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Die Stadt steht kurz davor, belagert zu werden. Es gibt nichts mehr zu essen und auch Waffen sind Mangelware. Darüber hinaus hat der Feind geschworen, jeden einzelnen Einwohner abzuschlachten. Die Stadt braucht also ein Wunder, doch sie hat nur Orhan. Als Ingenieur hat Oberst Orhan mehr Erfahrung im Brückenbau als in der Kriegsführung. Außerdem ist er ein Betrüger und Lügner und hat ein ernsthaftes Problem mit Autorität. Mit anderen Worten: Er ist wie geschaffen für den Job! Sechzehn Wege, eine befestigte Stadt zu verteidigen, ist die Geschichte von Orhan, dem Sohn von Siyyah Doctus Felix Praeclarissimus, und über die Große Belagerung. Niedergeschrieben allein zu dem Zweck, dass die Taten und Leiden großer Männer niemals vergessen werden. K. J. Parker aka Tom Holt ist eine der ganz großen Stimmen der humorvollen Fantasy.
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ins Deutsche übertragen von Peter Bondy
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright ©2019, 2021 by One Reluctant Lemming Company Ltd. All rights reserved.
Cover design by Lauren Panepinto. Cover image by Shutterstock
Cover © 2019 Hachette Book Group, Inc.
Titel der Englischen Originalausgabe: »Sixteen Ways to Defend a Walled City« by K. J. Parker, published in Great Britain in 2019 by Orbit an imprint of Little, Brown Book Group, London, UK.
Deutsche Ausgabe 2021 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Peter Bondy
Lektorat: Claudia Kern
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDPARKE001E
ISBN 978-3-7367-9855-7
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, Oktober 2021, ISBN 978-3-8332-4105-5
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PaniniComicsDE
Für Constantia und die ›Stalkers‹ – in Dankbarkeit
Dies ist die Geschichte von Orhan, Sohn des Siyyah Doctus Felix Praeclarissimus, und über die Große Belagerung. Niedergeschrieben allein zu dem Zweck, dass die Taten und Leiden großer Männer niemals vergessen werden.
1. Kapitel
Ich war geschäftlich in Classis. Ich benötigte 60 Meilen Hanftau in der Stärke 4 Zoll, Klasse 2 – ich baue Pontonbrücken –, und das gesamte militärische Tauwerk im Reich läuft über Classis. Man muss einen förmlichen Antrag an den Bereichsversorgungsdienst stellen, der ihn dann an den zentralen Versorgungsdienst schickt, der ihn wiederum an den Generalschatzmeister weitergibt, der ihn genehmigt und an den Bereichsversorgungsdienst zurücksendet, der ihn dann an den zentralen Versorgungsdienst schickt, von wo er nach Classis geht, wo dann der Quartiermeister sagt: Tut mir leid, Tauwerk ist aus. Oder man kann in Herennis einen geschickten Fälscher anheuern, der eine Kopie des Schatzamtssiegels anfertigt, mit dem der Antrag dann abgestempelt wird. Damit geht man persönlich zum Büro des stellvertretenden Quartiermeisters in Classis, der den Antrag einem leitenden Beamten übergibt, der einige Zeit in den Schieferbrüchen verbracht hätte, wenn Ihr nicht vor einigen Jahren ein paar Dokumente aus einer Akte entfernt hättet. Natürlich habt Ihr die Dokumente sofort verbrannt, nachdem Ihr sie an Euch genommen hattet, aber das weiß er nicht, und so kommt man bei der Armee an 60 Meilen Hanftau.
Ich nahm den Weg von Traiekta nach Sirte über Land, über eine meiner Brücken (ein Schnellschuss, den ich vor fünfzehn Jahren gebaut hatte – nur für einen Monat gedacht, aber immer noch da und immer noch der einzige Weg über den Lusen, es sei denn, man wollte einen Umweg von 26 Meilen über die Pons Jovianis in Kauf nehmen), dann durch den Pass hinunter auf die Küstenebene. Wenn man durch den Pass kommt, hat man eine wunderbare Aussicht auf diesen riesigen, flachen und grünen Flickenteppich, gefolgt vom Blau der Bucht. Und Classis. Angelegt als geometrisch perfekter Stern, bei dem sich drei Spitzen über Land erstrecken und drei hinaus ins Meer ragen. Wenn man den Entwurf genauer analysiert, wird schnell deutlich, dass er einfach praktisch und zweckmäßig ist und direkt aus dem Handbuch für Kriegskunst stammt. Darüber hinaus kann man, sobald man in die Ebene hinabsteigt, die Form nicht mehr erkennen, es sei denn, man ist zufällig Gott. Bei den drei seewärtigen Armen handelt es sich um konisch zulaufende Stege, während die landseitigen Gegenstücke zu Verteidigungsbastionen ausgebaut wurden, deren Zweck darin besteht, die drei Haupttore mit Geschützfeuer überziehen zu können. Mehr noch, als Classis vor neunzig Jahren gebaut wurde, stand ein dichter, verwilderter Wald im Weg (der während des Bündniskriegs für Holzkohle gefällt wurde und jetzt nur noch aus Stümpfen, Sümpfen und Brombeergestrüpp besteht), sodass man es vom Pass aus nicht hätte sehen können und diese prachtvolle Zurschaustellung kaiserlicher Macht daher stets ein reiner Zufallsfund war. Als ich die Wegstation am Meilenstein 2776 erreichte, konnte ich nichts von Classis sehen, obwohl es natürlich kinderleicht zu finden ist. Man muss nur der pfeilgeraden Militärstraße auf dem zwei Meter hohen Damm folgen, und schon ist man da.
Beachtet bitte, dass ich nicht mit der Militärpost gereist bin. Als befehlshabender Oberst des Ingenieurregiments steht mir das zwar zu, aber da ich ein Milchgesicht bin (man soll uns nicht so nennen, trotzdem tut es jeder, was mich aber nicht stört, da ich Milch mag), wird akzeptiert, dass ich es nicht tue, schon wegen der Qual, die ich den Kaiserlichen zufügen könnte, die sich dann sechzehn Stunden pro Tag mit mir in eine Kutsche quetschen müssten. Die Robur sind stolz auf ihre guten Manieren, und ein Milchgesicht ein Milchgesicht zu nennen, gilt als vorurteilsbehaftetes Gebaren und kann einen vors Kriegsgericht bringen. Nur fürs Protokoll: Niemand wurde bisher deswegen je angeklagt, was beweist (oder nicht?), dass Kaiserliche in keiner Weise voreingenommen oder bigott sind. Andererseits hat man Dutzende von Hilfsoffizieren vor Gericht gestellt und abkassiert, weil sie einen Kaiserlichen eine Blauhaut genannt haben. Daran sieht man, wie böse und verachtenswert meine Leute tatsächlich sind.
Nein, ich habe die gesamte viertägige Reise auf dem Karren eines zivilen Frachtführers hinter mich gebracht. Die Militärpost, die ständig in Betrieb ist und alle zwanzig Meilen an Wegstationen die Pferde wechselt, braucht etwas mehr als fünf Tage, aber mein Karren hatte Fisch geladen. Ein ganz wunderbarer Anreiz zur Eile.
Der Karren rumpelte zum mittleren Tor, und ich sprang herunter und humpelte zu dem Wächter, der mich finster anblickte und dann das Rührei an meinem Kragen bemerkte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde mich verhaften, weil ich mich als Offizier ausgab (was nicht das erste Mal gewesen wäre). Ich ging an ihm vorbei, sprang aber dann zur Seite, um nicht von einem Wagen von der Größe einer Kathedrale überfahren zu werden. Das ist eben Classis.
Das Büro meines Freundes, des Gerichtsschreibers, befand sich in Block 374, Reihe 42, Straße 7. Man hatte beim Versorgungsdienst zwar schon von fortlaufenden Nummerierungen gehört, doch man war offenbar nicht der Meinung, dass sie funktionierten. Daher wird Block 374 von den Blöcken 217 und 434 eingekeilt. Die Straße 7 führt von Straße 4 zur Straße 32. Aber das muss in Ordnung sein, denn ich finde mich dort zurecht, und ich bin nur ein Brückenbauer, ein Niemand.
Mein Freund war nicht da. An seinem Schreibtisch saß ein einen Meter achtzig großer Robur in einer milchweißen Mönchskutte. Seine Glatze hatte die Form eines Eies, und er sah mich an, als sei ich irgendwas, das gerade der Hund hereingeschleppt hatte. Er lächelte.
»Neuer Aufgabenbereich«, sagte er.
Oh. »Das hat er nie erwähnt.«
»Es ist nicht die Art von neuem Aufgabenbereich, über die man gern spricht.« Er musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich rechnete schon halb damit, dass er gleich meine Oberlippe nach oben ziehen würde, um meine Zähne zu begutachten. »Kann ich Euch helfen?«
Ich schenkte ihm ein breites Lächeln. »Ich brauche Tauwerk.«
»Tut mir leid.« Er wirkte geradezu glücklich. »Es ist kein Tauwerk da.«
»Ich habe eine Antragsbestätigung mit Siegel.«
Er streckte die Hand aus. Ich gab ihm mein Dokument. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das gefälschte Siegel bemerkte. »Leider haben wir im Moment kein Tauwerk da«, sagte er. »Sobald wir welches hereinbekommen …«
Ich nickte. Ich war nie auf der Akademie des Generalstabs, daher habe ich keine Ahnung von Taktik und Strategie, aber ich weiß, wann ich verloren habe und es Zeit ist, mich geordnet zurückzuziehen. »Danke«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich Euch belästigt habe.«
»Kein Problem.« Sein Lächeln sagte, dass er noch nicht mit mir fertig war. »Ihr könnt sie hierlassen.«
Ich hielt immer noch die falsche Antragsbestätigung mit dem völlig illegalen Siegel in der Hand. »Danke«, erwiderte ich, »aber sollte ich die nicht lieber auf dem Dienstweg einreichen? Ich möchte nicht, dass Ihr glaubt, ich will mich vordrängeln.«
»Ach, ich denke, von Zeit zu Zeit können wir die Regeln auch mal ein bisschen anpassen.« Wieder streckte er die Hand aus. Verdammt, dachte ich.
Und dann rettete mich der Feind.
* * *
Kurioserweise passte das mal wieder absolut zu mir. In meinem Leben hat es eine erstaunliche Anzahl von glücklichen Zufällen gegeben, weit mehr, als mir eigentlich zustehen würde, weshalb ich mir, als ich die Staatsbürgerschaft erhielt, den Namen Felix gab. Das Glück hat mir praktisch an jedem entscheidenden Wendepunkt meiner bemerkenswerten beruflichen Laufbahn zugelächelt. Wirklich verrückt aber ist, dass mir dieses Glück immer – und zwar ausnahmslos – vom Feind gewährt wurde. Als ich sieben Jahre alt war, überfielen die Hus mein Dorf, schlachteten meine Eltern ab, zerrten mich an den Haaren fort und verkauften mich an einen Sherden. Der lehrte mich das Zimmermannshandwerk – damit verdreifachte er meinen Wert – und verkaufte mich weiter an eine Werft. Drei Jahre später, als ich neunzehn war, unternahm die kaiserliche Armee eine Strafexpedition gegen die Sherden-Piraten. Und ratet, wer unter den Gefangenen war, die ins Reich zurückgebracht wurden. Die kaiserliche Marine litt schon immer unter einem eklatanten Mangel an geschickten Schiffszimmerleuten. Man nahm mich auf, wodurch ich auch die Staatsbürgerschaft erhielt, und ich wurde mit zweiundzwanzig Jahren Vorarbeiter. Dann marschierten die Echmen ein und eroberten die Stadt, in der ich stationiert war. Ich war einer der Überlebenden und wurde zu den Ingenieuren versetzt, und jetzt habe ich die Ehre, deren Regimentschef zu sein. Ich denke, damit ist bewiesen, was zu beweisen war. Meinen kometenhaften Aufstieg vom ungebildeten, barbarischen Leibeigenen zum Kommandeur eines kaiserlichen Regiments habe ich den Hus, den Sherden, den Echmen und nicht zuletzt den Robur zu verdanken, die stolz darauf sind, in den vergangenen hundert Jahren mehr als eine Million Mitglieder meines Volkes massakriert zu haben. Eine dieser durchgeknallten Sekten, die man in der Stadt findet und die heute da und morgen schon wieder verschwunden sind, behauptet, dass der Weg zur Erleuchtung darin bestünde, seine Feinde zu lieben. Damit habe ich kein Problem. Meine Feinde haben sich immer für mich eingesetzt, und ich verdanke ihnen alles. Meine Freunde hingegen haben mir nichts als Ärger und Leid gebracht. Obwohl ich ohnehin nur sehr wenige habe.
* * *
Ich bemerkte, dass ich nicht länger seine vollständige Aufmerksamkeit genoss. Er spähte durch ein kleines Fenster hinaus. Nach einem Moment trat ich näher und blickte über seine Schulter.
»Ist das Rauch?«, fragte ich.
Er sah mich nicht an. »Ja.«
Feuer an einem Ort wie Classis ist immer schlecht. Es ist schon komisch, wie unterschiedlich manche Leute reagieren. Er schien wie erstarrt. Ich dagegen war nervös wie eine Katze auf dem Sprung. Mit dem Ellbogen verschaffte ich mir gerade einen besseren Blick hinaus, als der lange Schuppen, bei dem aus zwei Fenstern Rauch aufstieg, plötzlich wie eine Fackel in Flammen aufging.
»Was wird da gelagert?«, wollte ich wissen.
»Tauwerk«, antwortete er. »Dreitausend Meilen.«
Ich ließ ihn gaffend zurück und lief los. Militärtauwerk ist stark geteert, und alle Schuppen in Classis sind mit Stroh gedeckt. Es war Zeit, meinen Standort zu verlegen.
Ich stürzte hinaus in den Hof. Dort rannten Leute in alle Himmelsrichtungen. Einige von ihnen wirkten nicht wie Soldaten oder Beamte. Einer kam auf mich zu und blieb stehen.
»Entschuldigt«, sagte ich. »Wisst Ihr vielleicht …?«
Er stach auf mich ein. Das Schwert in seiner Hand hatte ich übersehen. Ich dachte nur: Was soll das denn? Er holte aus und schwang das Schwert in Richtung meines Kopfes. Ich gehöre vielleicht nicht zu den scharfsinnigsten Menschen, die Euch je über den Weg gelaufen sind, aber ich kann ganz gut zwischen den Zeilen lesen, und mir wurde schnell klar: Er mochte mich nicht. Ich wich ihm aus, stellte ihm ein Bein und trat ihm ins Gesicht. Das steht zwar so nicht im Ausbildungshandbuch, aber wenn man von Sklavenhaltern aufgezogen wird, bekommt man eine gewisse alternative Ausbildung verpasst.
Meine Gedanken liefen dabei folgendermaßen ab: Das Beinstellen und der Tritt hatten mich wohl an die Sherden erinnert, die mir beides (am lebenden Beispiel) beibrachten, deswegen dachte ich daraufhin an Piraten, und plötzlich war alles klar. Danach stieg ich noch auf sein Ohr – nicht, dass ich nachtragend wäre –, bis es knackte, und dann sah ich mich nach einem guten Versteck um.
Wenn um einen herum wirklich schlimme Dinge passieren, braucht man eine Weile, um das vollständig zu begreifen. Sherden-Piraten, die in Classis Amok laufen? Das konnte doch nicht wahr sein.
Ich fand einen schattigen Eingang, duckte mich hinein und benutzte meine Augen. Ja, es passierte tatsächlich, und diesem kleinen Ausschnitt des Geschehens nach zu urteilen, den ich beobachten konnte, setzten sich die Piraten durch. Die kaiserliche Armee schien sie nicht weiter zu behelligen. Die hatte genug damit zu tun, das Feuer im Tauwerkschuppen zu bekämpfen, und die Sherden metzelten sie derweil nieder und schossen auf sie, während die Soldaten mit Eimern und Leitern und langen Haken umhereilten und niemand zu begreifen schien, was eigentlich vor sich ging. Außer mir, und ich zähle nicht. Bald waren keine Kaiserlichen mehr im Hof, und die Sherden fuhren unzählige Karren rückwärts an die großen Schuppen und luden Waren auf. Einen Mangel an Karren gab es in Classis nie. Die Piraten konnten zupacken, das muss ich ihnen lassen. Man versuche mal, einen Haufen Hafenarbeiter aus dem Lager dazu zu bewegen, zweihundert Karren der Größe 4 in vierzig Minuten vollzuladen. Ich glaube, da liegt der Unterschied zwischen angeheuerten Männern und jenen, die auf eigene Rechnung arbeiten.
Ich nehme an, dass der Brand ein Unfall war, denn er kam ihnen ganz schön in die Quere. Er breitete sich von dem einen Schuppen auf eine ganze Reihe anderer aus, bevor sie auch nur den Hauch einer Chance hatten, sie zu plündern. Danach legte das Feuer den großen Stallkomplex und die Kutschenhäuser in Schutt und Asche, in denen die meisten Karren gestanden hatten, bevor der Wind drehte und die Flammen durch die Kasernen und die Verwaltungsgebäude trieb. Was bedeutete, dass die Brände direkt auf mich zukamen.
Inzwischen waren nirgends mehr Soldaten oder Angestellte zu sehen, nur die bösen Jungs, und ich würde in meinem Mantel und der Tunika, die mich als Angehörigen des Militärs kennzeichneten, auffallen wie ein bunter Hund. Also schlüpfte ich aus dem Mantel und bemerkte einen großen roten Fleck auf der Vorderseite meiner Tunika – ach ja, ich war getroffen worden, aber darüber würde ich mir später Gedanken machen –, zog dem toten Piraten das Wams aus und streifte es mir über den Kopf. So marschierte ich über den Hof und tat so, als hätte ich noch etwas zu erledigen.
Ich lief ungefähr dreißig Meter, dann fiel ich um. Zuerst war ich überrascht, dann wurde mir klar: Das ist nicht nur eine Fleischwunde. Ich fühlte mich geradezu lächerlich schwach und furchtbar schläfrig. Plötzlich stand jemand über mir. Ein Sherde mit einem Speer in der Hand. Verdammt, dachte ich, und dann: Ach, ist doch unwichtig.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
Ich und mein Glück. Es war mein Glück gewesen, als Milchgesicht auf die Welt zu kommen. »Mir geht es gut«, antwortete ich. »Wirklich.«
Er grinste. »Quatsch«, sagte er und zog mich auf die Füße. Ich sah, dass ihm meine Stiefel auffielen. Militärische Quadratlatschen, wie man sie nicht im Laden kaufen kann. Dann erkannte ich, dass er auch welche trug. Piraten eben. Die Stiefel toter Männer. »Komm mit«, sagte er. »Stütz dich auf mich. Alles wird gut.«
Er legte meinen Arm um seinen Hals und führte mich hinüber zum nächsten Karren. Der Fahrer half ihm, mich hinaufzuziehen, dann legten sie mich sanft auf einen riesigen Stapel aufgewickelter Lamellenbrustpanzer. Mein Retter zog sein Wams aus, rollte es zusammen und schob es mir unter den Kopf. »Bring ihn zurück zum Schiff. Da wird man sich um ihn kümmern«, sagte er, und das war das Letzte, was ich von ihm sah.
So einfach war das. Die Plünderer gingen schnell und effizient ihrem Vorhaben nach, und bald wurde klar, dass kein kaiserliches Personal mehr übrig war, um das sie sich Sorgen machen mussten – abgesehen von mir, und ich wurde behutsam von meinen Feinden aus der Gefahrenzone gebracht. Der Karren rumpelte zum mittleren Landungssteg. Dort lagen auf beiden Seiten ein Dutzend Schiffe vertäut. Der Fahrer achtete nicht auf mich, also konnte ich vom Karren klettern und mich in einer großen Rolle Tauwerk verstecken, wo ich blieb, bis auch das letzte Schiff in See gestochen war.
Einige Zeit später tauchte ein Kutter der Marine auf. Gerade noch rechtzeitig dachte ich daran, das Sherden-Wams abzustreifen, das mir das Leben gerettet hatte. Es wäre mein Tod gewesen, hätten mich unsere Leute darin erwischt.
* * *
Dies ist der Grund – einer der Gründe zumindest –, warum ich mich entschlossen habe, diese Geschichte aufzuschreiben. Unter normalen Umständen hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, hätte ich es mir nicht angemaßt. Wer bin ich schon, dass ich mich anheischig machen könnte, die Taten und Leiden großer Männer aufzuzeichnen? Aber ich bin dabei gewesen, nicht nur während der gesamten Belagerung, sondern von Anfang an. Wie ich vielleicht schon erwähnt habe, hatte ich in meinem Leben viel mehr Glück, als ich je verdient hätte, und wenn – wieder und wieder und wieder – eine unsichtbare Hand einen sozusagen kurz vor den heranrollenden Rädern aufklaubt und sicher am Straßenrand absetzt, muss man sich fragen, warum. Die einzige Funktion, in der ich glaube, dienen zu können, ist die eines Augenzeugen. In einem kaiserlichen Gerichtsverfahren kann schließlich jeder aussagen. Sogar Kinder, Frauen, Sklaven, Milchgesichter, obwohl natürlich dem Richter die Entscheidung obliegt, welches Gewicht er den Aussagen von Leuten wie mir beimisst. Wenn das Glück also glaubt, dass ich gut genug bin, um die Ingenieure zu befehligen, traut es mir vielleicht auch zu, dass ich mich als Historiker betätige. Man stelle sich das mal vor: Unsterblichkeit. Der Sohn eines Torfstechers aus dem Norden lebt auf einem Buchrücken für immer fort. Wäre das nichts?
2. Kapitel
Ich war nicht der einzige Überlebende. Ein stellvertretender Quartiermeister atmete noch lange genug, um das meiste, was ich berichtete, zu bestätigen. Und ein paar Fischer sahen die Sherden aus dem Nordsund heraussegeln und vor den Kais Anker werfen. Gegen den Wind kreuzten sie den Kanal hinauf zum Marinestützpunkt in Colophon, wo ihnen niemand auch nur ein Wort glaubte, bis sie die Rauchsäule sahen.
Der Kutter brachte mich zurück nach Colophon, wo ein Knochenflicker der Marine mich zusammennähte, obwohl er das eigentlich nicht sollte – ratet mal, warum –, bevor er mich auf eine Versorgungsschaluppe nach Malata verschiffte, wo es ein Krankenhaus für dort lebende Fremde gab, das für die Behandlung von Leuten mit chronischen Hauterkrankungen (wie der meinen) zugelassen war. Nach ein paar Tagen hatte ich die Nase voll von den Ärzten dort, also entließ ich mich und verschaffte mir eine Mitfahrgelegenheit auf einem Kohlekarren zurück in die Stadt. Als ich da ankam, geriet ich sofort in alle möglichen Schwierigkeiten. Die Untersuchungskommissare waren den ganzen Weg nach Malata gewandert, um meine Aussage aufzunehmen, doch dort hatten sie mich nicht mehr gefunden. Könnt ihr denn gar nichts richtig machen, Leute?
Sobald der Geheimdienst damit fertig war, mich anzuschreien, stolperte ich den Hügel hinunter, um mit Faustinus zu sprechen, dem Stadtpräfekten. Faustinus ist … Ich will nicht »ein Freund« sagen, weil ich ihm keine Scherereien bereiten möchte. Er hat mehr Zeit für mich als die meisten Robur, und wir haben gemeinsam die Aquädukte geflickt. Doch Faustinus war nicht da. Man hatte ihn zu einer wichtigen Ratssitzung gerufen. Ich hinterließ ihm die Nachricht, er solle zu mir kommen, und schleppte mich wieder den Hügel hinauf zu den Stadtwerken, die sozusagen mein Zuhause sind, wenn ich in der Stadt bin.
Als besondere Gunst, die mir durch die persönliche Intervention des Präfekten Faustinus zuteilgeworden war, hatte ich ein eigenes Zimmer bei den Stadtwerken. Früher einmal war es der Kohleschuppen gewesen; davor, glaube ich, hatte der Wachmann seinen Hund dort gehalten. Und davor war es Teil des Kreuzgangs des Feuertempels gewesen, den Temren der Große zum Dank für seinen Sieg über die Robur unter Markian III. hatte errichten lassen.
Es ist eine alte Stadt, und wo immer man auch gräbt, findet man irgendwelche Dinge. Jedenfalls erlaubte der Werksverwalter mir, einige meiner Sachen dortzulassen. In einer alten Kiste neben der Tür stapelten sich Briefe, und ich hatte mir eine Schlafstatt aus drei Transportkisten gebaut (Zimmermann, Ihr erinnert Euch). Ich machte mir nicht die Mühe, die Briefe zu öffnen. Ich kroch auf das Lager, zog ein paar Pferdedecken über mich und schlief ein.
Irgendein Idiot weckte mich. Er war riesig und von Kopf bis Fuß in eine vergoldete Schuppenpanzerung gehüllt. Er sah aus wie ein riesiger Fisch, der auf dem Schwanz steht. Und er war nicht allein.
»Was ist?« Ich gähnte.
»Oberst Orhan.«
Das war mir schon klar. »Was denn?«
»General Priscus lässt grüßen, Sir, und man verlangt nach Euch im Rat.«
Das war natürlich eine glatte Lüge. General Priscus wollte mich nirgendwo in seinem Zuständigkeitsbereich sehen, wie er mir schon bei meiner Beförderung klargemacht hatte (allerdings hatte er damals noch nicht das Sagen gehabt, Gott sei Dank). Und ganz besonders wollte er mich nicht in seinem Rat, doch leider blieb ihm in dieser Angelegenheit keine Wahl. »Wann?«
»Sofort, Sir.«
Ich stöhnte. Ich steckte immer noch in der blutverschmierten Tunika mit dem Loch, durch das man die weißen Verbände des Malata-Medizinmanns sehen konnte. »Ich muss mich waschen und etwas anderes anziehen«, erklärte ich. »Gib mir zehn Minuten, ja?«
»Nein, Sir.«
Zu den Dingen, für die ich in meinem Zimmer bei den Stadtwerken Platz habe, gehört ein grauer Mantel. Ich schlüpfte hinein und setzte mir einen roten Filzhut auf. Es war ein heißer Tag, und ich wusste, dass ich in dem dicken Wollmantel kochen würde, doch mir blieb nichts anderes übrig, sonst hätte ich in blutigen Fetzen im Rat erscheinen müssen. Die goldenen Fischmänner umringten mich und hielten mit mir Schritt. Das war zwar nicht nötig, aber ich vermutete, dass es einfach die Macht der Gewohnheit war.
Das Kriegsministerium ist nur vier Türen vom Goldenen Turm entfernt, gleich auf der linken Seite. Die Tür ist klein und niedrig und befindet sich in einer trostlosen Backsteinmauer. Tritt man hindurch, steht man in einem beeindruckenden Knotengarten voller Lavendel und Buchsbaum und geradezu verblüffend schönen Blumen. Dann blickt man auf die Doppeltür aus Bronze. Sie wird von zwei der härtesten Soldaten der Armee bewacht, die einen finster anblicken. Und dann ist man drin. Man beschattet seine Augen vor dem blendend weißen Marmor. Ich kann verstehen, dass die Leute beleidigt sind, wenn ich dort hineingehe. Ich senke nicht einmal die Stimme.
Doch von oben hat man einen großartigen Ausblick. Geradeaus, die Bergstraße hinunter, sieht man nur Dächer – rote Ziegel, grauen Schiefer, Stroh. Kein Grün oder Blau, nur die Arbeit von Männerhänden, so weit das Auge reicht. Nirgendwo sonst auf der Welt kann man so etwas sehen. Jedes Mal, wenn ich diesen Ausblick genieße, völlig egal, warum, wird mir bewusst, was für ein Glück ich habe.
Vom Fenster des Rats hingegen kann man das Meer sehen. General Priscus wandte ihm den Rücken zu, während mir der Ausblick zu Füßen lag. Über seiner Schulter konnte ich die Hafenanlagen erkennen und dahinter das dunkle, ebene Blau mit vielen Segeln darauf. Doch keins von ihnen trug die roten und weißen Streifen der Sherden. Hätte ich angeboten, mit dem General die Plätze zu tauschen, hätte er geglaubt, ich wolle witzig sein, also hielt ich den Mund.
In knapper, prägnanter Militärsprache erzählte uns General Priscus alles, was wir bereits wussten: ein Überraschungsangriff von See her, keine Überlebenden, beträchtlicher Schaden an Gebäuden und Ausrüstung, laufende Ermittlungen zur Feststellung der Identität der Angreifer.
»Entschuldigt«, sagte ich.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Präfekt Faustinus zusammenzuckte. Das konnte er gut. Wieder und wieder hatte er mir gesagt, ich solle bloß keinen Ärger machen. Damit hatte er völlig recht, und er wollte auch nur mein Bestes. Oft fragte er mich: »Warum tust du das?« Und meine Antwort lautete jedes Mal: Ich habe keine Ahnung. Ich weiß, dass es böse enden wird, und der Herr weiß, dass mir das keine Freude macht. Meine Knie werden weich, mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und meine Brust wird derart eng, dass ich kaum noch atmen kann. Ich höre meine eigene Stimme, wenn ich zu sprechen beginne, und ich denke: Nicht jetzt, du Narr, nicht schon wieder. Aber dann ist es schon zu spät.
Alle sahen mich an. Priscus zog ein finsteres Gesicht. »Was?«
»Ich weiß, wer sie waren«, sagte ich.
Ich hatte es wieder getan.
»Ach ja?«
»Ja. Man nennt sie die Sherden.«
Wenn Priscus wütend wurde, senkte er seine Stimme, sodass er buchstäblich schnurrte. »Gibt es einen Grund, warum Ihr es nicht für ratsam hieltet, dies früher zu erwähnen?«
»Mich hat niemand gefragt.«
Faustinus schloss fest die Augen.
»Nun«, sagte der General, »Vielleicht wärt Ihr so gut, uns jetzt aufzuklären?«
Immer wenn ich nervös bin, rede ich viel und bin ziemlich unhöflich. Was lächerlich ist. Wenn ich wütend bin, besonders, wenn Leute versuchen, mich zu provozieren, kann ich mein Temperament in etwa so gut kontrollieren wie ein Wagenlenker im Hippodrom seine Pferde. Panik dagegen macht mich übermütig, und nun ratet, was dann passiert.
»Natürlich«, erwiderte ich. »Die Sherden sind eine lose Konföderation, meist Verbannte und Flüchtlinge aus anderen Nationen, die um die Mündung des Schelms im Südosten Permias ansässig sind. Wir bezeichnen sie gern als Piraten, aber eigentlich treiben sie Handel. Wir machen viele Geschäfte mit ihnen, entweder direkt oder durch Mittelsmänner. Sie haben leichte und schnelle, aber auch robuste Schiffe mit geringer Tonnage. Normalerweise gehen sie nur auf Diebeszug, wenn die Zeiten hart sind, und dann suchen sie sich leichte Ziele, die sich schnell für sie auszahlen – Klöster, die Villen abwesender Grundbesitzer, gelegentlich die Soldkasse einer Armee oder einen Wagenzug mit Silbererz aus den Minen.
Wenn sie die Wahl hätten, würden sie allerdings lieber nur mit Hehlerware handeln, anstatt die Überfälle selbst zu begehen. Sie wissen, dass wir sie in zwei Minuten überrollen könnten, wenn wir es wollten. Aber das haben wir nie getan, weil wir, wie ich schon erwähnte, gute Geschäfte mit ihnen machen. Im Grunde stellen sie für niemanden ein Problem dar.«
Admiral Zonaras beugte sich vor und funkelte mich über die Länge des Tischs hinweg an. »Wie viele Schiffe?«, wollte er wissen.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Das ist nicht mein Fachgebiet. Alles, was ich über diese Leute weiß, stammt von … Nun sagen wir mal, ja, unsere Wege haben sich schon gekreuzt. Der Nachrichtendienst der Marine wird es sicher wissen. Fragt den.«
Zonaras hatte sich noch nie für mich interessiert. »Ich frage aber Euch. Was schätzt Ihr?«
Ich zuckte die Schultern. »Insgesamt ungefähr dreihundertfünfzig, vierhundert Schiffe. Aber wir reden hier über Dutzende von kleinen, unabhängigen Unternehmen ohne zentrale Kontrolle. Es gibt keinen König der Sherden oder irgendwas in dieser Art.«
Priscus sah an mir vorbei auf den Tisch. »Haben wir irgendwelche Zahlen über die Menge der Schiffe in Classis?«
Niemand sagte etwas. Und das bot mir die wunderbare, geradezu einmalige Chance, den Mund zu halten. »Ungefähr siebzig«, sagte ich.
»Moment mal.« Das war Sostratos, der Erste Oberhofmeister. Hätten wir eine zivile Angelegenheit besprochen, hätte er anstelle von Priscus den Vorsitz gehabt. »Woher wisst Ihr das alles?«
Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Ich war dabei.«
»Ihr wart was?«
Niemand wusste davon. Himmelherrgott. »Ich war dabei«, wiederholte ich. »Ich war geschäftlich in Classis. Ich habe alles gesehen.« Am ganzen Tisch wurde geflüstert. Ich fuhr fort. »Meine Schätzung, dass es siebzig sind, basiert darauf, dass ich sie vertäut an den Docks gesehen habe. Auf jeder Seite der drei Stege lag ein Dutzend. Sechs mal zwölf sind zweiundsiebzig. Ich glaube nicht, dass es mehr gewesen sind, denn für mehr gab es keinen Platz. Alle Liegeplätze waren besetzt. Vielleicht haben noch mehr Schiffe draußen gewartet, um hereinzukommen, sobald die anderen beladen waren. Ich weiß es nicht. Von meinem Standort aus konnte ich so weit nicht sehen.«
Symmachus, der kaiserliche Agent, sagte: »Warum hat man uns nicht gesagt, dass es einen Augenzeugen gibt?«
Die Laune des Generals wurde dadurch auch nicht unbedingt besser. »Der Zeuge hat es anscheinend bis jetzt nicht für nötig gehalten, das zu erwähnen. Aber besser spät als nie. Erzählt uns alles, was Ihr gesehen habt.«
Ich wollte gerade darauf hinweisen, dass ich im Marinekrankenhaus in Colophon bereits eine vollständige Aussage gemacht hatte. Doch ich glaube, Faustinus kann manchmal meine Gedanken lesen. Ich sah, wie er den Kopf schüttelte, energisch, wie eine Kuh, die von Fliegen umschwirrt wird. Er hatte nicht ganz unrecht. Also erzählte ich ihnen die ganze Geschichte, wie ich zunächst den Rauch gesehen hatte und dass ich dann von dem Kutter eingesammelt worden war. Schließlich hielt ich inne. Es folgte eine lange Stille.
»Das scheint mir alles ziemlich eindeutig zu sein«, meinte Admiral Zonaras. »Ich kann die 5. Flotte in vier Tagen auf See bringen. Sie wird dafür sorgen, dass diese Sherden uns nie wieder belästigen.«
Es folgte ein allgemeines Nicken, wie das Wippen einer Ahornhecke im Wind. Ich konnte das Blut spüren, das in meinem Hinterkopf pochte. Behalt’s für dich, flehte ich mich an. »Entschuldigung?«, sagte ich.
Nachdem sich der Rat aufgelöst hatte, versuchte ich mich am Bergtor entlang davonzuschleichen, aber Faustinus war zu schnell. Er stellte mich am Kallikrates-Brunnen. »Hast du deinen winzigen Verstand verloren?«, fragte er.
»Aber es stimmt«, entgegnete ich.
Er verdrehte die Augen. »Natürlich stimmt es«, sagte er. »Darum geht es nicht. Es geht darum, dass du jeden verärgert hast, der auch nur einen Deut zählt.«
Ich hob die Achseln. »Die haben mich sowieso noch nie gemocht.«
»Orhan.« Niemand nennt mich so. »Du bist ein kluger Mann, und du nutzt dein Hirn, was dich in dieser Stadt ziemlich einzigartig macht, aber du musst etwas an deiner Einstellung ändern.«
»An meiner Einstellung? Ich?«
Warum nur nervte ich den einzigen Mann in der Stadt, der meinen Anblick ertragen konnte? Ich hatte keine Ahnung.
»Orhan, du musst etwas unternehmen, bevor du dich in erhebliche Schwierigkeiten bringst. Weißt du, was dein Problem ist? Du bist so voller Zorn, dass er schon aus dir herausquillt wie die Milch aus einer Kuh, die nicht gemolken wurde. Leute sterben lieber, als zu tun, was du ihnen sagst, obwohl es das Richtige und das einzig Vernünftige wäre. Weißt du was? Wenn das Kaiserreich zusammenbricht, könnte es leicht allein deine Schuld sein.«
Damit rückte er mir den Kopf zurecht. Ich nickte.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich versaue gute Ratschläge dadurch, dass ich sie gebe.« Er musste grinsen. »Ich sollte mir jemanden suchen, der nicht so vorbelastet ist, um Dinge für mich zu sagen. Dann würden die Leute wenigstens zuhören.«
Sein Gesicht wurde auf einmal irgendwie hölzern. »Ich weiß nicht so recht«, meinte er. »Wenn du nur lernen könntest, nicht so verflucht unhöflich zu sein.«
Ich seufzte. »Du siehst aus, als könntest du einen Drink gebrauchen.«
Faustinus sieht immer so aus. Diesmal aber schüttelte er den Kopf. »Zu viel zu tun«, sagte er und meinte damit, dass er zu viel zu tun hatte, um zu riskieren, in der nächsten Woche oder danach mit mir in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. »Denk drüber nach, Himmelherrgott. Bitte. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man die Sache nur wegen deiner verqueren Persönlichkeit vermasseln sollte.«
Der Einwand war nicht völlig unberechtigt. Und ich dachte tatsächlich ernsthaft darüber nach, den ganzen Weg die Bergstraße entlang. Das Problem war nur, dass ich recht gehabt hatte. Ich hatte lediglich darauf hingewiesen, dass die 5. Flotte nirgendwohin fahren würde, zumindest für eine ganze Weile nicht. Admiral Zonaras hatte erwidert, das sei ihm neu. Ich erklärte daraufhin, dass alles Tauwerk und auch alle Fassdauben – die sich in dem Schuppen neben dem Tauwerklager befunden hatten, was ich im Marienhospital erfuhr, bevor man mich hinauswarf – für die gesamte Marine in Flammen aufgegangen waren.
Moment, Ihr meint, ich sollte vielleicht erklären, dass man das bedarfsgerechte Vorratshaltung nennt und dabei davon ausgegangen wird, dass die Marine so jedes Jahr ein Vermögen spart? Der Gedanke dahinter war, dass wir damals sechs Flotten mit je dreiundzwanzig Schiffen betrieben, und ein Schiff allein bringt nicht viel. Man braucht Masten, Großsegel, Ruder, Taue und alle möglichen Vorratsbehälter, hauptsächlich Fässer für Frischwasser. Ohne Wasserfässer muss ein Schiff stets in Sichtweite der Küste bleiben, weil es einmal am Tag Wasser tanken muss, bei heißem Wetter zweimal.
Wenn jetzt jedes einzelne Schiff der Flotte seine eigene Ausrüstung braucht – Ihr könnt wahrscheinlich besser rechnen als ich, also rechnet es aus –, dann ist das eine Menge sehr teuren Zeugs, und da die meiste Zeit nur zwei der Flotten – in Notfällen drei – gleichzeitig auf See sind und da die Marinewerften enorme Anstrengungen unternommen haben, damit alles genormt und von Schiff zu Schiff austauschbar ist, war diese Art der Verteilung eine ziemlich gute Idee des Regierungsbeamten, der sich das ausgedacht hatte.
Eine Flotte – die Heimatwache, die ununterbrochen die eigene Küste bewacht – war allzeit voll ausgerüstet. Die anderen fünf teilten sich zwei komplette Ausrüstungssätze, die aus Gründen der Bequemlichkeit und der schnellen Verfügbarkeit in Classis lagerten, um sie bei Bedarf sofort ausgeben zu können.
Offenbar wusste Zonaras das alles, zumindest in gewisser Weise. Aber es ist durchaus möglich, etwas zu wissen und trotzdem nicht weiter darüber nachzudenken. Oder vielleicht war dem Admiral sehr wohl bewusst, dass er kein einziges Schiff losschicken konnte, da all sein Tauwerk und die Fassgauben sich in graue Asche verwandelt hatten, aber er wollte nicht, dass der Rest des Rates in dieses Geheimnis eingeweiht wurde. Jedenfalls nannte er mich einen verdammten Lügner und Narren und noch verschiedene andere Dinge, die alle vollkommen wahr, aber kaum relevant waren.
General Priscus fragte ihn rundheraus: »Könnt Ihr eine Flotte nach Permia schicken, oder könnt Ihr es nicht?« Zonaras tat das Einzige, was er unter den gegebenen Umständen tun konnte. Er sprang auf, warf mir einen derart finsteren Blick zu, dass meine Zähne schmerzten, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Und das war es dann, soweit es den Rat betraf. Aus meiner Sicht war das wahrscheinlich auch gut so. Ich hatte mir schon genug Ärger eingehandelt. Hätte sich der Rat an dieser Stelle nicht verwirrt aufgelöst, wäre ich unter Umständen geneigt gewesen, noch verschiedene andere Probleme in Bezug auf die Sache mit Classis anzusprechen, was mich am Ende vielleicht den Kopf gekostet hätte.
* * *
Nun war ich also in der Stadt und wusste nicht weiter. Eigentlich hätte ich, da meine Geschäfte dort erledigt waren, ins Hauptquartier des Korps zurückkehren und mich dort um meinen Papierkram kümmern können. Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, das wäre eine blöde Idee. Es ist unvorstellbar, dass der General oder der Admiral oder der Erste Oberhofmeister oder einer der Bereichsleiter oder sonst jemand von den vielen, vielen Mitarbeitern dafür sorgen würde, dass ein aktiver Offizier des Kaiserreichs ermordet wird, während er allein über die einsamen Straßen durch die Moore nach Hause reitet. Doch selbst in einem so gut durchorganisierten Reich wie dem unseren gibt es Banditen, aus dem Dienst entlassene Soldaten, entlaufene Sklaven, unzufriedene Leibeigene, religiöse Eiferer und gewöhnliche Verrückte, einfach alle Arten von schlechten Menschen, die einem für die Nägel in den Stiefeln die Kehle durchschneiden würden. Und von Zeit zu Zeit waren ihnen Offiziere in die Quere gekommen, die anderen auf die Nerven gegangen waren. Warte vielleicht einen Tag, sagte ich mir, dann schließ dich einer Handelskarawane oder einer Gruppe Pilger an. Ich bin fest davon überzeugt, dass man die Vorsehung nicht in Versuchung führen sollte, und wie ein weiser Mann einmal sagte: Der Unterschied zwischen dem Glück und einer Schubkarre ist, dass Glück nicht funktioniert, wenn man es anschiebt.
3. Kapitel
Natürlich gibt es auch in der Stadt keinen Mangel an Dieben und Verrückten und unglücklichen Unfällen, doch dort kann man Schritte unternehmen, die das Risiko reduzieren. Wenn man sich zum Beispiel den Unmut der zuständigen Behörden ersparen will, wer könnte einem da besser helfen als die Leute, die solche Dinge ständig machen und damit ihr Geld verdienen?
Was meine Gesellschaft angeht, bin ich sehr wählerisch und halte mich deswegen von Mördern, Straßenräubern, Einbrechern und Erpresserbanden fern. Trotzdem bleiben immer noch eine Menge Leute übrig, mit denen ich befreundet sein kann. Betrüger sind in Ordnung, aber sie sind schlauer als ich und immer auf der Suche nach geschäftlichen Gelegenheiten, deswegen fühle ich mich eher zu den Fälschern, Trickbetrügern und Falschmünzern hingezogen. Unter ihnen findet man einfach die besseren Menschen.
Also ging ich zum Alten Blumenmarkt. Falls Ihr noch nie in der Stadt wart, solltet Ihr beachten, dass man auf dem Alten Blumenmarkt keine Blumen kaufen kann. Wie so viele Stadtteile ist er danach benannt, wozu er vor langer, langer Zeit gedient hatte, es heute aber nicht mehr tut. Und um jeden Zweifel auszuräumen, sind Blumen so ziemlich das Einzige, womit dort nicht gehandelt wird. Leben und Tod, ja, kein Problem. Ein einfacher Rosenstrauß, nein. Der alte Blumenmarkt wurde auf den Ruinen eines ganzen Viertels erbaut, das vor etwa hundertfünfzig Jahren zusammengebrochen und in ein Erdloch gestürzt ist – es stellte sich heraus, dass es direkt über einem unterirdischen Fluss errichtet worden war, der mitten durch den Hügel fließt, über den die Bergstraße führt, und dann unten in die Bucht mündet.
Ich ging direkt in den Bunten Hund, setzte mich in die Ecke, die am weitesten vom Feuer entfernt war, und bat um eine Schale Tee und einen Teller mit Honigkuchen. Niemand im Bunten Hund bestellt jemals Tee.
Eine Minute später kam sie nach vorn und setzte sich mir gegenüber. »Du hast ja Nerven«, sagte sie.
»Du hast also schon von der Ratssitzung heute Morgen gehört? Ich bin beeindruckt.«
»Keine Ahnung, wovon du redest.« Sie blähte die Nasenlöcher. Ein Warnzeichen. »Es waren schon Leute hier und haben nach dir gesucht.«
Ihr Name ist Aichma, und ich kannte ihren Vater, als er vor Jahren Hauptmann bei der Grünen Bruderschaft war. Er und ich hatten zusammen gedient, bevor er den Dienst quittierte und die Arena betrat. Wie ich hatte er es in seinem gewählten Beruf zu etwas gebracht, vom Neuling zum Anführer einer Bruderschaft in nur sechs Jahren. Ich vermisse ihn. Als sie vierzehn war, habe ich ihr gesagt, dass ich ihm auf dem Sterbebett versprechen musste, auf sie aufzupassen. Natürlich war das eine Lüge. Lass die Finger von meiner Tochter, oder ich reiße dir den Kopf ab, kam der Sache schon näher. Und natürlich gab es kein Sterbebett. Er war, unter dem Jubel von siebzigtausend Menschen, im Sand der Arena verblutet. Es musste seltsam sein, so zu sterben.
»Wenn es keine Leute von der Regierung waren, stört mich das nicht«, erwiderte ich. »Wonach sahen sie denn aus?«
Aichma zuckte die Achseln. »Zwei Nordstaatler und ein Milchgesicht. Ich habe ihnen gesagt, ich hätte dich nicht gesehen. Was ja auch stimmte.«
Ich entspannte mich. Das Milchgesicht war ein Geschäftspartner. Das läuft so: Die Regierung schickt mir die Lohnsumme für meine Männer in Gold. Ich bezahle meine Leute in Silber, sechs Torneke pro Mann pro Monat. Einhundertsechzig Torneke sind ein Goldstamenon. Es gibt keine offizielle, legale Möglichkeit, Gold in Silber zu tauschen, weil die Silbermünzen immer knapp sind, was an der Münzanstalt liegt. Niemand trägt Schuld daran. Will man Münzmeister werden, kauft man den Job für viel Geld vom Kanzler, das man irgendwie wieder hereinholen muss. Aber das ist okay, denn der Verdienst liegt bei einem Zehntelprozent aller in der Anstalt geprägten Münzen.
Da die Prägung einer Goldmünze genauso viel Zeit und Arbeit kostet wie die einer Silber- oder Bronzemünze, prägt die Münzanstalt sehr viel Gold. Silber dagegen nur, wenn es unbedingt nötig ist, und Bronze nie. Für das notwendige Kleingeld, das im Umlauf ist, sorgen die Armeeregimenter, die ihre eigenen kruden, grässlichen Münzen auf Kupferrohrabschnitten prägen.
Wenn ich also Silber brauche, um meine Männer zu bezahlen, tausche ich das Regierungsgold für etwas weniger als den offiziellen Wert in Silber, das ich von ehrlichen Händlern wie dem Milchgesicht und den beiden Nordmännern bekomme. Das ist der Grund, warum ich so viele Leute auf dem Alten Blumenmarkt kenne. Ihr könnt Euch sicher auch denken, warum ich in der Armee so erfolgreich bin. Die Leute, die es mir ermöglichen, meinen Job zu machen, würden vor einem blauhäutigen Kaiserlichen, der gerade von der Akademie kommt, einfach nur fortlaufen.
Sie sah mich an. »Etwas Schlimmes?«, fragte sie.
Ich nickte. »Etwas ganz Schreckliches.«
Sie seufzte. Ihre Zeit ist durchaus wertvoll, aber wenn ich mit jemandem reden muss, nimmt sie sich Zeit und hört mir zu. Sie gab dem Schankkellner ein Zeichen, der daraufhin ein trauriges Gesicht machte und davonging, um einen Kessel aufzusetzen. »Was Politisches?«
»In gewisser Weise.«
»Mich interessiert das alles nicht. Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt.«
»Du bist schlau«, erwiderte ich.
Sie hatte ein charakteristisches blasses Lächeln. »Das ist wieder eins deiner Spiele, oder? Bei dem du mich aussprechen lässt, was du denkst.«
»Ja, aber du kannst das auch gut. Weil du schlau bist.«
Eitelkeit ist ihre einzige Schwäche. Sie weiß, dass sie hübsch ist, weil die Männer es ihr sagen, wieder und wieder, und es bringt ihr nichts als Ärger. Aber ich bin der Einzige, der ihr sagt, dass sie klug ist. »Sprich weiter«, sagte sie.
»Du weißt von Classis?«
Sie nickte. »Da war irgendetwas mit Piraten, die eine Menge Vorräte gestohlen haben.«
»Das stimmt«, erklärte ich. »Aber du bist diejenige, die das Hirn hat. Sag du es mir. Warum sollte mich das so sehr stören?«
Immer, wenn sie über etwas nachdenkt, senkt sie den Kopf, als würde sie beten. Sie starrt dann auf ihre Hände. Versucht nie, in diesen Momenten mit ihr zu reden, sie wird keins Eurer Worte hören. Und dass sie der Sache auf der Spur ist, seht Ihr an ihrem finsteren Blick. Sobald sie meint, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein, setzt sie sich aufrecht hin und sieht mich direkt an.
»Und?«, fragte ich.
»Was genau haben sie mitgehen lassen?«
Gutes Mädchen, dachte ich. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit«, sagte ich. »Ich weiß nur, was ich im Marinekrankenhaus gehört habe, und ich war nicht lange dort. Aber es klang, als sei es hauptsächlich militärischer Grundbedarf gewesen.«
»Und das heißt?«
»Stiefel«, führte ich aus. »Decken. Dreihundert Fässer mit Metallschuppen, um Rüstungen herzustellen. Zweitausend Meter Zeltstoff. Karrenladungen Palisadenpfähle. Siebentausend Helmpolster. Solche Sachen eben.«
Sie nickte langsam. »Okay«, sagte sie. »Ich bin jetzt mal Händler. Ich gebe eine Menge Geld aus für Schiffe und Mannschaften, wohl wissend, dass die Marine es mir heimzahlen wird, sobald sie mich gefunden hat, was früher oder später geschehen wird. Was bekomme ich für mein Geld? Schauen wir mal. Palisadenpfähle sind Brennholz, das …«
»Auf Bäumen wächst?«
»Unterbrich mich nicht. Zeltstoff mag Verwendung als Kleidung finden, aber ist nichts wert. Helmpolster«, sie zuckte die Achseln, »haben überhaupt keinen Nutzen. Niemand wird das ganze Zeug kaufen wollen. Jedenfalls nicht zu einem Preis, der Gewinn abwirft.«
»Es sei denn?«
Sie nickte knapp. »Es sei denn, der Käufer ist eine Armee, eine Regierung. Aber Regierungen klauen ihre Ausrüstung nicht von anderen Regierungen. Das ist zu riskant. Deswegen ist es billiger, die Sachen selbst herzustellen. Dann ist auch die Lieferkette gesichert.«
Sie kennt eine Menge langer Wörter. Die lernt sie von mir, schmeichelte ich mir selbst. »Und?«
»Augenblick, ich denke noch nach. Piraten klauen also eine Menge unnützes Zeug, das wirklich schwer zu verschieben ist und keinen wirklichen Wert besitzt. Und die Folgen könnten schrecklich sein. Also …« Sie neigte den Kopf zur Seite, als hätte ihr ein unsichtbarer Helfer gerade die Antwort eingeflüstert. »Diebstahl auf Bestellung.«
»Diebstahl auf Bestellung. Aber nicht von einer Regierung, das haben wir schon geklärt.«
Mit dem Daumen rieb sie über ihre Handfläche. Ihr Vater hatte das immer getan, wenn er wütend war. Oder verwirrt. »Keine Regierung. Vielleicht jemand, der im Moment keinen Herrschaftsbereich hat, aber …«
»Das gern ändern möchte.« Ich schnippte mit den Fingern und deutete auf sie. »Dein Vater hat schon immer gesagt, dass du klug bist.«
Das brachte mir einen finsteren Blick ein. »Warte mal«, sagte sie. »Das ergibt immer noch keinen Sinn. Nehmen wir mal an, es gibt wirklich jemanden, der eine Armee aufbauen will. Von Grund auf. Keine Ahnung, jemand der vielleicht eine Kolonie oben am Ellenbogen gründet oder irgendwo im Süden. Oder eine freie Gesellschaft. Man kann all das Zeug auf den Überschussauktionen kaufen. Und billig obendrein.«
Ich lächelte sie an. »Ja«, stimmte ich zu, »das kann man. Oder man heuert tausend fähige Männer an und baut eine Fabrik auf. Aber das haben sie nicht getan. Also?«
Sie versank wieder in ihren Gedanken, und während sie grübelte, kam der Tee. Ich goss mir eine Schale ein und stellte sie zum Abkühlen beiseite.
»Geld«, sagte sie schließlich. »Und zwar Bargeld. Wer immer es ist, hat keins.«
»Aber die Sherden, die Piraten«, sagte ich ein wenig zu spät. Ihr Blick flackert immer ein wenig, wenn sie etwas Neues erfährt, das sie nicht bereits weiß.
»Es muss eine langfristige Partnerschaft sein«, überlegte sie laut. »Kein Geld im Moment, erst mal auf gut Glück arbeiten, um irgendwann eine große Belohnung abzuräumen. Das klingt nicht nach den Sherden«, fügte sie hinzu. »Viel zu viel Planung, du verstehst. Für die Sherden dauert eine langfristige Partnerschaft bis vielleicht morgen Nachmittag.«
»Das habe ich mir auch gedacht. Nun?«
Sie runzelte die Stirn. »Es muss also ein wirklich gutes Geschäft sein, wenn sie sich dafür interessieren. Und ein wirklich großer Gewinn, irgendwann.«
Sie ist in vielerlei Hinsicht wie ihr Vater. Mutig, loyal, gutherzig, scharfsinnig wie eine Rasierklinge und schlüpfrig wie ein Aal. Aber er hatte dazu noch Charme. »Aus reinem Interesse«, hakte ich nach, »bevor sie mit ihrem Raubzug begannen, haben sie das Tauwerk und die Fassdauben angezündet.«
»Kerzenmacher. Für die es einen Markt gäbe.«
»Oder sie hätten all das selbst nutzen können. Aber nein, alles ist in Rauch aufgegangen. Und alles, bevor sie anfingen zu plündern. Es wirkte, als hätte man ihnen gesagt: das Wichtigste zuerst.«
»Um sicherzustellen, dass die Flotte ihnen nicht folgen kann.«
»Nur vorübergehend.«
»Jemand hat ihnen gesagt, dass sie es so machen sollen«, meinte sie überzeugt. »Erst die Flotte aufhalten, dann die Vorräte stehlen.« Sie sah mich an. »Das ist jetzt wirklich interessant.«
»Es lässt mich die ganze Nacht nicht schlafen. Nur vorübergehend, aber vielleicht reicht vorübergehend, wenn derjenige, der etwas plant, bald zuschlagen will.«
»Und er hat all unsere Sachen, und wir haben nichts.«
Ich nickte. »Wegen der zentralen Vorratshaltung zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Kurzzeitig sind wir wie gelähmt. Armee und Marine! Er ist bereit, wir sind es nicht. Aber daraus ergibt sich zwingend die Frage: Wer ist er?«
»Nicht die Echmen und nicht die Auxenen. Die würden niemals Piraten anheuern. Und davon abgesehen, warum sollten sie einen Krieg mit uns wollen? Sie haben mit ihren eigenen Wilden alle Hände voll zu tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, meinte sie. »Keine Ahnung.«
»Du bist einfach nur dumm, weißt du.«
Sie warf mir diesen gewissen Blick zu, mit dem sie sagte: Du bist ein Clown, aber ich verzeihe dir.
Ich nippte an meinem Tee. Sie machen ihn genau richtig im BuntenHund – schon bemerkenswert, dass sie das Zeug nicht selbst trinken und ich ihr einziger Kunde dafür bin. Schwach und erfrischend im oberen Teil der Kanne, stark und beruhigend im unteren. Wirklich großartiges Zeug. Das einzig Gute, das jemals von den Echmen kam. Und deswegen (ist mir gerade erst aufgefallen) ein weiterer Segen, der mir vom Feind zuteilwurde.
»Was soll das eigentlich alles?«, fragte sie mich. »Du hast doch Angst.«
»Darauf kannst du wetten«, antwortete ich.
Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Aber es geht dich nichts an«, meinte sie. »Du bist nur ein besserer Zimmermann, der verherrlicht wird.«
»Verherrlicht eher nicht.« Sie beobachtete einen der Schankkellner. Wenn jemand eine Münze in der Hand verschwinden ließ, erkannte sie das auf zwanzig Schritte. »Und nein, es geht mich nichts an.«
»Gut.«
Ich grinste. »Ich mache mir Sorgen«, erklärte ich, »weil die Leute, die es etwas angeht, sich keinerlei Sorgen machen. Wenn du verstehst …«
Sie seufzte. »Ich rede gern mit dir«, erklärte sie, »aber im Grunde bist du eine Nervensäge. Mein Vater hat gesagt, lass ihn gar nicht erst anfangen zu reden, hinterher weißt du nicht mehr, wo oben und unten ist.«
»Der Gute.«
Sie schenkte mir jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. »Warum tust du das?«, wollte sie wissen. »Warum kommst du her und lässt mich über einen Haufen Zeug nachgrübeln, mit dem ich nichts zu tun habe? Das gefällt mir nicht.«
»Doch, das tut es. Für dich ist das wie eine Partie Schach.«
»Warum tust du das? Du hast das alles selbst gewusst, trotzdem hast du mich dazu gebracht, die richtigen Schlüsse zu ziehen.«
»Weil dein Vater nicht mehr hier ist«, erwiderte ich, »und er war der klügste Mann, den ich je gekannt habe. Aber er ist fort, also muss ich mit dir vorliebnehmen.«
Sie lächelte mich an, nicht unfreundlich. »Weißt du was?«, meinte sie. »Als er einmal krank war, musste ich ihm etwas versprechen. Pass auf Orhan auf, hat er gesagt. Sorge dafür, dass ihm nichts passiert. Das war schon seltsam. Ich war erst zwölf.«
»Hast du es versprochen?«
Sie nickte. »Ich habe aber meine Finger hinter dem Rücken gekreuzt. Daher …« Sie stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Was willst du also tun?«
»Ich? Nichts. Nicht meine Baustelle. Da waren wir uns einig.«
»Das hätte dich früher auch nie aufgehalten.«
»Nichts«, wiederholte ich. »Es sei denn, sie wollen, dass ich eine Brücke baue. In dem Fall werde ich mich wie eine Schlange darauf stürzen.«
* * *
Sie liebt es wirklich. Dafür kenne ich sie viel zu gut. Sie benutzt gern ihr Hirn, hin und wieder. Frauen dürfen bei den Bruderschaften keine Offiziere werden, aber eine Menge kluger Männer bei den Grünen verbringen viel Zeit im Bunten Hund und quatschen die Wirtin voll, und seltsamerweise standen die Grünen zum ersten Mal seit einem Jahrhundert an der Spitze …
Mir ist gerade aufgefallen, dass Ihr vielleicht nicht viel über die Bruderschaften wisst. Das kann gut sein, wenn Ihr von außerhalb der Stadt kommt. Vielleicht wisst Ihr nur, dass es zwei rivalisierende Gruppen im Hippodrom gibt. Die eine mit blauen und die andere mit grünen Farben, und sie jubeln jeweils für ihre Seite beim Schwertkampf und bei den Streitwagenrennen. Und das stimmt. Und so hat es auch einmal angefangen. Dann, vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren, haben die Blauen eine Sammlung für die Witwen und Waisen der gefallenen Kämpfer ins Leben gerufen. Natürlich haben die Grünen sofort das Gleiche getan. Etwas später haben sie diesen Fonds erweitert, um auch für die Mitglieder ihrer Bruderschaft sorgen zu können. Man zahlt ein paar Trachys in den großen Topf ein, und wenn man in Not gerät, gibt es ein bisschen Unterstützung, bis man wieder auf die Beine kommt.
Eine so gute Idee musste sich einfach durchsetzen. Und genauso sicher musste sie schiefgehen. Schon bald kontrollierten die Schatzmeister der Bruderschaften riesige Vermögen, investierten in Fabriken, Herstellung und Verschiffung, da Bürgerliche kein Land besitzen dürfen. Das Geld brachte Macht mit sich, die nicht immer weise oder aufrichtig genutzt wurde. Dann begannen die Grünen, die Arbeiter in den Docks zu organisieren. Die Blauen taten dasselbe im Transportwesen und im öffentlichen Dienst bei den unteren Besoldungsgruppen.
Es dauerte nicht lange, und die Regierung bekam es mit der Angst zu tun und versuchte, sich einzumischen, was uns die Viktoria-Unruhen einbrachte – zwanzigtausend Tote im Hippodrom, als der Stadtpräfekt Hilfstruppen der Hus schickte. Seitdem haben sich die Bruderschaften sehr zurückgehalten. Was sie machen – die Fonds und alle ihre anderen Aktivitäten, die damit einhergehen –, ist absolut illegal, aber wann hat das schon mal irgendwen von irgendetwas abgehalten? Hinzu kommt, dass man sich, wenn man in der Stadt krank wird oder sich ein Bein bricht, an die Bruderschaften wenden muss. Sonst verhungert man.
Aichmas Vater war Treuhänder des Grünenfonds gewesen und ein ziemlich hohes Tier in der Bewegung. Er hat viele schlechte und viele gute Dinge getan, bis er im Hippodrom nicht rechtzeitig ausgewichen war und aufgeschlitzt wurde. Ich war davon ausgegangen, dass er genug abgesahnt hatte, um seine Tochter fürs Leben zu versorgen, doch es stellte sich heraus, dass er alles so schnell verspielt hatte, wie er es veruntreut hatte. Soweit sie wusste, war genug übrig geblieben, um den Bunten Hund zu kaufen. Doch eigentlich traf das nicht zu, und letztendlich musste die Regimentskasse einspringen. Sonst wären für das Geld dreitausend Standardschaufeln angeschafft worden, doch wir haben genug Schaufeln. Ich war übrigens ein Blauer gewesen, bis ich ihren Vater kennenlernte. Ihr seht also, dass Menschen ihre Meinung ändern können, sogar, wenn es um grundlegende Gewissensfragen geht.
4. Kapitel
Die Falschmünzer bekamen mich am nächsten Tag zu fassen, und wir machten ein gutes Geschäft. Es bringt einem Vorteile, wenn man sein Gold auf dem Blumenmarkt tauscht statt bei der Münzanstalt. Dort kann man noch Geschäfte machen. Die Regierung sagt, ein Stamenon entspricht einhundertsechzig Torneke, doch im wirklichen Leben hat deren Meinung nicht viel Gewicht, und Regierungsgold ist zu siebenundneunzig Prozent rein, wodurch ich bei Verhandlungen immer eine Menge Druck aufbauen kann.
An diesem Tag waren meine Freunde etwas nervös, wahrscheinlich, weil die Geschichte in Classis die Schifffahrtsbranche beunruhigte, und Gold ist Balsam für gereizte Nerven. Ich einigte mich mit ihnen auf zweihundertsechzehn ihrer ausgezeichneten, und in vielerlei Hinsicht sogar den echten überlegenen Silbertorneke für eine meiner offiziellen Goldmünzen, wodurch ein beträchtlicher Gewinn für meinen Fonds abfiel, von dem niemand weiß und den ich für schlechte Zeiten des Regiments eingerichtet habe. So gelingt es mir, andere Einheiten bei der Beschaffung von Nachschub zu überbieten, meine Jungs zu bezahlen, wenn der Schatzmeister Mist baut, mich mit richtigen Stiefeln einzudecken, deren Nähte nicht aufplatzen, auch wenn der Nachschub auf Sparflamme läuft. So kommt man in dieser Armee voran, wenn man nicht der Neffe von jemandem ist und man eine chronische Hautkrankheit hat. Und da es ein Spiel ist, das ich ziemlich gut beherrsche, bin ich vollkommen damit einverstanden.
* * *
Admiral Zonaras hätte sich eher selbst ein Ohr abgebissen als zuzugeben, dass er auf mich gehört hatte. Es muss also Zufall gewesen sein, dass die erste Flotte von der Bewachung der Meerenge abgezogen und zur Schelm-Mündung verlegt wurde. Als sie dort ankamen, war niemand zu Hause. All die kleinen Fischerdörfer waren verlassen, Boote und Netze verschwunden, die Viehställe leer, keine bellenden Hunde mehr. Sie steckten also ein paar Lehmhütten in Brand, was, wie ich annehme, ein gutes Mittel ist, um die wenig aufgeklärten Wilden von der Überlegenheit unserer Kultur und Lebensweise zu überzeugen, und kamen zurück.
Es war reines Pech, dass sie vor den Pillaren in einen bösen Sturm gerieten, der drei Schiffe versenkte und den Rest in alle Winde verstreute. Es dauerte eine Woche, bis sich die Flotte neu formiert hatte, eine weitere, bis die Schäden beseitigt worden waren, erst dann fuhr sie in die Bucht. Ich sprach mit einem Fähnrich auf einem der Schiffe des Führungsgeschwaders, und er sagte mir, dass sie den Rauch hätten aufsteigen sehen, sobald sie Kap Suidas umrundeten.
Beachteten den aufsteigenden Rauch, der anzeigt, dass es windstill war. Was für ein Pech, dass sie kurz vor dem Kap in eine Flaute gerieten. Das passiert von Zeit zu Zeit, und niemand weiß genau, warum. Es gab nichts, was sie hätten tun können.
Die erste Flotte besteht hauptsächlich aus Galeeren und Dromonen, riesigen Schiffen mit mächtigen Segeln. Schnell und sehr wendig, aber nur, wenn es Wind gibt. Die Sherden dagegen benutzen schmale kleine Galeeren mit einem großen Rahsegel und zwanzig Rudern auf jeder Seite, damit sie auch bei Windstille vorwärtskommen. Der Mann, mit dem ich sprach, sagte, er habe siebenundachtzig Schiffe gezählt, die alle tief im Wasser lagen und auf dem Rückweg von der Plünderung und Brandschatzung von Salpinx waren.
Was für ein verdammter Dummkopf ich bin. Es ist auch kein Trost, dass Admiral Zonaras die ganze Sache ebenfalls nicht kommen sah. Salpinx ist – Verzeihung, war – eine Stätte mit nur einem Zweck. Hier legen die großen Holzkohlekähne vom Ellenbogen an, um ihre Ladung zu löschen. Jeden Monat Tausende Tonnen Zeug, mit dem die Schmieden und Gießereien des Arsenals versorgt werden. Kein Wunder also, dass der Rauch weithin zu sehen war. Offenbar hatten sich die Sherden Zeit damit gelassen, ihre kleinen Schiffe zu beladen, bis kaum noch Platz darauf war. Dann hatten sie angezündet, was noch übrig war, und sich davongemacht. Das Glück war auf ihrer Seite gewesen. Ohne den Sturm und die folgende Flaute wären sie vor den Pillaren auf die Flotte gestoßen, und das hätte ihren Untergang bedeutet. Ich nehme an, wer auch immer die Operation geplant hatte, war davon ausgegangen, dass Zonaras’ Männer sich etwas mehr Mühe geben würden, jemanden zu finden, den sie in der Flussmündung umbringen konnten. Doch das Glück ist auf der Seite der Tapferen.
* * *
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich erst mal genug von der Stadt. Ich mietete drei große Karren, um mein auf zwielichtigem Wege beschafftes Silber zum Hauptquartier des Regiments in Kakodemon zu schaffen – normalerweise hätte ich es mit einem schnellen Schiff dorthin gesandt, aber irgendwie kam mir das nicht sinnvoll vor. Ich hatte es eilig, aus der Stadt zu kommen, bevor Priscus eine weitere Ratssitzung einberief, also ritt ich mit Eynar dem Schrottkönig bis nach Louso und lieh mir dort im Einhorn ein Pferd. Ich hasse das Reiten – es geht nicht um den nächsten Tag, sondern um den übernächsten –, aber irgendetwas sagte mir, dass ich zu meinen eigenen Leuten zurückmusste und etwas finden sollte, womit ich mich eine Weile beschäftigen konnte, vorzugsweise weit weg, damit ich nicht leicht zu erreichen war. Bestimmte Jobs hebe ich mir für genau solche Gelegenheiten auf. Ungefähr neun Monate zuvor hatte uns irgendein Akademikerschnösel gebeten, ihm eine Brücke oben in den Zahnbergen zu bauen, auf halbem Weg zum Ellenbogen. Ich habe Besseres zu tun, als irgendwelche Bergpfade hinaufzustapfen und meinen ganzen Laden mitzuschleppen wie eine Schnecke ihr Haus, also schrieb ich zurück, ich würde mich bei ihm melden, sobald ich fünf Minuten Zeit hätte. Und diese fünf Minuten standen mir nun zur Verfügung.
Die Jungs platzten bei der Vorstellung, die Freuden von Kakodemon zu verlassen und sich auf eine längere Reise ins Nirgendwo zu begeben, nicht gerade vor Begeisterung, aber ich litt, wie es mir hin und wieder eigen war, an selektiver Taubheit, und wir zogen los.
Ich werde Euch nicht mit einem Bericht über die Abenteuer langweilen, die wir erlebten, als wir im Nebel bei strömendem Regen in einer tiefen Schlucht eine Pontonbrücke über einen reißenden Fluss bauten, nur damit unser kleiner Akademiker keinen Umweg von zehn Meilen auf sich nehmen musste, wenn er in der nächsten Stadt ein paar Röcke jagen wollte. Die Brücke war eine beachtliche Leistung der Ingenieurskunst, wenn ich das so sagen darf, und da wir sie aus Material bauten, das wir uns geborgt oder auch geschnorrt hatten, kostete sie die Abteilung nicht einen Trachy. An Verletzungen hatte es nur zwei gebrochene Arme und ein paar blaue Flecken gegeben – was bei dem schäumenden Wildwasser und dem zwanzig Meter hohen, steilen Abhang, der uns jeden Morgen begrüßte, wenn wir mit der Arbeit begannen, nicht schlecht ist, glaubt mir. Doch das Ganze war eine Verschwendung von Zeit und Energie, und ich glaube, die Jungs begannen zu ahnen, dass irgendetwas Seltsames vor sich ging. Es gab viele Gespräche, die verstummten, wenn ich ans Lagerfeuer trat, und ich musste eine Menge raffinierter Fragen parieren, was ich überhaupt nicht gewohnt bin. Zum Glück vertrauten mir die Jungs, sonst hätte es ziemlich peinlich werden können.
Neuigkeiten schaffen es meist nicht so weit in den Norden. Das einzige Nachrichtenmittel, wenn überhaupt, sind Münzen, die den wenigen, die lesen können, verraten, wenn es einen neuen Kaiser gibt. Die Soldaten, für die wir die Brücke bauten, hatten vom Bezirk seit drei Jahren nichts mehr gehört und waren auch nicht bezahlt worden, deswegen verbrachten sie die meiste Zeit damit, Schafe zu hüten und Kohlköpfe zu hacken. Der junge Offizier hatte Narben am linken Handgelenk, weil er aus purer Langeweile versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Daher bekam ich auch keine verwertbaren Informationen darüber, was sich in Salpinx ereignete, bis wir die Brücke fertig hatten und gemächlich nach Maudura abrückten, wo wir einen Halt einlegten, um ein undichtes Aquädukt zu reparieren. Dort traf ich einen Mann, den ich ein wenig kannte.
Er erzählte mir, dass der Leuchtturmwärter gesehen hatte, wie die Piratenschiffe unter der Nebeldecke hervorkamen, sich ihren Weg durch die wirklich erschreckenden Untiefen bahnten und von Nordwesten her Kurs auf Salpinx nahmen. Sie zwangen die Hafenarbeiter, die Schiffe zu beladen, bis die nichts mehr tragen konnten, trieben dann alle in den Hauptlagerschuppen, nagelten die Türen zu und setzten das Dach in Brand. Erstaunlicherweise schafften es ein paar Männer durch die Flammen hinaus, und sie lebten lange genug, um unter Eid vor der Magistratur auszusagen.
