, trat Miss Cleave aus dem Gemeindehaus, betrachtet von zwei Dutzend gierigen Augen, wrang ihre Reisehaube aus und fragte sehr höflich, ob sie bleiben könne. Sie sei ohne Verwandte, puritanischer Gesinnung selbstverständlich, und auf der Suche nach einem Auskommen. Ihre Bescheidenheit fiel angenehm auf, ebenso ihre Bibelkunde und schöne Handschrift, außerdem mangelt es in der Gemeinde an heiratsfähigen Frauen; und so kam es, dass Burleigh, bis dahin Pfarrer und Schullehrer in einer Person, Miss Cleave in den Lehrdienst nahm. Wenig später war sie die alleinige Lehrerin unserer Kinder, der puritanischen wie der heidnischen, und allgemein beliebt. Aus irgendeinem Grund scheint es niemanden zu stören, dass sie sich nicht verheiratet hat; ich weiß nicht, ob die Anderen mir darin zustimmen würden, dass die Vorstellung, Jelena Cleave habe einen Ehemann, unrecht ist.

Ich kann nicht sagen, ob es an ihrer Gelehrsamkeit liegt oder daran, dass sie so gedankenverloren umhergeht, stets ein Stückchen über den Dingen. Sie ist größer als ich und die meisten Frauen, die ich kenne, und auch ein wenig ungeschickter. Wer würde eine so große, so gelehrte Frau heiraten? Als sie die nasse Haube abnahm, die auf ihrem Kopf gelegen hatte wie ein Putzlumpen, dachte ich: Kann es sein, dass sie rothaarig ist?

Die alten Moores erboten sich, die junge Frau aufzunehmen, und ihr Sohn Ronnie zimmerte mit Samuel, seinem Ältesten, den Anbau, den sie unter Dankesbezeigungen in Besitz nahm. Weil sie sich seither um die beiden Alten kümmert, um Mrs. Moores Kochtöpfe ebenso wie um die Ziegen Praise und Pretty, kommt Miss Cleave nicht ins Gerede: eigene Hütte hin oder her.

Es bereitet mir einige Mühe auszurechnen, wann Miss Cleave zu uns stieß. Als wir hier angekommen sind, habe ich aufgehört, die Jahre zu zählen. Ich war kein Abenteurer mehr, sondern Mrs. Joseph Burleigh, die ein Kind nach dem anderen bekam und eine Mahlzeit nach der anderen bereitete; wozu also die Jahre zählen? Mary Reed ist für alle Zeiten tot; und das Gotteswerk, das die Mission verrichtet, ist so zeit- wie hoffnungslos. Burleigh hat viele Male gepredigt, dass wir nicht Taten anhäufen sollen auf Erden, sondern demütig, in emsiger Arbeit, dahinleben müssen, bis Er uns erlöst oder nicht. In unserem demütigen Leben wechseln Sommer und Winter, die Kinder wachsen heran wie der Mais und die Kaninchen draußen im Stall, die ich am Sonntag zubereite – jeden Sonntag, jeden Sonntag –, und ich schrubbe meine Wäsche und schrubbe die Planken in meiner Stube und bin darüber dreißig Jahre alt geworden, fast ohne es zu bemerken. Wozu in aller Welt die Jahre zählen?

Sie haben uns nicht gehängt, Mary und mich, weil wir beide ein Kind erwarteten, jede für sich; meines war erfunden. Im Kerker schwor ich, künftig jedes Kind und jedes Frauenkleid anzunehmen, wenn sie mich dieses eine Mal nicht hängen würden. Ich wurde erhört; ich ließ die tote Haut des Seemanns Bonnie zurück und stieg als Anne hinauf zu den Menschen. Ich habe meinen Schwur gehalten. Anne Burleigh ist ein folgsames Weib. Aber was, wenn sie mich doch noch kriegen?

Alle Anderen haben sie gekriegt.

***

Es muss im Herbst 1729 gewesen sein, als Miss Cleave zu uns kam, denn Frankie und Bradford waren winzig und ich hatte mich noch nicht von dem Schrecken erholt, dass ich diesmal zwei Kinder zu säugen und zu säubern hatte, zwei. Zur selben Zeit hatten die übrigen Kinder die Masern, woran glücklicherweise keines starb; während von den Tscherokesen nicht nur eine Handvoll Kinder, sondern auch die Erwachsenen dahinsiechten. Es war das Jahr, als Anne und Georgie ihre kleine Tscherokesenfreundin verloren, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere, und als Simplicity Moore, Ronnie Moores vierzehnjährige Tochter, in den Wald ging, um Pilze zu sammeln, und nie wieder nach Hause kam. Der Herbststurm, der uns Miss Cleave bescherte, kam während des Trauergottesdienstes für Simplicity, kurz nachdem Anne, gerade vierjährig, mich angesehen und gesagt hatte: Mädchen sterben schneller, Mutter, nicht wahr?

Damals, als die Tür zum Gemeindehaus aufgestoßen wurde und Miss Cleave hereintappte, nass und erschöpft wie ein Zugvogel, der sich übernommen hat, war ich weit davon entfernt zu bemerken, dass ihre Wimpern aus reinem Gold sind und ihre Züge die des Erzengels Gabriel.

***

Die paar hundert Fuß Tscherokesenpfad, die das Schulhaus von Burleighs Hütte entfernt steht, führen in eine andere Welt – eine Welt, mit der ich, gebunden an Herd, Garten und Kinder, nichts zu tun habe. Miss Cleave sehe ich fast nur sonntags. Ich kenne sie aus Burleighs Erzählungen und aus Josies, der von Anfang an ihr bester Schüler war. Beide, Burleigh und Josie, berichteten von den Bibelversen in Miss Cleaves Unterricht und dass sie die Kinder nur sehr sanft schlug. Es kümmerte mich nicht sehr, was Miss Cleave mit den Schulkindern machte; Hauptsache, sie waren für ein paar Stunden außer Haus und gut beschäftigt. In Miss Cleaves erzieherischen Ansichten, von deren Fortschritten mir Burleigh berichtete, hörte ich nur Burleigh, ihren Lehrmeister, und sah nieder in meinen Topf oder auf meine Näherei.

Doch seit Mary Burleighs Tod – seit Miss Cleave an meinem Tisch gesessen hat, hellgesichtig und bescheiden – versetzt mich jede Erwähnung ihrer Person in große Aufregung. Ich erwarte die Kinder, wenn sie aus der Schule kommen, mit der Frage: Wie war es heute?, und hoffe, dass sie die zitternde Gespanntheit in meiner Stimme nicht hören. Meist sagen sie nicht viel, und wenn Josie schließlich ansetzt: Nun ja, Mutter …, könnte ich in sein gutmütiges Jungengesicht springen und schreien: Quäle mich nicht!

Manchmal wird er etwas gesprächiger, und Anne ist ohnehin ein geschwätziges Kind; und sie erzählen, was sie bei Miss Cleave gelernt haben, und zeigen mir ihre Tafeln, etwas verwundert, dass ich sie sehen will. Dabei wissen sie nicht einmal, dass ihre Mutter nicht lesen kann, was sie am Vormittag darauf geschrieben haben.

Aber das macht nichts – es macht gar nichts. Ich sehe rote und gelbe Blumen in jedem Wort, das sie sagen, und wenn Josie erwähnt, Miss Cleave habe sie Sätze aus der Bergpredigt auswendig lernen lassen, und Georgie ergänzt: Sätze über Brot und Fisch!, und dass er selber großen Hunger habe, dann erfüllt mich strahlende Wärme, und ich zause den Jungen das Haar.

Während ich den Kindern zu essen gebe, wiederhole ich bei mir alles, was sie berichtet haben. Im Gedächtnis notiere ich die Bergpredigt und die Psalmen, die sie nennen; und der Wunsch, dies alles in Burleighs Bibel nachlesen zu können, ist groß. Ich könnte dieselben Wörter sehen, meine Augen könnten dieselben Buchstaben liebkosen, die Miss Cleave heute Morgen mit den Kindern gelesen hat!

So aber muss ich die Psalmen und Lehrsätze Josies und Annes Erzählungen abjagen und sie in meinem Gedächtnis verstauen wie in einer geheimen Truhe, von der niemand etwas wissen darf. Ich stelle mir eine hübsche kleine Truhe aus frisch geschlagenem Holz vor, die neben einer älteren und größeren Truhe steht. Diese ältere Truhe ist der Zeit mit Mary Reed gewidmet, sie ist grau vor Staub, und ich habe sie so häufig geöffnet, dass längst alles Leben aus ihr entwichen ist. Die neue Truhe öffne ich mit Behutsamkeit. Dort steht etwa verzeichnet:

Miss Cleave lässt die Kinder die Psalmen aufsagen, nicht singen. Sie tut gut daran; denn sonntags im Gemeindehaus hat sich oft gezeigt, dass sie in einem Grad unmusikalisch ist, der an Lästerung grenzt. Ihre nebelhafte Stimme, die mir so angenehm ist, taugt nicht, die einfachste Melodie zu halten. Zum Glück nimmt sie sich, ihrem Wesen entsprechend, beim Singen zurück. Seit ich Miss Cleave beim Gottesdienst näher betrachte, winde ich mich vor Zärtlichkeit und unterdrücktem Lachen, wenn ich sie so gerade sitzen sehe und ihrem merkwürdig hölzernen Gesichtsausdruck nicht entnehmen kann, ob sie ihre schiefen Töne als solche erkennt oder nicht. Er erinnert mich an eine papistische Ikone: dieser Gesichtsausdruck in seinem Ebenmaß, und in ihrem Haar die helle Morgensonne, die durch die schmalen Glasfenster scheint.

Als ich noch zu einem anderen Wir gehörte, einer Bande Seeräuber, fiel uns einmal eine Reihe solcher Ikonen in die Hände. Wir stellten sie an Deck auf und prosteten ihnen mit Schnaps zu; ein Seemann hatte sich eine genommen und war mit ihr um den Hauptmast gewalzt; bis Kapitän Calico uns Einhalt gebot und die Bilder ordentlich lagern ließ, damit wir sie in der nächsten Hafenstadt verkaufen könnten. Es war auf einem dieser Bilder, dass ich den Erzengel Gabriel zum ersten Mal sah, mit rötlich gescheiteltem Haar über die sitzende Maria gebeugt. Manchmal, wenn der Gottesdienst allzu lange dauert und mein Auge nichts Schönes hat, worauf es ruhen kann, habe ich an diese goldumrandete Gestalt gedacht – das heißt, bevor Miss Cleaves Anblick sie ersetzte.

Ich kann mir das Lächeln über Miss Cleaves mangelhafte Sangeskunst leisten, denn in unserer Gemeinde bin ich die Vorsängerin. Es ist Burleigh, der als Erster gesagt hat, dass ich zum Singen tauge. Deine Stimme ist eine Gabe, Kind, hat er gleich am Anfang festgestellt und mich, sobald wir hier oben angekommen waren, den sonntäglichen Lobgesang anstimmen lassen. Ich nahm die puritanischen Lieder auf wie ein Schwamm. Sie versöhnen mich mit dem Wir, wenn sie es in Töne auflösen und zu einem neuen Ganzen zusammensetzen: einem Gebilde aus Frömmigkeit und Wohlklang, dem sich die anderen Gemeindemitglieder anschließen – jeder Einzelne mehr oder minder zum Wohlklang beitragend. Wenn ich beim Gottesdienst inbrünstig gegen die Versuchung ansinge, muss es die Gemeinde Burleigh nachsehen, dass er sein Weib, die Besitzerin des Prachtfensters, allsonntäglich ausstellt wie einen zahmen Singvogel.

Noch einen zweiten Singvogel hat die Gemeinde: Godwill Moore, einen der zahlreichen Moore-Enkel. Ein Streber wie die meisten seiner Verwandten, kennt er alle Psalmen auswendig und bildet sonntags mit seinen Schwestern Ashes und Devotion ein singendes klingendes Vogelnest. Seine Mutter, die jüngere Mrs. Moore, wirft dann überlegene Blicke zu Miss Cleave hinüber, für die ich ihr etwas antun möchte.

Godwill, Ashes, Devotion und der verstorbene Patience: Ronnie Moore hat die ehrwürdige puritanische Sitte der Demutsnamen zu neuer Blüte geführt. Ihren Höhepunkt erreicht sie im vorläufigen Nesthäkchen, dem kleinen Killsin. Wenn Killsin die Milchzähne hinter sich gelassen hat, wird er den Moores und der ganzen Mission sicherlich viel Ehre machen.

***

Wenig später öffnete ich die Truhe aufs Neue und setzte meine Betrachtung fort:

Besonders Georgie schätzt es, wenn Miss Cleave die Kinder fromme Geschichten nachstellen lässt. Burleigh gefällt das nur halb, er nennt es einen eitlen Zeitvertreib. Aber solange es Bibelgeschichten sind, die mit einer Lehre schließen, und solange sie nicht die Sonntagsruhe stören, nimmt er es stirnrunzelnd hin, wenn Georgie zu Hause seinen Kopf mit einem Lappen umwickelt und kundtut, er sei Bathseba im Bade. Ein andermal wies Georgie Jamie Waterhouse, der zur Apfelernte herübergekommen war, an, mit gekrümmtem Rücken die Witwe Noemi darzustellen; er selber sei Ruth und willens, seiner Schwiegermutter zu folgen bis in den Tod. Ich lachte ihn aus, als er hinter dem gebückt gehenden Jamie an mir vorüberzog.

Auch über den Tod spricht Miss Cleave mit den Kindern. Josie erzählte, sie habe auf die Frage, was mit den Verstorbenen in der Erde geschehe, geantwortet, ihre Leiber würden zu Staub und Würmerfraß. Den Schaden trugen Burleigh und ich, als Anne nachts heulend vor unserem Bett stand: Sie hätte solche Angst vorm Tod. Nachdem tatsächlich ihr Schwesterchen gestorben war, stieg ihre Angst ins Unermessliche.

Stimmt es, was Miss Cleave gesagt hat? Wird Mary jetzt zu Würmerfraß?

Burleigh seufzte: Ihr Leib, Kind. Aber ihre Seele wartet im Himmel auf uns.

Bis wir auch gestorben sind?

Ja. Bis wir alle heimgehen und uns im Himmel wiedersehen.

Ich möchte zuerst sterben, damit ich nicht dabei sein muss, wenn ihr zu Würmerfraß werdet.

Das zu entscheiden, ist allein Gottes Sache.

Ich sagte in meiner Not: Geh und hüte dein Hörnchen, damit es nicht friert.

Und Anne trollte sich.

***

Eine weitere Betrachtung, die ich etwa zwei Wochen nach dem Begräbnis in meiner Truhe ablegte:

Man könnte Miss Cleave mit all ihrem Psalmenwissen, das sie täglich in die Kinder hineinstopft, für überheblich halten, wenn sie nicht so sonderbar schüchtern wäre und wenn nicht in ihrem Blick ersichtlich wäre, dass es ihr nicht an Demut und an Liebe fehlt. Auch ihre Hände, mit denen sie das Hörnchen in Annes Arme gegeben hat, legen davon Zeugnis ab. Wie groß und sorgsam Miss Cleaves Hände sind! Sie sind rau vom Waschwasser und von der Mistgabel wie meine eigenen; aber wenn sie sonntags mit dem Gesangbuch hantieren, sehe ich wohl, dass sie aus einem anderen Stoff gemacht sind als meine Hände.

Miss Cleave müsste genau hinsehen und den Seemannsdreck unter meinen Nägeln erkennen: ganz gleich, ob er vom Kapern und Morden oder vom Rübenputzen stammt. Sie müsste ihn sehen und ich würde vergehen vor Scham und vor Hoffnung; und dann müsste sie zum Tee zu mir kommen, zu einer Stunde ohne Burleigh und ohne Kinder, und nie wieder gehen.

Aber Jelena Cleave ist sternenweit entfernt von dem Umstand, dass ich einmal Mary Reeds Liebhaberin war, auf einem gestohlenen Kaufmannsschiff in der Karibischen See. Und auch ich bin sternenweit davon entfernt. Ich betrachte mein Spiegelbild im Fenster – das freilich ein verzerrtes, gerundetes, grünliches ist – und erkenne mich nicht wieder. Es kann nicht nur am Maisbrei liegen.

Burleigh ist bekümmert über den Mais, von dem wir uns nähren: Christlicher Weizen, sagt er, stünde einer Missionsgemeinde besser an als das indianische Gewächs. Aber was hilft es, wenn der Weizen hier oben schlecht gedeiht? Und so begeht er das Abendmahl mit Maisbrot, das ich ihm aus besonders fein gemahlenem Mehl backe; während ich den Kindern kräftigen Brei aus Mais und Ziegenmilch vorsetze und alle Reste verschlinge und doch nie satt bin.

Es liegt an Josie und Georgie und Anne und Frankie und Bradford und an meinem Ehemann und an mir selbst, dass Miss Cleave nicht einfach zu mir kommen kann. Was sollte ich in diesen verfluchten Bergen, vollgestopft mit Maisbrei und zu niedergedrückt für jede Art von Leidenschaft, mit dieser Frau anfangen?

***

Aber Josie, Georgie und Anne sind nicht nur Hindernisse, sondern auch Verbindungsstücke zu Miss Cleave: Anderes weiß und erfährt sie nicht von mir.

Ich muss mich meiner Kinder nicht schämen. Josie ist klug und bescheiden und längst zum Prediger bestimmt. Weil er Anlass zu dieser schönen Hoffnung gibt, ist er neben Godwill Moore der Einzige, der in der Schule nicht nur lesen, sondern auch schreiben lernt.

Josie schafft es, zugleich Burleighs Sohn und meiner zu sein; ich hänge an ihm als an meinem Erstgeborenen, und obwohl dieser Stand nicht ganz wahrhaftig ist, tut er doch seine Wirkung. Josie trägt mir das Wasser und das Feuerholz ins Haus und ermahnt seine Geschwister zum Gehorsam; dennoch ist er mit ihnen gut Freund, bis hin zu den kleinen Zwillingen, die ihn zärtlich lieben. Auch in der Schule ist er tüchtig – Burleigh hat erwähnt, dass Miss Cleave ihn häufig lobt. Ich habe ihm dafür ein schmuckes neues Hemd genäht, ungeachtet Georgies Maulen, Josie bekäme schon wieder neue Kleider und er selber nur Josies alte, die ihm diesmal auch noch zu groß seien.

Den schimmernden Baumwollstoff für das Hemd hatte mir Mrs. Eden zugeteilt: Sehen Sie nur, feinster Calico aus Charles Town, das ist etwas Aparteres als Leinen. Daraus können Sie Mr. Burleigh ein prächtiges Sonntagshemd nähen.

Ich feixte mit Snaterbek über den schönen Stoff und seinen schönen Namen und machte das Hemd für Josie daraus. Nachdem ich es fertig zugeschnitten hatte, waren noch ein paar Ellen übrig, und so bekam Anne eine neue Sonntagsschürze aus Calico, die ich hellrot einfärbte, damit sie dem Kind etwas Farbe verlieh. Mit dieser Schürze würde sie am Sonntag die Gemeinde erfreuen – wenn schon nicht mit ihrem Verstand.

Mit den beiden Jüngeren sieht es überhaupt weniger hoffnungsvoll aus. Georgie hat ein Gedächtnis wie ein Sieb, und Anne hat gar keins. Georgie in seiner trotzigen Vierschrötigkeit und mit dem dunklen Wust von Haaren ist ein Cormac durch und durch, in dessen Dickschädel phantastische Geschichten passen, aber kein Psalm und keine Grammatik. Und Anne, genauso schwergliedrig wie ihr Bruder, verwechselt alle Buchstaben, obwohl sie fast ein Jahr in der Schule ist, und träumt vor sich hin und tuschelt mit ihrer Freundin Ashes Moore, die halb so breit, aber viel gelehriger ist. Burleigh lässt Anne des Öfteren das ABC aufsagen oder eine kurze Bibelstelle lesen und bestraft ihre mangelnden Fortschritte mit der Rute, sodass sie heulend aus dem Haus läuft: Unser Leben währt siebzig Jahr, Kind, und sein Stolz ist Mühe und Arbeit. Du hast keinerlei Grund, dir die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen.

Mein Gott, was dieses Kind heulen kann.

Den stärksten Einfluss habe ich auf die äußere Erscheinung der Kinder. Josies und Georgies Schmutzschicht, die besonders in Georgies Fall solide ist, wird am Samstagabend weggeschrubbt; häufiger lohnt es sich nicht. Aber Anne, mein einziges Mädchen, kann ich nicht wie ein staubgebadetes Ferkel zu Miss Cleave schicken. Und so halte ich sie an, ihre Hände und ihren Hals, wo man den Dreck am schönsten sieht, täglich zu waschen. Und ich setze allen meinen Stolz darein, dass Annes Haar in ordentlichen Zöpfen liegt.

Unsere puritanische Mode erfordert noch straffere Zöpfe als die irische Zucht, die meine Mutter mir einst angedeihen ließ. Die Hauben von Mrs. Eden und der alten Mrs. Moore umrahmen einen ausgedünnten Haaransatz, weil ihr Haar von Kindesbeinen an äußerst straff gebunden war. Das sieht nicht sehr hübsch aus – aber was hilft es mir und was hilft es Anne? Hier in den Bergen North Carolinas tragen nur heidnische Frauen ihr Haar offen; und die strenge schwarze Ordnung über Rebecca Waterhouse’ Stirn ist das deutlichste Zeichen, dass sie ein Christenmensch geworden ist. Meine Tochter, ihrerseits ein Christenmensch, soll, Miss Cleave zum Gefallen, die straffsten Zöpfe der Schule haben.

Und so rupfe und reiße ich jeden Morgen an Annes feinem Haar, das keine richtige Farbe hat und sich nachts in unverständlich viele Knoten legt, bis es in zwei dünnen Zöpfen über ihre Schultern fällt; ihr Scheitel ist akkurat wie die vorgezogenen Linien auf Josies Tafel. Ich trage ihr Grüße an die Lehrerin auf, während ihre Lippen noch von Schmerzenslauten gekrümmt sind; und wenn ich die Tür hinter den dreien geschlossen habe, lassen mich Neid und Sehnsucht in die Knie gehen.

Deine Geschwister gehen zur Schule, flüstere ich Frankie zu, der mich stumm betrachtet, einen Finger im Mund, – und wir müssen zu Hause bleiben …

Die Stille, nachdem die Kinder gegangen sind, lässt mich in tausend Teile zerspringen; sie verwandelt jeden Handgriff, den ich dem Haushalt und den Zwillingen zuliebe tue, in eine leere Geste ohne Sinn und Zusammenhang, nur angetan, dieses Leben zu verlängern und zu wiederholen. Meine Hände und Füße werden so schwer, dass ich nichts tun kann, als am Tisch zu sitzen, die Hände im Schoß, und von Miss Cleave zu phantasieren. Einst ein Gesetzesbrecher mit einer zauberhaften Geliebten, die mir fast täglich zu Willen war, sitze ich nun in meiner Stube und verzehre mich nach der Lehrerin meiner Kinder.

Julian Snaterbek sieht mir zu, an die Reling gelehnt, und verschränkt die Arme: Davon, deine Kinder herauszuputzen, wirst du doch nicht satt. Geh selber zu ihr hin!

Er hatte recht: Ich würde zu Miss Cleave gehen, so beschloss ich es in den letzten Zügen dieses Winters, drei Wochen nach Mary Burleighs Begräbnis.

4

Ich grübelte, wie ich es anstellen sollte – ohne Erfolg. Ich versuchte, mir mit schamlosen Phantasien und den dazugehörigen Taten abzuhelfen. Doch mir wurden die Hände taub, wenn ich nachts im Bett lag, den ruhig schlafenden Burleigh neben mir. Es war ein Unsinn und ein Sakrileg, auf diese Weise an Miss Cleave zu denken. Vielleicht war ich schamhafter geworden über die Jahre. Und eine bessere Weise, an sie zu denken, fand ich nicht.

Aber eines Mittags, als die Kinder gerade nach Hause gekommen waren, ließ ich alle fünf stehen, befahl Anne, die Suppe aufzutun, ich käme gleich wieder, und lief ohne Plan und ohne genaue Vorstellung hinüber zu Moores Hütte, wo ich Miss Cleave gerade noch antraf. Sie war schon auf dem Weg in den Stall, hatte eine grobe Schürze vorgebunden und sah alltäglicher aus als in meiner Erinnerung. Im hellgrauen Mittagslicht war wenig vom Erzengel Gabriel zu bemerken.

Ich hatte daran gedacht, sie einleitend zu fragen: Wer wohl diese Bathseba wäre, von der Georgie immerzu sprach? Bathseba, ihr gelöstes Haar, ihr Badezuber und der König auf dem Dach; was für eine schillernde Geschichte, sie hätte dem Gespräch mit Miss Cleave einen schönen Rahmen gegeben. Aber warum sollte ich mit dieser Frage zu Miss Cleave gehen anstatt zu Burleigh, meinem Gatten? Es ergab keinen Sinn. Sollte ich lieber von den neuesten Zerstörungen des Hörnchens sprechen – damit sie sich am Ende dafür entschuldigte? Auch das schien mir nicht geeignet zu sein, um Miss Cleaves Gunst zu erringen.

Oh nein, dachte ich noch, während Miss Cleave die weiße Ziege Pretty zu sich rief, – nur nicht von Bathseba sprechen, die wohl kaum einen Faden am Leib gehabt hatte.