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Dies ist die wahre Geschichte des Aemilius Felix Boioannes dem Jüngeren. Der beabsichtigten und unbeabsichtigten Auswirkungen seines Lebens; der schlimmen Dinge, die er absichtlich getan hat, und der guten Dinge, die sich seinen Absichten zum Trotz ergeben haben. Es ist, mit anderen Worten, die Geschichte eines Krieges, der alle Kriege beenden sollte, und des Mannes, der dafür verantwortlich war. Ein praktischer Ratgeber zur Eroberung der Welt kann für sich allein gelesen werden, aber für diejenigen, die ein gutes Ende mögen, kann es auch als erfrischend pragmatischer Abschluss der mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Romanserie von K. J. Parker betrachtet werden, die mit Sechzehn Wege, eine befestigte Stadt zu verteidigen begann und mit Wie man ein Imperium regiert und damit durchkommt fortgesetzt wurde.
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Seitenzahl: 531
Veröffentlichungsjahr: 2023
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AUSSERDEM BEI PANINI ERHÄLTLICH
K. J. PARKER: DIE BELAGERUNG
Band 1: SECHZEHN WEGE, EINE BEFESTIGTE STADT ZU VERTEIDIGEN
ISBN 978-3-8332-4105-5
Band 2: WIE MAN EIN IMPERIUM REGIERT UND DAMIT DURCHKOMMT
ISBN 978-3-8332-4183-3
Band 3: EIN PRAKTISCHER RATGEBER ZUR EROBERUNG DER WELT
ISBN 978-3-8332-4335-6
Nähere Infos und weitere phantastische Bände unter:
paninishop.de/phantastik/
Ins Deutsche übertragen von Michaela Link
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2023 by One Reluctant Lemming Company Ltd. All rights reserved.
Cover design by Lauren Panepinto. Cover image by Shutterstock
Cover © 2023 Hachette Book Group, Inc.
Titel der Englischen Originalausgabe: »A Practical Guide to Conquering the World« by K. J. Parker, published in Great Britain in November 2021 by Orbit an imprint of Little, Brown Book Group, London, UK.
Deutsche Ausgabe 2023 Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Michaela Link
Lektorat: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDPARKE003E
ISBN 978-3-7367-9811-3
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, März2023, ISBN 978-3-8332-4335-6
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PaniniComicsDE
Constantiae constanter
1. Kapitel
Ich heiße Felix. Das bedeutet vom Glück begünstigt. So viel zum Thema Ironie.
Dies ist die wahre Geschichte der beabsichtigten und unbeabsichtigten Auswirkungen meines Lebens; der schlimmen Dinge, die ich absichtlich getan habe, und der guten Dinge, die sich meinen Absichten zum Trotz ergeben haben.
Bedauerlicherweise bin ich die Hauptfigur dieser Geschichte. Ich kann verstehen, warum alle hören wollen, was ich Euch erzählen werde – das Erstaunlichste, was zu unseren Lebzeiten, möglicherweise überhaupt jemals passiert ist, die größte Geschichte, die je erzählt wurde –, aber meine Meinung dazu? Ich sehe es anders. Ich habe festgestellt, dass andere Menschen mich zuerst ganz gern haben und mich danach noch für eine kurze Zeit ertragen können. Aber, wie es in der Medizin heißt: Die Dosis macht das Gift. Leider gibt es diese Geschichte nicht ohne mich. Wenn Ihr das eine wollt, müsst Ihr das andere mit in Kauf nehmen. Tut mir leid.
Ich träumte von … nun, gewissen Dingen, als mich jemand wachrüttelte.
Gerade aus dem Schlaf gerissen, war ich nicht eben in Hochform. Ich erblickte drei Soldaten in Rüstung und Uniform. Oh Gott, dachte ich, sie sind gekommen, um mich zu verhaften wegen des Verbrechens, das ich verübt habe. Dann fiel mir ein, dass das schon lange her war und ich dieses Vergehen weit entfernt unter einer anderen Gerichtsbarkeit begangen hatte.
»Seid Ihr der Übersetzer?«
Der Feldwebel sprach ein primitives Robur, vermutlich für den Fall, dass er den falschen Mann erwischt hatte.
»Ja, der bin ich«, antwortete ich auf Echmen.
»Es tut mir leid, Euch zu stören, Herr«, log er, »aber Ihr werdet gebraucht.«
Irgendjemand hatte die Lampe angezündet. Ich schaute über den Kopf des Feldwebels hinweg aus dem Fenster. »Es ist mitten in der Nacht«, wandte ich ein. »Kann das nicht warten?«
»Nein, Herr.«
Die Echmen haben die diplomatische Immunität erfunden, daher mutmaßte ich, dass sie mich nicht töten würden, wenn ich mich weigerte. Aber sie würden auch nicht weggehen. »Na schön«, sagte ich. »Gebt mir nur ein paar Minuten, um mich anzuziehen, ja?«
»Tut mir leid, Herr. Unser Befehl lautet, Euch sofort mitzunehmen.«
Mir sank das Herz. »Gut, in Ordnung, aber würdet Ihr bitte draußen warten?«
»Tut mir leid, Herr.«
Er war wohl besser damit vertraut, Leute zu verhaften, als Diplomaten irgendwohin zu eskortieren. Ich sagte mir, dass es keine Rolle spiele, also schlug ich die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Ich dachte, er hätte mir den Rücken gekehrt, als ich mich in meine Hose zwängte, aber ein Keuchen verriet mir, dass dem nicht so war. Ich zog mein Hemd an und drehte mich zu ihm um.
»Was, zum Teufel, ist mit Euch passiert?«, fragte er.
»Ich wäre dann bereit, wenn Ihr es auch seid«, sagte ich.
Die Echmen sind ein bemerkenswertes Volk, und eines der Gebiete, auf denen sie Herausragendes leisten, ist die Baukunst. Alles, was sie bauen, wird so groß, so kompliziert und so kunstvoll, wie sie es nur hinbekommen können, und der kaiserliche Palast ist wahrlich der höchste Ausdruck echmenischer Ästhetik. Es heißt, sie würden bauen, um die Götter zu beeindrucken; von den Portalen des Sonnenaufgangs aus betrachtet, von hundert Meilen über unseren Köpfen her, ist der Palast daher eine überwältigende Kombination aus Geometrie und Kunst. Vom Erdboden aus gesehen ist er ein Kaninchenbau. Ich weiß mit Sicherheit, dass meine Dachkammer im unteren Westflügel von den Amtsräumen des diplomatischen Dienstes, wo ich den Großteil meiner Arbeit verrichtete, nur hundert Meter Luftlinie entfernt liegt, gemessen mit göttlichen Maßstäben, doch tatsächlich sind es gute eintausendeinhundertvierzig Schritt, die man zurücklegen muss; treppauf, durch Korridore, treppab, durch weitere Korridore, Galerien und Säulengänge, auf dem gesamten Weg ununterbrochen begleitet von einer nicht abreißenden Folge der verwirrendsten und liebreizendsten Beispiele nicht gegenständlicher Kunst. Von meinem Quartier zu den Zellen unter der Justizabteilung ist der Weg auf dem Papier recht kurz, aber zu Fuß ungefähr doppelt so lang. Was meinem neuen Freund, dem Feldwebel, jede Menge Zeit gab, sich mit mir zu unterhalten, auch wenn ich das eigentlich gar nicht wollte.
»Seid Ihr ein …?«, fragte er. »Ihr wisst schon.«
Ja, ich wusste es schon. Aber ich missverstand ihn absichtlich. »Ein Übersetzer«, sagte ich. »Ja. Zu wem werde ich gebracht?«
»Tut mir leid, Herr, Geheimsache.«
»Ich frage ja nur«, fuhr ich fort, »denn wenn es um eine Sprache geht, die ich nicht spreche, verschwenden wir alle unsere Zeit.«
»Dejauzi, Herr.«
Na schön, Dejauzi beherrsche ich. Soweit bekannt, besteht gut ein Drittel der Welt aus Dejauzi sprechenden Völkern, aber da sie friedlich sind, nichts besitzen, was irgendjemand haben will, und zu gerissen und zu bösartig, um sie als Arbeitskräfte zu nutzen, sind sie für die drei mächtigsten Staaten nur von geringem Interesse. Tatsächlich trifft keine dieser drei Behauptungen zu, aber das ist das, was alle glauben. Ich habe während meiner Rekonvaleszenz Dejauzi gelernt, denn es lag dort zufällig eine Grammatik dieser Sprache herum. Es ist eine der einfachsten Sprachen auf der Welt und kennt praktisch keine unregelmäßigen Verben.
Nehmt bitte zur Kenntnis, dass ich das Wort Kerker nicht benutzt habe. Das wäre total irreführend. Die Zellen der Echmen, in denen ich noch nie zuvor gewesen war, entpuppten sich als typisch für sie: elegante, symmetrische, exquisit proportionierte Räume, die zufällig zur Aufbewahrung von Verbrechern genutzt werden. Den einzigen Unterschied zwischen der Zelle, in die man mich führte, und meinen eigenen Räumlichkeiten stellte wohl die Stahltür dar und die Tatsache, dass nur die Decke verziert war, und zwar mit einem verblüffend hübschen Mosaik.
In der Zelle stand ein echmenischer Beamter mit einem Dokument in der Hand, und auf einer Art steinerner Bank saß eine Halbwüchsige in echmenischer Hoftracht, aber mit der unverkennbaren Frisur und Schminke der Dejauzida. Der Beamte musterte meinen Feldwebel mit einem Stirnrunzeln. »Ihr habt Euch Zeit gelassen«, bemerkte er.
»Tut mir leid, Herr.« Er entschuldigte sich ziemlich oft, dieser Feldwebel, obwohl ich nicht glaube, dass es ihm ernst damit war.
»Ist er das?«
»Herr.«
Der Beamte nickte, und der Feldwebel trat zurück und stellte sich vor die Tür.
»Tut mir leid, dass ich Euch aus dem Bett habe holen lassen«, sagte der Beamte, »aber unser Mann ist krank. Ihr sprecht Dejauzi.«
»Ja«, bestätigte ich.
»Guter Mann. Also, lest Ihr diesen Text auf Dejauzi vor, dann könnt Ihr gehen.«
Er reichte mir das Dokument. Es war in diesem grässlichen juristischen Echmen geschrieben, auf dem sie für offiziellen Kram bestehen, auch wenn die Schriftzeichen im alltäglichen Gebrauch veraltet sind; tatsächlich muss man zusätzliche achttausend Schriftzeichen kennen, um solchen Dokumenten einen Sinn abzuringen. Glücklicherweise kenne ich sie.
Ich sah das Mädchen an, das mich seinerseits jedoch nicht anschaute. Dann las ich ihr das Dokument vor, bei dem es sich um ihr Todesurteil handelte. Als ich fertig war, schaute sie auf und musterte mich finster.
»Fragt sie, ob sie Euch verstanden hat«, verlangte der Beamte.
»Habt Ihr das verstanden?«, fragte ich sie.
»Verpisst Euch.«
»Sie hat es verstanden.«
Der Beamte nickte. »Fragt sie, ob sie von ihrem Recht Gebrauch machen will, Einspruch einzulegen.«
Also tat ich das.
»Ihr könnt mich mal kreuzweise«, antwortete sie.
»Im Moment nicht«, übersetzte ich.
»Und sagt ihm, er kann mich ebenfalls mal«, fügte sie hinzu.
»Aber sie behält sich das Recht vor, zu einem späteren Zeitpunkt Einspruch einzulegen.«
Der Beamte grunzte. »Dann sollte sie sich besser beeilen. Im Morgengrauen rollt ihr Kopf.«
Ich drehte mich wieder zu ihr um. »Das Arschloch sagt, Ihr würdet …«
»Ja, ich weiß. Ich habe ihn gehört.«
»Ihr sprecht Echmen?«
»Besser als Ihr, Blauhaut.«
»Soll ich Euch einen Rechtsbeistand besorgen?«
»Besorgt’s Euch selbst.«
»Ah«, sagte ich, »ich wünschte, das wäre möglich. Es tut mir leid. Ich hoffe …« Ich versuchte, mich an das wenige zu erinnern, was ich über die Religion der Dejauzida wusste. »Möge der Urgroße über Euch wachen«, sagte ich.
»Der Urgroße kann mich mal. Ich bin eine Hus.«
Ich verneigte mich höflich, dann wandte ich mich wieder an den Beamten. »Kann ich draußen ein Wort mit Euch sprechen?«
Er wirkte überrascht, nickte jedoch. Der Feldwebel trat beiseite, um uns vorbeizulassen.
»Was hat sie getan?«, fragte ich.
»Gar nichts. Sie ist eine Geisel.«
Ah. Eine Geisel zur Gewährleistung guten Benehmens. Die Tochter irgendeines Anführers, bei den Echmen zurückgelassen als Garantie für die Einhaltung eines Bündnisvertrages. Wenn der Vertrag gebrochen wird, wird die Geisel getötet. »Also haben die Hus den Vertrag …«
»Die Dejauzida.«
»Sie ist keine Dejauzi, sie ist eine Hus.«
Er starrte mich an. »Seid Ihr Euch sicher?«
»Das sagt sie jedenfalls. Außerdem hat sie eine blaue Lebenslocke in ihrem Haar, und die Lebenslocke der Dejauzida ist grün, und die Tätowierungen in ihrem Gesicht zeigen den doppelten Pfau, ein Symbol der Hus.«
»Ihr seid Euch dessen sicher?«
»Ja«, bestätigte ich. »Kein Dejauzi würde den doppelten Pfau tragen. Er ist tabu.«
»Oh Himmelherrgott noch mal. Ihr seid Euch sicher?«
»Ich habe ein Buch, das Ihr Euch ausborgen könnt, dort könnt Ihr es nachschlagen.«
Er sagte mir nicht, was ich mit meinem Buch anstellen könne. Das brauchte er nicht. »Ihr kommt mit mir«, entschied er. »Wir müssen diese Sache klären.«
»Moment mal«, wandte ich ein. »Ich bin kein Experte für Nomadenstämme, und ich glaube nicht, dass mein Botschafter möchte, dass ich mich in die Außenpolitik der Echmen einmische.«
»Darüber hättet Ihr vielleicht nachdenken sollen, bevor Ihr Euer großes Maul aufgerissen habt«, antwortete er nicht ganz unberechtigterweise. »Kommt mit, auf uns wartet eine Menge Arbeit.«
Es wurde eine lange Nacht. Ein halbes Dutzend Beamte von immer größerer Wichtigkeit musste aus dem Bett gerissen werden, dann musste man ihnen alles erklären, denn sie wiederum mussten Dokumente unterzeichnen und mit Siegeln versehen, und sie alle wollten wissen, was die Blauhaut mit dem Ganzen zu tun hatte. Der Stellvertretende Sowieso machte ein trauriges Gesicht und sagte, es sei eine furchtbare Schande, aber jetzt zu spät, in der Sache noch irgendetwas zu unternehmen. Woraufhin einer der anderen Beamten (inzwischen liefen wir hinter einer kleinen Armee übermüdeter Staatsdiener her, als würden wir Gänse zum Markt treiben) darauf hinwies, dass sie, wenn sie eine Geisel ihrer Verbündeten hinrichteten, alle tief in der Scheiße steckten, und es stellte sich heraus, dass doch so gerade noch Zeit genug war, das womöglich abzuwenden. Ein Dokument über die Aussetzung der Hinrichtung wurde aufgesetzt und besiegelt, und sie brauchten jemanden, der ihr das Dokument übersetzte …
»Ihr schon wieder«, bemerkte sie.
»Es ist alles in Ordnung. Es lag ein Irrtum vor. Ihr werdet doch nicht sterben.«
Sie warf mir einen Blick zu, den ich niemals vergessen werde. »Ist das Euer Ernst?«
»Sie dachten, Ihr wäret eine Dejauzi. Ich habe ihnen erklärt, dass Ihr eine Hus seid. Ihr seid doch eine Hus, oder?«
»Sie haben sich geirrt?«
»Richtig, aber jetzt ist alles geklärt. Ihr seid doch eine Hus, nicht wahr?«
»Natürlich bin ich eine verdammte Hus, was denkt Ihr, was das hier ist? Pickel? Sie haben mich in diese Zelle geworfen und mir gesagt, dass sie mich umbringen werden, und das ist alles ein Irrtum? Oh, zum …«
»Aber jetzt ist alles in Ordnung«, unterbrach ich sie. »Es ist alles …«
»Nein, das ist es verdammt noch mal nicht. Ich hatte eine Scheißangst. Ich habe die ganze Nacht hier gesessen und gedacht, das war’s, ich werde sterben, weil irgendein Idiot …« Tränen schnitten tiefe Rillen in ihre kreideweiße Schminke.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber alles ist nun geklärt, und sie werden Euch gehen lassen. Aber zuerst muss ich Euch das hier vorlesen, sonst ist die Sache nicht rechtskräftig.«
»Ihr müsst was?«
»Seid still«, bat ich, »und lasst mich Euch dieses Schreiben vorlesen. Dann könnt Ihr gehen.«
Sie holte tief Luft. »Dann beeilt Euch.«
Also las ich ihr das Dokument vor. »Habt Ihr es verstanden?«, fragte ich anschließend.
»Natürlich habe ich es verstanden! Wofür haltet Ihr mich, für einen Dummkopf?«
»Ich muss Euch sagen hören, dass Ihr es verstanden habt, es ist eine erforderliche Formalität.«
»Besorgt’s Euch selbst!«
»Das sagt Ihr immer wieder«, stellte ich fest. »Vielen Dank für Eure Geduld. Lebt wohl.«
Ich wandte mich zum Gehen.
»Übrigens«, sagte ich zu dem Beamten – dem ersten, der diese ganze wundervolle Erfahrung mit mir geteilt hatte, »sie spricht Echmen und versteht jedes Wort, Ihr hättet mich also überhaupt nicht gebraucht.«
Er wirkte leicht verblüfft. »Davon hat sie nichts gesagt.«
»Habt Ihr sie denn danach gefragt?«, entgegnete ich und verließ die Zelle.
Überflüssig zu sagen, dass ich mich auf dem Weg zurück zu meiner Dachkammer hoffnungslos verirrte, meine große Geste sich also gegen mich kehrte und mir in den Hintern biss, so wie große Gesten das im Allgemeinen tun. Na wenn schon.
Der Irrtum, der den Beamten unterlaufen war, war durchaus nachvollziehbar. Die Dejauzida und die Hus sehen einander ziemlich ähnlich, sprechen dieselbe Sprache und haben dieselben Vorfahren. Ansonsten aber sind sie völlig verschieden. Die Dejauzida huldigen dem Urgroßen, aber die Hus sind Feueranbeter wie die Echmen (obwohl ich den Eindruck habe, dass es sich dabei jeweils irgendwie um ein anderes Feuer handelt). Sie hassen einander wie die Pest, genau wie auch die anderen etwa zwanzig völlig unterschiedlichen und eigenständigen Völker es tun, die so aussehen wie die Dejauzida und dieselbe Sprache sprechen. Was uns gemäß dem monumentalen Band Über die Wilden, unserem wichtigsten Nachschlagewerk im diplomatischen Dienst, nur recht sein kann; denn wenn es anders wäre und sie sich alle wie eine große, glückliche Familie gut vertragen würden, statt einander bei der geringsten Provokation an die Kehle zu gehen, wären sie unaufhaltbar und eine echte und allgegenwärtige Gefahr für die Zivilisation.
Es gibt verdammt viele von ihnen. Niemand weiß so recht, wie viele es tatsächlich sind, und sie selbst schon gar nicht. Sie leben in den Ödländern, die sich entlang der nördlichen Grenzen aller drei großen Reiche erstrecken, ein Gebiet, das so weitläufig ist, dass auch diesbezüglich niemand weiß, wie weitläufig es wirklich ist. Sie lesen und schreiben nicht – wohlgemerkt, sie tun es einfach nicht, dahingestellt, ob sie es können oder nicht. Es gibt alle möglichen Dinge, die wir tun und die sie nicht tun. Deshalb neigen wir dazu, sie als nur halb menschliche Barbaren anzusehen. Aber ihnen zufolge tun sie diese Dinge deshalb nicht, weil sie sie nicht tun wollen, und sie zeigen dann auf uns und sagen: Seht Euch an, was durch Lesen und Schreiben und das Leben in Städten aus Euch geworden ist! Damit wollen wir nichts zu tun haben. Nun, das ist auch ein Standpunkt.
Die konkrete Folge davon ist jedoch: Wenn man etwas über sie erfahren will, ist man völlig auf die Aussagen von Außenstehenden angewiesen, von denen die meisten ihre eigenen Absichten verfolgen. Die Dejauzida statten uns keine Besuche ab, wenn sie es irgendwie vermeiden können, daher stammen alle Zeugnisse, die es über sie gibt, von diplomatischen Gesandtschaften – durchweg erfolglosen Gesandtschaften – und den wenigen geistesschwachen Händlern, die allen Warnungen zum Trotz glauben, ihnen etwas verkaufen zu können. Scheitern führt in der Regel nicht dazu, dass man denjenigen gegenüber wohlgesinnt ist, die einem die Pläne durchkreuzt haben. Und es ist leicht, seinen Mangel an Erfolg damit zu erklären, dass die Menschen, die nichts von diesen Plänen wissen wollten, ignorante Barbaren sind.
Manche Menschen kommen hervorragend fast ohne Schlaf aus. Ich gehöre nicht dazu. Außerdem ergeht es mir mit dem Schlaf wie mit dem Geld: Beide sind für mich schwer zu finden. Als ich endlich in meine Mansarde zurückkehrte (wofür ich nicht weniger als siebenundachtzig steinerne Stufen einer Wendeltreppe überwinden musste), wusste ich, dass es sinnlos war, mich noch mal ins Bett zu legen. Mir blieben nur wenige Stunden, bevor ich wieder zum Dienst antreten musste. (Die Echmen haben solch wunderbare Wasseruhren.) Außerdem hatte mich diese Nacht mit ihrem endlosen Treppauf und Treppab in einen verschwitzten und undiplomatenhaft ungepflegten Zustand versetzt. Also stapfte ich die Treppe zur Zisterne hinunter und wusch mir den Schweiß vom Leib, dann ging ich wieder hinauf, um in respektable Kleidung zu schlüpfen und mich anständig zu kämmen.
Da ich noch ein wenig Zeit hatte, machte ich einen Umweg über die Schreibstube. Sie ist riesig. Früher einmal war der Nordflügel des Palasts ein Kloster, in dem gut tausend Mönche für die Seelen toter Kaiser gebetet haben. Was jetzt der Raum der Schreiber ist, war früher der Schlafsaal der Mönche, und trotzdem leiden die Schreiber unter dem Platzmangel. Die Echmen haben das Schreiben erfunden, und sie haben eine große Vorliebe für geschriebene Dokumente.
Einer der über tausend Schreiber, die dort arbeiteten – nur ein einziger –, war ein Lystragoner, und wie es kam, dass er für das kaiserliche Sekretariat arbeitete, muss eine faszinierende Geschichte sein, nur ist es mir nie gelungen, sie aus ihm herauszukitzeln. Aber er und ich waren innerhalb der rangniederen Verwaltungsebene in dem ganzen imposanten Komplex die Einzigen, die Robur sprachen, daher hatten wir es uns angewöhnt, miteinander zu reden.
Die Arbeitsmoral in der Schreibstube ist nicht unerträglich hoch, daher hat niemand etwas dagegen, wenn Freunde vorbeikommen und eine Schale Tee trinken. Mein Freund freute sich, mich zu sehen, da keiner seiner echmenischen Schreiber mit ihm redete. Ich erzählte ihm von der amüsanten Verwechslung, die eine unschuldige Frau beinahe das Leben gekostet hatte. Vorsichtshalber fragte ich ihn, ob er vielleicht die Aufzeichnungen überprüfen und mir bestätigen könne, dass in den Büchern eine Geisel aus Hus aufgeführt war. Denn wenn nicht, hatte ich die Sache grandios vermasselt und würde meinem Botschafter das alles erklären müssen, bevor er von den Echmen davon erfuhr.
Mein Freund verzog das Gesicht. »Wie heißt sie denn?«
»Du weißt doch, wie’s damit ist.«
»Nein, weiß ich nicht. Und ich kann die Akte nicht raussuchen, wenn du den Namen nicht kennst.«
Ich erklärte es ihm: »Die Dejauzida, in diesem Fall einschließlich der Hus, haben alle möglichen merkwürdigen Tabus, was Namen betrifft. Man darf zum Beispiel nicht den Namen eines Menschen aussprechen, der gestorben ist, sondern muss stattdessen eine kunstvolle Umschreibung benutzen. Man darf auch niemanden nach seinem Namen fragen und niemandem den eigenen Namen verraten. Wenn man wirklich den Namen einer Person in Erfahrung bringen will, muss man einen seiner Familienangehörigen danach fragen (aber nicht irgendeinen Angehörigen; es gibt ein strenges Protokoll, das vom Familienstand und von der Stellung des Namensinhabers innerhalb der Familienhierarchie bestimmt wird). Eine Prinzessin nach ihrem Namen zu fragen, würde eine Beleidigung darstellen, die sich nur mit Blut rächen ließe. Also habe ich nicht gefragt.«
»Na schön«, antwortete mein Freund. »Nur, wie gesagt, dadurch könnte es schwierig werden.«
»Denkst du wirklich, dass es hier im Moment mehr als eine Geisel der Hus gibt?«
Er funkelte mich an. »Die Liste enthält keine Querverweise auf die einzelnen Nationalitäten«, erklärte er. »Ohne einen Namen kann ich dir nicht helfen, tut mir leid.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Egal«, murmelte ich. »Wenn ich mich geirrt habe, werde ich es bald genug erfahren, nämlich dann, wenn sie mich rauswerfen. Natürlich werde ich dann zu Fuß nach Hause gehen müssen, weil sie mir meinen Beförderungspass für die Postkutsche entziehen werden, aber es sind ja nur ein paar Tausend Meilen, und diese Sandalen halten noch eine ganze Menge aus.«
Er verdrehte die Augen. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er.
»Nur gut, dass du keine richtige Arbeit hast.«
»Der Schlag soll dich treffen, Blauhaut.«
Ich warf einen Blick auf die Wasseruhr. Mein Dienst hatte begonnen. Ich schenkte meinem Freund mein breitestes Lächeln und eilte zu unserer Abteilung im fünften Stock des Nordturms hinauf.
Unser Bereich bestand aus dem Botschafter, seinem hohlköpfigen Neffen, dem hohlköpfigen Neffen irgendeiner anderen Person und mir. Nur gut, dass wir nie etwas zu tun hatten, sonst wäre es einfach nicht erledigt worden. Normalerweise tauchte der Botschafter erst mitten am Nachmittag auf, daher war ich ein wenig bestürzt, ihn am Schreibtisch sitzen zu sehen (wir hatten nur den einen), eine Pergamentrolle in den Händen.
»Entschuldigt meine Verspätung«, sagte ich und hob an, ihm von meinem jüngsten Abenteuer zu erzählen.
»Lest das«, unterbrach er mich und reichte mir das Pergament.
Es war auf Sashan geschrieben. Später erzählte mir der Botschafter, sein sashanischer Kollege habe ihm das Pergament zu lesen gegeben, obwohl es streng genommen geheim sei und so weiter. Es war die Kopie eines Berichts der sashanischen Botschaft in Aelia – einer der Republiken der Milchgesichter am unteren Rand des Mittleren Meeres, zu deren Eroberung wir nie gekommen waren. In dem Dokument hieß es, dass eine bisher nicht identifizierte Armee die Garnison der Stadt der Robur in einen Wald gelockt und dort ausgelöscht habe, sodass die Stadt selbst vollkommen schutzlos war. WennIhrdashierlest, stand in dem Bericht, wirddieStadtgefallensein. Außerdem hatte der sashanische Botschafter aus absolut verlässlicher Quelle von einem unbekannten, aber extrem mächtigen Bündnis gegen die Robur erfahren, das die Provinzen unseres Reiches in Übersee in einem enormen Tempo eroberte und sich diese einverleibte. Das erklärte Ziel dieses Bündnisses war, die Robur bis auf den letzten Mann auszulöschen. Wenn es so weitermache, stand in dem Bericht, könne es nur eine Frage von Wochen sein, bis das Reich und damit das Volk der Robur nicht mehr existiere.
Ich las das Datum am oberen Rand. Der Bericht war zwei Monate alt.
Ich sah den Botschafter an. Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte ich.
Er schaute zu mir auf. »Wann haben wir das letzte Mal etwas von daheim gehört?«, fragte er.
»Vor ungefähr zwei Monaten. Aber das heißt nichts.«
»Ich bekomme jede Woche eine Depesche«, erklärte er. »Jedenfalls sollte ich eine bekommen. Ich habe während des vergangenen Monats jeden Tag nach Hause geschrieben und gefragt, was, zum Teufel, da los sei.«
»Die Stadt kann nicht fallen«, wandte ich ein.
»Doch, kann sie, wenn niemand da ist, der sie verteidigt.«
Ich besah mir den Bericht, konnte aber die Worte nicht erkennen. Ich hatte irgendetwas im Auge. »Es kann nicht wahr sein.«
»Das habt Ihr bereits gesagt.«
»Was sollen wir tun?«
Er lachte. »Ich beantrage politisches Asyl. Doch wenn dieser Bericht wahr ist, glaube ich nicht, dass ich es bekommen werde. Ich an Eurer Stelle würde mich rarmachen. Geht so weit fort, wie Ihr nur könnt, und bleibt dort.« Er deutete ruckartig mit dem Kopf zur Tür, die das vordere Amtszimmer mit dem Kabuff verband, das den Neffen als Arbeitsraum diente. »Die sind längst fort«, sagte er. »Verratet mir nicht, wo ihr hingeht, hab ich ihnen gesagt. Dann kann ich es auch niemand anderem verraten.«
Ich starrte ihn an. »Wer sind diese Leute?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht mehr als Ihr. Selbst die Sashan wissen nichts. Aber sie schenken dem Bericht Glauben. Das ist die Vorstellung des Verfassers von Fairness: uns einen Vorsprung zu verschaffen.«
Ich legte das Pergament auf den Schreibtisch. »Wer hasst uns so sehr?«
Das trug mir ein breites Grinsen ein. »Alle«, antwortete er. »Verfolgt Ihr denn nicht die aktuellen Nachrichten?«
Ich lief die Treppe hinunter und durch die Flure zur Schreibstube. Mein Freund, der Lystragoner, saß an seinem Schreibtisch, hatte die Füße hochgelegt und las den Spiegel irdischer Leidenschaft.
»Ihr Name«, sagte er und gähnte, »ist ›Sie Stampft Sie Platt‹.Und ja, sie ist tatsächlich eine Hus. Du schuldest mir was.«
Ich erzählte ihm, was ich soeben erfahren hatte, und er starrte mich an. »Das ist unmöglich«, meinte er.
»Du hast nichts gehört?«
Er klappte das Buch zu und legte es beiseite. »Nein, aber ich hätte so oder so nichts davon erfahren.«
»Kannst du dich mal umhören?«
»Mit mir redet niemand, das weißt du doch. Aber dennoch«, fügte er hinzu und sah mich an, »ich werde sehen, was ich tun kann. Wo finde ich dich?«
Gute Frage. Wie gesagt, die Echmen sind Feuer und Flamme für ihre diplomatische Immunität. Die Frage war nur: Kann eine Nation, die nicht länger existiert, Diplomaten haben? »Im Weißen Garten«, sagte ich. »Dort mag man mich.«
Also ging ich zum Weißen Garten, obwohl ich mich nicht an meinen gewohnten Tisch setzte, sondern mich für eine Ecke neben dem Feuer entschied. Dort verbrachte ich die möglicherweise schlimmste Stunde meines Lebens. Und dann kamen die Soldaten mich holen.
»Ist nichts Persönliches«, erklärte der Feldwebel, als er mir die Hände hinter dem Rücken fesselte. Nicht derselbe Feldwebel, was wahrscheinlich ganz gut war. »Versucht stillzuhalten, wir wollen keine gebrochenen Knochen.«
Die Echmen legen ihren Gefangenen hölzerne Kragen um die Hälse. Diese Kragen haben ungefähr die Größe eines Infanterieschilds und ein Loch in der Mitte – für den Hals –, außerdem Scharniere und ein Vorhängeschloss. Der Kragen drückt sich einem direkt ins Schlüsselbein, und wenn man ihn trägt, kann man seine eigenen Füße nicht sehen. Wunderbar praktische Geschichte, wie alles, was die Echmen herstellen.
Dieser Feldwebel war nicht zum Plaudern aufgelegt, wofür ich dankbar war.
Der echmenische Beamte, dem ich schließlich vorgeführt wurde, war ein älterer Mann mit einem traurigen Gesicht. Ja, sagte er, soweit man wisse, entspräche der Bericht den Tatsachen. Ein echmenischer Beauftragter habe höchstpersönlich die Ruinen von fünf roburischen Städten an der Ostküste des Freundlichen Meeres gesehen, was so weit westlich lag, wie die Echmen zu gehen bereit gewesen waren, und seine Quellen würden den sashanischen Bericht in jeder Einzelheit bestätigen. Soweit es die Echmen betraf, existierten die Robur nicht mehr.
»Abgesehen von Euch«, fügte er hinzu.
Ich sah ihn an.
»Euer Botschafter«, fuhr er fort, »hat politisches Asyl beantragt, das ihm zu gewähren wir uns jedoch außerstande sahen. Er hat sich das Leben genommen. Eure beiden Gesandtschaftskollegen aus Robur sind ebenfalls tot. Sie haben den Fehler begangen, sich auf der Straße blicken zu lassen. Ich vermute, die Neuigkeit dessen, was geschehen ist, hat die breite Öffentlichkeit erreicht, und die Robur …« Er bedachte mich mit einem bekümmerten Lächeln. »Sie waren bei unserem Volk noch nie sehr beliebt.«
Ich öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus.
»Ich habe«, sprach er weiter, »ein offizielles Gesuch von einer der anderen Botschaften erhalten, in dem darum gebeten wird, Euch als Übersetzer in ihren Personalstab überführen zu lassen. Wenn Ihr den Posten akzeptiert, werdet Ihr natürlich volle diplomatische Privilegien genießen. Ich habe nicht die blasseste Ahnung, warum sie Euch wollen. Doch ich sollte Euch darauf hinweisen, dass Ihr ohne Euren diplomatischen Status als nicht registrierter Ausländer eingestuft werdet und nicht länger unter dem Schutz des Gesetzes steht.« Er hielt inne und warf mir die Art von Blick zu, die man wirklich nicht auf sich ziehen will, niemals. »Wollt Ihr die Stelle oder nicht?«
»Ich will sie.«
Er nickte dem Feldwebel zu, der vortrat, den schrecklichen Kragen aufschloss und meine Hände losband. »In diesem Fall«, sagte der Beamte, »schlage ich vor, dass Ihr Euch bei Euren neuen Herren meldet, bevor sie es sich anders überlegen.«
»Selbstverständlich«, beteuerte ich. »Wer …?«
Er sagte es mir.
Verdammt, es wurde immer schlimmer.
»Es gibt bei uns diese ausgesprochen blöde Tradition«, erklärte sie mir. »Wenn dir jemand das Leben rettet, gehört deine Seele für neun aufeinanderfolgende Wiedergeburten ihm, es sei denn, man kann ihn seinerseits retten. Ich persönlich halte das für Schwachsinn, aber man kann nie wissen.«
Zumindest kannte ich ihren Namen, auch wenn es mehr gekostet hätte, als mein Leben wert war, ihn auszusprechen. »Danke«, murmelte ich.
»Nicht der Rede wert. Ich denke, ich werde Euch meinem Onkel geben«, fuhr sie fort. »Er sammelt Seltenheiten und Einzelstücke. Im Moment ist, soweit ich das einschätzen kann, ein Robur so ziemlich das Seltenste und Einzigartigste, was man sich nur vorstellen kann.«
Um nicht in einer Welt ohne Robur leben zu müssen, hatte mein Botschafter Selbstmord begangen. Er hatte Gift genommen, wie ich später erfuhr. Nicht irgendein Gift, sondern eins für echte Kenner. Es wird aus einer unglaublich raren und kostbaren exotischen Blume destilliert, und wenn man stirbt, ist man in Trance und hat die wunderschönsten und herrlichsten Visionen. Daher hat man das Gefühl, als würde man leibhaftig in den Himmel aufsteigen, begleitet vom Klang von Harfen und Trompeten. Mit dem Gehalt eines Übersetzers würde ich jedoch zehn Jahre brauchen, um genug Geld für eine Menge anzusparen, mit der man auch nur ein Huhn töten könnte.
»Ich dachte, Ihr wollt mich als Übersetzer«, merkte ich an.
Sie nickte. »Wie viele Sprachen sprecht Ihr?«
»Ich beherrsche zwölf fließend«, berichtete ich ihr, »und kann mich in neun weiteren einigermaßen zurechtfinden.«
Ihre Augen weiteten sich. »Um Himmels willen, wie viele Sprachen gibt es denn?«
»Die offizielle Zahl liegt bei sechsundsiebzig«, antwortete ich, »aber ich glaube, dass es viel mehr sind.«
»Und Ihr beherrscht einundzwanzig davon. Das ist …«
»Nun, jetzt sind es natürlich nur noch zwanzig. Ich nehme nicht an, dass Robur noch länger zählt.«
Das war mir irgendwie herausgerutscht und trug mir einen finsteren Blick ein.
Sie war klein, selbst nach dejauzidischen Maßstäben, und nicht direkt fett, sondern eher vierschrötig und untersetzt, mit einem kantigen Gesicht und einer flachen, breiten Nase. Zudem hatte sie kräftige Hände, beinahe wie die eines Mannes, und wie alle Dejauzida jeden Quadratzentimeter entblößter Haut mit schillerndem, weißem Zeug beschmiert (hauptsächlich Kreidestaub und Schweineschmalz mit anderen Kleinigkeiten darin, damit es nicht rissig wurde und abblätterte). Das Haar trug sie zu einem Knoten auf dem Kopf frisiert, und es war in einem fast an Lavendel erinnernden Purpurblau gefärbt. Die Pfauen reichten von direkt unter ihren Augen bis hinab zu ihrem Unterkiefer. Wir nennen diese Bilder Tätowierungen, aber in Wirklichkeit sind es Narben, eingeritzt mit dem Splitter eines scharfen Feuersteins. Das macht man bei ihnen ungefähr im Alter von zwölf Jahren. Das Narbengewebe wird mit Schminke in fünf Farbtönen nachgezeichnet, jeden Morgen aufs Neue. Dazu benutzt man eine Wasserschale als Spiegel. Das Dejauzi kennt übrigens vierzehn Synonyme für gut aussehend, aber kein einziges Wort, das hübsch bedeutet. Sie war zwischen zwölf und fünfzehn. Entschuldigt, ich bin ein hoffnungsloser Fall, wenn es darum geht, das Alter von Frauen zu schätzen.
»Unsere Verhältnisse sind ein wenig beengt«, sagte sie, »daher werdet Ihr hier schlafen. Das wird Euch nichts ausmachen.« Eine Feststellung, keine Frage. »Ich weiß, es ist nicht das, woran Ihr gewöhnt seid, aber das kann ich nicht ändern.«
Es stand kein Stuhl im Raum; Nomaden sitzen auf dem Boden. Der hier war aus wunderbaren echmenischen Fliesen in allen Regenbogenfarben gefertigt, härter als Granit. »Ich komme schon zurecht«, sagte ich.
In jener Nacht bekam ich nicht viel Schlaf. Zum Teil, weil Ihre Majestät im Zimmer nebenan lag und schnarchte, dass es sich anhörte, als würde jemand Schweine schlachten, und zum Teil, weil mir so manches durch den Kopf ging. Der Raum war fensterlos und wurde nur von einer kleinen Tonlampe notdürftig erhellt, die aber schon bald erlosch. Da sie nach irgendeiner Art von Talg gestunken hatte, störte mich das nicht weiter.
Ich werde Euch einen Bericht über meinen inneren Aufruhr und meine Gefühlsqualen ersparen, obwohl ich mich, um Euch gegenüber ehrlich zu sein, immer noch in der Phase befand, in der man noch gar nichts spürt, als habe man gerade einen Tritt gegen den Kopf erhalten. Ich versuchte, eine Liste all der Dinge zu erstellen, die ich hatte tun wollen, wenn ich aus dem Dienst ausschied und nach Hause ging, was aber ja nicht mehr passieren würde. Manches davon wäre gut gewesen, wenn auch nicht alles. Nun würde ich dieses und jenes nie tun können und diesen und jenen nie wiedersehen. Auf der anderen Seite musste ich dieses und jenes nie tun und diesen und jenen nie mehr wiedersehen. Ich erinnere mich, vom Boden aufgestanden zu sein und mich aufrecht hingestellt zu haben, die Schultern nach hinten, den Kopf gerade, das Kinn nach unten – wie der Exerziermeister es uns beigebracht hatte. Ich sagte mir, dass ich immer noch derselbe war, von nun an aber alles andere vollkommen verändert sein würde. Es kam mir in den Sinn, dass diese Veränderungen – die für alles galten, nur nicht für mich – mir gewiss Probleme bereiten würden. Es wäre also das Logischste gewesen, wenn ich mich ebenfalls verändern würde. Wie genau? Unzureichende Informationen für eine fundierte Entscheidung. Der Botschafter hatte sich lieber das Leben genommen, als die Demütigung zu ertragen, jemand anderer sein zu müssen, und ich konnte eine gewisse Berechtigung darin erkennen. Andererseits gleicht der Tod nicht dem letzten Schiff, das im Herbst gen Osten fährt. Wenn man es verpasst, sitzt man mindestens drei Monate fest, bis das Wetter wieder besser wird. Der Tod aber ist bereit, zu warten. Er ist immer für einen da, wie die eigene Mutter.
Von Natur aus bin ich ein relativ fröhlicher Mensch. Unbekümmertheit ist mir angeboren. Ich finde gern in allem das Komische, wie ein Minenbesitzer, der einen ganzen Berg abträgt, um eine einzige Unze reinen Kupfers zu gewinnen. In Blemya, heißt es, gebe es winzig kleine Vögel, die sich durchs Leben schlagen, indem sie Fleischfasern aus den klaffenden Mäulern von Krokodilen picken, und mir scheint, ich bin wahrscheinlich einer davon. Die Krokodile repräsentieren hierbei das Leben. Ich bin stets bereit, es mit der Welt aufzunehmen – zwar könnte sie mir jeden Moment den Kopf abreißen, aber das ist ein Risiko, das man eingehen muss –, um ein klitzekleines Fetzchen von irgendetwas zu ergattern, das zu haben sich lohnt. Die Alternative wäre, mich zu einem Ball zusammenzurollen und nie wieder ein Wort zu sprechen. Das hat seinen Reiz, glaubt mir, aber ich bin noch nicht ganz so weit. Vielleicht morgen.
Und dass das Leben ein Spaß ist, ein absolutes Vergnügen, steht sowieso fest. Was heißen soll, dass das Leben wie ein Stein ist, in dem die Adern des Humors tief im Innern verlaufen. Ich rede über die Art von Humor, wenn jemand hinfällt oder von irgendetwas getroffen wird oder einen Skorpion in seinem Nudelgericht findet, also das, was wir alle zum Schreien komisch finden. Der mit Humor durchzogene Quarz ist das Fundament unserer Erfahrung, auf dem wir unsere Häuser und Städte bauen, wohl wissend, dass der Boden unter unseren Füßen von zwerchfellerschütternden Möglichkeiten durchsetzt ist, mit denen wir andere Menschen belustigen können – wie ein Schiffsrumpf, der von Schiffsbohrwürmern befallen ist. Eine Komödie für Beobachter, eine Tragödie für die Betroffenen. Ich selbst betrachte mich als Beobachter. Ich fliege über mein Leben hinweg wie ein Zugvogel, und ich spiele immer nur um Bohnen oder Spielsteine, nie um echtes Geld. Ich bin ein akkreditierter Diplomat meines ganz eigenen Landes und erstatte der Unendlichkeit Bericht. Meine Botschaft ist ein winziges Fleckchen Heimat inmitten der fremden Nation, in der ich zufällig geboren wurde und mein ganzes Leben verbracht habe.
Zum Teufel damit! Sie können einem nicht wehtun, wenn es einen nicht juckt, und so ist es bei mir.
Schöne Worte, die man meiner Mutter zufolge nicht essen kann. In der einen Waagschale war alles, was ich je gekannt hatte, verloren gegangen und zerstört worden, und ich war möglicherweise der einzige dunkelhäutige Mensch, der noch auf dem Antlitz der Erde übrig war. In der anderen Waagschale lagen ein neues Leben, schillernde neue Möglichkeiten, eine Anstellung (niemand hatte etwas von Bezahlung gesagt, aber treiben wir es nicht auf die Spitze) und eine mächtige Freundin am kaiserlichen Hof des Landes, das vermutlich in Zukunft das meine sein würde. Wenn man sich mit Glück und Unglück treffen kann, sagt Saloninus in den Balladen, solle man diese beiden Hochstapler gleichbehandeln. Unglück in die eine Waagschale, Glück in die andere, und das Stückchen Schnur, an dem die Waage baumelte, wurde bei mir von den pummeligen Fingern einer Vierzehnjährigen gehalten, die Pfaue über das ganze Gesicht tätowiert trug. Das brachte doch sogar die Hühner zum Lachen.
Ich sage nicht, was ich denke. Ich übersetze, was andere Leute sagen. Das ist meine Aufgabe. Was ganz gut so ist – manchmal.
2. Kapitel
Die Echmen, mögen sie gesegnet sein, sind ein Volk von Frühaufstehern. Sie beginnen den Tag mit dem fröhlichen Gehämmer auf Gongs und dem schallenden Gelächter riesiger Glocken, die die Gläubigen zum Gebet rufen. Zumindest tun sie das in den Städten. In den ländlichen Gebieten ist es wahrscheinlich anders: Das Oberhaupt der Familie stolpert in pechschwarzer Dunkelheit aus dem Bett und lässt eine Kuhglocke schwächlich scheppern oder schlägt auf einen Blechteller. Keine Ahnung. Aber überall, wo mehr als ein Dutzend Häuser stehen, beginnt der Tag mit dem abscheulichsten Lärm, genug, dass man Zahnweh davon bekommt.
Ausländischen Diplomaten wird offiziell nicht abverlangt, am Morgengottesdienst teilzunehmen, genau wie es kein Gesetz gibt, das einem ausdrücklich das Furzen verbietet, wenn man bei einem Staatsbankett das Dankgebet spricht. Seit drei Jahren hatte ich mich jeden weit vor dem Sonnenaufgang beginnenden Morgen in meine Kleider gezwängt und war durch die Tür hinaus zur Kapelle gestolpert. Der Botschafter, er ruhe in Frieden, hatte immer schon auf unserer Bank gesessen, wenn ich dort ankam, tadellos gekleidet, mit geradem Rücken und weit geöffneten Augen im Tiefschlaf. Solch ein Maß an Kultiviertheit hatte ich selbst niemals erlangen können. Die Neffen hingegen hatten in sich zusammengesackt dagehockt wie zwei Haufen schmutziger Wäsche, aus der man versäumt hatte, den Inhalt zu entfernen.
Um ein Haar wäre ich auf das zugegangen, was früher »unsere Bank« gewesen war, dann aber kam mir der Gedanke, dass ich nicht wusste, welche die Bank der Hus war. Aber, überlegte ich, eine Reihe von Menschen mit kreideweißen Gesichtern voller Pfauentätowierungen würde kaum zu übersehen sein. Und ich hatte recht.
Es waren insgesamt neun, und sie alle saßen vollkommen reglos und mit fest geschlossenen Augen da. Später fand ich heraus, dass sie dies taten, um spirituelle Kontamination zu vermeiden. Wenn sie die abstoßenden Götzen und die widerwärtigen Priester in ihren grässlichen Gewändern nicht sahen, konnten sie auch nicht von ihnen besudelt werden. Ich ließ mich am Rand der Bank neben einem fetten Mann nieder. Falls er mich bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken.
Ich mag die Liturgie der Echmen tatsächlich ganz gern. Die Musik ist langsam und beruhigend. Die gesungenen Gebete sind wirklich ziemlich schön, wenn man innehält, um auf die Worte zu lauschen, und die theologische Botschaft ist so lasch und vage, dass man sich kaum beleidigt fühlen kann, selbst wenn man ein fanatischer Eiferer ist. Man braucht kein Wort zu sagen, bis auf »So sei es« am Ende der Absätze.
Natürlich sind auch die Kunstwerke an den Wänden von betörender Schönheit.
Die Morgengebete dauern gut zwei Stunden. Wenn man nichts Dringendes vorhat – und kein rangniederer diplomatischer Attaché hat jemals etwas Dringendes vor –, ist es eine durchaus angenehme Art, sich die Zeit zu vertreiben.
Meine Nachbarn (meine neuen Landsleute, Gott steh mir bei) schienen es aber nicht im Mindesten zu genießen. Es zeugt von sehr schlechten Manieren, sich während des Gottesdienstes umzusehen. Eigentlich soll man dasitzen und den Blick entweder fest auf die Altarflamme gerichtet halten oder auf das Gesicht des Priesters, und das vom Moment der Ankunft bis zum Aufbruch. Daher konnte ich nicht sehen, was sie taten, aber sobald der Priester das Einführungsgebet rezitierte, begann der fette Mann neben mir zu summen. Ich glaube nicht, dass es eine Melodie war oder auch nur der Versuch einer solchen. Es war einfach ein Laut, mit dem er verhindern wollte, dass er hörte, was der Priester sagte. Wenn im Gottesdienst eine Pause entstand, hörte der fette Mann auf zu summen. Wenn der Priester wieder anfing, fing auch er an.
Nichtgut, dachte ich. Die Echmen sind vom Kopf bis zu den Zehen kultiviert, künstlerisch veranlagt, intellektuell, spirituell und höflich und einen ganzen Haufen anderer guter Dinge. Umgänglich sind sie allerdings nicht. Ja, diplomatische Immunität, die haben sie erfunden, und sie halten sich sowohl an den Geist des Gesetzes wie auch an dessen Worte, wann immer es opportun ist, aber es gibt Grenzen. Ein fetter, kreidegesichtiger Ausländer, der absichtlich das göttliche Wort mit schrägen Bienenimitationen übertönt, musste diesen Grenzen schon ziemlich nahekommen. Und ich saß neben ihm. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mir einen anderen Platz gesucht, wäre da nicht die unangenehme Erkenntnis gewesen, dass diese Menschen – diese Witzfiguren – alles waren, was zwischen mir und meinem Tod mittels eines Hagels von Steinen und Ziegeln stand.
Ich bin einmal zufällig von einem Stein am Kopf getroffen worden. Damals war ich die Straße entlanggegangen, und ein Kutschpferd hatte zufällig mit seinen Hufen einen losen Pflasterstein durch die Luft katapultiert, mir mitten zwischen die Augen. Ich erinnere mich bis auf den heutigen Tag an den Schmerz, eine unerträgliche Qual, tief im Knochen. Ein Tod durch Steinigung würde wahrscheinlich schlimmer sein. Ich blieb, wo ich war, und versuchte, unsichtbar zu sein.
Zwei der grundlegenden Lehrsätze des echmenischen Glaubens sind: Liebe deinen Nächsten und vergib deinem Feind. Die Echmen sind realistisch genug zuzugeben, dass dies Dinge sind, nach denen man eher streben sollte, als sie tatsächlich zu tun, aber es ist ein hehres Ziel, das zu erreichen ich in diesem Moment für absolut unmöglich hielt. Ich hatte keine Ahnung, wer mein Feind war, und wusste nur, dass er mein ganzes Volk ausgelöscht hatte, sodass ich nun auf die Barmherzigkeit meines Nebenmanns angewiesen war, den niemand lieben konnte, niemals. Ich versuchte, an andere Dinge zu denken – Sommerwiesen, Pferderennen, die Neun Grundlegenden Annahmen in Saloninus’ Sittenlehre, Schafe, die über eine niedrige Mauer sprangen –, aber es gelang mir nicht. Mein Kopf war zur Gänze beschäftigt mit dem seltsamen Hybrid aus echmenischem Choralgesang und dem Gesumme des fetten Mannes. Es war schlimmer als Gerstenstroh hinten im Kragen, und ich konnte nur dasitzen und leiden.
Endlich, als ich es schon längst nicht mehr ertragen konnte, sprach der Priester den Segen und führte die niederen Geistlichen in einer Prozession ins Kirchenschiff, und wir durften gehen. Ich sprang auf.
Eine Hand packte mein Handgelenk und zerrte mich wieder hinunter. Der fette Mann hatte die Augen geöffnet und sah mich an.
Ihm schien nicht zu gefallen, was er sah. »Seid Ihr der Übersetzer?«
»Ja.«
»Oh, um Himmels willen.«
Er fuhr fort, mich finster anzusehen, und meine Finger wurden taub, so fest hielt er mein Handgelenk gepackt. Ich öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder.
»Kommt mit«, sagte er. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Ich nenne ihn den »fetten Mann«, weil er fett war. Wirklich fett. Und riesig.
Die aufgeklärten, kultivierten Gesellschaften des hohen Nordens, die ihre ganze Zeit damit zu verbringen scheinen, schnodderige Kommentare über die Bücher anderer zu schreiben, vertreten seit einiger Zeit den Standpunkt, dass man, wenn jemand fett ist, dies nicht erwähnen sollte. Keinesfalls sollte man die Fettleibigkeit einer Person in Begriffen ausdrücken, die als Kritik oder Missbilligung aufgefasst werden konnten. Damit habe ich kein Problem. Andere zu verhöhnen und ihres Aussehens wegen zu verspotten, mag eine grundlegende menschliche Neigung sein, aber dasselbe gilt für Lust und das Zerschmettern von Knochen. Wir sollten danach trachten, besser zu sein, als wir geschaffen wurden. Na schön.
Doch der fette Mann wäre fuchsteufelswild geworden, wenn ich versucht hätte, seine gewaltige Körperfülle zu verharmlosen. Unter den Dejauzida, einem Volk, das häufig nicht genug zu essen hat, weist Fettleibigkeit jemanden als überlegen aus. Wenn Soundso aussieht wie ein Zweihundert-Liter-Fass, dann weiß er offensichtlich, woher er seine nächste Mahlzeit bekommt, demnach muss er reich und mächtig sein, also seht zu, dass ihr tut, was er sagt, und verärgert ihn nicht. Man kann es mit einem Blick erkennen, und so kommt es gar nicht erst zu bedauerlichen Fehlern. Infolgedessen stopfen sich wohlhabende Dejauzida voll wie Gänse im Herbst, und jene, die danach streben, aber nicht über die nötigen Mittel verfügen, tragen gepolsterte Kleidung und wickeln sich unter ihrem Mantel Sackleinen um den Bauch. Zahlreiche Frauen und einige der Männer stopfen sich die Wangen mit Filzstückchen aus, um den Effekt von Schweinebacken zu erzielen, und sie tragen kunstvoll gestaltete Kragen, verborgen unter einem Schal, die ihnen ein prächtiges Doppelkinn bescheren. Die Türpfosten von dejauzidischen Zelten stehen viel weiter auseinander als nötig, um unterschwellig den Eindruck zu wecken, der Besitzer wäre von prächtiger Leibesfülle, und ihre Stühle sind gewaltig, um das angebliche Gewicht ihrer Besitzer zu tragen. Wie die hochnäsigen Nordländer, wie wir alle, wollen die Dejauzida besser sein, als sie erschaffen wurden. In ihrem Fall ist Qualität unmittelbar gleichbedeutend mit Quantität. Auch das folgt einer Art von Logik, schätze ich.
Als Übersetzer werte ich nicht. Das käme der Übersetzung nur in die Quere und würde zu Ungenauigkeiten und Irrtümern führen. Für mich ist es eine Frage von Bedeutungsgleichheit. Wenn das Wort schön in ihrer geistigen Vorstellung fett bedeutet, dann ist das nichts, was zu werten wäre. Ich merke mir das lediglich für die Zukunft. Meine eigene Meinung zu dem Thema, wenn ich denn eine habe, ist für niemanden von Nutzen, schon gar nicht für mich. Also zum Teufel damit.
»Meine Nichte«, sagte der fette Mann, »hat Euch mir geschenkt.«
»Ah.«
Er musterte mich finster. »Vielesser?«
»Wie bitte?«
»Esst Ihr viel?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Er nickte. Ich hatte die richtige Antwort gegeben. Er betrachtete mich. »Diese Kleider sollten noch ein ordentliches Weilchen halten, wenn Ihr darauf achtgebt. Was macht Ihr damit? Hängt Ihr sie nachts auf?«
»Tatsächlich lege ich sie unter die Matratze.«
Er starrte auf meine Schuhe. »Die kann man noch jahrelang tragen«, stellte er fest. »Zeigt mir die Sohlen.«
Ich zeigte sie ihm. »Entschuldigung«, sagte ich.
»Wir verwenden kein Münzgeld«, bemerkte er, ohne mich zu beachten, »daher werdet Ihr nicht bezahlt. Euer tägliches Einkommen besteht aus einer Schale Reis, zwei Fladenbroten aus Weizen, knapp sechzig Gramm Käse und entweder Weintrauben oder einem Apfel.« Er zögerte. »Es ist Bier da, falls Ihr es wollt, aber ich glaube nicht, dass Ihr daran Gefallen findet. Ist wahrscheinlich nicht nach Eurem Geschmack. Ihr könnt in dem kleinen, runden Raum, den wir nicht benutzen, auf dem Boden schlafen. Habt Ihr eine Decke?«
»Ja.«
Wieder nickte er, langsamer diesmal. »Wir sprechen alle Echmen«, sagte er. »Ich selbst spreche Sashan und Rosinholet, und einer der anderen beherrscht Vesani, daher brauchen wir Euch in Wirklichkeit gar nicht.«
»Ich verstehe.«
Er runzelte die Stirn. »Aber«, fuhr er fort, »wir halten es für keine schlechte Idee, so zu tun, als könnten wir nicht verstehen, was die Arschlöcher reden, auch wenn wir es können, daher werden wir Euch mitnehmen, damit Ihr bei Besprechungen anwesend seid und Euer Ding durchzieht. Im Moment stellen sie die Übersetzer zur Verfügung, daher werden wir behaupten, wir würden ihren Übersetzern nicht mehr trauen und hätten uns deshalb einen eigenen mitgebracht. Ein Punkt für uns, versteht Ihr. Bei diesen Arschlöchern dreht sich alles darum, zu punkten.«
»Kapiert.«
Er seufzte. »Ich habe die Robur nie besonders gemocht«, erklärte er, »und dass Ihr jetzt alle tot seid, bekümmert mich nicht im Mindesten. Meiner Meinung nach ist die Welt ohne Euch besser dran.«
»Ist vermerkt«, antwortete ich.
Er funkelte mich an, als wäre ich ein Juckreiz, an den er gerade nicht zum Kratzen herankam. »Nur damit Ihr wisst, wo Ihr steht. Meine Nichte ist der Meinung, Ihr hättet ihr das Leben gerettet, also stehen wir in Eurer Schuld. Aber je weniger ich von Euch sehe, desto besser, und das gilt auch für den Rest von uns. Wenn wir Euch sehen wollen, schicken wir den Jungen zu Euch. Den Rest der Zeit haltet Euch anderswo auf. Verstanden?«
»Klar und deutlich«, antwortete ich.
»Großartig. Und setzt Euch nie wieder beim Gebet oder bei den Mahlzeiten oder bei sonst irgendetwas zu uns.«
»Kapiert.«
»Und putzt Euch hin und wieder die Schuhe, um Himmels willen. Wir spucken kein Geld für neue aus.«
Ich nickte.
»Dann wäre das ja geklärt. Was habt Ihr noch gesagt, wie Ihr heißt?«
»Felix. Das ist Robur für vom Glück begünstigt.«
Er grinste. »Guter Name für Euch«, stellte er fest. »Und jetzt verzieht Euch.«
Ich kehrte in mein Zimmer zurück – meine alte Dachkammer – und fand sie leer vor.
Ein wenig schmerzlich. All meine Bücher waren dort gewesen, ganz zu schweigen von meiner Kleidung und einigen wenigen, aber kostbaren Kleinigkeiten, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, darunter das, was ich am meisten liebte: meinen Bogen.
Ich konnte die Logik dahinter verstehen. Natürlich echmenische Logik, die beste auf der Welt. Da das roburische Volk nicht länger existierte, konnte es auch keine diplomatischen Repräsentanten haben, genau wie etwas, das nicht da ist, keinen Schatten haben kann. Demzufolge war das Zimmer, das ich bewohnt hatte, ein unbewohntes Zimmer, und alles, was sich darin befunden hatte, gehörte niemandem. Jedweder herrenlose Besitz im Reich gehört dem Kaiser. Da aber selbst Seine göttliche Majestät nur eine begrenzte Anzahl von Dingen benötigt, wird in der Praxis überschüssiger Besitz bei Auktionen versteigert, und der Erlös fließt in die Schatzkammer.
Ich machte mich auf den Weg zu Oio, meinem lystragonischen Kumpel, der nicht erfreut war, mich zu sehen.
»Geh weg«, sagte er.
»Sobald du mir etwas erklärt hast.«
Er verzog das Gesicht. »Du kapierst es einfach nicht, hm? Du bist eine Unperson. Ich kann mich nicht mit dir blicken lassen.«
»Schön«, sagte ich, »je eher du mich loswirst, desto besser.«
Er tat mir leid. »Was willst du?«
»All meine Sachen werden bei der nächsten Auktion versteigert«, erklärte ich. »Wenn du sie mir wiederbeschaffst, werde ich nie wieder mit dir sprechen.«
»Das kann ich nicht tun.«
»Na schön«, sagte ich. »In dem Fall erzähl mir, wann die Auktion stattfinden wird, dann gehe ich hin und kaufe mir selbst die Sachen zurück. Nur habe ich kein Geld, daher wirst du mir welches leihen müssen.«
Er schloss die Augen. Er hatte nichts falsch gemacht, doch alles würde am Ende seine Schuld sein. »Ich weiß, wo sie die Liste der beschlagnahmten Besitztümer aufbewahren. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber das war’s dann. Wenn du hier je wieder auftauchst, werde ich die Wachen rufen.«
Ich lächelte ihn an. »Es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen.«
»Verpiss dich und fall tot um.«
Doch der Bogen war es wert. Ich nehme nicht an, dass Ihr auch nur das mindeste Interesse daran habt, daher werde ich Euch nicht mit Einzelheiten langweilen. Oder – doch, tatsächlich werde ich genau das tun. Aber ich werde nicht gekränkt sein, wenn Ihr die nächsten zwei oder drei Absätze überspringt. Fangt einfach wieder an zu lesen ab: Später suchte ich …
Mein Bogen ist ein Verbundbogen mit einhundertfünfzehn Pfund Zuggewicht, einem Kern aus Ahorn, einem Bauch aus Gazellenhorn und einem Belag aus Wildeselsehne. Die Wurfarme sind aus stark zurückgebogenem Zuckerahorn mit Knochenbrücken, die Bogensehne besteht aus zwanzig Lagen Seide, vorgedehnt, mit Leinen an der Nocke und den Sehnenöhrchen. Mit einer Länge von sechsundfünfzig Zoll von Nocke zu Nocke ist der Bogen länger als heutzutage modisch, aber mir gefällt die zusätzliche Länge wegen der Genauigkeit, Stabilität und dem geschmeidigen Lösen. Er sendet einen Sechshundert-Grain-Pfeil über zweihundert Meter weit, aber ohne einen dabei komplett durchzuschütteln, und ich kann damit tatsächlich etwas treffen. Er hat eine Auszugslänge von einunddreißig Zoll, und wenn man einmal den Dreh raushat, ist es kein Problem, ihn aufzuspannen. Wenn man den Dreh nicht raushat, springt das Ding hoch und schlägt einem ein Auge aus, aber das bedeutet, dass andere Leute ihn nicht ständig ausleihen wollen, was meiner Meinung nach ein Vorteil ist. Unbespannt lässt er sich so weit in die andere Richtung zurückbiegen, dass sich die Wurfarmspitzen berühren, und dann bildet er praktisch einen Kreis. Ich habe ihn vom drittbesten Bogenmacher der Stadt für mich anfertigen lassen, nachdem ich mit neunzehn Jahren eine unerwartete Erbschaft gemacht hatte. Als ich ihn abholte, sagte mir der Mann, er habe in den dreißig Jahren in diesem Gewerbe noch nie einen anspruchsvolleren, nervigeren und pingeligeren Kunden gehabt als mich. Ich wertete das als Kompliment.
Ich könnte Euch noch viel mehr darüber erzählen, wenn ich wollte – sein weiches Auszugsverhalten, dass der Bogen bis zu meiner Auszugslänge absolut nicht zumacht, seine herausragende Reichweite, die ich der Geometrie der Wurfarme zuschreibe –, aber das werde ich nicht tun. Warum sollte ich? Ihr habt mir nie etwas Böses angetan. Lassen wir es dabei bewenden, dass der Bogen die einzige schöne Sache ist, die ich je besessen habe, meine einzige Begegnung mit Perfektion.
Meine Familie war außer sich vor Zorn, dass ich all das Geld für etwas ausgegeben hatte, was im Wesentlichen ein Spielzeug war, aber das kümmerte mich nicht. Aus meiner Sicht verstanden sie nicht, worum es ging. Ich hatte dafür gesorgt, dass dieser durch und durch perfekte Gegenstand erschaffen worden war, und er war durch eine Liebe mit mir verbunden, die sich nicht in schnöde Worte zwängen ließ, und jetzt wollte ich ihn wiederhaben. Genug gesagt, denke ich.
Später suchte ich nach dem Raum, von dem der fette Mann mir erzählt hatte und in dem ich schlafen würde. Sobald er mir gesagt hatte, er sei rund und sie würden ihn nicht benutzen, wusste ich, wo ich suchen musste und wo ich ihn finden würde.
Die Hus hatten ihre Quartiere am gegenüberliegenden Ende des Nordflügels des Palasts, direkt unter dem Wachturm, sodass der Boden über ihrem Zimmer unausweichlich rund war. Und sie benutzten den Raum dort nicht, weil darin der Aborterker ist. Für den Fall, dass Ihr nicht vertraut seid mit echmenischer Militärarchitektur: Ein Abort ist der Ort, an den man geht, um zu pinkeln. Im Boden befindet sich eine Rinne, die zu einem Rohr durch die Mauer führt.
Das Erste, was ich sah, war mein Bogen. Er lag auf dem Boden des Raums mit dem Aborterker in einem seidenen Beutel, und an den Beutel war eine Notiz geheftet: eine Freigabeerklärung des Schatzamts, auf der bestätigt wurde, dass der beigefügte Gegenstand irrtümlich durch den Gerichtsdiener des Schatzamts beschlagnahmt worden sei, weil man gedacht habe, es handele sich um den persönlichen Besitz eines Mitglieds der roburischen Delegation, der nun die Akkreditierung entzogen worden sei. Nachdem die Wahrheit ans Licht gekommen sei – dass der Gegenstand als ein diplomatisches Geschenk des roburischen Kaisers an die Hus gedacht gewesen, aber irrtümlich einem jüngeren Mitglied der roburischen Gesandtschaft überantwortet worden sei –, freue es den Schatzmeister, den Gegenstand seinen beabsichtigten Empfängern zukommen zu lassen, und er entschuldige sich für eventuelle Unannehmlichkeiten.
Die Freigabeerklärung war wunderschön in der authentischen Kalligrafie der Beamtenschaft geschrieben und mit etwas besiegelt, das fast mit Sicherheit das Siegel des Schatzamts war, nur dass irgendein Narr es zweimal in das heiße Wachs gedrückt hatte, sodass einige der Einzelheiten ein wenig verschwommen waren.
Der Rest meiner Sachen war nirgends zu sehen, aber man kann nicht alles haben. Es genügt, nur eine einzige Sache zu haben, wenn diese etwas Perfektes ist.
Oio ist die Abkürzung für Oionoisi de’Pasi. Ich glaube, der Clan der de’Pasi ist im südlichen Lystragonien eine große Nummer. Wenn dem so ist, wäre das für Oio bedauerlich, da die Lystragoner entschiedene Verfechter des Grundsatzes noblesse oblige sind. Lystragonien ist ein grauenvoller Ort, an dem es immer glühend heiß ist. Die Luftfeuchtigkeit ist mörderisch. Während eines Drittels des Jahres regnet es unablässig, und zwei Drittel des Jahres regnet es überhaupt nicht. Lystragonien besteht überwiegend aus dicht bewaldeten Bergen. Im größten Teil des Landes kann man weder Getreide anbauen noch Vieh halten, daher leben die Lystragoner vom Handel. Sie haben nur zwei Exportartikel. Einer davon sind die Schwanzfedern gewisser riesiger, unglaublich bunter Vögel, von denen es einst jede Menge im Land gegeben hat, die aber aus irgendeinem Grund immer seltener wurden, sodass es schrecklich schwer war, welche zu fangen. Der andere Exportartikel Lystragoniens sind Lystragoner. Zweimal im Jahr treiben sie ungefähr tausend ihrer besten und intelligentesten jungen Männer und Frauen zusammen und tauschen sie gegen siebentausend Hundertneunzig-Liter-Krüge mit Gerstenmehl ein. Das ist aus ihrer Sicht ein gutes Geschäft, da die Alternative eine massive Hungersnot wäre. Sie machen das schon seit einer ganzen Weile so und haben es bis ins Letzte durchorganisiert. Man kann sich nicht vor der Einberufung drücken, ganz gleich, welch vornehmem und einflussreichem Clan man angehört; aber wohlhabendere Familie bilden ihre Erstgeborenen zu Beamten und Schriftgelehrten aus, sodass sie auch in der Fremde nicht als Feldarbeiter oder im Kohlebergwerk enden. Ein ausgebildeter Lystragoner ist daher wirklich gründlich ausgebildet, und Oio war klug und gelehrt, selbst für einen Lystragoner. Infolgedessen war er am kaiserlichen Hof von Echmen gelandet, wo er die letzten fünf Jahre damit verbracht hatte, sich unentbehrlich zu machen. Er ist ein Jahr jünger als ich, ein kräftiger Mann und fast so groß und breit wie ein Robur, mit sandfarbener Haut, gelocktem rotem Haar, blauen Augen und Sommersprossen.
Oio war mein Freund. Er wollte es nicht sein. Ihm gefiel mein Name nicht – Felix, was vom Glück begünstigt bedeutet.
Die Lystragoner haben strenge Ansichten zum Glück. Sie finden, dass vom Glück begünstigte Menschen wie ein Schiffsbug durch eine im Wesentlichen glücklose Welt rauschen, wobei sie Umstehende mit einer Bugwelle ätzenden Pechs überschwemmen und daher als Quelle von Gefahr und Kummer am besten gemieden werden.
Ich wies Oio stets auf meinen unglaublichen Mangel an Glück hin, denn wäre es anders, säße ich nicht in dieser Klemme. Er erwiderte darauf immer, nur der größte Glückspilz auf Erden könne bei all dem Unglück, das mir widerfuhr, noch am Leben sein, und deshalb sei ich eine eindeutige und unmittelbare Gefahr für alle Menschen um mich herum. Dementsprechend hätte er es vorgezogen, mich zu meiden wie die Pest. Doch die Umstände verschworen sich dazu, aus uns wahre Freunde zu machen, unsere Seelen mit stählernen Ringen aneinandergekettet, ob es uns jeweils gefiel oder nicht (davon werde ich Euch ein andermal erzählen). Dass die Umstände sich verschworen, ist natürlich einfach eine andere Bezeichnung für Glück, daher haben er und die anderen Lystragoner wahrscheinlich recht. Als würde das eine Rolle spielen.
»Du hast es mir versprochen«, sagte er. »Du hast mir versprochen, dass ich dich nie wiedersehen würde, weder in dieser Welt noch in der nächsten. Du hast mich belogen.«
Ich mag Oio. »Nur noch eine einzige kleine Gefälligkeit«, bat ich, »dann werde ich dich in Ruhe lassen. Wirklich.«
»Was?«
»Ich brauche eine Zutrittsgenehmigung für die Bibliothek.«
Er sah mich mit einem Ausdruck an, der an Ehrfurcht grenzte. »Eins muss man dir lassen«, sagte er, »du bist kein Amateur. Willst du dich nicht stattdessen mit den Kronjuwelen begnügen? Oder um die Hand der Kronprinzessin bitten?«
Die echmenische Palastbibliothek ist die größte und beste der Welt. Doch der Zugang zu ihr wird streng reguliert. Die Zutrittsgenehmigung ist eine Jadefigur in der Form eines Reihers, so kunstvoll geschnitzt, dass man sie unmöglich fälschen kann; warum ein Reiher, kann ich nicht sagen. Um sie zu bekommen, muss man ein Empfehlungsschreiben vom Kantor seines Heimatklosters oder seiner Universität dem Obersten Aufsichtsbeamten der kaiserlichen Kapelle vorlegen, der darüber entscheidet, ob der Antrag an das Oberste Konzil des Kardinalskollegiums weitergeleitet wird, das zweimal im Jahr zusammentritt, um die Zutrittsgenehmigungen auszustellen. Im Allgemeinen wird etwa einer von fünfzig Anträgen genehmigt. Oder man hat einen Freund in der Schreibstube, der einem eine Zutrittsgenehmigung stiehlt.
»Und wenn ich ›Bitte!‹ sage?«
»Na schön«, antwortete Oio erschöpft, »lass uns einfach mal für einen Moment annehmen, ich stünde dir gegenüber in irgendeiner unglaublichen Dankesschuld, weil du mich davor gerettet hättest, von einem Bären gefressen zu werden, oder du hättest meine ganze Familie vor Kopfgeldjägern in Sicherheit gebracht. Wie kommst du auf die Idee, ich könnte eins dieser Dinger in die Pfoten kriegen, selbst wenn mir der Sinn danach stünde, es zu versuchen? Ich arbeite nicht einmal im selben Gebäude!«
»Weil du wunderbar intelligent und einfallsreich bist und alle dich mögen.«
Der Blick, mit dem er mich bedachte, sollte wahrscheinlich meine Haut verschrumpeln lassen und den Zahnschmelz von meinen Zähnen ätzen, aber ich bin daran gewöhnt, so angesehen zu werden. »Wozu, in Gottes Namen, willst du überhaupt so eine Genehmigung haben?«
»Ich hätte gern etwas zu lesen.«
Er musterte mich, als wäre ich eins dieser Rätsel in Märchengeschichten: Wenn er es löste, würde er die Prinzessin bekommen, wenn er die falsche Antwort gab, würde man ihn in die Schlangengrube werfen. »Du bist wirklich speziell, weißt du das?«
»Vielen Dank.«
