Wie man ein Imperium regiert und damit durchkommt - K. J. Parker - E-Book

Wie man ein Imperium regiert und damit durchkommt E-Book

K. J. Parker

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Beschreibung

Die Stadt wird zwar belagert, aber trotzdem müssen die Eingeschlossenen irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen. Zum Beispiel Notker, der gefeierte Dramatiker, Schauspieler und Leiter des Theaters. Niemand arbeitet härter, selbst wenn er nicht arbeitet. Zum Glück stellt sich schnell heraus, dass die Leute das Theater auch oder gerade dann dringend brauchen, wenn rundherum die Steingeschosse der Katapulte vom Himmel fallen. K. J. Parker aka Tom Holt ist eine der ganz großen Stimmen der humorvollen Fantasy.

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Seitenzahl: 485

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ins Deutsche übertragen von Peter Bondy

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2020, 2022 by One Reluctant Lemming Company Ltd. All rights reserved.

Cover design by Lauren Panepinto. Cover image by Shutterstock

Cover © 2020 Hachette Book Group, Inc.

Titel der Englischen Originalausgabe: »How to rule an Empire and get away with it« by K. J. Parker, published in Great Britain in 2020 by Orbit an imprint of Little, Brown Book Group, London, UK.

Deutsche Ausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Peter Bondy

Lektorat: Claudia Kern

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDPARKE002E

ISBN 978-3-7367-9843-4

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, Oktober 2021, ISBN 978-3-8332-4183-3

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Oh, the man who can rule a theatrical crew, Each member a genius (and some of them two), (…) Can govern and rule, with a wave of his fin, All Europe – with Ireland thrown in!

W. S. Gilbert, The Grand Duke

1. Akt

1. Kapitel

Es lief nicht gut. Er war zwar höflich, das war er immer, aber ich war auf dem besten Weg, ihn zu verlieren.

»Es ist wirklich eine fantastische Geschichte«, sagte ich. »Da ist dieser Mann … Einhard wäre wie gemacht für die Rolle. Sie ist ihm wahrlich auf den Leib geschrieben.«

Ein bisschen hatte ich an Boden zurückgewonnen. Rollen für Einhard zu finden, war nicht leicht, und er stand unter Vertrag.

»Sprich weiter«, sagte er.

»Da ist dieser Mann«, fuhr ich fort. »Er ist von adeliger Geburt, aber er ist in raue See geraten. Jetzt bettelt er auf der Straße.«

»Das klingt gut«, meinte er zurückhaltend. »Die Leute mögen so was.«

»Eines Tages sitzt er also vor dem Tempel, vor sich seinen Hut und neben sich seinen Hund an einem Strick …«

»Keine Hunde. Wir arbeiten niemals mit Hunden.«

»Vor sich seinen Hut … als niemand anders als der Oberhofmeister und der Großwesir auftauchen. Verkleidet natürlich.«

»Aber wir wissen, dass sie es sind.«

»Natürlich. Und sie sprechen den Mann darauf an, dass er eine unglaubliche Ähnlichkeit mit dem König hat. Ja, sagt der Mann, er ist mein zigster Cousin, deshalb habe ich mir den Bart wachsen lassen, denn es wird manchmal wirklich peinlich, aber was soll ich machen? Und dann sagt der Großwesir, wir brauchen dich, du musst für uns einen Auftrag erledigen. Man wird dich gut dafür bezahlen. Und es stellt sich heraus, dass der König von Verrätern entführt worden ist, die der Feind gedungen hat, weil er einen Krieg anzetteln will. Deswegen brauchen wir dich, sagen sie, damit du dich für ihn ausgibst, nur so lange, bis …«

Er hob die Hand. »Lass mich gleich hier unterbrechen«, sagte er.

Okay, dachte ich.

»Es ist wirklich eine tolle Geschichte«, meinte ich.

»Da stimme ich zu. Es ist eine fantastische Geschichte. Das war sie schon immer. Schon vor einem Jahrhundert war es eine großartige Geschichte in Der Gefangene von Beloisa. Noch besser war sie in Carausio und in DerMann mit der Bronzemaske …«

»Hundertsechzehn Aufführungen hintereinander«, betonte ich.

»Bis heute ungeschlagen«, räumte er ein. »Es ist eine dieser Geschichten … nun ja, ein bisschen wie du«, meinte er lächelnd. »Sie beginnt vor langer Zeit wirklich gut und wird immer besser und besser, egal, wie oft man sie sieht. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Aber nach einer Weile …« Er zuckte mit den Schultern. »Viel Glück damit«, sagte er, »für uns ist das aber ehrlich gesagt nichts. Trotzdem danke.«

»Es kommt auch eine Belagerung vor«, gab ich noch nicht auf. »Und eine Liebesgeschichte.«

Er zögerte. »Belagerungen sind immer gut«, meinte er. »Und ich sage dir was. Warum setzt du dich nicht hin und schreibst es neu, mit der Belagerung im Mittelpunkt, und vergisst all das andere Zeug? Belagerungen kommen im Moment richtig gut an.«

Was ziemlich bizarr ist – sieben Jahre nach der großen Belagerung der Stadt. Aber das ist eben das wahre Leben, verdammt! Und das Letzte, wofür man ins Theater geht, ist das wahre Leben. Aber (erklärte er mir, als ich Einspruch erhob) die Leute wollen etwas sehen, das auf den ersten Blick wie das wahre Leben erscheint, sich dann aber als Märchen entpuppt, in dem die Tugend triumphiert und das Böse besiegt wird – mit einer aufmunternden Botschaft, einer mutigen Hauptdarstellerin und, wenn irgend möglich, mit ein paar Einhörnern. Außerdem, so sagte ich ihm, wollen sie etwas, das neu und völlig originell aussieht, aber eigentlich dieselbe alte Leier ist, die wir alle kennen und lieben, seit wir Kinder waren. Genau, meinte er. Aber wie ich dich kenne, würdest du ihnen etwas wirklich Neues und Originelles zeigen, das du anscheinend in die alte Leier verpackst, und wenn ich das in meinem Theater aufführe, würden sich die Schauspieler nach ein oder zwei Abenden furchtbar einsam fühlen.

Also ging ich.

Und dann schrieb ich ihm ein positives, wirklich erhebendes Stück Scheiße über eine Belagerung, bei der die Tugend triumphierte, das Böse besiegt wurde und Andronika in schwarzem Glattleder einfach toll aussah, als sie den Feind quer über die Bühne prügelte. Es lief sechsundzwanzig Abende und deckte mehr oder weniger die Kosten. Daher war es in Ordnung.

* * *

Die Moral triumphiert, das Böse ist besiegt, am Ende gibt es eine positive, aufbauende Botschaft, eine mutige Hauptdarstellerin und wenn irgend möglich ein paar Einhörner. Ich muss gestehen, dass ich kein Gelehrter bin, also kann es durchaus sein, dass es Einhörner gibt, in Permia oder sonst wo, sodass vielleicht eine Komponente dieser Liste im wahren Leben tatsächlich existiert. Ich möchte allerdings keine Monatsmiete darauf verwetten.

2. Kapitel

Ich verließ das Theater und ging die Fischtreppe hinunter nach Eden. Es war schon seltsam in dieser Stadt. All die wirklich schrecklichen Viertel haben absolut charmante Namen. So wie der Alte Blumenmarkt, auf dem man früher sicher einmal hatte Blumen kaufen können, allerdings nicht mehr zu meinen Lebzeiten. Er ist bei dem großen Brand vor etwa fünf Jahren in Flammen aufgegangen, und niemand hat ihn bisher vermisst. Die Bewohner gingen fort und teilten sich strikt nach ihren Interessen – alle Angehörigen der blauen Bruderschaft zogen ins Alte Treppenviertel, die grüne Bruderschaft ließ sich in Eden nieder – mit dem Ergebnis, dass nirgendwo in der Stadt noch Blaue und Grüne zusammenleben. Allerdings ist das kein großer Verlust. Die Bruderschaftsmorde sind um etwa zehn Prozent zurückgegangen, seit der Blumenmarkt niedergebrannt ist. Es ist nämlich viel einfacher, seine Todfeinde zu tolerieren, wenn man sie zwischen Jahresanfang und Jahresende nicht sieht.

Ein angesehener Mann wie ich muss einen trefflichen Grund haben, wenn er auch nur einen Fuß nach Eden setzt. Niemand würde das leichtfertig tun oder wenn es nicht unbedingt sein muss. Ich ging ein paar Gassen entlang und konnte dieses unangenehme innere Zucken nicht abschütteln, weil ich spürte, wie Blicke sich in meinen Hinterkopf bohrten. Dann blieb ich vor einer von vielleicht zwanzig identischen rußschwarzen Türen stehen, wickelte ein Stück Stoff um meinen Fingerknöchel und klopfte dreimal. Die Tür wurde geöffnet, und da stand diese Frau und starrte mich an.

Ihr würdet sie nicht unbedingt auf eine Bühne stellen. Das würde sich niemand trauen. Stereotypen und Karikaturen sind schön und gut – unser Lebenselixier, wenn wir ehrlich sind –, aber man kann es auch übertreiben. Wenn man also eine widerwärtige alte Hexe will, dann nimmt man zwei, drei typische Merkmale: Falten, eine Hakennase, dünnes weißes Haar wie Schafswolle, die sich in der Brombeerhecke verfangen hat, verknotete Hände, die wie Klauen wirken – all das. Natürlich nimmt man nicht alles, denn das wäre zu viel. Und genau darum zeigt sich auf der Bühne auch nicht das wahre Leben. Niemand würde es glauben.

»Hallo, Mutter«, sagte ich.

Sie warf mir einen säuerlichen Blick zu. »Oh«, erwiderte sie, »du bist es.«

»Geht es dir gut?«

»Als ob dich das interessieren würde.«

In Eden steht man nicht im Türrahmen herum und redet. »Darf ich reinkommen?«, fragte ich.

»Warum? Was willst du?«

Sie liebt mich wirklich, aber ich bin eine große Enttäuschung für sie. »Ich war schon eine Weile nicht mehr bei dir«, entgegnete ich.

»Sechs Monate und vier Tage. Nicht, dass mich das stört.«

»Darf ich reinkommen, bitte?«

Meine Mutter besitzt ihr eigenes Spinnrad, was einen in Eden zum Mitglied der Aristokratie macht. Außerdem ist sie die Witwe eines Anführers der Grünen, deswegen hat es noch niemand gestohlen. Und das ist noch nicht alles. Sie spinnt hochwertige bunte Seidengarne für die Töchter des Adels, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als zu sticken, mit dem Unterschied, dass meine Mutter dafür bezahlt wird. Sie ist praktisch blind, aber trotzdem ist sie sehr gut in dem, was sie tut, sehr schnell, und sie hat nie Probleme mit der Qualität ihrer Ware. Einmal habe ich ausgerechnet, dass sie genug Seidenfäden gesponnen hat, damit sie von hier bis Atagena reichen würden und wieder zurück. Das habe ich ihr auch gesagt. Sie allerdings hat keine Ahnung, wo Atagena liegt, und es ist ihr auch völlig egal.

»Geht es um Geld?«, wollte sie wissen.

Wie verletzend. Es stimmt schon, gelegentlich musste ich mir kleinere Summen leihen, aber nicht in letzter Zeit. Zumindest nicht in den letzten sechs Monaten. »Bestimmt nicht«, entgegnete ich. »Ich wollte dich nur sehen, das ist alles. Du bist schließlich meine Mutter, verdammt noch mal!«

Sie setzte sich auf den lächerlich wirkenden niedrigen Schemel, stellte einen Fuß auf das Pedal und griff in die Fasern mit ihrer Hand, die nun ganz haarig wirkte, wie eine Frucht mit Schimmel. Das Rad begann zu surren, wie es das schon mein ganzes Leben lang getan hatte. Ich erzählte ihr, was ich gemacht hatte, oder eine kreative Version davon, in der die Tugend triumphierte und das Böse vollends besiegt wurde. Sie tat so, als könnte sie mich wegen des Lärms, den das Rad machte, nicht hören. Wie ich schon sagte, ich bin eine Enttäuschung für sie. Sie hätte es lieber gesehen, wenn ich ein Mörder und Erpresser geworden wäre wie mein Vater.

Was ein Mann von seiner Familie ertragen kann, hat naturgemäß seine Grenzen, deswegen führte ich meine Erzählung zu einem ästhetisch ansprechenden Ende, sagte ihr, sie solle auf sich aufpassen, und ging.

Erneut stieg ich den Hügel hinauf, und glücklicherweise kam der Wind von der See, deswegen war zu dem Zeitpunkt, als ich das Buttertor erreichte, der Geruch meines Zuhauses verweht.

Vom Buttertor aus ging ich in die Oberstadt. Ich hatte einen Job, und der wurde auch noch bezahlt: ein privater Auftritt nach dem Abendessen in einem eleganten Haus in der Halbmondallee. Natürlich imitierte ich führende Persönlichkeiten der Zeit, und als ich um die Ecke in dieses prächtige Beispiel frühmanieristischer Architektur einbog, versuchte ich verzweifelt, mich daran zu erinnern, auf welcher Seite meine Gastgeber standen. Ich hoffte nur, sie waren Optimaten, weil ich Nikephoros und Artavasdus gut nachahmen kann und dabei sogar auf dem Kopf stehe (kostet zwei Taler extra, kommt aber sehr gut an, macht mich nur schwindelig), während die Popularen ein bisschen zu unscheinbar sind, damit es witzig werden kann. Das Haus, das ich suchte, war das dritte vom südlichen (modischeren) Ende aus gesehen, mit einer blauen Tür.

Ich hörte dieses surrende Geräusch. Es klang genau wie das Spinnrad meiner Mutter, aber das konnte doch nicht sein, oder? Ich hörte es vielleicht drei Herzschläge lang, und ein Schatten zog über meinen Kopf und nahm mir die Sonne. Dann gab es diesen unfassbar lauten Schlag, und dort, wo eben noch das Haus mit der blauen Tür gestanden hatte, erhob sich eine riesige Staubwolke.

Es gibt fast immer einen Moment der Totenstille, bevor die Hölle losbricht. Und wenn man schon so lange dabei ist wie ich, weiß man, wofür dieser Moment da ist. Es ist die Unbesiegbare Sonne, die einem gerade genug Zeit gibt, sich zu entscheiden: Stürmt man los und hilft und mischt sich ein, oder wendet man sich diskret ab und geht einfach weg?

Als das Bombardement begann, vor etwa anderthalb Jahren, dachte niemand darüber nach, dass er diese Entscheidung treffen könnte. Es spielte keine Rolle, wer man war, wenn eine dieser gewaltigen Felsplatten vom Himmel fiel und irgendetwas dem Erdboden gleichmachte, ging man nicht, man rannte los, um zu helfen. Tat, was immer man konnte, selbst ich – ein- oder zweimal. Ich erinnere mich daran, wie der Staub mich blendete und die Innenseiten meines Mundes mit Zement überzog und dass ich mir zwei Fingernägel abriss, als ich versuchte, einen der Steinbrocken zu bewegen, unter dem ein Mann zur Hälfte eingeklemmt war – seine Augen waren durch den Druck aus den Höhlen gequollen, aber er lebte noch. Ich erinnere mich noch, dass meine Mitbürger mich aus dem Weg drängten, weil sie zuerst da sein wollten.

Aber das ist achtzehn Monate her. Seitdem hat sich eine Art Routine entwickelt. Der Feind baut heimlich ein neues Super-Trebuchet, das bis über die Mauern reicht. Im ersten Licht der Sonne bringen sie es in Reichweite, beschäftigen sich den Tag damit, es aufzubauen, und lösen in der Abenddämmerung den ersten Schuss aus. Es dauert sechs Stunden, bis sie es wieder spannen. Bis dahin sind unsere unerschrockenen Kommandos durch ein Ausfallstor hinausgeeilt, haben die Linien durchbrochen, das Trebuchet irreparabel beschädigt und sind in die Sicherheit der Mauern zurückgekehrt, manchmal mit Verlusten von weniger als sechzig Prozent. Also zieht der Feind ab und baut eine neue Wurfanlage, und so geht es weiter, sinnlos und desaströs wie die Belagerung selbst. Und ein- oder zweimal im Monat wird ein Haus in der Nähe der Mauer zertrümmert (weil man keinen Felsbrocken über das östliche Ende der Mauer schleudern kann, ohne dabei irgendwas zu treffen), so ist nun mal das Leben. Gelegentlich ergeben sich daraus schlimme persönliche Konsequenzen für gewöhnliche Leute wie mich, die gut dafür bezahlt wurden, vor einem erlesenen Publikum zu spielen, das jetzt nur noch aus zerschlagenen Knochen in einem Trümmerfeld besteht. Das ist das wahre Leben in dieser Stadt. Ihr könnt sicher verstehen, dass niemand unbedingt mehr davon erleben möchte, als er verkraften kann.

Ich nutzte meinen Moment der absoluten Ruhe sinnvoll. Ich drehte mich um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war, schnell, aber ohne zu laufen.

* * *

Ich bin kein Schriftsteller (wie Ihr mir zustimmen werdet, sobald Ihr dieses Buch gelesen habt). Ich greife nur zur Feder, wenn die Zeiten hart sind, das Geschäft schlecht läuft und mich niemand will. Dann schreibe ich eine Rolle für mich – meist eine unauffällige Cameo-Rolle – und ein passendes Stück dazu, das ich bei den Theaterleitern anpreise, bis einer von ihnen leichtgläubig genug ist, es anzunehmen. Weil ich besser darin bin, für andere Leute zu arbeiten als für mich selbst, mögen meine Schauspielerkollegen im Allgemeinen meine Werke. Und was die großen Namen in der Branche mögen, das mögen auch die Theaterleiter. Und was die Theaterleiter mögen, mögen die Kleindarsteller und die ganz kleinen Fische auch. Tatsächlich mögen alle meine Sachen, außer mir selbst (und dem Publikum, aber das mag sowieso nichts), und deswegen erreichen wir auf diese Weise meistens durchaus eine Kostendeckung. Da drei von fünf Theaterstücken in dieser Stadt innerhalb einer Woche wieder abgesetzt werden und einen Verlust einfahren, bin ich eine relativ sichere Bank. Aber ich bin kein Schriftsteller, und ich will auch gar keiner sein.

Ich will eigentlich auch nicht das tun, womit ich hauptsächlich meinen Lebensunterhalt verdiene, nämlich Leute zu imitieren. Wie auch immer, das Schicksal oder die Unbesiegbare Sonne oder sonst wer schert sich einen Dreck darum, was ich will, weshalb ich völlig unscheinbar aussehend geboren wurde und entsprechend wenig weiterentwickelt bin und weshalb ich diese unheimliche Gabe habe, andere Menschen zu imitieren. Eine schützende Maske für mich. Oder der grundlegende Antrieb eines Schauspielers ins Extrem getrieben.

Nicht, dass ich jemals ein richtiger Schauspieler sein werde, geschweige denn ein wirklich guter – wofür ich zutiefst dankbar bin. Es gibt die unumstößliche Regel, dass nur Idioten und Bastarde wirklich gute Schauspieler sein können. Nehmt nur Psammetichus oder Deuserik oder Andronika – alle abscheulich arrogant und egozentrisch wie die Sonne. Aber das ist leicht zu erklären. Wenn man die meiste Zeit seines Lebens damit verbringt, Psammetichus oder Andronika zu sein, was für eine Wonne ist es dann, jeden Abend für drei Stunden in eine andere Haut zu schlüpfen. Ich kann mir keinen größeren Anreiz vorstellen, sein Handwerk zu meistern und zu perfektionieren. Und Frühvorstellungen zu spielen.

Bei mir ist das nicht ganz so. Meistens sind die Menschen, die ich darstelle, seriöse Leute des öffentlichen Lebens: Politiker, Generäle, gelegentlich auch Schauspieler, Sportler oder Gladiatoren. Die meisten von ihnen sind zutiefst unangenehme Menschen, und unter dem Strich bin ich lieber ich als sie. Eigentlich gibt es hier ein bemerkenswertes Paradoxon. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde gutes Geld dafür bezahlen, mich zu sehen, wenn ich nicht in meiner Rolle bin. Und fast jeder in der Stadt würde absolut sehr gutes Geld für eine Garantie zahlen, dass man den Ersten Minister oder den Führer der Opposition nie wieder sehen oder etwas von ihm hören muss. Aber wenn ich es bin, der nur vorgibt, der Erste Minister oder der Führer der Opposition zu sein – nun ja, dann bilden sich nicht gerade Schlangen, die sich die Straße entlangziehen, aber jeden Abend tröpfeln genug Zuschauer herein, um die Miete zu bezahlen und einen bescheidenen Gewinn zu machen. Denkt darüber, was Ihr wollt. Ich betrachte das alles eher als kurios denn als wirklich interessant.

* * *

Ziegelstaub auf den Schultern und in den Haaren und ein ebenso unerwarteter wie ungewollter freier Abend. Ich griff in die Tasche und kramte hervor, was auf den ersten Blick wie eine gute Handvoll glänzender Silbermünzen aussah, doch die Hälfte davon entpuppte sich als Wochenmiete, ein Viertel waren Schulden bei verschiedenen Freunden mit der unglücklichen Gabe, mich zu finden, und der Rest war Essen und ein neues Paar gebrauchter Stiefel – kein Luxus in meiner Branche. Wenn Ihr einen Theaterleiter aufsucht, sieht er sich als Erstes Eure Schuhe an. Seid Ihr in letzter Zeit viel herumgelaufen, seid Ihr wahrscheinlich nicht sonderlich brauchbar.

Ich versuchte es in der anderen Tasche, denn man weiß ja nie, und zu meiner großen Überraschung und Freude fand ich ein seidenes Taschentuch. Ich erinnerte mich, es etwa drei Wochen zuvor während einer Probe am Boden gefunden zu haben. Damals schwamm ich im Geld und hatte die Absicht gehabt zu erkunden, wem es gehörte und es zurückzugeben – sehr tugendhaft von mir. Und nun sollte meine Tugend belohnt werden. Ich brachte es in den Laden, in den ich normalerweise gehe, im Rosengang, und sie gaben mir etwa ein Viertel des tatsächlichen Wertes, und das war, wenn Ihr mich fragt, absolut unredlich.

Da ich nun schon im Rosengang war, dachte ich mir, ich könnte genauso gut die fünfzig Meter weitergehen und mich im Sonnenwagen zeigen. Ich war schon eine Weile nicht mehr dort gewesen, weil ich bestimmte Leute nicht treffen wollte, die freundlich und verständnisvoll gewesen waren, als mich das Glück verlassen hatte. Doch trotz all seiner Nachteile ist es ein durchaus nützlicher Laden, und ich ging davon aus, dass mir nichts geschehen würde, da meine beiden Gläubiger mit dem goldenen Herzen in einer Wiederaufführung von Zwei Hexen im Goldenen Stern auftraten und daher zu dieser Tageszeit auf der Bühne stehen würden. Bevor ich hineinging, trat ich absichtlich in eine schlammige Furche auf der Straße. Das konnte jedem passieren, egal, wie teuer sein Schuhwerk war, und der Dreck verdeckte Risse und Sprünge in abgetragenem Leder. Liebe zum Detail ist oft alles.

Im Sonnenwagen verändert sich nie etwas. Man wird Euch dort sagen, dass auf dem Boden immer noch dieselben Binsen liegen wie zu der Zeit, als Huibert den König in Dolcemara probte, und es wäre ein Sakrileg, sie zu ersetzen. Ebenso befindet sich noch derselbe Ruß an der Rückwand, von dem Saloninus ein wenig abkratzte, um die Tinte zu mischen, mit der er EinTraum schöner Frauen schrieb, während er genau in jener Ecke saß, auf dem Stuhl, der ein wenig wackelt, neben dem Tisch, auf den man sich nicht zu schwer lehnen sollte, wenn man vermeiden will, dass die Getränke auf dem Boden landen. Der Laden war so überbordend von Tradition wie das Imperium selbst.

Und auch das übliche Publikum war anwesend. Leicht überrascht, mich nach so langer Zeit zu sehen. Sie wussten, dass ich einem Theaterleiter ein Angebot unterbreitet hatte – jeder weiß dort immer alles –, daher musste ich mein Getränk nicht selbst bezahlen. Verschiedene gute Freunde klopften mir den Staub von der Kleidung, und ich sorgte für ein wenig Aufsehen, als ich ihnen erklärte, woher der Staub kam, obwohl ihr Interesse an den aktuellen Geschehnissen beträchtlich nachließ, kaum hatten sie sich versichert, dass keines der Theater getroffen worden war. Vielmehr interessierte es sie, was ich für die Rose schreiben würde, unter besonderem Hinweis auf vielleicht kleine, aber muntere Rollen, für die sie unter Umständen gerade zur Verfügung stehen würden. Ich versprach jedem, der mich fragte, etwas Nettes, so wie es alle immer tun. Die Hoffnung breitet sich in dieser Stadt so eifrig aus wie die Ratten.

»Jemand war hier und hat nach dir gesucht«, sagte mir jemand.

Beachte die Grammatik! Wäre das Subjekt des Satzes ein Eigenname gewesen, wäre das nichts Ungewöhnliches. A) ein Theaterleiter mit einer Rolle für mich – gut; B) ein Gläubiger – schlecht. Es waren die zwei Seiten der sich endlos drehenden Münze des Lebens. Aber jemand meinte jemanden, den wir nicht kennen (und im Sonnenwagen kennen wir jeden). Ich spannte die Flügel an, bereit, mich in die Flucht zu schwingen wie eine Taube auf einem Baum.

»Und?«

Meine Freundin grinste. »Nicht aus der Branche«, sagte sie. »Sie würden keine fünf Minuten durchhalten, wenn sie es wären.«

»Ah.« Ich griff nach der Flasche und hielt sie über ihr Glas, ohne sie zu kippen.

»Nicht sehr gut in der Schauspielerei«, erklärte sie. »Wir sind alte Freunde von ihm, meinten sie, haben ihn schon ewig nicht mehr gesehen und hatten gehört, dass er oft hier ist. Natürlich war das Quatsch.«

Sie hatte sich zwei Zentimeter verdient, die ich ordnungsgemäß ausschenkte. »In welchem Sinne?«

Sie runzelte die Stirn. »Auftritt des Herzogs und seines Gefolges, verkleidet als Vagabunden. Schuhe und Schmuck passten überhaupt nicht. Sie hatten einfach keine Ahnung.«

Beunruhigend. Ich war nicht immer Schauspieler, ob Ihr es glaubt oder nicht, und nicht jeder, den ich je kannte, war in diesem Beruf tätig. »Was hast du ihnen erzählt?«

»Ich habe dich schon ewig nicht mehr gesehen, keine Ahnung, wo du sein könntest, dachte, du seist tot, habe nie etwas von dir gehört.« Sie lächelte mich an. »Natürlich war ich nicht die Einzige, die gefragt wurde.«

»Wann war das?«

»Vor etwa einer Stunde.«

Das hieß, sie waren schon kurz nach meiner Ankunft gegangen. So unauffällig wie möglich schaute ich mich um. Alle, die schon da waren, als ich gekommen war, schienen immer noch anwesend zu sein. Nein, ich lüge. Ein Gesicht fehlte. Ich schob die Flasche, die immer noch zu einem Drittel gefüllt war, zu ihr hinüber, nahm meinen Hut und schlich mich durch die Seitentür davon.

* * *

Ich ging zurück zum Kronentor, wo ich von einer halben Kompanie schwerer Infanterie fast zu Tode getrampelt wurde. Ich wich zurück in eine Türöffnung und ließ sie passieren. Keine Ahnung, wohin sie so eilig unterwegs waren. Wäre ich ein Soldat auf einer Mission, von der ich wahrscheinlich nicht zurückkäme, würde ich wohl nicht ganz so zügig voranmarschieren. Da habt Ihr es wieder. Vermutlich rechneten sie alle damit, zu den Glücklichen zu gehören, die überlebten, oder genau der eine zu sein. Siehe noch einmal weiter oben unter Hoffnung.

Es ist gar nicht so einfach, den Kopf einzuziehen und sich von den Leuten fernzuhalten, die nach einem suchen, wenn man Schauspieler ist, also machte ich mir klar, was für ein Glücksfall es war, dass ich derzeit kein Engagement hatte. Ich korrigiere: Ich musste ein Stück für die Rose schreiben, etwas, das überall möglich war. Allerdings ärgerte es mich, dass ich nicht nach Hause zurückkehren konnte, aber trotzdem die Miete zahlen musste, was mein Kapital stark dezimieren würde. Ich beschloss, meine berechtigte Empörung über all die Ungerechtigkeit in meine Arbeit einfließen zu lassen, was Saloninus oder Aimo an meiner Stelle sicher auch getan hätten.

Wenn man in dieser Stadt der Männer untertauchen will, gelingt das umso einfacher, je näher man an die Docks herankommt. Seit die Belagerung begonnen hat und wir die Kontrolle über das Meer zurückgewinnen konnten, obwohl das gesamte Landreich den Bach runtergegangen ist, gibt es eine Menge Ausländer, die in und um die Docks herum leben, wo die Mieten billig sind. Niemand kennt sie, sie gehören keiner Bruderschaft an, und ihr Geld ist so gut wie das von jedem anderen. Sie sind Händler, Vertreter, Agenten oder Matrosen, die von fremden Schiffen entlassen werden, und viele von ihnen sprechen nicht einmal Robur. Und sie wissen, wie wir mit jedem umgehen, den wir nicht verstehen. Ich dachte mir, wenn ich vorgebe, ebenfalls ein Fremder zu sein und, sollte mich jemand ansprechen, in irgendeinem Kauderwelsch antworte, wird man mich schon in Ruhe lassen. Dann könnte ich mein Stück schreiben, dafür bezahlt werden und so lange untertauchen, bis derjenige, der nach mir sucht, beschließt, dass ich tot oder in Übersee sein muss, und das alles zu einem Preis, den ich mir leisten kann. Hätte das nicht eine gewisse Magie?

Also wanderte ich ein bisschen herum – es war inzwischen stockdunkel –, bis ich meinte, ein Haus gefunden zu haben, das mir angemessen unheimlich erschien, wo ich es aber trotzdem eine Woche oder vielleicht länger aushalten könnte, und klopfte an die Tür. Ich wartete lange, dann flog eine kleine Abdeckung in der Tür zur Seite, und ein blutunterlaufenes Auge starrte mich an.

»Zimmer«, sagte ich mit meinem besten aelianischen Akzent. Ich hatte mir meinen Schal um den Kopf gewickelt, um die Farbe meiner Haut zu verbergen.

Die Abdeckung schnappte wieder zu, und die Tür wurde geöffnet. Der Mann mit dem blutunterlaufenen Auge sah, was er zu sehen erwartete. »Vierzig Trachy pro Nacht«, sagte er. »Mahlzeiten extra.«

Ich streckte meine behandschuhte Hand mit der Handfläche nach oben aus. In ihrer Mitte glänzte ein silberner Vierteltaler. »Zimmer«, sagte ich.

»Sicher.« Er trat zur Seite, um mich hineinzulassen. »Ich habe Euch schon beim ersten Mal verstanden.«

Die Sache mit der Hautfarbe würde natürlich ein Problem sein. Zwar habe ich zufälligerweise ein geradezu geniales Händchen, wenn es darum geht, mich selbst oder andere zu schminken, doch alle meine Sachen waren zu Hause, wie Ihr Euch denken könnt, und einfach mal eben neue zu kaufen, konnte ich mir schlicht nicht leisten. Doch genauso gut weiß ich zu improvisieren. Ich habe gelernt, wie man mit Kreide, Ziegelstaub und Gänseschmalz ein wirklich überzeugendes Bleichgesicht hinbekommt, damals, als ich im Chor von Das Mädchen mit dem roten Schirm gesungen habe. Anstelle von Kreide kann man auch Mehl nehmen. Später in der Nacht würde ich mir das ganze Zeug in der Küche von irgendjemandem zusammensuchen.

Das Zimmer war nicht schlecht. Es hatte vier Wände, ein winziges Fenster und eine Tür, die man auch schließen konnte, wenn man sie zuknallte.

3. Kapitel

Mein Geschäft verlangt von mir, dass ich mich über das aktuelle Geschehen auf dem Laufenden halte. Apropos, ich möchte auf das Schärfste gegen den beklagenswerten Mangel an Loyalität und Geduld der Öffentlichkeit – also Euch – protestieren. Nur weil der Minister für dieses oder der Staatssekretär für jenes nichts taugt und nicht mal mit beiden Händen seinen eigenen Arsch finden könnte, ist das kein triftiger Grund, ihn aus dem Amt zu jagen und durch jemanden zu ersetzen, der mit ziemlicher Sicherheit ein Gesicht hat, das man sofort wieder vergisst, dazu eine leise, piepsige Stimme, die kaum bis in den hinteren Teil des Saals trägt, und keine bekannten Eigenarten. Es ist schlimm genug, wenn ein General getötet wird, der von der Front aus führt – verzweifelte Verschwendung meiner Zeit und meiner Mühe, ihn wie ein Buch auswendig gelernt zu haben, auch wenn ich verstehe, dass so was passiert im Krieg. Doch einen wirklich guten Politiker zu erschießen, nur weil er nutzlos ist, kommt mir geradezu pervers vor.

Früher, vor der Belagerung, war das natürlich nicht so. Hohe Beamte wurden nicht gewählt, sondern ernannt, und man wusste, dass man die nötige Zeit und Mühe auf sie verwenden konnte mit einer vernünftigen Aussicht auf eine gewisse Rendite. Aber als dann die Notstandsregierung den letzten Kaiser absetzte, das Parlament umging und Direktwahlen einführte – ich glaube eigentlich nicht, dass sie mir absichtlich das Leben zur Hölle machen wollte. Die unglücklichen Folgen für mich persönlich sind ihnen wahrscheinlich gar nicht in den Sinn gekommen – was es meiner Meinung nach irgendwie noch schlimmer macht.

Es ist nicht so einfach, die Nachrichten zu verfolgen, wenn man im fünften Stock eines Hauses eingeschlossen ist, vor allem, wenn man gerade die Rolle eines tumben Ausländers spielt, der nichts über die Politik der Stadt weiß und sich noch weniger dafür interessiert. Manche Nachrichten gelangen jedoch überall hin, so wie am Strand der Sand in Euren Kragen.

Ich hatte mich gut eingepackt und mit milchweißem Gesicht auf den Weg gemacht, um ein Brot und ein bisschen Käse zu kaufen. Nichts davon brauchte ich sofort, aber wenn man drei Tage mit niemandem außer den Figuren seiner eigenen Fantasie verbringt, ist einem so ziemlich jeder Vorwand recht.

Die Händler auf dem kleinen Markt vor den Toren des Hafens sind an Ausländer gewöhnt, auch wenn sie Euch nicht ansehen, während sie Euch das Geld abnehmen. Und was mich betrifft, ist das auch gut so. Jedenfalls war da dieses fette Marktweib, und es sprach mit der Frau am nächsten Stand, der sich hinter mir befand. Zwar hörte ich nicht richtig zu, doch dann wurde ich doch aufmerksam, als sie sagte: »Natürlich alles Lügen.«

»Ich habe da etwas anderes gehört«, kam es aus dem Off hinter mir.

»Pure Lügen«, spie die fette Frau hervor, und ihr Speichel regnete in hohem Bogen auf meinen Käse. »Die würden alles behaupten, diese verdammten Opties.«

»Es stimmt aber«, beharrte die Stimme aus dem Off. »Sie haben gestern Abend im König der Tiere darüber gesprochen. Mein Bruder hat es selbst gehört. Sie sagten: ›Er ist tot.‹«

»Blödsinn«, entgegnete die fette Frau.

»Doch, doch. Lysimachus ist tot. Er war auf einer Feier, und ein Stein ist ihm auf den Kopf gefallen. Hat ihn platt gedrückt wie einen Käfer.«

Nun war ich ganz Ohr. Es ist zwar ein Klischee, aber eisige Finger umfassten mein Herz. Erst wenn es einem selbst passiert, merkt man, was für eine zutreffende Metapher das eigentlich ist.

* * *

Lasst mich eins von vornherein klarstellen: Es ist mir egal. Es ist mir wirklich völlig egal. Ich habe nichts damit zu tun.

Entsprechend war der Tod von Lysimachus – falls es den Tatsachen entsprach – ein verheerender Schlag für mich persönlich, einfach, weil ihn zu parodieren, etwa vierzig Prozent meiner Einnahmen ausmachte. Sicher, man kann Leute auch dann noch imitieren, wenn sie schon tot sind, aber die Nachfrage ist einfach nicht dieselbe. Aber bei der gewöhnlichen Burleske, die einem die Miete zahlt, spielt man immer nur eine Nebenrolle, nie den Hauptpart. Und selbst wenn man das Publikum jeden Abend zu Begeisterungsstürmen hinreißt, bekommt man deswegen in der Regel keineswegs eine höhere Gage.

Andererseits – so lautete meine Überlegung, während ich erschüttert zu meinem Zimmer zurücklief und kaum noch wusste, wo ich war und was ich tat –, andererseits ist Lysimachus nicht … Pardon, war er schließlich nicht irgendwer. Er war der Mann, auf den es jetzt ankam in der dunkelsten Stunde dieser Stadt. Fünfhunderttausend blutrünstige Milchgesichter lagerten vor den Mauern, die reguläre Armee war tot oder versprengt, und die Flotte saß immer noch auf der anderen Seite des Ozeans fest. Mit einer Garnison von ein paar Hundert untrainierten Männern hielt er die Front gegen die Dunkelheit, mit seiner Entschlossenheit, seinem unerschrockenen Mut und so weiter und so fort. Wäre er nicht gewesen, wären wir alle tot. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern eine Tatsache. Deshalb – so tröstete ich mich – wird es immer eine Nachfrage nach einem wirklich erstklassigen Lysimachus-Imitator geben, und jetzt, da er tot ist, erst recht (falls er denn tot ist). Jetzt wird er zum ultimativen Symbol der Hoffnung, und was ist das Theater schon, wenn es Leuten keine Hoffnung mehr macht, obwohl sie es eigentlich besser wissen sollten? Tatsächlich – mal alle falsche Bescheidenheit beiseite – hatte ich, als ich in mein Zimmer zurückkam, bereits einen Plot und eine grobe Vorstellung der Handlung im ersten und dritten Akt im Kopf, in dem die Unbesiegbare Sonne den Geist des Lysimachus von den Elysischen Feldern zurückschickt, um die Stadt in ihrer dunkelsten Stunde zu retten. Und es würde eine Belagerung geben, darauf könnt Ihr wetten. Zudem sollte jemand mit meiner unglaublich ergiebigen Fantasie in der Lage sein, eine starke weibliche Hauptrolle einzubauen …

Während ich mit der letzten Szene des zweiten Aktes kämpfte, versuchte ich, logisch darüber nachzudenken, was eigentlich passiert war. Ich hatte zwei Marktfrauen belauscht, die über ein Gerücht tratschten, und eine von ihnen schwor, dass es nicht stimmte, sondern nur ein Haufen Lügen sei, die von den Optimaten in Umlauf gebracht worden waren. Ich verspürte den Drang, hinauszugehen und mich weiter umzuhören, vielleicht an Orten, wo man unter Umständen noch besser informiert war als meine beiden aktuellen Ohrenzeuginnen. Aber dann dachte ich, na und. Wenn Lysimachus tot war, würde er auch morgen noch tot sein, vielleicht sogar übermorgen. Der Tod ist wie eine Immobilie. Er unterscheidet sich von allem anderen durch seine Dauerhaftigkeit. Zudem hatte ich Arbeit, die erledigt werden musste, und Leute, die ich nicht kannte, suchten nach mir. Es geht nichts darüber, Prioritäten zu setzen.

Der zweite Akt ist immer eine Schinderei. Mit Ausnahme des ersten und dritten Akts ist das der schwierigste Teil eines normalen Dreiakters. Deshalb neige ich dazu, mit viel Fleisch zu schreiben – nämlich alles Mögliche hinzukritzeln, solange es die Handlung vorantreibt und zu den Stellen führt, die man kennt und die einen interessieren. Überarbeitet und umgeschrieben wird später, wenn es denn unbedingt sein muss. Auf diese Weise müsst Ihr nicht allzu viel nachdenken, was in diesem Fall auch gut so war, denn meine Gedanken schweiften ständig ab. Er war auf einer Party und ist von einem Stein erschlagen worden.

In der Tat.

Es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass ein Trebuchet-Geschoss ein Haus in der Halbmondallee in Trümmer gelegt hatte, und Gerüchte sind nun mal die ultimative Auster, die Schicht um Schicht glitzernde Ausschmückungen um ein winziges Stückchen Tatsache aufbaut. Und hier kommt der vermeintlich logische Schluss der Gerüchtekrämer ins Spiel: Jemand wurde in dieser Nacht getötet; Lysimachus ist jemand; also wurde Lysimachus getötet.

Gut und schön, aber jetzt lasst uns versuchen, ein wenig Verstand walten zu lassen. Man hatte mich engagiert, um auf dieser Festivität aufzutreten. Lysimachus ist eine der Figuren, die ich am besten kann. Daher die alles entscheidende Frage: Hätte der Gastgeber einen Lysimachus-Spezialisten kommen lassen, um auf einer Feier aufzutreten, auf der Lysimachus zu Gast sein würde?

In dem Fall hätte man mir gesagt: »Gib nicht Lysimachus, es sei denn, du willst, dass wir alle hängen.«

Ganz genau.

Also war Lysimachus kein Gast auf der Feier gewesen und auch nicht von einem Stein erschlagen worden. Er musste also noch am Leben sein.

Ich wähnte mich da auf ziemlich sicherem Boden. Ja, vielleicht wäre der Gastgeber kurz vor meinem Auftritt auf mich zugekommen und hätte gemurmelt: Übrigens, mach nicht den Lysimachus, das ist ein guter Kerl. Er sitzt in der ersten Reihe. So was macht man öfter mit mir, als mir lieb ist, und plötzlich liegt der ganze Plan für den Abend in mehr Scherben vor mir als ein zerbrochener Topf. Aber denkt mal nach. Es ist kein Geheimnis, dass Lysimachus meine beste Nummer ist. Ich imitiere ihn wirklich sehr gut, auch wenn ich mich da selbst lobe. Und vermutlich weiß Lysimachus das. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, und nach der Art und Qualität seines Humors, amüsiert es ihn wahrscheinlich nicht sonderlich. Wenn es Euch also gelungen ist, den bekanntesten und wichtigsten Mann der Stadt zu Eurer Abendveranstaltung zu locken, würdet Ihr es dann wirklich riskieren, ihn tödlich zu beleidigen, indem Ihr den berühmtesten Lysimachus-Nachäffer der Welt für eine Vorstellung einladet? Nein, natürlich nicht. Schon deshalb, siehe oben, ist das Gerücht nicht wahr. Man sorgt sich also wegen nichts zu Tode. Reißt Euch zusammen, um Himmels willen, und macht Eure Arbeit.

Den dritten Akt zu Papier zu bringen, war so qualvoll wie eine langsame Zahnextraktion, trotzdem schaffte ich es irgendwie. Zu diesem Zeitpunkt hatte mir der schreckliche kleine Raum bereits den letzten Nerv geraubt, und der Geruch von Kardamom und Lavendel aus dem Lagerhaus drei Türen weiter vermischte sich subtil mit dem Gestank aus dem offenen Abfluss unter meinem Fenster, also weißte ich mein Gesicht, rollte zusammen, was ich geschrieben hatte, und schlich hinaus auf die Straße. Ich fühlte mich so schlecht, wie ich ausgesehen haben muss. Zehn Tage lang hatte ich mich nur im Pisspott waschen können, und das nächste Wasser war die Pumpe, fünf Stockwerke hinunter auf engen, gewundenen Stufen.

Die Einsamkeit hatte sich als das geringste meiner Probleme erwiesen, zumindest wenn man kleine Biester, die übel beißen können, als Gesellschaft ansieht. Ich bin nicht der anspruchsvollste Mann, aber ich mag es nicht, wenn ich mich in ein Wesen verwandle, das selbst mich veranlassen würde, die Straßenseite zu wechseln, sollte es mir begegnen.

Das verdammte Stück war fertig, aber wie sollte ich es abliefern und meine Bezahlung kassieren? Wenn die Männer, die ich nicht kannte, mich ernsthaft aufspüren wollten, hatten sie inzwischen längst herausgefunden, dass ich etwas für die Rose schrieb, also konnte ich dort nicht selbst vorstellig werden. Ich musste jemanden finden, der das für mich übernahm. Es war eine dieser absolut deprimierenden Phasen, in denen man klar erkennt, wer seine wahren Freunde sind.

Um von den Docks zur Galerie der Illustrationen zu gelangen, muss man quer durch die Stadt laufen, nichts, was ich am helllichten Tag und mit selbst angemischter Schminke im Gesicht tun wollte. Das Zeug schmilzt nämlich, was bei professioneller Schminke nicht der Fall ist. Ich wickelte mich ein, so gut ich konnte, wodurch ich an einem heißen Tag nur noch mehr Blicke auf mich ziehen würde, und jeder weiß, dass Milchgesichter Hitze nicht mögen. Also was würde eher auffallen, ein wandelnder Kokon in sengender Hitze oder ein normal gekleidetes Milchgesicht mit braunen Streifen? Ich entschied mich für die gepackte Variante, und es muss funktioniert haben, denn die Leute schauten eher weg, als dass sie mich anstarrten.

Die Galerie der Illustrationen hatte einmal als Theater für Leute begonnen, die nicht gerne gesehen werden, wenn sie ins Theater gehen, und von denen gibt es ziemlich viele in dieser unheilbar bühnengeschädigten Stadt. Anstelle von Theaterstücken werden in der Galerie illustrierte Vorträge über erbauliche Themen deklamiert, und obwohl die Autoren und Darsteller im Grunde dieselben Leute sind, die man in den Lasterhöhlen antrifft, die zehn Minuten entfernt am Fuße des Hügels liegen, meinten die hochgebildeten Leute, es sei alles in Ordnung, und die Galerie machte viele Jahre lang ein glänzendes Geschäft. Ich habe selbst einige Male dort gespielt, hin und wieder. Dann übernahm eine neue Leiterin und verwandelte die Galerie in ein weiteres zweitklassiges Schauspielhaus. Aus verschiedenen Gründen passte daraufhin mein Gesicht nicht mehr. Und genau sie war die Theaterleiterin, die ich aufsuchen wollte.

Ihr richtiger Name ist Hodda, und sie hat sich seit etwa fünfzehn Jahren auf reine, unverdorbene Mädchenrollen spezialisiert. Im ersten Akt wird sie von Sklavenhändlern entführt und im dritten gerade noch rechtzeitig von ihrer Jugendliebe gerettet, denn genau so etwas will man nördlich des Flusses sehen. Und wenn sie das nicht tut, führt sie ein schmerzhaft strenges Regiment und ist die härteste Verhandlerin in der Stadt. Zudem ist sie eine außergewöhnliche Tänzerin, trotz eines steifen linken Beins, gegen das man ihr vor zehn Jahren bei einer geschäftlichen Meinungsverschiedenheit getreten hatte. Wenn sie nicht auf der Bühne steht, geht sie mit einem Stock. Wenn man es genau nimmt, ist sie das, was im wirklichen Leben einer starken weiblichen Bühnenrolle am nächsten kommt, eine Qualität, die sie dank ihres Puppengesichts und ihrer Fähigkeiten als Simulantin erreichen konnte. Singen allerdings kann sie überhaupt nicht.

»Wie siehst denn du aus?«, fragte sie.

Ich warf einen Blick über die Schulter. »Sprich leise, um Himmels willen!«

Sie verdrehte die Augen. »Du steckst wieder in Schwierigkeiten.«

»Ja.«

»Wie viel?«

»Eigentlich«, sagte ich, ohne nachzudenken, »geht es nicht um Geld.«

Jetzt hatte ich ihre Aufmerksamkeit. »Was hast du getan?«

»Können wir bitte reingehen?«

»Du siehst absolut lächerlich aus, ist dir das klar?«

Die Galerie der Illustrationen hatte früher als Lagerhaus gedient. Der Dachboden eignet sich perfekt für eine Galerie, mit einer Außentreppe, die nach oben führt. Hinter der Bühne gibt es einen schäbigen kleinen Raum, mit Körben voller alter Kostüme, zwei oder drei Tischen, an denen man sich schminken kann, einer großen alten Truhe mit drei Vorhängeschlössern, in der Hodda ihr Geld aufbewahrt, und ein paar klapprigen alten Stühlen.

»Und?«, meinte sie.

»Ist jemand, den wir nicht kennen, hier gewesen und hat nach mir gefragt?«

Sie weiß, dass ich tagsüber nicht trinke, also bot sie mir auch nichts an, aber ihre Hand zitterte leicht, während sie sich selbst ein Glas einschenkte. »Nein. Warum?«

»Leute, die ich nicht kenne, erkundigen sich nach mir«, sagte ich.

Sie hob die Augenbrauen. »Warum sollte das jemand tun?«

»Frag mich nicht.«

»Du hast eigentlich nicht die Angewohnheit, Fremde zu verärgern«, meinte sie. »Nur deine Freunde und Kollegen.«

»Genau.«

Sie trank ihren Wein und schaute mich über den Rand des Glases hinweg an. Es ist eine Eigenart, die sie im Laufe der Jahre bei Männern sehr beliebt gemacht hat, und ich schätze, es ist wie bei der Geige: Man muss immer weiter üben, auch wenn man nicht vor Publikum auftritt. »Was hat das alles mit mir zu tun?«

»Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Natürlich, warum solltest du auch sonst hier sein? Sicher nicht, um mich zu sehen. Darauf kann man Gift nehmen.«

Nun ja, wir waren einst gute Freunde gewesen und dann irgendwann überhaupt nicht mehr. »Ich habe für die Rose ein Stück geschrieben.«

»Habe ich gehört. Irgendwas Gutes?«

»Purer Müll«, erwiderte ich. »Gute Rolle für Einhard und für Andronika, die in einem hautengen Kettenhemd ein Schwertduell austrägt. Wie auch immer, es ist fertig, und ich brauche jemanden, der es für mich abliefert.«

»Und dein Honorar kassiert.«

»Genau.«

Sie nickte. »Zehn Prozent.«

Ich starrte sie an. »Hast du den Verstand verloren?«

»Ich denke da eher an dich«, meinte sie. »Ich gehe zu einem Theaterleiter, gebe ihm ein Manuskript, und das war’s. Ich bin nur der Bote. Aber er wird mir kein Geld aushändigen, es sei denn, ich bin dein ordnungsgemäß bevollmächtigter Agent.

Und da liegt die branchenübliche Beteiligung bei …«

»Hodda, ich brauche das Geld. Ich muss vielleicht eine ganze Weile unsichtbar bleiben.«

»Entweder so oder gar nicht.«

»Gut.« Ich stand auf und griff nach meinem Hut. Mehr tat ich nicht.

»Und?«

Ich setzte mich wieder. »Hodda«, sagte ich, »in der Vergangenheit mag ich nicht immer absolut ehrlich zu dir gewesen sein.«

»Das kannst du laut sagen.«

»Wegen … nun ja, Dingen, die vor langer Zeit und weit weg passiert sind.«

Sie hat diese gemeine, skeptische Ader. »Sag es mir nicht«, sagte sie. »Hinter deiner Maske bist du wirklich der Kronprinz von Olbia.«

Ich blickte sie finster an. »So ähnlich. Der Punkt ist, soweit ich weiß, können diese Leute in der Tat sehr unangenehm werden, und solange sie sich in der Nähe aufhalten, ist es mir natürlich unmöglich zu arbeiten, deswegen brauche ich das Geld. Und zwar alles.«

Sie schürzte die Lippen. »Ich könnte ein kleines Vorspiel brauchen«, entgegnete sie.

»Ich könnte hundert Prozent von dem brauchen, was mir zusteht.«

Sie lächelte. »Abgemacht«, sagte sie. »Du schreibst mir fünfzehn Minuten fröhliche Unterhaltung, dann hole ich dir dein Geld.«

Wie ich schon sagte, ich bin kein Autor. »Die üblichen Bedingungen?«

»Das können wir später besprechen«, meinte sie. »Und ich sage dir was. Du bekommst noch einen Stift mit weißer Gesichtsfarbe dazu. Nur damit du siehst, dass ich dir nichts übel genommen habe.«

Ich blieb gerade lange genug, um die schlimmsten Schäden an meinem kastanienbraunen Teint zu beseitigen, dann stapfte ich verärgert zurück zu den Docks. Ich hatte wirklich keine Lust, weitere drei Tage in diesem abscheulich stinkenden Zimmer eingesperrt zu sein und umsonst leichte Komödien zu schreiben, aber das passiert eben, wenn einem die ältesten und liebsten Freunde zur Seite springen.

4. Kapitel

Während ich mir in meinem Versteck am Hafen einen Wolf schrieb und versuchte, einigermaßen komisch zu sein, geschahen draußen vor der Tür Dinge, von denen niemand meinte, sie mir erzählen zu müssen. Es fand ein weiterer Trebuchet-Angriff statt, der eine Tanzschule für höhere Töchter traf. Keine Überlebenden. Und es gab einen Aufstand. Nicht Blaue gegen Grüne, sondern Blaue und Grüne gegen die Regierung, und irgendein Witzbold schickte die Kavallerie, was ein furchtbares Durcheinander zur Folge hatte. Ich bezweifelte sehr, dass die beiden Ereignisse zusammenhingen, da die Bruderschaften nicht dazu neigen, ihre Kinder zum Erlernen des Pas de deux zu schicken, aber das alles förderte nur meine niedergeschlagene Stimmung und mein Unbehagen. Mir gefällt ein ruhiges Leben, mit Geld und all den Dingen, für die man es ausgeben kann, und mit sauberer Kleidung und Seife.

Es hatte wenig Sinn, herausfinden zu wollen, worum es bei dem Aufruhr ging, da ein Ausländer sich nicht dafür interessieren würde. Ich konnte nicht erfolgreich lauschen, weil die Leute dazu neigen, nichts mehr zu sagen, wenn sie glauben, dass ein Milchgesicht zuhört. Ich erfuhr nur, dass jetzt Soldaten auf den Straßen und auf der Mauer waren. Oh, und alle Theater waren bis auf Weiteres geschlossen. Ich musste grinsen, bis mir einfiel, dass Hodda vielleicht noch nicht bei der Rose gewesen war. In dem Fall war ich geliefert. Und sie war es auch, dachte ich einen Moment später, ganz zu schweigen vom ganzen Berufsstand, aber wahrscheinlich nicht annähernd so aufgeschmissen wie ich.

Das Problem war, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich sie finden konnte. Vermutlich wohnte sie irgendwo, im Sinne eines abgeschlossenen Raumes mit einem Bett, falls sie ein eigenes brauchte, aber unter normalen Umständen würde mich das nichts angehen. Niemand weiß, wo die Leute wohnen, wenn sie nicht gerade im Theater sind. Es spielt einfach keine Rolle.

Die Galerie würde verschlossen sein, und ich konnte mich an keinem der üblichen Orte blicken lassen, nicht einmal mit rosafarbener Schminke. Ich konnte nicht einmal länger als einen Tag dort bleiben, wo ich gerade war, ohne meine winzige Schatztruhe zu leeren. Ich zählte noch einmal, was ich besaß, und kam auf hundertsechzig Trachy. Ich hatte keinen Schlafplatz, dafür ein kleines Vorspiel mit originellen Liedern zu populären Melodien, das ich nicht verkaufen konnte, Stiefel mit Löchern darin und fremde Männer, die nach mir suchten, und das alles, weil ein Haufen Idioten Lust hatte, das Pflaster aufzureißen und mit irgendwelchen Sachen zu werfen. Ich wünschte, die Leute würden mehr Rücksicht nehmen.

Ich kann mir vorstellen, was Ihr denkt – das ist keine Telepathie, nur eine Reihe logischer Schlussfolgerungen. Erstens lest Ihr das hier, daher könnt Ihr lesen, also seid Ihr offensichtlich gebildet, daher gehört Ihr zur besseren Sorte –, und ich kenne Euch wie meine Westentasche. Ihr denkt: Falls er verhungert, ist es seine eigene Dämlichkeit, denn in dieser Stadt gibt es immer Arbeit. Nicht die Art, die er vielleicht gewohnt ist, sich ein paar Stunden am Abend in Theatern und Salons reicher Männer herumzutreiben und die Worte nachzuplappern, die ein anderer sich ausgedacht hat (er muss sich nicht einmal ausdenken, was er sagt, um Himmels willen! Das macht ein Autor für ihn). Nein, richtig harte Arbeit. Lastkähne schleppen, Ballen umlagern, holen, tragen, Löcher in den Boden graben und wieder verfüllen. Aber das käme ihm natürlich nicht in den Sinn. Dafür ist er zu stolz. Niemand wäre schuld, außer ihm selbst.

Ich könnte Euch nicht mehr zustimmen, abgesehen von einer Sache. Ich bin nicht zu stolz, denn jemand, der Tag für Tag von einem Vorsprechen zum nächsten stapft, um sich dann höflich sagen zu lassen, dass er nichts taugt, hat nicht mehr viel davon übrig. Und es ist keine Todesangst, ins Schwitzen zu geraten – versucht mal, eine Tanznummer in voller Montur in der Hochsommerhitze fünf Stunden am Stück zu proben, weil am nächsten Tag Premiere ist und es immer noch nicht funktioniert; und zeigt mir den Maurer, der das schafft, ohne in Ohnmacht zu fallen und in einer Schubkarre weggefahren zu werden; und denkt daran, Ihr müsst die ganze Zeit nett lächeln und anmutig sein – nein, das ist es nicht. Es ist einfach so, dass man, wenn man in dieser Stadt Gelegenheitsarbeiten übernehmen will, über eine Bruderschaft bezahlt werden muss, und damit will ich nichts zu tun haben, wollte ich nicht und werde ich nicht, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Und bevor Ihr fragt, es geht Euch nichts an. Es ist Familienkram. Privat. Meine Möglichkeiten waren also begrenzt: Ich konnte von einer Brücke springen oder verhungern. Oder …

5. Kapitel

Eigentlich knüpft das an meine frühere Schimpftirade an, denn wenn ich nicht mein ganzes Erwachsenenleben in diesem Beruf verbracht hätte, bezweifle ich sehr, dass ich die nötigen Fähigkeiten und den Körperbau für Einbrüche in Häuser gehabt hätte. Jahrelanges Singen und Tanzen haben mich fit und beweglich gemacht. Ich kann ohne Unterbrechung vom Kornmarkt zum Osttor rennen und mit Steinmetzen Armdrücken machen. Und was ist das Wesentliche am Handwerk des Einbrechers? Nicht gesehen oder gehört zu werden. Das ist etwas, worüber ich viel weiß. Es gibt Zeiten auf der Bühne, in denen Ihr wollt, dass alle auf Euch schauen – bei Eurem großen Monolog –, und andere Zeiten (der große Monolog Eurer Partnerin), in denen Ihr die Aufmerksamkeit des Publikums aktiv ablenkt, es sei denn, Ihr wollt, dass sie in dem Moment, in dem der Vorhang fällt, wie eine Tonne Ziegelsteine auf Euch niederfällt. Oder wenn Ihr in der Kulisse auf Euren Auftritt wartet, oder wenn Ihr tot daliegt. Ihr werdet keine fünf Minuten in der Branche überleben, es sei denn, Ihr könnt eine sehr lange Zeit perfekt still und ruhig bleiben und praktisch unsichtbar sein.

Übertragt all das auf so alltägliche Tätigkeiten wie zum Beispiel, in Abflussrohre zu leuchten und leise durch dunkle Räume zu schleichen. Ihr werdet feststellen, wenn Ihr einen Moment darüber nachdenkt, dass ich etwas ausgelassen habe.

Etwas, das ich aufgrund meiner Theaterausbildung zufällig in ziemlich großem Maße habe, aber vielleicht trotzdem nicht ausreichend. Es erfordert definitiv Nerven, vor etwa hundert Fremden auf eine Bühne zu gehen. Es lässt einem das Blut in den Adern gefrieren, den Atem stocken, die Eingeweide krampfen – siehe oben unter Herz und eisige Finger. Aber es gibt Angst und es gibt Angst. Wenn man an einer Hauswand hochklettert, kann man ziemlich leicht in Schwierigkeiten geraten. Der Fuß kann abrutschen, oder das Abflussrohr, an dem man sich festhält, kann sich von der Wand lösen. Dann erreicht man das Fenster, nur um festzustellen, dass die Fensterläden verschlossen sind. Also versucht man, wieder hinunterzuklettern. Nur ist das Hinunterklettern verdammt viel schwieriger als das Hinaufklettern. Man tastet im Dunkeln nach Halt. Auf dem Weg nach oben hat man die Haltenägel halb aus der Wand gerissen, man hat sie gespürt. Oder der Fensterladen ist nicht verschlossen, dann muss man sich mit einer Hand festhalten, während man mit der anderen daran herumfummelt (und inzwischen sind die Finger todmüde, und vielleicht hat man sich ein oder zwei verstaucht, sodass man sich nicht mehr auf sie verlassen kann). Dann muss man sich mit dem Rücken über die Brüstung schieben, bevor man auf dem Bauch weiterrutscht, ohne sich festhalten zu können. Und angenommen, man schafft es tatsächlich ins Haus, dann zertrümmert einem jemand womöglich mit einem Hammer den Kopf, oder ein riesiger Hund reißt einem die Kehle heraus. Das Schlimmste aber, was ein Publikum Euch antun kann, ist, Euch nicht zu mögen.

Deswegen, denke ich, habe ich mich für das Theater entschieden. Aber das war’s dann auch schon. Ich wählte – nun ja, ein Haus. Ich hatte dort nur ein paar Wochen zuvor eine erlesene Versammlung der Elite mit Impressionen führender Persönlichkeiten aus Politik und Kunst unterhalten. Man hatte mich in eine Art Spülküche im Erdgeschoss abgeschoben, wo ich mich umziehen und schminken konnte, und ich erinnerte mich deutlich daran, dass der Fensterladen nicht richtig schloss, und um von der Spülküche in den Salon zu gelangen, musste man nur einen Korridor entlanggehen und eine unverschlossene Tür öffnen. Keine Fassadenkletterei wie eine Spinne, kein Herumtappen im Dunkeln in unbekannter Umgebung, und ich wusste, dass es lohnende Beute gab und wie ich sie in die Finger bekommen konnte.

Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, mein Gesicht weiß zu schminken. Das macht nur die Hände glitschig. Ich ging ins Bett, in der Hoffnung, eine oder zwei Stunden Schlaf zu bekommen, aber daraus wurde nichts. Also starrte ich an die Decke, bis ich meinte, dass es so weit war. Ich packte mich ein, schlich die Treppe hinunter (eine gute Übung für die Hauptveranstaltung) und trat leise hinaus auf die Straße. Ich hatte keine Schritte gehört, während ich wach gelegen hatte, und die Straße war tatsächlich leer. Unauffällig ging ich den Fischerweg hinunter bis zur Mauer, bog dann rechts ab und nahm die Seitengassen, um schließlich am Fuß der Bergstraße herauszukommen. Mein Ziel war eine der großen Villen, die sich am unteren Ende gruppierten, wo die Neureichen wohnen.

Das Haus war leicht zu erkennen, denn irgendein Witzbold mit einem unglücklichen Verhältnis zwischen Geld und Geschmack hatte gedacht, dass zwei Torpfosten in Form von geflügelten Pferden eine gute Idee seien. Ich hielt mich am westlichen Rand der Gartenmauer, bis ich das eigentliche Haus erreichte, und begann dann, die Fenster zu zählen. Nicht der geringste Lichtschimmer war zu sehen.

Der Fensterladen sprang praktisch von selbst auf, sobald ich die Spitze meines Messers in den Spalt steckte. Ich hielt inne, während ich unter der Fensterbank kniete, und zählte bis fünfzig, nur für den Fall, dass ich mit meinem winzigen mausähnlichen Kratzen jemanden geweckt hatte. Aber ich hörte kein Geräusch und sah keine Bewegung. Alles war perfekt. Also sprang ich über das Fensterbrett, spürte die Fliesen unter meinen Füßen, hockte mich hin und wartete noch ein wenig, als würde ich hoffen, dass doch etwas schiefging. Aber das tat es nicht. Also stand ich auf und lief behutsam auf den Kanten meiner Füße weiter (die leiseste Art und Weise, sich fortzubewegen, und man hält das Gleichgewicht; im Dunkeln auf Zehenspitzen zu gehen, birgt Probleme), bis meine Fingerspitzen die Türklinke berührten. Nun klappern Türschlösser manchmal wie die Hölle, aber dieses blieb stumm, Gott sei Dank, und schon befand ich mich im Korridor, der mit Binsenmatten ausgelegt war (weil niemand gerne die klappernden Schritte von Bediensteten hört, während er versucht, ein zivilisiertes Gespräch zu führen). Eigentlich hätte ich stehen bleiben und erneut lauschen sollen, aber es war offensichtlich, dass dies überflüssig war. Man spürt es, wenn ein Haus lebt, und das war dort nicht der Fall. Fünfzehn Schritte brachten mich zur Wohnzimmertür, die nicht knarrte, sodass ich mir die Mühe mit dem Stückchen Schmalz in meiner Manteltasche nicht hätte machen müssen. Direkt gegenüber der Tür, es sei denn, irgendein gedankenloser Idiot hatte ihn umgestellt, befand sich ein Schrank, und in diesem Schrank lagerte eine Sammlung antiker Ringe, Kameen und Broschen – das wusste ich, denn sie waren dumm genug gewesen, den Schrank offen zu lassen, als ich dort zu Gast war.

Den Schrank fand ich, weil ich ganz langsam und leise dagegenlief. Ich spürte einen der Messinggriffe an meiner Kniescheibe. Die oberste Schublade quietschte leise, aber ich ließ mir Zeit und wusste, dass das Geräusch nicht nach draußen dringen würde. Ich füllte meine linke Tasche mit kleinen, kalten Dingen. Schon war der Job erledigt. Es gab noch mindestens fünf weitere Schubladen, aber Gier gehört nicht zu meinen vielen Lastern. Die eine Tasche voller Geschmeide würde lange Zeit für mich reichen. Mehr zu nehmen, als ich brauchte, wäre die Tat eines Kriminellen gewesen. Dann ging ich den Weg zurück, vorsichtig, um nicht ins Hetzen zu kommen, was ein klassischer Anfängerfehler ist.

In der Küche war niemand. Ich öffnete den Fensterladen und steckte meinen Kopf hinaus. Es war auch niemand in der Gasse. Ich kletterte hinaus und achtete darauf, den Fensterladen hinter mir zu schließen. Tief atmete ich durch, dann ging ich zügig die Gasse hinunter. Jeder Schritt ließ das Verbrechen weiter hinter mir, das möglicherweise begangen worden war. Am Ende der Gasse bog ich links in den Bergstall ein, wo vor mir jemand aus dem Schatten trat und mir mit einer Schaufel eine überzog.

6. Kapitel

Ich habe vielleicht schon mal beiläufig erwähnt, dass mein Vater ein Bruderschaftsführer war, und Ihr habt vielleicht den Eindruck gewonnen, dass ich nicht sonderlich stolz darauf bin. Das bin ich auch nicht.

Er kam in die Stadt (Gott weiß, wie oft ich das schon gehört habe) mit fünfzig Trachy in der Tasche, aus einem Minenlager in der Paralia. Er war vierzehn Jahre alt und hatte bereits drei erwachsene Männer getötet. Einen in Notwehr (behauptete er) und zwei für Geld. Nicht unbedingt viel Geld, denn das Leben in den Minenlagern war billig, obwohl alles andere wahnsinnig teuer war. Der Gedanke dabei war, dass niemand ein Kind verdächtigen würde, ein bezahlter Attentäter zu sein, aber auch ein Kind konnte einem erwachsenen Mann etwas Schlechtes in die Suppe tun oder ihm die Kehle durchschneiden, während er schlief, genauso wie jeder andere. Zumindest bis die Behörden (so wie sie nun mal waren) schlau wurden, und damit hatte sich dann wieder eine gute Idee erledigt. Für meinen Vater war es hart, denn er wurde fast erwischt – mit einem Messer in der Hand über das Bett des Vorarbeiters gebeugt. Da kann man sich nur schwer herausreden. Und er hat es auch gar nicht erst versucht. Er ist einfach weggerannt und war so schwer zu fassen wie ein Aal. Versteckt auf einem Erzkahn kam er in die Stadt, ein weiteres Stück menschlichen Abschaums, das zu den bereits anwesenden noch hinzukam.