Ein Quantum Wahrheit - Thomas Breyer-Mayländer - E-Book

Ein Quantum Wahrheit E-Book

Thomas Breyer-Mayländer

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Beschreibung

Welche Folgen hat das veränderte Mediennutzungs- und Informationsverhalten? Wie stark spielen Fakten eine Rolle bei der Meinungsbildung? Was bedeutet es, wenn redaktionelle Medien generell dem Establishment zugerechnet werden? Welche Rolle spielt die Wissenschaft in postfaktischen Zeiten? Wo endet Bürgernähe und wo beginnt Populismus und wann ist er postfaktisch? Das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 wurde von vielen diskutiert, denn für die nächsten vier Jahre wird die Bundespolitik auch von einer Gruppierung geprägt, die in einigen Sachthemen wie der Klimapolitik Positionen bezieht, die wenig mit der Faktenbasis zu tun haben. Dabei kommt der relative Wahlerfolg der AfD nicht wirklich überraschend und die postfaktische Haltung der Parteiakteure und der Wählerschaft sind keineswegs ein Phänomen, das nur auf diese Gruppierung begrenzt ist. Bei einigen Sachthemen scheinen die Fakten gegenüber Emotionen und der gefühlten Wahrheit mehr und mehr ins Hintertreffen zu geraten. Auch die Informationswege haben sich verändert und die Möglichkeit, Fehlinformationen in Echtzeit zu verbreiten, erschwert nicht nur Polizeieinsätze, sondern birgt auch die Gefahr der politischen Fehlinformation. Die einen sehen in klassischen redaktionellen Medien die "Lügenpresse" der etablierten Parteien und des Establishments, während andere wiederum die "Fake News" in sozialen Medien als Problem für eine tatsachenorientierte Sachdiskussion identifizieren. Allein die Schwierigkeiten bei der Diskussion und Vorbereitung eines Gesetzes, dass die willentliche Verbreitung von Falschinformationen unterbinden soll, zeigen, dass es nicht einfach ist, zwischen freier Meinungsäußerung als Grundprinzip freier, demokratischer Gesellschaften und gezielter Desinformation zu differenzieren. Meinungsbildung und die Suche nach der Wahrheit bei einzelnen Sachverhalten waren schon immer ein komplexer Prozess, der durch die Resonanzräume und Echokammern von sozialen Medien und Communities und gezielte, teilweise verdeckte Kampagnen nicht übersichtlicher geworden ist. Diese Veränderungen bilden die Kulisse für eine neue Form von postfaktischem Populismus. Dieses Buch beschreibt, wie sich der politische Kommunikations-, Informations- und Meinungsbildungsprozess verändert hat. Es zeigt die Zusammenhänge auf und analysiert die Herausforderungen und Perspektiven für Verwaltung, Politik, Medien und die Gesellschaft für eine funktionsfähige Willensbildung in der repräsentativen Demokratie.

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“Everyone is entitled to his own opinion,

but not his own facts.”

“Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung,

aber nicht auf seine eigenen Fakten.”

Daniel Patrick Moynihan

(Soziologe und US-Senator, 1927 – 2003)

Inhalt:

Über dieses Buch

„Postfaktisch“ – Wort des Jahres 2016 oder ein neues Zeitalter?

Meinungsbildung in der Mediendemokratie – Wie kommen wir zu unserer Meinung?

Politische Meinungsbildung – Braucht es dafür wirklich Fakten?

Willkommen in meiner digitalen „Filterblase“ – Postfaktische Mechanismen sozialer Medien

„Fake News“ – der vitale digitale Nachfolger der erlahmten „Zeitungsente“?

Gutmenschen, Wutbürger, Trolle und die „Lügenpresse“

„Das ist doch keine Demokratie hier“ – Missverständnisse in der repräsentativen Demokratie

Auf Faktensuche – die Rolle von Wissenschaft, Gutachtern und Experten

Radikaler Populismus geht nur postfaktisch

Manipulative Absichten? – Interessenlagen der innenpolitischen Akteure und Gruppierungen

Bewusste Manipulation von außen? – ausländische Medien und Geheimdienste

Von postfaktisch bis kontrafaktisch – illustrative Beispiele ganz ohne AfD

Die AfD als Phänomen in Zeitgeschichte und Zeitgeist

Herausforderungen für Verwaltung, Justiz und Sicherheitsbehörden: Abwehr von Manipulationen

Herausforderungen für Medien: redaktionelle Integrität, Binnen- und Außenpluralismus

Herausforderungen für die Politik: sachorientierter Dialog und funktionsfähige Parteien

Herausforderungen für die Gesellschaft: klare Werte und der Kategorische Imperativ für soziale Medien

Über den Autor

Quellennachweise

Über dieses Buch

Nicht zuletzt durch die Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) wird in jüngster Zeit immer intensiver diskutiert, wie die veränderten Mediennutzungsgewohnheiten und die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich auf die Diskussionskultur und Meinungsbildung gerade im Bereich der Politik auswirken. Mit dem Aufkommen der Piratenpartei wurde beispielsweise von vielen Kommentatoren das neue Zeitalter digitaler Parteien beschworen, das dann aber jäh endete, als sich zeigte, dass neue Organisations- und Kommunikationsformen allein nicht alle Handlungsanforderungen im konkreten politischen Alltag abdecken.

Die Zunahme von Menschen, die sich im Wesentlichen über ihr eigenes Umfeld in den sozialen Medien wie Facebook über das politische (Welt-) Geschehen informieren und ganz nach dem amerikanischen Wissenschaftler Jeff Jarvis sich darauf verlassen, dass wichtige Nachrichten sie schon irgendwie über ihre Freunde und Kontakte erreichen, führt zu neuen Formen der Meinungsbildung. Die Wahlkämpfe auf nationaler und internationaler Bühne bedienen sich daher in großem Umfang der unterschiedlichen Möglichkeiten der Zielgruppenwerbung in sozialen Medien wie Facebook.

Die daraus resultierenden Informationsdefizite von Bürgerinnen und Bürgern sind von Wolfgang Schweiger in seinem Buch „Der (des)informierte Bürger im Netz“ mit Hilfe des Methodenspektrums der Kommunikationswissenschaften exzellent dargestellt. Seine These lautet:

„Wir leben in einer Zeit des Aufstiegs sozialer Medien und des Bedeutungsverlusts journalistischer Nachrichten. Das schwächt die politische Informiertheit und die Diskursfähigkeit der Bevölkerung und verstärkt die Polarisierung der Gesellschaft.“1

Diese These ist auch ein Fundament dieses Buchs und sie wird an der einen oder anderen Stelle zum Vorschein kommen. Gleichzeitig geht dieses Buch jedoch über eine rein kommunikationswissenschaftliche Analyse hinaus. Denn es hat sich nicht nur die Mediennutzung und damit die Kommunikation und Information verändert, in vielen Bereichen haben sich auch Grundhaltungen gegenüber Politik und Verwaltungshandeln und damit auch zahlreiche Verhaltensweisen im realen Leben außerhalb der Sphäre der Digitalen Kommunikation und Vernetzung gewandelt.

Die Darstellung in diesem Buch geht daher nicht von der Mediennutzung aus, wenngleich diese immer wieder eine große Rolle spielt, sondern sie beschreibt die Veränderungen, die sich im Umfeld politischer Meinungsbildungsprozesse vollzogen haben und gegenwärtig vollziehen. Neben dem wissenschaftlichen Fundament liegt der Schwerpunkt auf den praktischen Beispielen, die sich nicht immer nur auf der Ebene der „großen Politik“ bewegen, sondern auch alltägliche Begebenheiten, beispielsweise auch aus der Kommunalpolitik umfassen. Es ist eine Ausgangsthese dieses Buchs, dass die Veränderungen in der Mediennutzung, der Kommunikation und der Haltung der Bürger gegenüber unserer repräsentativen Demokratie, vor allem bei Themenfeldern, von denen sie persönlich betroffen sind, auf allen Ebenen der Politik zutage treten. Das Buch skizziert vor allem die Rolle der Tatsachen und Tatsachendarstellungen in Zusammenhang mit der politischen Meinungsbildung und beschreibt, welche Auswirkungen die jüngsten Entwicklungen in diesem Sektor auf Politik, Medien und Gesellschaft haben. Die dargestellten Mechanismen wirken dabei bei uns allen, wir müssen uns nur darüber im Klaren sein. Reinhard Wolf weist berechtigterweise darauf hin, dass es bei der Auseinandersetzung mit Populismus nicht darum gehen kann, herablassend auf die „manipulierbaren Normalbürger“2 zu blicken. Das Buch soll stattdessen Hilfestellung leisten, die eigenen Gefahrenmomente der „gefühlsgeleiteten Realitätsverweigerung“ 3 zu erkennen.

Kapitel 1: „Postfaktisch“ – Wort des Jahres 2016 oder ein neues Zeitalter?

Selten hat die Wahl eines „Wort des Jahres“ die aktuelle gesellschaftliche und politische Stimmung so zentral getroffen und betroffen, wie die Entscheidung, die am Jahresende 2016 zugunsten des Wortes „postfaktisch“ gefällt wurde. Denn das Jahr war reich an Überraschungen. Eine Partei ohne fertiges Parteiprogramm erreichte zweistellige Ergebnisse bei Landtagswahlen; ein Kandidat, der den Klimawandel für eine Erfindung aus China hielt und Barack Obama als Gründer des Islamischen Staats bezeichnete, wurde US-Präsident und ein russischer Außenminister forderte die Ahndung eines in Deutschland verübten Verbrechens, das es in der Realität nie gegeben hatte. Angesichts solcher Ereignisse könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich die Vernunft aus dem öffentlichen Leben verabschiedet hat. Entsprechend wurden manche Vorkommnisse mit Unverständnis, andere mit Fassungslosigkeit quittiert.

Der inhaltliche Verlauf der politischen Diskussionen und die Ergebnisse der politischen Abstimmungsprozesse des Jahres 2016 haben viele Bürger und auch Politiker überrascht. Bei einigen Sachthemen scheinen die Fakten gegenüber Emotionen und der gefühlten Wahrheit mehr und mehr ins Hintertreffen zu geraten. Doch es geht nicht nur um die Frage, ob die Themen eher auf der Gefühls- oder auf der Verstandesebene einsortiert werden, die entscheidende Veränderung besteht darin, dass einzelne Akteure bei ihren Aussagen und Argumenten gar keinen Bezug zur Realität anstreben. In diesen Fällen werden beispielsweise bewusst falsche Aussagen zu Sachthemen oder politischen Gegnern gemacht. Oder aber es werden redaktionelle Berichte etablierter Medien oder öffentlich verfügbare Kommentare von Politikern gefälscht und verbreitet.

Da auch das Nebeneinander zwischen redaktionellen und nichtredaktionellen Medien die öffentliche Kommunikation und ihre Spielregeln komplett verändert hat, gibt es eine steigende Unsicherheit, was man denn noch eigentlich glauben kann und wie man auch wieder Vertrauen und Glaubwürdigkeit in die Diskussion einbringen kann. Diese vielfältigen Facetten des Begriffs und des Phänomens postfaktischer Politik sind Grund genug beides etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Das Problem, dass nicht die Fakten allein die Meinungsbildung und die wahrgenommene Wahrheit prägen, ist als solches keine Erfindung des digitalen Medienzeitalters. Bereits Epiktet, ein antiker Philosoph, hat uns vor fast 2000 Jahren die anschauliche Grundlagendefinition für das postfaktische Zeitalter geliefert.

„Nicht Tatsachen, sondern Meinungen über Tatsachen bestimmen das Zusammenleben.“ (Epiktet)4

Postfaktisch – nur Emotionen oder falsche Infos?

Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in einem Pressestatement den Begriff der postfaktischen Zeiten für Deutschland 2016 in das öffentliche Bewusstsein rückte:

"Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen."5

Die Bundeskanzlerin hatte dem Begriff des „Postfaktischen“ zwar zu einer ungeheuren Popularität verholfen. Der Kontext, in dem sie ihn jedoch eingesetzt hatte, war eher von einer begrenzten Bedeutung. Wenn man ihre Schlussfolgerung vor Augen hat, dann bemerkt man die Deutung, die sie vorgenommen hatte.

"Ich will dem also meinerseits mit einem Gefühl begegnen. Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser – zugegeben komplizierten – Phase besser herauskommen werden, als wir in diese Phase hineingegangen sind."6

Das klingt ein wenig nach der eher rational agierenden und nur sehr begrenzt emotional spontanen Physikerin, die auf einmal registriert hat, dass Menschen in ihrem Denken, Handeln und Fühlen doch nicht nur ausschließlich durch den Verstand geleitet werden. Nun gut, dann probieren wir es eben auch mal mit etwas Gefühl, vielleicht schadet das ja gar nicht.

Damit nimmt sie dem Begriff des Postfaktischen jedoch die eigentliche Bedeutung. Das Problem ist nicht die Parallelität von Intelligenzquotient (IQ) und der von Angela Merkel wohl für sich selbst neu entdeckten Anforderung der emotionalen Intelligenz (EQ).7 Das Problem besteht in der Abkehr von der Realität, wie ungenau wir auch immer diese wahrnehmen. Dabei ist es nicht nur – wie das Statement von Angela Merkel nahe legt – eine Abkehr des Publikums. Nein, es sind nicht nur die Wählerinnen und Wähler, die sich zunehmend der Realität verweigern, sondern es geht um eine zunehmende Abkehr von der Realität durch das Publikum und die Akteure der politischen Arena. Da es sich nicht nur um eine Momentaufnahme, sondern ein aktuelles und prägendes Phänomen handelt, hat die Gesellschaft für deutsche Sprache beschlossen, aus „postfaktisch“ das deutsche Wort des Jahres 2016 zu machen8, nachdem bereits zuvor das Oxford Dictionary „post-truth“ zum internationalen Wort des Jahres 2016 gekürt hatte.9

Was hat es jetzt mit dem neuen Modebegriff des Postfaktischen auf sich? Hat Angela Merkel vielleicht doch recht und es ist wirklich nur der Hinweis auf etwas mehr Gefühl im Umgang miteinander und im Umgang mit politischen Themen und Politikerinnen und Politikern?

Im internationalen Rahmen ist der Begriff durch das Buch „The Post-Truth Era: Dishonesty and Deception in Contemporary Life“ von Ralph Keyes bekannt geworden, der 2004 sein Werk veröffentlichte, das sich nicht nur mit den vielen kleinen sozialen Notlügen des Alltags im Stile von „Nein, du siehst nicht zu dick aus in dem Kleid.“ beschäftigt. Das Werk nahm auch die Abkehr von Realitäten ins Visier und damit wurde der Begriff „postfaktisch“ zum ersten Mal gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit publik gemacht. Im Kern geht es bei diesem Begriff, so wie ihn die Gesellschaft für deutsche Sprache verwendet,

„um die Vermischung von Tatsachen mit Gefühlen und Spekulationen und was dabei herauskommt«.

Die Jahreswortwahl richtet das Augenmerk auf einen tiefgreifenden politischen Wandel. Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen »die da oben« bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der »gefühlten Wahrheit« führt zum Erfolg.“10

Die Gesellschaft für deutsche Sprache betont in der Begründung ihrer Wahl zum Wort des Jahres 2016 die veränderten Rahmenbedingungen für die politische Kommunikation und damit auch für die politische Kultur, wenn es auf der Suche nach sinnvollen und wirksamen gesellschaftlichen Entscheidungen nicht mehr um eine Interpretation von Fakten und Wahrheiten geht, sondern für immer mehr Menschen und Gruppierungen fiktive, gefühlte Wahrheiten ausreichend sind.

Wenn bei Diskussionen die Ebene der Tatsachen in den Hintergrund tritt und stattdessen die Interpretation, die Emotionen und die Haltung und Meinung die Oberhand gewinnen, dann ist das noch nicht automatisch ein Anlass zur Sorge. Im Gegenteil, es wäre falsch, die emotionale Ebene der Kommunikation zu verleugnen. Das Leugnen der Gefühlsebene erweist sich auch bei vielen interpersonalen Konflikten, also den großen und kleinen Auseinandersetzungen zwischen Menschen, als großes Problem, da hier viele Konfliktursachen oder konfliktbegünstigende Faktoren schlummern können. Wer schon einmal versucht hat, in einem Unternehmen Konflikte zwischen Ingenieuren zu schlichten, die bei jeder Diskussion betonen, dass es sich doch ganz sicher nur um reine Sachkritik handele, kann sich ungefähr vorstellen, wovon hier die Rede ist.

Subjektive Standpunkte statt Fakten?

Dass das subjektive, individuelle Gefühl als Maßstab herangezogen wird, kommt auch nicht von ungefähr. Man kann die Auswirkungen der stark individualistischen Multioptionsgesellschaft11 als einen Ausgangspunkt dieser Entwicklung ansehen. Unter dem vom schweizerischen Soziologen Peter Gross definierten Begriff Multioptionsgesellschaft versteht man eine Gesellschaft, in der das Bestreben der Menschen, sich im Zweifel nicht festzulegen, sondern möglichst viele Entscheidungsvarianten offen zu halten, eine große Bedeutung einnimmt. Der Einzelne und seine Auswahlmöglichkeiten, in der Rolle als Konsument oder in seiner persönlichen Entwicklung, werden damit zum Maßstab schlechthin. Das erschwert bei vielen Menschen bereits den Prozess der Informationssuche. Denn die vielen Wahrnehmungsebenen unterschiedlicher Tasks, Online-Anwendungen und Apps führen tendenziell zu einer geistigen Überlastung.12

Der Übergang zur rein emotional subjektiven Wahrnehmung von Realitäten wird dabei seit langem von den progressiven Formen der beratenden Berufe und Funktionen bestärkt. Ob Lebensberatung, Seelsorge, Mediation oder Coaching, stets gilt es als Konsens, dass man Menschen ihre individuelle Wahrnehmung und Realitätsdeutung nicht nehmen sollte. Bei der Frage, ob eine Aussage jemanden beleidigt hat oder nicht, ist es nachvollziehbar, dass man zunächst schauen muss, wie das Ganze denn beim Empfänger ankam. Überträgt man dieses Prinzip der subjektiven Wahrnehmung jedoch auf eine Gesellschaft, dann kann es auch zu problematischen Verzerrungen kommen.

Wenn zum Beispiel in einer Art Extrapolation von gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten die Vermeidung von „Mikroaggressionen“13 die öffentliche Diskussion prägt, dann kann es passieren, dass das Prinzip der subjektiven Wahrnehmung Einzelner zum Maßstab für alle erhoben wird. Die Kritiker, vor allem auch aus dem Umfeld der neuen politischen Rechtsgruppierungen, sprechen hier von der Dominanz der geforderten politischen Korrektheit, bzw. political correctness. Denn das Konstrukt der „Mikroaggression“ beschreibt die Frage, ob eine Äußerung als diskriminierend oder herabwürdigend empfunden wird. Dabei geht es typischerweise um Menschen, die sich durch die Äußerung mit Vorurteilen gegenüber Minderheiten und anderen Gruppen konfrontiert sehen. Insbesondere öffentliche Äußerungen an ein größeres Publikum bergen dabei stets die Gefahr, dass sich jemand durch Mikroaggressionen angegriffen fühlt. Damit stehen sich die individualistischen Forderungen nach freier Rede und nach aggressionsfreiem Umgang gegenüber. Beide individuellen Rechte haben grundsätzlich ihre Berechtigung und Bedeutung. In der politischen Praxis suchen meist Angehörige junger, rechter Gruppierungen nach Aufmerksamkeit, indem sie die Grenzen des ethisch und oftmals auch rechtlich Zulässigen bewusst überschreiten, um sich anschließend als von den etablierten Akteuren verfolgte Gruppe darzustellen.

Im Umfeld von sehr sensiblen Gemeinschaften, beispielhaft zitiert ein „Spiegel“-Artikel eine amerikanische Universität, können jedoch ebenfalls schwierige Situationen für alle entstehen, die sich öffentlich äußern. Wenn bereits ein nicht nach Originalrezept zubereitetes Sandwich als Mikroaggression im Sinne eines kulturellen Imperialismus verstanden wird und der Mensabetreiber sich entschuldigen muss, ist das keine Ermutigung für einen echten Diskurs.14 Im Interesse eines offenen Austauschs muss daher auf eine ausreichende Balance zwischen gesellschaftlichen Konventionen der Rücksichtnahme und einem freien, insbesondere freien wissenschaftlichen Austausch hingewirkt werden. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbands, Bernhard Kempen, wies im November 2017 darauf hin, dass eine freie Wissenschaft Vorrang vor der individuellen Interpretation und Wahrnehmung auf Ebene von Gefühlen haben müsse, da sonst die Diskussionskultur der Wissenschaft Schaden nehme.

„Einige Studierende fühlen sich ja schon verletzt, wenn ein Professor auftritt, der Thesen vertritt, die nicht ihre eigenen sind. Wenn wir das akzeptieren, kommen wir bald wie in den USA dahin, dass auch Fakten wie die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie verschwiegen werden sollen, weil sie religiöse Gefühle verletzen. Fakten und Lehrmeinungen zu diskreditieren, weil sie nicht den eigenen Überzeugungen entsprechen, das rührt an die Substanz der Institution Universität.“15

Dennoch, die Emotionalisierung der öffentlichen Diskussion und die Emotionalisierung der Politik allein würden keineswegs die Diskussion über postfaktische Zeiten rechtfertigen. Es ist kein Fehler, wenn Politik auch die Ebene der Gefühle berücksichtigt. Zwar mutet es vielleicht für viele etwas seltsam an, wenn sich eine Politikerin wie Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einmal vornimmt emotionale Kompetenz zu demonstrieren, aber es schadet auch nicht.

Kontrafaktische eigene Wahrheiten – das eigentliche Problem

Doch die eigentlichen Probleme und Herausforderungen liegen nicht auf der Ebene eines emotionalen Kompetenztrainings für verkopfte Politiker. Es gibt auch Fälle, die wesentlich problematischer sind für die Gesellschaft und die politische Kultur. Das sind Fälle, in denen das vorhandene Faktenwissen mehr oder weniger direkt ignoriert wird und kein Bezug zwischen der gefühlten Wahrheit einer Person oder einer Personengruppe und den Fakten besteht. Der Klimawandel ist bei dieser Art von postfaktischer Haltung dann in der Deutung einzelner Gruppen nur eine Erfindung der Chinesen, um die westlichen Industrienationen in ihrem Wachstum zu hemmen oder es werden historische Tatsachen wie der Holocaust ignoriert bzw. bestritten.

In diesen Fällen geht es dann nicht um die Frage, ob man einen Sachverhalt eher faktenorientiert-rational oder emotional wahrnimmt. In diesen Fällen werden Positionen vertreten, die, wenn man es genau nimmt, meist nicht mehr nur postfaktisch, sondern vielmehr kontrafaktisch und damit schlichtweg falsch sind. Entsprechend muss man bei diesem Verhalten einen anderen Maßstab anlegen. Es geht um die bewusste Verbreitung falscher Behauptungen, mit denen andere in ihrer Meinungsbildung und ihrer Entscheidungsfindung beeinflusst werden sollen. Hieraus kann also auch eine echte Gefahr für die gesellschaftliche Atmosphäre ausgehen.

Postfaktisch als bequemer Frame, der alles entschuldigt?

Dabei muss man an dieser Stelle hinterfragen, welche Wirkung der Begriff des „Postfaktischen“ hat. Die Wirkung, die Worte beim Empfänger auslösen, wird durch den in Neurologie und Kognitionsforschung benutzten Begriff der „Frames“ geprägt. Dieser „gedankliche Deutungsrahmen“16 wird beim politischen Framing dazu benutzt, in der Regel einzelne Themen mit einem Rahmen zu versehen, der „ideologisch selektiv“ 17 wirkt. Man versucht also Begriffe zu prägen, die die Diskussion bestimmen und eine Wirkung haben, die der eigenen Position weiterhilft.

Diese eher abstrakte Definition lässt sich sehr einfach am konkreten Beispiel darstellen. Erinnern Sie sich noch, welchen Begriff nach 2012 die politischen Akteure prägten, die die Aufgabe hatten, dem europäischen Steuerzahler die Rettung von Banken auf Staatskosten schmackhaft zu machen? Genau, den „Euro-Rettungsschirm“ 18. Die beiden entscheidenden Wortbestandteile sind hier „Rettung“ und „Schirm“. Die Rettungsmetapher beinhaltet im Regelfall Anstrengungen, um in hoher Not jemandem erfolgreich zu Hilfe zu eilen. Gerade eher negative Themen werden immer wieder mit dem Begriff der Rettung belegt, um die positive Seite des erfolgreichen Helfens in den Vordergrund zu rücken. Beispielhaft hierfür ist der juristisch-politische Begriff des „finalen Rettungsschusses“19, der ein bewusstes Erschießen von Menschen durch befugte Personen wie Polizeibeamte vorsieht. Im Rettungsschirm steckt also die notwendige, erfolgreiche Hilfe und im zweiten Teil des Wortes der Begriff des Schirms. Ein Schirm ist ein gängiger Alltagsgegenstand, der vor der Unbill des Wetters (Regen, Sonne) schützt. Die beim Thema „Euro-Rettungsschirm“ naheliegenden weitergehenden Assoziationen wie die Frage nach dem Verhalten der Handelnden in Politik und Bankenmanagement bleiben hingegen ausgeblendet.

Wenn man sich mit der Wirkung von Begriffen im Sinne des politischen Framings befasst, dann muss man an dieser Stelle davon ausgehen, dass durch das Etikett „postfaktisch“ vor allem die negativen Aspekte des postfaktischen Handelns eher verniedlicht werden. Man spricht ja im politischen Geschäft häufig auch vornehm vom Umstand, dass jemand die Unwahrheit gesagt hat, da der Vorwurf, dass jemand schlichtweg gelogen hat, zu direkt wirkt. Daher ist der Begriff mit Vorsicht zu gebrauchen. Unter dem Begriff der Unwahrheit kann sich bei einer falschen Faktendarstellung oder Fehlinterpretation auch eine Ungenauigkeit, eine Fehlinformation, eine Verwechslung etc. verbergen.

Der Begriff „Unwahrheit“ ist jedoch dann eher unangebracht, wenn es um eine bewusste, komplett falsche Tatsachendarstellungen geht. Dann wäre es eine Verniedlichung der Lüge. Ähnliche Verniedlichungen haben wir mitunter beim Gebrauch des Wortes „postfaktisch“. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen stört sich zurecht beim Begriff des „Postfaktischen“ oder auch dem amerikanischen Original „post truth“ daran, dass es den Menschen nahelegt, dass früher die Wahrheit der entscheidende Maßstab gewesen sei, was nun nicht mehr gelte. Dies sei „dezent formuliert, eine ahistorische Idealisierung.“20 Besonders bedenklich findet er dabei das Begriffspaar „postfaktische Zeiten“, oder „postfaktisches Zeitalter“ da es einen epochalen Wandel nahelege und damit selbst diejenigen demotivieren könne, die, wie die Wissenschaftler als Experten, Garant für einen Faktenbezug sein müssten.

„Vor allem aber muss man (…) befürchten, dass dieser Begriff als Resignationsvokabel taugt, als verbalradikale Feier der eigenen Ohnmacht, die Wissenschaftler verstärkt zum Rückzug aus den Schmutzwelten des Öffentlichen animieren könnte. Was soll man schon gegen ein Zeitalter tun?“21

Als weiteres Problem erweist sich, dass in vielen praktischen Anwendungsfällen stets der politische Gegner des postfaktischen Handelns bezichtigt wird, auch wenn gerade nicht die Kerndaten der Sachebene, sondern die Bewertungen diskutiert werden. Aber nicht nur, dass der Begriff des Postfaktischen manchmal eher dazu geeignet ist, Probleme zu kaschieren als sie zu benennen. Er wird auch von einigen Gruppen in eine euphemistische Weichspülerterminologie eingebettet, in der auch wirklich jedes politische Fehlverhalten sprachlich verniedlicht wird. Denn im Sinne des politischen Framings versucht der Begriff selbst schon eine Deutung zu geben, die die Phänomene der wahrheitswidrigen Schilderungen in einen positiven Kontext rücken soll.22

Im Begriff des Postfaktischen klingt auch das Modell mit, als habe man damit eine weitere Stufe in der Entwicklung erreicht. Denn die Vorsilbe „post“ beschreibt ja eigentlich ein Phänomen, das nach einem bestimmten Entwicklungsschritt kommt, wie der Postmaterialismus als Überwindung des Materialismus etc. In diesem Sinne wären dann postfaktische Zeiten die modernen Phasen, in denen man die früher übliche Bezugnahme auf Tatsachen erfolgreich überwunden haben würde. Das kann jedoch wohl nicht wirklich gemeint sein.

Alternative Fakten – die Krönung des Postfaktischen?

Bereits etliche, in diesem Sinne sehr originelle Erweiterungen des Begriffs der postfaktischen Wahrheit erlebte die staunende Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Vereidigung des US-Präsidenten Donald Trump. Die Medien berichteten, dass bei der Rede anlässlich des Amtseids, der „Inaugural Adress“ von Donald Trump, wesentlich weniger Zuschauer vor Ort waren als acht Jahre zuvor bei Barack Obama. Zwei Tage später beschwerte sich der US-Präsident am Rande seines Antrittstermins bei der CIA, dass dies nicht wahr sei, da er vom Podium aus doch gesehen habe, dass bei seiner Vereidigung mehr Menschen vor Ort gewesen seien als jemals bei einer anderen Vereidigung.

"I get up this morning, I turn on one of the networks, and they show an empty field. I'm like, wait a minute. I made a speech. I looked out, the field was, it looked like a million, million and a half people. They showed a field where practically no one was standing there and said ‘Donald Trump did not draw...'... Honestly it looked like a million and a half people."23

Es scheint also buchstäblich alles eine Frage der Perspektive zu sein. Während von vorne aus der Froschperspektive des Rednerpults der Platz voll und gefüllt aussieht, offenbaren sich bei den Luftaufnahmen aus der Vogelperspektive mehr als deutliche Lücken. Hinter einer sehr kompakt stehenden Gruppe der Fans werden menschenleere Plätze sichtbar. Schade nur, wenn ein US-Präsident sich nicht darüber im Klaren ist, wenn seine Perspektive beim Erkennen der Wahrheit eher ungünstig ist und sich statt dessen für so begabt hält, dass er 1,5 Mio. Menschen aus der Froschperspektive erkennen und scheinbar richtig schätzen kann.

Löste diese Aussage angesichts der offensichtlichen zahlenmäßigen Unterschiede, die auf den Fotos von 2009 (Antrittsrede Obama) und 2017 (Antrittsrede Trump) sichtbar waren, schon Verwunderung und Erheiterung bei Medien und Öffentlichkeit aus, waren die Reaktionen der Presse sehr betroffen, als der neue Pressesprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, im Nachhinein die Version seines Präsidenten nicht zu korrigieren versuchte, sondern schlichtweg verkündete, dass Trump recht habe. Spicer behauptete, es habe sich um das größte Publikum gehandelt, das jemals eine Antrittsrede eines US-Präsidenten besucht habe (“the largest audience ever to witness an inauguration”)24.

Gleichzeitig drohte Spicer den versammelten Medienvertretern, dass man die Medien mit ihren permanenten Falschmeldungen zur Rechenschaft ziehen wolle. Dieses Verhalten im Rahmen der ersten offiziellen Pressekonferenz war schon ziemlich bizarr; dabei hatte Spicer im Vorfeld seiner Amtsverpflichtung in Interviews immer wieder betont, dass man als Pressesprecher keinesfalls das Vertrauen der Medien verspielen dürfe. Gleichzeitig betonte Spicer auch, dass Donald Trump als Präsident den direkten Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürger aufrechterhalten werde. Die Unzufriedenheit der Exekutive mit den Medien führt bei vielen Regierungen zum Wunsch nach eigenen Medienkanälen.

“There's been a lot of talk in the media about the responsibility to hold Donald Trump accountable. And I'm here to tell you that it goes two ways. We're going to hold the press accountable, as well. The American people deserve better. And as long as he serves as the messenger for this incredible movement, he will take his message directly to the American people where his focus will always be.”25

Wer dachte, dass diese Pressekonferenz mit den von Spicer „befohlenen“ kontrafaktischen Realitäten schon der Höhepunkt einer eher schlechten Komödie darstellte, wurde eines Besseren belehrt. Man kann auch diese offensichtliche Unwahrheit noch toppen, indem man sie versucht zu begründen. Als der CNN-Reporter Chuck Todd die Präsidentenberaterin Kellyanne Conway fragte, warum der Sprecher des Präsidenten zum Amtseinstieg mit faustdicken Lügen gearbeitet hatte, kam eine bemerkenswerte Antwort, die fast schon wie eine postfaktische Regierungserklärung daher kam.

„Don't be so overly dramatic about it, Chuck. You're saying it's a falsehood, and they're giving — our press secretary, Sean Spicer, gave alternative facts to that.”26

Diese Formulierung von “alternativen Fakten” als elegante Umschreibung von Lügen und Unwahrheiten zeigt ein Selbstverständnis auf, das jede Form von verlässlichem, wirksamem Regierungshandeln nahezu unmöglich macht. Wer diese Aufnahmen der drei Akteure Präsident Trump, seinem Pressesprecher Spicer und seiner Beraterin Conway vom 22.01.2017 sieht, erkennt sofort, dass es sich hier um die Schaffung und Beschreibung eigener Realitäten handelt. Unter anderen Umständen würde man sich um die handelnden Personen sorgen, aber in diesem Fall gilt die Sorge eher den Auswirkungen dieser Art von Auffassung und des Handelns.

Jetzt könnte man an dieser Stelle anführen, dass es Falschmeldungen schon immer gegeben hat und auch künftig weitergeben wird. Auch bewusste Fehlinformationen sind kein Erscheinungsform des 21. Jahrhunderts. Dennoch zeigt der Fall ein paar Besonderheiten, die über das bisher gewohnte Maß hinausgehen und auch das Grundproblem des „postfaktischen Zeitalters“ beschreiben. Die Durchgängigkeit und Systematik, mit der nicht nur eine Einzelperson, sondern eine komplette Gruppe (hier sogar eine Gruppierung in der Regierungsverantwortung) versucht, die an dieser Stelle sehr einfach objektivierbaren Fakten zu leugnen, ist bisher in demokratischen Staaten eher unüblich. In Diktaturen kennen wir ein solches Verhalten, das im Zweifel durch sehr unmittelbare Sanktionsmaßnahmen gestärkt wird.

Eine weitere Besonderheit liegt im Verhalten der Person Donald Trump. Wer die Videos des CIA-Besuchs ansieht27, bemerkt – positiv ausgedrückt – in Gestus, Mimik und Tonfall, dass hier ein siebzigjähriger Mann so junggeblieben ist, dass er sich mühelos in die emotionale Haltung eines beleidigten Dreijährigen einfinden kann. Dabei ist das Thema, das er zum Gegenstand der Diskussion macht (Wer hatte mehr Besucher bei der Vereidigung?) keinesfalls eines von hoher politischer Relevanz, solange man es selbst nicht auf die Agenda setzt. Hier vermuten Beobachter eine Egozentriertheit. Es geht dabei um einen Vergleich unter Alphatieren um jeden Preis. Letztlich bleibt es bei der fast absurden Situation, dass ein nachrangiges Thema zum Politikum und in der Art der Aufarbeitung auch zum Fettnapf wird.

Während die ersten Kommentatoren sich nun schon Gedanken machten, ob „alternative Fakten“ auch das Zeug zum Wort oder Unwort des Jahres 2017 hätte, stellt sich die Frage, inwiefern wir es hier jenseits der handelnden Einzelpersonen mit einem größeren Thema zu tun haben. Wenn man die Reaktion der unterschiedlichen Gruppierungen und Bürger analysiert, erkennt man, dass es kein Individualproblem eines einzelnen Politikers und seiner Entourage ist. Es geht um ein gesellschaftliches Phänomen, da viele Fans im In- und Ausland Donald Trump und seiner Regierungsmannschaft (immer noch) Vertrauen entgegenbringen. Damit scheint sich für einige politische Akteure die Situation zu ergeben, dass es sich für sie lohnen kann, der realen Welt eine sehr eigene (faktenarme oder gar faktenfreie) Interpretation der Wirklichkeit entgegenzusetzen.

Dabei geht es nicht um unterschiedliche Meinungen zu einheitlichen Fakten, sondern um erfundene und verdrehte Fakten. Die Themen und Folgen der postfaktischen und der bewusst kontrafaktischen Verhaltensweisen sind eigentlich komplett unterschiedlich gelagert, dennoch werden auch diese Phänomene derzeit sowohl in der Fachdiskussion als auch in der öffentlichen Diskussion als „postfaktisch“ bezeichnet.

Es wäre falsch, darin nur eine Nachlässigkeit in der Begriffswahl zu sehen. Der eine oder andere versucht mit Beispielen gefühlsbetonter Faktenbewertungen ein generelles Verständnis für postfaktische Positionen zu schaffen und dabei auch die echten Falschaussagen zu relativieren.28 Der Kern postfaktischer Politik geht jedoch nicht vom Faktenkern, sondern von vorgefassten Meinungen aus. Wenn dies dann noch mit einer starken Ablehnung des Establishments, das heißt der etablierten Gremien, Strukturen und Medien einhergeht, rührt ein solches Selbstverständnis auch schnell an den „Grundfesten der Demokratie“, zumindest auf der strukturellen Ebene.

In den 68er Jahren wäre diese Abwendung vom Etablierten und die Neubewertung von Fakten eher ein Hinweis für eine eher linksorientierte Gesinnung gewesen. Die Zeit seit der Jahrtausendwende und vor allem das Jahr 2016 haben uns gezeigt, dass diese Art des Handelns, losgelöst von einem traditionellen Werteschema der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und den darin fixierten christlich-humanistischen Vorstellungen der Menschenwürde, heute vor allem ein Merkmal rechter Gruppierungen und Parteien ist. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in unterschiedlichen europäischen Staaten und den USA.

Die Lösungen, die bei einer reinen Hinwendung zur Emotion und Loslösung von Fakten in der politischen Diskussion gesucht werden, sind nach dem Willen dieser postfaktisch eingestellten Bürger oder Politiker im Regelfall nicht sachgerecht. Spätestens in solchen Fällen wird durch die scheinbare Erklärung, dass postfaktische Zeiten eben unausweichlich Zeiten sind, in denen die Fakten keine oder kaum eine Rolle spielen, aus dem Wort des Jahres vielleicht schon fast das Unwort des Jahres. Angela Merkel benutzte den Begriff der „postfaktischen Zeiten“ im September 201629 um deutlich zu machen, dass sie sich mehr der emotionalen Ebene der Bürger widmen wolle, um diese zu erreichen. Andere wiederum nutzen das Phänomen „postfaktisch“ gerne als Erklärung für alle demokratischen Entscheidungen, die sie für falsch oder gar absurd halten.

Ob Brexit oder Trump, mit dem Begriff des „Postfaktischen“ lassen sich anscheinend alle missliebigen Themen erklären. Es ist jedoch wichtig, dass Politiker, Medien und Bürger dieses Thema der „postfaktischen Zeiten“ nicht als einfache Begründung für alles („easy way out“) nutzen. Wenn die postfaktische Kommunikation die faktenbasierte Kommunikation ersetzt, dann ist das nicht nur Ursache für Fehlentscheidungen. Es kann auch ein Symptom für Fehlentwicklungen sein, die in ganz unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft stattgefunden haben und stattfinden. Trotz der Erklärung, dass manche Themen eben postfaktisch bewertet wurden, muss man sich im Sinne des Erhalts einer Demokratie immer fragen, ob die eigenen nicht-faktischen Positionen tatsächlich plausibel und überzeugend sind und ob sie auch ausreichend kommuniziert werden.

Der andere Fall postfaktischen Handelns sind die bereits oben kurz beschriebenen bewussten Manipulationen. Ein Vorgehen, das allen Prinzipien einer fairen Meinungs- und Willensbildung widerspricht und zu einem Zustand führt, der für eine offene Gesellschaft verheerende Folgen haben kann. Hier sind ganz unterschiedliche Institutionen gefordert. Die Politik muss sich der Problematik bewusst sein und einschreiten, wo es nicht um die Interpretation von Fakten, sondern direkt um falsche Fakten geht. Die Ebene der Mittler übernehmen in vielen Fällen die Medien, die entscheiden müssen, wie sie mit ungeprüften Fakten umgehen wollen. Zuletzt gibt es noch als besondere Akteure die Geheimdienste, die einerseits im schlimmsten Fall selbst Urheber zahlreicher Falschmeldungen sind, andererseits jedoch die Aufgabe haben, die manipulativen Einflussnahmen anderer auf die eigene Gesellschaft zu verhindern oder zumindest transparent zu machen.

Wer das „postfaktische Zeitalter“ in Deutschland verstehen und aktiv positiv Politik, Kommunikation und das gesellschaftliche Miteinander gestalten möchte, dem helfen keine pauschalen Schuldzuweisungen an die Einfalt der Mitmenschen. Stattdessen geht es darum zu verstehen, wie die eine oder andere irrationale Diskussion entsteht, die unsere Gegenwart prägt und auch zu mitunter erstaunlichen bis erschreckenden Ergebnissen und Entscheidungen führt.

Es geht um ein sehr breites Themenspektrum. Das beginnt bei dem Prozess, wie erlebte Wahrheit entstehen kann und warum eine objektive Beschreibung der Realität nicht so ohne Weiteres möglich ist. In diesem Zusammenhang muss man sich über die Grundlagen der politischen Meinungs- und Willensbildung sowie über die zusätzliche Dynamik sozialer Medien nochmals gesondert Gedanken machen.

Der Umstand, dass es immer wieder Einzelpersonen und Gruppen gibt, die gezielt Fakten erfinden und mit den neuen Möglichkeiten der Kommunikation auch neue Möglichkeiten der gezielten Manipulation zur Verfügung haben, zeigt, dass es um mehr geht als nur um die Frage, wie viel emotionale Bewertung für sachgerechte Entscheidungen zuträglich ist.

Zudem haben sich auch die Informationswege in den vergangenen Jahren verändert. Die redaktionell geprägten Massenmedien sind durch digitale Medien ergänzt worden, bei denen sich nach dem Prinzip sozialer Medien in vielen Fällen die Nutzer selbst sehr viel stärker zu Wort melden können. Dies ist einerseits eine Demokratisierung, da die Bürger sich Gehör verschaffen können, andererseits ist es jedoch auch ein Problem, wenn die neu ermächtigten Rezipienten (Nutzer, Leser etc.) mit diesem machtvollen Instrument der Öffentlichkeit nicht sorgfältig umgehen. Entsprechend ist auch die Haltung gegenüber Medien und Nachrichten zwiespältig. Die einen sehen in klassischen redaktionellen Medien die „Lügenpresse“ der etablierten Parteien und des Establishments, während andere wiederum die „Fake News“ in sozialen Medien als Problem für eine tatsachenorientierte Sachdiskussion identifizieren. Grund genug, die einzelnen Facetten postfaktischer Kommunikation und postfaktischen Handelns noch stärker unter die Lupe zu nehmen.

Dabei lohnt sich bereits an dieser Stelle, wenn es um die grundsätzlichen Begriffe geht, ein kurzer Blick auf das Schlagwort der „Lügenpresse“, das nach seinem erstmaligen Auftreten 1914 vor allem im Nationalsozialismus große Karriere gemacht hatte.30 Der Begriff, der vor allem von rechten Gruppen wieder aufgegriffen wurde, wird aktuell von vielen Presseredaktionen ironisch aufgegriffen, ohne dass der eigentliche Kontext thematisiert wird.31 Dies kann im Sinne eines Framings auch deutlich negative Konsequenzen haben, wenn Menschen den Begriff als alltäglich wahrnehmen und sich auch der negative Bedeutungsgehalt in den Köpfen festsetzt.

Kapitel 2: Meinungsbildung in der Mediendemokratie – Wie kommen wir zu unserer Meinung?

Beim einen oder anderen Kritiker der „postfaktischen“ Tendenzen in der öffentlichen Diskussion kann man den Eindruck gewinnen, dass die unterschiedliche Bewertung und Einsortierung von Fakten bereits als falsch abgelehnt wird. Aber das wäre zu einfach. Wir werden hoffentlich immer im gesellschaftlichen Diskurs unterschiedliche Meinungen und Bewertung von Fakten haben, damit man im Austausch der Argumente gute Lösungen entwickeln kann.

Eine gemeinsame Faktenorientierung bedeutet nicht, dass am Ende alle einer Meinung sind oder politisch dieselben Forderungen vertreten. Der französische Präsidentschaftskandidat der Sozialisten im Wahljahr 2017, Benoit Hamon, gewann zum Beispiel die innerparteilichen Auseinandersetzungen mit linken Positionen wie einem Plädoyer für eine 32-Stunden-Woche und der Forderung nach einem Grundeinkommen.32 Mit demselben Kenntnisstand der wirtschaftlichen Lage Frankreichs zu Beginn des Jahres 2017 hätte man aber auch andere Forderungen verknüpfen können, die diesen diametral entgegenstehen. Beispielsweise hätte das die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die Lockerung des Kündigungsschutzes sein können, da man die bisherigen Regelungen als zu starr empfinden und darin ein Hemmnis für Neueinstellungen sehen kann. Oder man hätte die Erhöhung des Renteneintrittsalters zum Abbau der Defizite in den Sozialkassen etc. diskutieren können.

Wie also entstehen Meinungen und Einschätzungen in der Politik? Und auf welche Art findet die Meinungsbildung in Parlamenten und Gremien statt?

Erinnern Sie sich noch an die Diskussion über die neuen gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe, die im November 2015 im Deutschen Bundestag ihren Abschluss fanden? Bei diesem von Ethikkommissionen und externen Beratern vorbereiteten Thema hatten sich die Abgeordneten entschieden, den sonst üblichen faktischen Fraktionszwang aufzuheben. Somit entstanden völlig neue Konstellationen, da Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen miteinander in Austausch traten. Dies wirkte sich nicht nur auf die Diskussionskultur aus, sondern auch auf das Ergebnis. Am Ende wurden drei unterschiedliche Vorschläge von den fraktionsübergreifendenden Teams zur Abstimmung gestellt.33

An dieser Stelle könnte man jetzt darüber diskutieren, ob dieses Vorgehen einer bewusst offenen Diskussion nicht den Vorabsprachen überlegen ist, die normalerweise in den einzelnen Fraktionen stattfinden. Es ist jedoch im parlamentarischen Alltag durchaus ein Effizienzvorteil, dass bei der Vielzahl der unterschiedlichen politischen Themen und Entscheidungen die jeweiligen Fachexperten der Fraktionen die Detaildiskussion prägen und nicht jede und jeder Abgeordnete bei jedem Thema von Grund auf die Diskussion mitbegleitet.34

Bemerkenswert ist aber nicht nur der Punkt des fehlenden Fraktionszwangs, bzw. in abgeschwächter Form der fehlenden Fraktionsdisziplin, sondern die Kultur der Entscheidungsvorbereitung. Es fand eine durchaus kontroverse Diskussion statt, die auch eine öffentliche Wirkung hatte und wahrgenommen wurde. Es gab also Diskussionen, es gab auch Zuspitzungen, es gab sogar persönliche Profilierungen bei den einzelnen Gruppierungen, es fehlte jedoch der direkte Angriff, die Herabsetzung des „gegnerischen“ Vorschlags oder gar der „gegnerischen“ Person.

Das Hauptargument vieler politisch Aktiver, dass die Zuspitzung zwischen den Fraktionen und der Streit unterschiedlicher politischer Lager notwendig seien, damit Demokratie, die ja vom Mitmachen lebe, auch interessant bleibe, kann also hier nicht als Gegenargument angeführt werden, da es eine ausreichende Abgrenzung gab. Ohnehin sehen Kritiker die deutschen Bürger als eher etwas zu konsensorientiert. Der Publizist Hugo Müller-Vogg formuliert es wie folgt:

„Politik ohne allzu scharfe Akzentuierung, ohne allzu heftigen Streit und ohne sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager kommt der deutschen Mentalität auch deshalb entgegen, weil die meisten Menschen sich scheuen, politisch Farbe zu bekennen. Die Deutschen sind eher bereit, über ihr Sexualleben zu sprechen als über ihre parteipolitischen Präferenzen.“35

Unabhängig davon, wie man vor dem Hintergrund der persönlichen Einstellung das Endergebnis der Diskussion um Sterbehilfe bewertet, zeigt das Beispiel doch, dass eine Entscheidungsvorbereitung durch eine offene Diskussion möglich ist und hier am Ende mit drei Alternativen eine echte Entscheidungssituation für alle Abgeordneten vorlag.

Wenn man die politische Diskussion in Deutschland aufmerksam verfolgt, kann man mitunter den Eindruck gewinnen, dass diese abschließende Abstimmung über unterschiedliche Varianten von Entscheidungswegen nicht zum Allgemeingut der Politik gehört. Sitzungen in unterschiedlichen Gremien werden in der Regel so vorbereitet, dass nach einer Sachverhaltsdarstellung vielleicht noch eine generelle Aussprache erfolgt, bevor abgestimmt wird. Am Ende wird dann meist die vonseiten der Exekutive, oder in kommunalen Gremien, die laut Gemeindeordnung meist selbst der Exekutive zugeordnet werden, die von der Verwaltung erstellte Beschlussempfehlung als einzige Variante zur Abstimmung gestellt.

Dabei gilt es nicht nur in der Politik seit Roosevelt als Königsweg,36 wenn unterschiedliche Teams Vorschläge unterbreiten. Gerade in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie im Management gilt in vielen Fällen der Grundsatz, dass ein Thema erst dann die Entscheidungs- bzw. Beschlussreife in der Diskussion erreicht hat, wenn es mehr als eine Meinung dazu gibt.

Der komplexe Prozess der Meinungsbildung

Wie aber entsteht eine Meinung? Der Prozess der Meinungsbildung ist außerordentlich komplex. Allein, wenn man das kognitionspsychologische oder neurowissenschaftliche Methodenspektrum nimmt und gewissermaßen mit dem Werkzeugkoffer der Informationsverarbeitung im Gehirn und der dazugehörigen Speicherfähigkeit die Entscheidungsfindung analysiert, ergeben sich viele Detailthemen.37

Wir speichern vorwiegend die Informationen, die wir (auch bei politischen Themen) mit einem „positiven“ oder „negativen Affekt“ verbinden. Besonders spannend ist aus wissenschaftlicher Sicht die Frage, wie Menschen mit neuen Informationen umgehen, die ihren bisherigen Vorstellungen oder Überzeugungen widersprechen. Hier können zwei unterschiedliche Motivationen zum Tragen kommen: Nach den „accuracy goals“ möchten Menschen gerne ein sachlich richtiges Bild von einem Sachverhalt bekommen und zweifeln daher sowohl bisherige Erkenntnisse und auch neue Informationen an. Gemäß der „directional goals“ suchen Menschen nach Informationen, die ihre bisherigen Überzeugungen stützen, um Widersprüche und Abweichungen (Inkonsistenzen) in ihrem Weltbild zu verhindern. Dieses Streben kann „durchaus auf Kosten der Realitätsnähe der eigenen Vorstellungen gehen“.38

Da wir Menschen im Normalfall uns nicht zu jedem Detailthema eine differenzierte Meinung bilden können und daher nicht alle Informationen auswerten, treffen wir im Alltag grobe Abschätzungen. Wir beurteilen andere Menschen mitunter nach ihrem Äußeren oder ihrer Sprechweise, oder wir schließen bei Politikerinnen und Politikern aus deren Parteizugehörigkeit auf ihre Haltung zu bestimmten Fragen. Diese Fähigkeit erfolgreich richtige Abschätzungen vorzunehmen und mit begrenztem Wissen Entscheidungen zu treffen, nennt man wissenschaftlich formuliert Heuristik; ein Prinzip, das die Menschheit insgesamt sehr erfolgreich anwendet.39

Im Negativfall kann es gerade im Hinblick auf die politische Willensbildung auch zu groben Stereotypen und Vorurteilen führen.

„Manche Menschen vertreten ganz offen starke, meist negative Meinungen über bestimmte Gruppen: „Liberale hassen unser Land“, „Christen sind wissenschaftsfeindliche Fanatiker“, „Schwarze Männer sind aggressiv“, „Alte Leute sind langweilig“ und so weiter. Solche intoleranten Menschen treffen Entscheidungen, die auf ihren Vorurteilen basieren. Aber selbst, wenn man sich sehr bemüht, Klischees zu vermeiden, hat man unbewusste Vorurteile und Vorlieben. Jeder ist ein Kind seiner Kultur und Erziehung, dem kann man sich nicht entziehen; man übernimmt implizit Urteile aus Märchen und Mythen, aus Büchern, Filmen und Spielen, von Eltern, Spielkameraden, Lehrern und Zeitgenossen.“40

Seit der Jahrtausendwende wurde von den Medien- und Sozialwissenschaften eine zunehmende Medienorientierung der Politiker festgestellt. Die Medialisierung von Politik oder, wie es auch gerne benannt wird, die Mediendemokratie.41

Die Heuristiken, d. h. den Umgang mit Informationen als Grundlage für die Bildung einer Meinung, kann man sehr gut anhand der Rezeption, das heißt sowohl anhand der Nutzung als auch der Wahrnehmung von Medien und Medienmarken nachvollziehen. Der Umstand, dass ein und derselbe Inhalt je nach Medienmarke unterschiedlich wahrgenommen wird, zeigte sich in Deutschland bei den Übertragungen der Kandidatenduelle im Bundestagswahlkampf. Wenn Zuschauer, die sonst bei RTL und ProSieben zu finden sind, das Kandidatenduell lieber bei ARD und ZDF ansehen, dann bestätigt das die unterschiedliche Wahrnehmung von Medienmarken gerade im Bereich Nachrichten und Informationskompetenz. Dabei kann man einzelnen Studien entnehmen, dass gerade den einzelnen TV-Sendern als Hauptmarke, wie z. B. ARD, und den dazugehörigen Nachrichtensendungen als Produktmarke, wie z. B. Tagesschau, sehr deutlich unterschiedliche Informationskompetenzen zugesprochen werden.42 Generell attestieren Studien, wie die der Kommunikationswissenschaftler Frank Mangold, Jens Vogelsang und Michael Scharkow im Jahr 2017 der deutschen Bevölkerung eine ausreichende Nachrichtenorientierung und Nutzung.

„In der Gesamtschau kann aktuell von einer intakten Nachrichtennachfrage in Deutschland gesprochen werden. Auf Basis der vorliegenden Daten können wir feststellen, dass kategorische Nachrichtenverweigerer bislang keine größere Rolle spielen.“43

Dennoch gibt die unterhaltungsorientierte Nachrichtennutzung jüngerer Zielgruppen Anlass zur Sorge, sollte deren Mediennutzungsverhalten innerhalb der Alterskohorte auch in späteren Jahren gleich bleiben und auf eher schmalen Informationsanteilen beruhen. Es bleibt damit eine Aufgabe der Nachrichtenmedien und Nachrichtenmarken an ihrem Profil im Hinblick auf jüngere Zielgruppen zu arbeiten.

Die Wahrnehmung etablierter Nachrichtenmedien ist aber nicht eindeutig und eindimensional. Eine politisch klar profilierte Zeitschrift wie „Der Spiegel“ ist seit über siebzig Jahren im Markt aktiv und wird doch sehr unterschiedlich wahrgenommen. Dabei gibt es Menschen, die generell diesen Zeitschriftentitel negativ wahrnehmen, da sie für sich die Erfahrung gemacht haben, dass die Beiträge und Kommentare nicht ihrer politischen Überzeugung entsprechen. Andere wiederum sind von der Grundeinstellung her treue Leser, Abonnenten und Fans. Diese Grundhaltungen gegenüber einer bestimmten Medienmarke spiegelt die oben beschriebenen Theorien in der Praxis wider. Aber selbst in den Fällen, in denen wir eine offene Grundhaltung bei den Leserinnen und Lesern antreffen, können die einzelnen Beiträge doch für sehr starke Zustimmung oder Ablehnung sorgen. Eine originelle, teilweise auch bedrückende Einsicht in die unterschiedlichen Publikumsreaktionen auf Beiträge des „Spiegels“ wurde in den ersten Ausgaben der Zeitschrift des Jahres 2017 dargestellt. Anlässlich des 70. Geburtstags wurde anhand vieler historischer Publikumsreaktionen deutlich, wie – ausgehend von den durch ein Medium interpretierten und dargestellten Fakten – höchst unterschiedliche Publikumsreaktionen möglich sind.44

Wenn wir den engen Werkzeugkoffer der Neurowissenschaften und Kognitionspsychologie verlassen und weitere Erkenntnisfelder hinzufügen, weitet sich das Bild der Meinungsbildung nochmals. Ausschlaggebend sind unter anderem Werte, Grundüberzeugungen, Erfahrungen, Kompetenzen, bisherige Meinungen, die vermutete Meinung von wichtigen sozialen Bezugspersonen, die eigenen Interessen und vor allem die Informationen, die zum betreffenden Meinungsgegenstand bzw. Sachverhalt vorliegen. Dabei ist bereits bei dieser geringen Anzahl an Faktoren erkennbar, dass – je nach Themenstellung – teilweise bereits ein oder zwei Faktoren sehr stark dominieren und damit letztlich wirklich ausschlaggebend sind, um die Haltung einer Person zu einem Thema zu prägen.

TTIP als Beispiel für postfaktische Meinungsbildung

Haben Sie in der Hochphase der innerdeutschen Diskussion zum Thema TTIP die Interviews verfolgt, die mit deutschen Politikern geführt wurden? Einige konnten noch nicht einmal das Akronym TTIP auflösen (es steht für Transatlantic Trade and Investment Partnership), geschweige denn zu den Inhalten etwas sagen. Dies lag einerseits an der mangelhaften Information, da aus Gründen der Vertraulichkeit die Inhalte der Verhandlungen lange Zeit für die Entscheider in den Parlamenten nicht zugänglich waren, und andererseits an der in einigen Fällen mangelhaften Kompetenz der Abgeordneten, die weder die wirtschaftlichen Zusammenhänge noch die statistische Signifikanz einzelner Aussagen nachvollziehen und bewerten konnten.45

Was blieb, war am Ende mehr oder weniger demonstrative Zustimmung oder Ablehnung, die in vielen Fällen keineswegs so rational begründet war, wie es dem Thema angemessen erschien und wie es auch vorgetragen wurde. Wie kamen diese Urteile der politisch Handelnden zustande? Die Faktenlage war lange Zeit aufgrund der Sondersituation der Geheimhaltung mehr als dünn. Also ersetzte man Informationen durch Überzeugungen. Für einige waren Themen wie Welthandel angesichts verbreiteter Globalisierungsskepsis ohnehin fragwürdig. Hier trafen sich dann eher links orientierte Skeptiker mit Politikern, die einen deutlich konservativen Hintergrund haben und sich gegen die ausländische Einflussnahme in traditionelle deutsche Belange verwahrten und sei es nur auf der plakativen Ebene des deutschen Reinheitsgebots für Bier. Andere wiederum fokussierten sich auf die erhofften Vorteile und sahen geradezu blühende Landschaften, indem sie – ob bewusst oder unbewusst war nicht bei jedem Interview zu ergründen – bei fachlichen Wachstumsprognosen teilweise die vorliegenden Prozentzahlen um ein Vielfaches nach oben korrigierten.

An diesem Punkt begann dann der Mechanismus der Emotionalisierung. Denn wenn bereits auf der Ebene der politisch Handelnden die Informationslage dürftig war, so waren Journalisten46 als Multiplikatoren oder gar der eigentlich mündige Bürger noch weniger im Bilde, worum es hier eigentlich ging. Wie schließt man nun eine derartige Faktenlücke? Durch die bereits skizzierten Grundüberzeugungen sowie durch Emotionen. Hier bedarf es in der politischen Kommunikation in der Regel einer Metapher oder eines lebensnahen Beispiels, an dem abstrakte Themen wie TTIP erläutert werden können.

Sie haben inzwischen vermutlich selbst das Bild im Kopf, das mit TTIP in der deutschen Diskussion am stärksten verbunden war, das Chlorhühnchen, ein wirklich wunderbares Bild.47 Wenn man es als Beispiel für das eingangs beschriebene politische Framing nimmt und die Wirkung vergegenwärtigt, wird die Bedeutung solcher Begriffe nochmals deutlich. Zum einen sind geschlachtete Hühner nur von einer begrenzten Ästhetik und für viele auch durch die verbliebene Verbindung zum lebenden Tier weit weniger erträglich als die Hühnerfiletstreifen auf der Salatplatte für Gesundheitsbewusste. Zum anderen schafft die Verbindung mit dem Element Chlor Geschmacks- und Geruchsassoziationen, die sehr unmittelbar unser limbisches System aktivieren. Und nein – den meisten von uns läuft bei dem Gedanken keineswegs „das Wasser im Mund zusammen“. Dieses Thema und die damit verbundenen Bilder, ob bewusst und unmittelbar durch Filmbeiträge oder mittelbar durch Wortberichterstattung generiert, schaffen große Emotionen und so war es auch nicht verwunderlich, dass diese Diskussion aus Sicht der TTIP-Befürworter im Umfeld der Wirtschaftsverbände und Handelskammern kaum mehr zu retten war. Sehr spät begann dann der Prozess der – wenn auch nach wie vor sehr restriktiven und umständlichen – Einbindung der Parlamentarier48, als die Regierungsvertreter aus der Verhandlungsdelegation erkannten, dass die Grundstimmung keineswegs positiv war.

Ergänzt wurde die stückweise Transparenz durch ein langsames Durchsickern von Fakten49, aber zu diesem Zeitpunkt war die Schlacht eigentlich nicht mehr zu gewinnen. Viele Politiker hatten sich bereits festgelegt und wir Menschen neigen in der Regel nicht dazu, unsere gewonnenen Überzeugungen, die wir auch öffentlich gemacht haben, ohne weiteres zu verändern. Politiker, die auf ihre öffentliche Wirkung bedacht sein müssen, bilden hier keine Ausnahme, insbesondere dann, wenn sie als Multiplikatoren auch die Rolle übernehmen wollen, die in der Kommunikationssoziologie als „Meinungsführerschaft“ beschrieben wird.50

Ein weiteres Kommunikationsproblem bei TTIP waren die Themen selbst. Auf der Agenda stand eben nur das ausführlich beschriebene Chlorhühnchen, ein emotionales Thema, das jeden betraf. Die eigentlich relevanteren Themen, wie zum Beispiel die Frage der Schiedsgerichte, deren Kompetenzen als Risiko für Staat und Unternehmen betrachtet werden können, waren nicht für alle als wichtiges Thema erkennbar. Ein Abgleich einer potenziellen Risikolage durch Schiedsgerichte mit den bereits bestehenden Risiken für deutsche Unternehmen in den USA, wie wir sie im Jahr 2016 beim Abgasskandal von Volkswagen oder auch bei den Ermittlungen wegen unsolider Beratungspraktiken bei der Deutschen Bank beobachten konnten, unterblieb. Gerade bei den großen Schadenersatzprozessen spielen neben unterschiedlichen Rechtssystematiken zwischen deutschem, bzw. europäischem Recht und der anglo-amerikanischen Rechtstradition auch massive nationale Wirtschaftsinteressen eine Rolle, sodass man bei einer Diskussion über künftige Machtverhältnisse diese Themen ins Blickfeld rücken kann.