Ein Rentner kommt selten allein - Ellen Jacobi - E-Book
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Ein Rentner kommt selten allein E-Book

Ellen Jacobi

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Beschreibung

Rentner Hans hat die Nase voll von seiner Familie und dem Leben. Seit seine Frau Hilde ihn verlassen hat, verdämmert er die Tage am liebsten im Bett. Selbst die Nachricht, dass er in Brandenburg geerbt hat, überzeugt ihn nicht, das Haus zu verlassen. Dafür bedarf es erst eines tüchtigen Schwipses und der Beharrlichkeit seiner Nachbarin Martha Spielvogel, die nicht nur sein Leben mächtig auf Trab bringt ...

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

1.

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Über die Autorin

Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Köln.

Ellen Jacobi

EIN RENTNERKOMMT SELTENALLEIN

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2016 by Ellen Jacobi

Copyright Deutsche Originalausgabe © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Titelillustration: © Gerhard Glück

Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1496-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Jörn Griebel,den besten Buchpaten, den ich mir wünschen konnte.Ohne Dich hätten Hans, Martha, Jannik, Krusewitz und iches nie von Nievenhoven bis in die Uckermark geschafft.Mann, Mann, Mannund

Etwas Besseres als den Tod findest du überall.

1.

Glück ist eine Überwindungsprämie.Manés Sperber

Hans Nittenwilm schwebt auf einer Wolke aus Zucker und Zimt. Schnuppernd hebt er die Nase und öffnet den Mund, um sie zu schmecken. Die Wolke entflieht und verpufft unter schmatzenden Schnarchlauten. Hans dämmert vage, dass es seine eigenen sind und dass er Unsinn träumt, wie so häufig in letzter Zeit. Riechen konnte er seine Träume bislang allerdings nicht, geschweige denn schmecken. Sie schmecken erstaunlich gut.

»Jetzt aber hopp, hopp, raus aus den Federn! Die Sonne geht auf!«

Herr im Himmel, jetzt kann er seine Träume sogar hören!

Nein, das ist der Radiowecker, korrigiert sich Hans benommen. Zu benommen, um das Geschwätz abzuschalten, obwohl er liebend gern ungestört weiterschlafen würde. Zimtwolken träumen und schmecken ist angenehmer als die Aussicht auf einen weiteren endlos ausgedehnten Tag als Hans »Niemand« Nittenwilm in Nievenhoven bei Dormagen.

Leben ist eine Zumutung.

»Das Morgenrot verspricht i-de-a-les Reisewetter!«, juchzt eine exaltierte Frauenstimme.

Hans stöhnt. Das Radioprogramm muss sich verstellt haben. Der Wecker ist seit seiner Pensionierung vor zwei Jahren auf halb zehn und Klassikradio programmiert, nicht auf heilloses Gezwitscher über Morgenrot und Reisewetter. Noch dazu in einem schrillen Operetten-Dur, das ihm rasende Kopfschmerzen beschert und ihn an jemanden erinnert, den er nicht leiden kann. Ganz und gar nicht leiden kann.

»Was für ein Mai! Gewöhnlich leidet unser Frühling um diese Jahreszeit doch noch an Erkältung«, jubiliert die Moderatorin.

Das muss einer dieser privaten Lokalsender sein. Die haben oft nervenzerfetzend gute Laune. Genau wie Martha Spielvogel.

Unwillig knurrend dreht Hans sich im Bett um. Die Matratze bebt unter seinem Gewicht. Unter übermenschlichen Anstrengungen gelingt es ihm, den Kopf vom Kissen zu heben, um sich das Kissen auf sein rechtes Ohr zu pressen und sein linkes Ohr an die Matratze. Ah, so ist es besser.

Komisch nur, dass ihm jetzt die Füße wehtun. Sie schmerzen wie nach einem Gewaltmarsch. Egal. Hauptsache, das Radiogeschwätz verebbt wie Rheinwellen, die auf einer Bune auflaufen. Dafür lärmen nun seine Gedanken. Ob Annika dreist Wecker und Programm verstellt hat? Seit seine Tochter wieder bei ihm wohnt, liegt sie ihm dauernd in den Ohren, er müsse wieder Frühsport treiben.

Hans kneift trotzig die Augen zu. Nein!

So unförmig, wie er geworden ist, wird er nicht durch Nievenhoven traben – mit grauem Bart, Flattermähne und schnaufend wie ein Dampfross. Schon gar nicht heute, wo selbst sein Kopf tonnenschwer zu sein scheint. Nur nicht wach werden.

Hans sehnt sich zurück auf die zärtliche Zimtwolke. Vorhin konnte er sie doch förmlich schmecken. Karamell gepaart mit zimtiger Süße. Ein Geschmack wie von gebrannten Kirmesmandeln. Hauchfein nimmt die Wolke wieder Gestalt an. So was träumt man gern.

»Die Bäume schwimmen im Blütenschaum.«

So was nicht.

»Die Kastanien haben erste Kerzen aufgesetzt! Der Flieder blüht! Dabei sind wir hier kurz hinter Dormagen! Wer denkt bei Dormagen schon an blühende Landschaften!«

Bumm, bumm, bumm!, hallt es bis unter Hans’ Schädeldecke. Jetzt fängt diese Nervensäge auch noch an zu singen. Schrill und schief und unter Einsatz von Kirmestrommeln, einem Schellenbaum und viel Tschingderassa …

Tschingderassa? Bumm!

Autsch.

Gegen das »Bumm« hilft kein Kissen. Das »Bumm« kommt nicht aus dem Radio. Das »Bumm« produziert sein kolossaler Brummschädel.

Brummschädel?

Aber natürlich! Hans holt erleichtert Luft. Kein Wunder, dass er unter akustischen Halluzinationen leidet. Er hat gestern Abend getrunken. Sehr viel getrunken. Seit langer Zeit mal wieder. Mit seinem alten Freund Krusewitz, den er ewig vernachlässigt hat. Und nicht nur mit ihm.

Hinter Hans’ Lidern flammen bunte Lichterketten auf, sein Schädel wird zum Rummelplatz, eine Kompanie von Fläschchen mit lila Schraubverschlüssen und Glubschaugen marschiert über Bierzeltgarnituren. Kleiner Feigling ist bei den Nievenhovener Schützenbrüdern äußerst beliebt. Frau Spielvogel kam mit dem Austeilen kaum hinterher und musste auf Amaretto umschwenk …

Schützenbrüder? Frau Spielvogel?

Hans’ Erleichterung weicht nackter Panik, er zieht sich das Kissen mit beiden Händen über die Ohren. Das darf nicht wahr sein!

Ist es aber: Er war gestern auf der Maikirmes des Sappeur-Korps Nievenhoven 1884. Darum das Tschingderassabum und die Stimme von Frau Spielvogel in seinem Kopf. Sie hat eine der Kirmesbuden betreut – »in Erinnerung an alte Zeiten«, hat sie gesagt, weil sie auf Rummelplätzen groß geworden sei und aus einer alten Schaustellerdynastie stamme.

Oh Gott! Er hat sich mit dieser Person unterhalten. Wo er sich seit geraumer Zeit mit so gut wie niemandem unterhält. Schon gar nicht mit der Schießbudenfigur Spielvogel, dieser angeblichen Therapeutin, die jeden kurieren will, der ihr vor die Flinte kommt. Sogar Haustiere.

Fehler, Fehler, Fehler! Über was hat er mit der geredet?

»Komm schon, komm schon!«, feuert er sein schmerzgeplagtes Hirn an, das aus dem Nichts wieder Zimtwolken produziert und bei Frau Spielvogel gebrannte Mandeln nachbestellt. Nicht jetzt! Er kneift die Augen fester zu. Endlich nimmt sein Hirn Fahrt auf. Bilder und Gedanken wirbeln durcheinander wie Socken in einem Wäschetrockner. Sie fahren regelecht Karussell. So wie er gestern.

Oh nein.

Oh doch.

Er ist Kettenkarussell gefahren. Bis in den Himmel hinein. Sogar rückwärts. Bei Sternenlicht und mit der Spielvogel. Hand in Hand. Wie früher mit seiner Hilde.

Hans wird übel. Speiübel. Nicht vom Karussellfahren, nicht vom Likör, nicht einmal von wehen Erinnerungen an seine Hilde, sondern weil ihm einfällt, worüber er mit dieser Person geredet hat. Über Müll. Seinen Müll.

Unvermittelt schiebt sein Hirn eine Filmsequenz ein: Frau Spielvogel schlüpft aus dem Anbau am Ende seines Gartens, den er ihr vor einem halben Jahr vermieten musste. In Zeitlupe pirscht sie sich über die Obstwiese, verharrt unter seiner geliebten Ulhorner Wunderaprikose, späht zur blauen Abfalltonne hinter seinem Bungalow hinüber. Jetzt trippelt sie durchs Gras zur Tonne, reißt den Deckel auf, wühlt in seinem Altpapier – und wird fündig.

Darüber wollte er gestern mit ihr ein Wörtchen wechseln! Ein sehr ernstes. Er ist überhaupt nur auf die Kirmes gegangen, um Martha Spielvogel aus dem Anbau und dem Leben seiner Familie hinauszuwerfen, in das sie sich seit Monaten in dreister Manier einzuschleichen versucht. Seit Neuestem als Therapeutin seines Enkels Jannik. Der arme Jannik! Damit musste er Schluss machen. Stattdessen ist er mit der Spielvogel Karussell gefahren.

Hans stöhnt auf.

»Was für eine fa-bel-hafte Jahreszeit für unsere Reise«, flötet, trällert, tiriliert es über seiner Nasenspitze. Eine Zimtwolke sinkt auf ihn hinab. »Aufstehen, Hans Valentin! Wir wollen doch frühstücken, bevor es weitergeht.«

Valentin?

Bei seinem zweiten Vornamen nennt und kennt ihn kein Mensch mehr. Außer vielleicht … neuerdings … die Spielvogel! Sie muss die Post von diesem Brandenburger Rechtsanwalt und Notar im Altpapier gefunden haben. Einen Brief, der niemanden etwas angeht. Niemanden!

Hans reißt panisch die Augen auf. Verschwommenes laubgrünes Licht dringt auf ihn ein. Hat er die Rollläden gestern nicht herabgelassen? Er tastet nach seinem Nachttisch, seiner Brille. Wo um Himmels willen ist sein Nachttisch? Hans reibt sich die Augen, stemmt sich aus den Kissen und tut einen Schrei. Er liegt in einem fremden Bett – so viel erkennt er auch ohne Brille –, aber das ist beileibe nicht das Schlimmste!

2.

Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.Erich Kästner

Mann, Mann, Mann. Jetzt singt der wieder! Soll das etwa bis Brandenburg so weitergehen? Nervös wendet Jannik Nittenwilm den Blick von der dunklen Autobahn ab und seinem schmächtigen Beifahrer zu. Kantor i. R. Krusewitz schläft. Und singt. Dabei heißt i. R., soweit er das weiß, doch »im Ruhestand« oder »in Rente« oder so.

Trotzdem summt und singt Opas alter Kumpel nahezu ununterbrochen oder dirigiert unsichtbare Chöre. Und das seit dem Kreuz Köln-Nord. Also seit exakt, Jannik schielt zum Entfernungsmesser, 442 Kilometern und 300 Metern! Krusewitz gehört als zweibeiniger Musikantenstadl und Weltmeister im Marathonsingen ins Guinessbuch der Rekorde. Gerade krächzt er was von »su-hu-hu-che Freud«. Rechter Hand dirigiert der kahle Kantor mit seinem knochigen Zeigefinger, linker Hand spielt er dazu ein unsichtbares und – logisch – unhörbares Klavier. Das hält Krusewitz allerdings nicht davon ab, sich zu beschimpfen, wenn er falsche Tasten erwischt.

»Der Mensch ist ein Universum, und der Kantor ist ein sehr gewitzter und einzigartig origineller Mensch«, behauptet Frau Spielvogel.

Das Universum des Kantors macht einen leider wirr im Kopf, denkt Jannik. Und einen wirren Kopf kann er sich als Fahranfänger nicht leisten. Schon gar nicht als Fahranfänger mit leichter Orientierungsschwäche. In dieser Hinsicht ist in seinem Hirn irgendetwas falsch verkabelt. Das haben schon Dutzende von Neurologen seit seiner Kindheit festgestellt und nicht ändern können. Rasch wendet Jannik den Blick wieder der Fahrbahn zu.

Davon abgesehen ist mit seinem Hirn alles vollkommen in Ordnung, sagt Frau Spielvogel.

Anders als bei Krusewitz, findet Jannik.

»G-Dur, nicht C-Dur, du alter Esel!«, tadelt der Kantor sich gerade. Der hat wirklich eine Macke. Nicht nur musikalisch.

»Alle alten Leute haben eine Macke«, behauptet sein Kumpel Wolodja, genannt Wodka oder zuweilen auch Gorbatschow, »erst recht in Nievenhoven – Schrägstrich – Deppendorf. Wer aus unserem verstrahlten Kuhkaff nicht rechtzeitig rauskommt, muss auf Dauer einfach durchdrehen!«

Jannik fährt sich nachdenklich durch die hochgegelte Stachelfrisur. Dann nickt er grimmig dem im Scheinwerferlicht aufglänzenden Asphalt zu. Könnte hinkommen. Sein Großvater Hans, genannt »der Schweiger«, ist mental ebenfalls ein Wackelkandidat, seit er pensioniert ist und Oma Hilde ihn verlassen hat.

Den Kantor hat’s natürlich schlimmer erwischt, schiebt Jannik hastig hinterher. Verglichen mit seinem alten Kumpel Krusewitz ist Opa Hans nur leicht verstört. Allenfalls! Was Frau Spielvogel ändern will. Gestern Abend auf der Kirmes hat sie damit angefangen.

Jannik fühlt ein Grinsen in sich hochsteigen. Opas Besuch auf dem Schützenfest war ein Knaller. Eine Auferstehung von den Toten.

»Schon wieder daneben, du Trottel!«, jault neben ihm der Kantor auf.

Jannik verreißt vor Schreck das Lenkrad, fasst sich wieder und bringt den Wagen zurück auf Spur. Mann, Mann, Mann! Krusewitz ist heute Nacht gemeingefährlich originell. An dem beißt sich selbst eine Therapeutin wie Frau Spielvogel die Zähne aus.

»Der hat sich zu viel Kirchenmusik reingeorgelt«, lautet Wodkas Diagnose.

Gut möglich. Darum ist Krusewitz auch halb taub. Fast wie Beethoven. Meistens jedenfalls. Die Taubheit könnte natürlich auch ein Trick sein, argwöhnt Jannik manchmal, weil Krusewitz nicht immer hören will, was man ihm sagt. Dazu eine Überdosis Nievenhoven bei Dormagen, das war’s dann wohl in Sachen geistige Frische. Außerdem ist Krusewitz zweiundachtzig. Oder war’s dreiundachtzig?

Jannik zuckt mit den Schultern. Auch egal. Hauptsache, der Kantor i. R. bleibt bei Laune und geht ihm nicht stiften, bevor sie Brandenburg erreicht und Frau Spielvogel getroffen haben. Genau das aber tut Krusewitz gerne mal. Darum verriegelt Jannik auf Rastplätzen alle Autotüren, wenn er tanken muss, und geht auch nur gemeinsam mit dem Kantor zur Toilette. Wenn er Krusewitz nicht wohlbehalten in Brandenburg abliefert, gibt’s sicher kein Geld von Frau Spielvogel. Die zahlt die Reise nämlich. Für tausend Euro cash plus Spesen soll er Opa Krusewitz und irgendwelche anderen Irren, mit denen Frau Spielvogel später nachkommen will, zehn Tage durch Deutschland-Ost karren. Genauer gesagt, muss er ab Brandenburg meist nur das Gepäck der Irren chauffieren. Die wollen oder sollen nämlich wandern – aus therapeutischen Gründen, behauptet Frau Spielvogel.

»Mit Krückstock und Rollator?« Sein Kumpel Wodka hat sich vor Lachen beinahe weggeschmissen, als Jannik kurz nach Mitternacht mit Krusewitz und Frau Spielvogel bei ihm an der Tankstelle vorgefahren ist, damit er Opa Hans’ betagten Mercedes checkt.

»Na, Hauptsache, du musst nicht mitwackeln«, hat Wodka nachgeschoben und persönlich den Tankstutzen bedient, während Frau Spielvogel im Shop den Reiseproviant für Jannik und Krusewitz zusammengestellt hat.

»Warum sollst du denn mitten in der Nacht losfahren?«, hat Wodka gefragt, während er den Ölstand kontrollierte.

»Damit Krusewitz die Fahrt verschläft und entspannt in seiner alten Heimat Brandenburg ankommt. ›Urlaub von Anfang an‹ oder so. Außerdem sind nachts die Autobahnen leerer«, hat Jannik flüssig Frau Spielvogels offizielle Erklärung zitiert. Wodka hat’s geschluckt, weshalb Jannik zwei, drei Hintergrundinfos für sich behalten konnte. Vor allem die, dass er seit vier Monaten selbst Patient von Frau Spielvogel ist.

Es wäre ihm verdammt unangenehm, wenn Wodka glauben würde, er habe einen Riss in der Fuge. Wodka selbst ist nämlich kerngesund. Sein Lebensmotto lautet: »Probleme gibt’s nicht, außer man macht sich welche.« Klingt nach einem verdammt guten Motto. Nur leider funktioniert es bei Familie Nittenwilm so gar nicht. Na ja, umgekehrt schon. Er selbst, Opa und Mama sind Weltmeister darin, sich selbst und einander Probleme zu machen. Früher war das mal anders. Ganz anders.

Ach, egal. Frau Spielvogel hat ihm erklärt, dass die Reise nach Brandenburg auch ein Teil seiner Therapie ist, sozusagen der krönende Abschluss. Jannik soll sein Verantwortungsbewusstsein unter Beweis stellen. Wofür er eine Therapie nie nötig hatte. Egal, was Mama meint.

Dass Frau Spielvogel die Reise gestern völlig überraschend angesetzt hat, musste Wodka auch nicht wissen. Ebenso wenig, dass Krusewitz angesäuselt war, als er verlangt hat, vom Kirmesplatz umgehend in seine alte Heimat gebracht zu werden. Krusewitz war sogar so betüddelt, dass er Jannik befohlen hat, die Pferde vom Nievenhovener Reiterkorps einzuspannen.

Was Wodka mit Sicherheit brüllkomisch gefunden hätte.

Noch voller als Kantor Krusewitz war allerdings Opa Hans, der Jannik die Reise in nüchternem Zustand nie im Leben erlaubt hätte. Weil er das heute unter Garantie bereuen wird, war eine sofortige Abreise bei Nacht die beste Lösung. Sozusagen alternativlos.

Beim Überprüfen der Zündkerzen ist Wodka zu dem Schluss gekommen, dass Frau Spielvogel eine noch größere Macke als ihre komplette Kundschaft haben muss. »Warum setzt die sich nicht selbst ans Steuer, statt an ’nen kompletten Fahranfänger wie dich tausend Euro abzudrücken? Finde ich verdächtig.« Wodka spinnt gerne Verschwörungstheorien nach dem Muster »Aliens leben unter uns« oder »Kanzlerin Merkel verseucht das Trinkwasser mit Verdummungsdrogen«. Völlig verstrahltes Zeug eben.

»Vielleicht hat sie mit Krusewitz ein krummes Ding gedreht und will ihn in Brandenburg auf Nimmerwiedersehen loswerden?«, hat Wodka diese Nacht gemutmaßt und munter weiterspekuliert: »Damit der sich nicht verplappert. Oder er hat ihr irgendwas vermacht. Wäre ein guter Grund, ihn bei Nacht und Nebel unauffällig in die Walachei zu schaffen, um ihm da dann irgendwo …« An diesem Punkt ist sich Wodka mit gestreckter Handkante wie mit einem Messer – zack – an der Kehle entlanggefahren. »Besser, ich überprüfe mal die Bremsschläuche.«

Das war natürlich vollkommener Schwachsinn. Wodkas abschließende Bemerkung in der Angelegenheit klang allerdings nicht ganz so hirnverbrannt: »Okay, die Bremsen sind in Ordnung, aber jetzt mal ehrlich, Alter: Welche Therapeutin zahlt ihren Bekloppten auf eigene Kosten eine Spritztour nach Brandenburg? Da zahlt die doch gewaltig bei drauf. Was soll denn das für ein Geschäftsmodell sein?«

Diese Frage konnte Jannik natürlich nicht beantworten, und zum Glück musste er das auch nicht, weil in diesem Moment Frau Spielvogel mit dem Proviant aufgetaucht war: wabbelige Sandwiches mit Scheibletten und Milky Ways für den Kantor, weil er Gebiss trägt und man Scheibletten notfalls lutschen kann; Bifis in Teigrolle, Traubenzucker und ein Sixpack Monsterblood Kirsch/Guarana für Jannik, damit er am Steuer nicht einnickt.

Apropos. Jannik greift nach einer Büchse des Energydrinks und gönnt sich einen großen Schluck. Wenn seine Mutter das wüsste, würde sie ausflippen. Die hält Monsterblood für eine gefährliche Droge und ihn für ein Kleinkind. Ein minderbemitteltes Kleinkind, das keinen Zucker und kein Koffein verträgt.

Mann, Mann, Mann.

Nur gut, dass sie gestern Morgen selbst in Urlaub gefahren ist, sonst hätte er Brandenburg mit oder ohne Opas Erlaubnis knicken können. Darauf noch eine Dosis Monsterblood! Jannik prostet sich grinsend im Rückspiegel zu. Ist ja genug da, und die Verpflegung während der Reise ist inklusive. Zahlt alles Frau Spielvogel. Ist der Job hier cool oder cool?

Jannik beantwortet sich die Frage gleich selbst: Der Job ist obercool! So obercool, wie er selbst ab sofort ebenfalls sein wird. Auf immer und ewig. Trotz seinen rotbraunen Haaren, den blöden Sommersprossen und seinem Mangel an Orientierungssinn.

»Okay, der Job ist besser, als im Baumarkt Billerbeck Schrauben zu sortieren oder bei McKlops die Burger zu verbrennen«, hat selbst Wodka beim Auffüllen des Scheibenwassertanks eingeräumt. Er klang fast neidisch. Sogar ziemlich neidisch. Hihi!

»Es sei denn, das Schicksal zieht bei Opa Krusewitz unterwegs den Stecker«, hat Wodka in dem Moment nachgeschoben.

Janniks Grinsen stürzt ab. Genau wie die Büchse Monsterblood. Sein Herzschlag erhöht sich auf die doppelte Taktzahl. Heilige Scheiße, musste Wodka ihm diesen Floh ins Ohr setzen? Jannik wischt sich blutrotes Monsterblut vom T-Shirt und wirft einen alarmierten Seitenblick auf den Kantor.

Entwarnung. Der Sängerknabe lebt noch. Und wie der lebt!

Janniks Herz rast trotzdem weiter. Könnte daran liegen, dass er etwas zu viel Monsterblood getrunken hat. Mist, das T-Shirt ist hin, er sieht aus wie das Opfer einer Highschool-Schießerei. Egal, Hauptsache Krusewitz singt noch! Tut er. Etwas von »lieber Sommerzeit« und »Gartenzier«. Krusewitz eben. Wie immer neben der Spur.

Von wegen Sommerzeit! Es ist Anfang Mai, sehr warm zwar, aber nicht Sommer. Außerdem fahren sie durch fahles Morgengrau, da gibt’s nicht viel zu sehen. Schon gar keine Gärten. Nur ein paar spargeldünne Kiefern mit Nadeltoupet rechts und links der Leitplanken und einen Glutfaden Morgenlicht am Horizont. Irgendwo bei Berlin dämmert es. Sieht aus, als ob der Himmel brennt. In HD.

Kennt man ja: »Im Osten geht die Sonne auf, im Süden hat sie Mittagslauf, im Westen will sie …« und so weiter. Auch wenn er das Wodka gegenüber nie zugeben würde, findet Jannik den Spruch gut, weil er ihm hilft. Immer der Sonne entgegen heißt, er ist auf dem richtigen Weg. Nach Osten. Und das ganz ohne Navi. Ist allerdings noch reichlich Strecke bis Berlin. Und bis zum ersten Stopp in einer Stadt namens Templin kommen noch einmal knapp hundert Kilometer drauf. In Form von sehr viel Landstraße, die einem total den Schnitt versaut.

Fragt sich nur, ob Krusewitz überhaupt mitkriegen wird, dass er in seiner alten Heimat Brandenburg ist oder im Süden oder Norden oder Osten oder wo auch immer. Kurz hinter Braunschweig ist der mal hochgeschreckt und hat gefragt, ob sie schon über die Grenze und in der sowjetischen Besatzungszone sind.

Grenze?

Sowjetische Besatzungszone?

Nie gehört. Keine Ahnung, wo die liegen soll. In Russland? Jannik schüttelt den Kopf. Wodka könnte das wissen, sein Vater kommt da her. Egal. Jedenfalls hegt Jannik seitdem Zweifel, ob Krusewitz weiß, wo es hingeht.

Frau Spielvogel hatte gestern Nacht keine. »Herr Krusewitz ist nicht dement, Jannik, er ist nur zeitweise zerstreut. Ein typischer Künstler eben, nicht ganz von dieser Welt. Vor allem, wenn er an seiner Sinfonie der Stille arbeitet, die er in Brandenburg vollenden will. Für mich ist er ein klassischer Fall von einem Genie an der Grenze zum Wahnsinn. Und sein Herz ist kerngesund. Ein alter Wandersmann eben. Wie dein Opa früher einmal«, hat sie munter versichert. »Von Herrn Krusewitz wirst du viel lernen. Deshalb fährst du mit.«

Jannik schüttelt erneut den Kopf. Was soll er denn von einem Irren lernen? Dauersingen? Völlig verpeilt in der Gegend rumeiern? Nein danke. In der Schule halten sie ihn ohnehin für komplett gestört – also, jetzt nicht Krusewitz, sondern ihn, Jannik Nittenwilm. Zum einen, weil er und seine Mutter vor einem Jahr wieder bei Opa, dem Schweiger, eingezogen sind, und dann wegen der Sache mit Vanessa. Darum vor allem. Weshalb er vor vier Monaten beschlossen hat, nie wieder einen Fuß ins Nievenhovener Gymnasium zu setzen. Egal, was seine Mutter sagt.

Dass ausgerechnet die versucht, ihn wieder in die Schule zu bekommen! Die hat doch selbst vor dem Abi die Schule geschmissen. Noch dazu schwanger. Mit ihm und mit sechzehn. Hat sie deswegen damals jemand zur Therapie geschickt? Nein! Aber er musste umgehend hin. Dabei ist er schon achtzehn, also erwachsen, und – logisch – kein bisschen schwanger.

Mann, Mann, Mann.

Eine leichte Rechts-Links-Schwäche, Schulabbruch, ein, zwei anonyme SMS zu viel an Vanessa und ein angeblich »falscher Freund« von der Tanke sind doch keine Gründe für eine Therapie. Genau die musste er aber machen, plus Sozialstunden in Form von Hausbesuchen bei Opas altem Freund Krusewitz. Ablehnen ging nicht, sonst hätte sie ihm das Geld für den Führerschein gestrichen.

In Nievenhoven ist man ohne Führerschein völlig verloren. Disco ist nicht drin, Köln und Düsseldorf sind unerreichbar. Bleibt nur Wodkas Muschelbar. Die Shell-Tanke ist der einzige Ort in Nievenhoven, an dem so etwas wie ein Nachtleben existiert und wo die Getränkepreise im Rahmen bleiben. Nach 23 Uhr schiebt Wodka ihm die Energydrinks sogar für lau über den Tresen. Happy hour. Von wegen »falscher Freund«! Wodka hat ihn nie »Blockflötengesicht« genannt wie diese Bratzen vom Gymnasium Nievenhoven, nur weil er bis zum Stimmbruch Solist im Schulchor war und immer gute Mathenoten hatte. Oder »kleiner Wikinger« wegen seiner roten Haare und weil er nicht der Größte ist. Für Wodka war er auf Anhieb nur Jannik oder »Einstein«, weil er überhaupt mal auf einem Gymnasium war.

Damit seine kniepige Mutter den Führerschein bezahlt, ist Jannik also vier Monate lang brav zu Krusewitz gegangen und hat ihm einmal die Woche beim Luftklavierspielen zugeguckt, sich Geschichten vom Krieg und der Zeit danach angehört und literweise Fachinger getrunken.

Das war nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Bis auf das Fachinger. Das schmeckt wie Wasser mit Mückenfurz, null Kohlensäure. Bäh. Jannik nimmt hastig einen Schluck Monsterblood. Zusätzlich musste er zweimal die Woche zur Spielvogel, die seit sechs Monaten im Anbau am Ende von Opas Garten wohnt.

Den Anbau hat Opa ihr vermietet, weil ihn der Unterhalt von Oma Hilde so teuer zu stehen kommt und weil Oma ein Facelifting brauchte, um auf Mallorca ihre verlorene Jugend nachzuholen. Mit ihrem Scheidungsanwalt. Seit sie gegangen ist, redet Mama kein Wort mehr mit ihr. Ihm hat sie das auch verboten.

Gern hat Opa den Anbau nicht vermietet. Der war nämlich nur für seine, also Opas Mutter gedacht gewesen. Und obwohl die gestorben ist, bevor sie einziehen konnte, war ihm das Häuschen immer heilig. Frau Spielvogel hält er dagegen für eine kriminelle Kurpfuscherin, weil unter ihrem Klingelschild nicht nur Heilpraktikerin, sondern auch was von Psychodrama, Hypnose, Schüßlersalzen und Schamanenreisen steht.

Opa hat die Spielvogel gefressen, seit sie die Trennhecke zwischen seinem Garten und ihrem Anbau auf Kniehöhe gestutzt hat. Außerdem heftet sie gern klimpernde Windspiele und bunte Haftnotizen mit Kalendersprüchen über das Glück an seine geliebten Obstbäume. Das macht Opa fuchsteufelswild, treibt ihn aber immerhin ab und an wieder in seinen Garten, den er seit Oma Hildes Abgang total vernachlässigt hat. Die Spielvogel arbeitet gern mit Tricks – auch mit unsauberen. Seit Neuestem etwa legt sie Klingelsolos an Opas Haustür hin, um ihm Rohkostteller mit Glücksnotizen, Schüßlersalze oder Briefe zu bringen, die sie für ihn angenommen hat.

»Diese Nervensäge klaut meine Post«, behauptet Opa seither.

Welche Post? Der kriegt doch nur noch Aldi-Prospekte und Pensionsbescheide und so ein Zeugs, oder?

Mama fand Frau Spielvogel als Therapeutin jedenfalls okay, weil sie nicht teuer ist und sie bis 22 Uhr therapiert. Da konnte seine Mutter ihn, den missratenen Sohn, nach ihrer Schicht als Baumarktleiterin bei »billig, billiger, Billerbeck« persönlich im Anbau abliefern. Um sicherzustellen, dass er hingeht. Da kommt man sich doch vor wie ein Knacki! Oder ein Hosenscheißer. Voll peinlich. Und am Anfang nur öde! Krusewitz plus Fachinger war deutlich prickelnder, als bei Martha Spielvogel rumzusitzen und Blech zu labern. Von wegen schwerer Kindheit. Da er in der Hinsicht nichts zu erzählen hatte – weil’s da nichts, nada, niente, absolut gar nichts zu erzählen gab –, musste er zwei Sitzungen lang meditieren. Das war Folter: Die Spielvogel hat mit einem albernen Holzklöppel gegen eine Messingschüssel geschlagen, und er sollte »mit dem verschwebenden Klang seinen Gefühlen nachspüren«.

Mann, Mann, Mann. So was macht einen doch überhaupt erst bekloppt!

Doch auch das könnte letztlich wieder ein mieser Trick von ihr gewesen sein. Um nicht dauernd meditieren zu müssen, hat er sich jedenfalls fix für die schwere Kindheit und dummes Rumquasseln entschieden: kein Vater, häufig abwesende, viel zu junge Mutter, ein Opa, der kaum noch aus dem Bett kommt, seit Oma Hilde weg ist. Lauter Blabla, das keinen interessiert. Außer Frau Spielvogel, weil die Geld dafür kriegt.

Janniks Mundwinkel schnellen nach oben. Geld, von dem sie einen Teil jetzt in seine Therapiereise nach Brandenburg investiert. Frau Spielvogel hatte nämlich schnell genug von seiner schweren Kindheit. In der letzten Sitzung ist sie sogar eingeschlafen. Als Jannik sie nach den üblichen fünfzig Therapieminuten und ein paar SMS an Vanessa (reine Song-Links ohne Text!) geweckt hat, meinte Frau Spielvogel: »Wir sollten deinen Heilungsprozess etwas beschleunigen. Hast du mittlerweile den Führerschein, Jannik?«

Und ob. Vor einem Monat bestanden. Dank Wodka. Der hat mit ihm in einem dieser Geisterdörfer im Braunkohletagebau bei Erkelenz fahren geübt. Samt Schleudern und Rückwärtsslalom – lauter Sachen, die man in einer normalen Fahrschule im Leben nicht lernt.

Zum Beweis für seine Fahrkunst jetzt mal ein schönes Überholmanöver, beschließt Jannik und nimmt sich vor, drei Laster abzuhängen. Er beugt sich dichter übers Lenkrad, setzt den Blinker. Laster eins … geputzt! Jetzt Laster zwei. Hoppla, was steht denn bei dem auf der Seitenplane? Noch dazu in riesigen Leuchtbuchstaben?

Jannik nimmt den Fuß vom Gas, pegelt das Tempo auf Höhe von Laster zwei runter und liest: »SIE FAHREN AUF DER FALSCHEN SEITE.«

Hä? Heftiges Herzklopfen. Das kann nicht sein. Er sieht doch seit Stunden nur rote Rücklichter.

3.

Aschenputtel ist der beste Beweis dafür, dass neue Schuhe glücklich machen.

Leise röchelnd springt eine Lüftungsanlage an. Der Ventilator saugt schlürfend Außenluft an, verwirbelt sie im stockdunklen Raum und stellt den Dienst wieder ein. Die vermeintliche Frischluft ist mit Staub durchsetzt und führt Gerüche von Busabgasen, Coffee to go, Aufbackbrötchen und Frittierfett mit sich. Annika Nittenwilm schlägt die grasgrünen Augen auf und ist sofort hellwach. Kunststück, sie hat ja nur gedöst. Allenfalls.

Dabei herrscht in ihrem winzigen Pensionszimmer hinter dem Kölner Hauptbahnhof dank blickdichter Rollläden Finsternis, und dreifach isolierte Fenster sorgen – von vorübergehenden Hustenattacken des Ventilators abgesehen – für Friedhofsruhe. An Schlaf war trotzdem die gesamte Nacht über nicht zu denken. Dazu ist Annika seit Tagen zu aufgeregt. Vor Glück. Vor federleichtem, ungetrübtem Liebesglück.

Ein seliges Lächeln stiehlt sich auf ihr schmales Gesicht, erreicht ihre Augen, selbst ihr Haaransatz beginnt vor lauter Lebenslust und Euphorie zu prickeln. Heute geht es zu einer Konferenz nach Paris. Auf Einladung von Torsten Wellhoff wie Wellhoff in Wellhoff Internationale Bodenbeläge KG.

Paris!

Das ist endlich mal etwas anderes als der gemeinsame Besuch der Teppichmesse Hannover oder eine Tagung des Laminatherstellerverbandes im Sauerland. Darum hat sie vor einigen Tagen und mit Hilfe von Frau Spielvogel einen mutigen, herrlich unvernünftigen Entschluss gefasst: Sie wird Torsten endlich eine Liebeserklärung machen. Bei einem luxuriösen dinner à deux, das sie in einem – laut Reiseführer – verschwiegenen Bistro gebucht hat, wird sie ihm ihre Gefühle offenbaren. Kaum einen Steinwurf entfernt vom Montmartre, der legendären Basilika Sacré-Cœur und ihrem Hotel. So haben sie es nach dem Dessert und ihrer Liebeserklärung nicht weit bis zum Bett.

Das Leben kann so wunderbar einfach sein.

Gut, so ein Dinner hat natürlich seinen Preis, aber wer fragt nach Geld, wenn es um Liebe geht? Sie nicht. Nicht mehr. Nie mehr. Das hat sie als Single-Mama elend lang getan. Jetzt, wo sie zu ihrem wahren Ich zurückgefunden hat, wird sie nie, niemals mehr mit Gefühlen oder Geld geizen. Zumal sie als Baumarktleiterin bei Billerbeck inzwischen ganz anständig verdient.

Gott, fühlt sich das Leben gut an! Annika stockt der Atem vor Glück. Ihr Herz lässt seine Muskeln spielen, zieht sich zwischen freudiger Erregung und banger Erwartung schwankend zusammen, verkrampft sich zur Faust, die wild in ihrem Brustraum um sich schlägt. Was zugegebenermaßen ein wenig schmerzt. Macht nichts. Das gehört eben dazu, wenn man verliebt ist. Wie hat Frau Spielvogel das so schön auf einem ihrer Post-its an Papas Aprikosenbaum notiert? »Dem tiefsten Glück gehen gewöhnlich Unglück und Schmerz voraus.«

Zum Beispiel in Form von verzehrender Sehnsucht. Annika seufzt. Bis weit nach Mitternacht hat sie gestern am Fenster gestanden und wie hypnotisiert zur Bahnsteighalle hinübergestarrt. Zu ihrer Endstation Sehnsucht. Um zwölf Uhr heute Mittag sind sie und Torsten dort am Thalys-Gleis verabredet. Sie gönnt sich einen letzten Moment der Verzückung, dann knipst sie die Nachttischlampe an, um nachzuschauen, wie lange sie noch auf den Augenblick der Wahrheit warten muss. Ihre Augen finden einen orangefarbenen Digitalwecker, der in einem Quelleversand-Gedächtnismuseum den Ehrenplatz verdient hätte.

Mist! Es ist gerade mal halb sechs durch.

Ihr Glück liegt also keineswegs greifbar nah. Der Bistrotisch ist für 20 Uhr gebucht, und wahrscheinlich wird es sogar später, weil Torsten Termine mit einem französischen Fliesenhersteller wahrnehmen muss. Annikas Laune trübt sich. Bleibt nur zu hoffen, dass der ahnungslose Torsten den Kachelfritzen nicht zum Dinner für Verliebte mitbringt. Sie möchte die getrüffelten Täubchen pour les amoureux ungern zu dritt verspeisen. Noch dazu, wo sie ebenso sündige wie sündteure Schuhe und Dessous tragen wird, die sie allein für Torsten und diesen Anlass gekauft hat.

Ihr Blick streift einen geöffneten Karton, den sie hinter dem Wecker abgestellt hat. Annika zieht ihn unter die Lampe. Ihr Herz schlägt einen Trommelwirbel. Auf einem Bett aus rosa Seidenpapier ruhen die ersten, einzigen und ganz und gar hinreißenden Prada-Slingpumps ihres Lebens. Zwar nur B-Ware mit Farbfehlern und nicht ganz ihre Größe, aber dafür im Preis herabgesetzt und unverkennbar von einem »Picasso des Schuhhandwerks« entworfen, wie die Verkäuferin gestern meinte.

Obwohl, Picasso? Annika stutzt kurz. Zu dem fallen ihr spontan nur schiefe und verdrehte Frauenköpfe ein. Na, egal. Wichtiger ist, dass sie die Verkäuferin »in diesen Schuhen, mit Ihrem Fransenschnitt und Ihrer Figur an die junge Audrey Hepburn« erinnert hat. Was extrem schmeichelhaft, aber hemmungslos gelogen und doch das kaufentscheidende Argument war. Diese Pradas sind das passende Schuhwerk für einen Abend in Paris mit getrüffelten Täubchen und Torsten.

Sie will auf keinen Fall billig aussehen wie in »billig, billiger, Billerbeck – der besondere Baumarkt«, wenn sie ihre Gefühle offenbart. Sie ist ja kein Aschenputtel, das auf den Prinzen mit dem gläsernen Schuh wartet. Darum hat sie gestern rund um den Dom einen Shoppingmarathon der Luxusklasse absolviert. Ganz entgegen ihrer antrainierten Sparsamkeit, von der ihr Pensionszimmer mit Frühbucherrabatt ein beredtes Zeugnis ablegt. Die Schuhe sprechen eine andere Sprache. Die Sprache ihres Herzens. Sie hat sie ja auch für Torsten gekauft. »Noch dazu auf ärztliches Anraten!«, gluckst Annika liebestrunken. Kleiner Scherz.

Frau Spielvogel hat sicher nicht an sündhaft teure Impulskäufe in Schuhgeschäften, Dessous-Shops, Parfümerien oder an den Besuch bei einer Kosmetikerin gedacht, als sie ihr empfohlen hat, sich in diesem Urlaub endlich wieder von ihrer unbesonnenen Seite zu zeigen: jung, spontan, gefühlsbetont. Das vor allem.

Fast könnte man meinen, diese Frau habe hellseherische Fähigkeiten. Schließlich weiß sie nichts von der Paris-Reise mit Torsten oder über Annikas wahre Gefühle für ihn. Sie kennt ja nicht einmal Torsten!

Verdammt! Annika fährt sich durchs Haar. Sie hat ihm ihre Liebe wirklich viel zu lange verschwiegen. Und ihr Privatleben dazu. Um das Thema »Meine durchgeknallte Familie und ich« zu vermeiden, hat sie in ihrem Benutzerprofil im Flirtportal Neoromantics angegeben, dass Gespräche über Privates tabu und Treffen nur an neutralen Orten möglich seien.

Das schien Annika damals vernünftig. Was sonst – nachdem sie sich nach ihrem folgenreichen Fehlgriff mit sechzehn über Jahre hinweg mit verstörender Treffsicherheit lauter Nieten anvertraut hat. Und die Idee, einen potenziellen Lebenspartner und Liebhaber, erst recht einen Topmanager und Traumkerl wie Torsten, in ihrem ehemaligen Kinderzimmer und Wand an Wand mit einem bettlägerigen, weil Trübsal blasenden Vater zu empfangen, war derartig schräg, dass sie sich von selbst verbot.

Nachdenklich verfolgt Annika den Tanz der Staubkörnchen im Lichtkegel der Nachttischlampe. Die Folge ihrer Diskretion ist, dass der arme, treue Torsten sie nun für eine karrierefixierte, gefühlsarme, kinderlose Single-Zicke halten muss, die nur ihre Billerbeck-Baumarktfiliale im Kopf hat und alle zwei Monate ein bisschen Sex nach Terminkalender in sauerländischen Tagungshotels.

Voll des Selbsttadels runzelt Annika die Stirn. Das kommt davon, wenn man in der Liebe vernünftig sein will und seine Gefühle außen vor lässt. Frau Spielvogels Idee, weniger Verstand und mehr Gefühl zu zeigen, ist in Hinsicht auf Torsten ungeheuer passend. Wobei ihr Mut zu mehr Unvernunft vor allem Jannik zugutekommen soll.

»Ich verfolge mit meinem Vorschlag einen familiensystemischen Ansatz«, hat Martha Spielvogel bei ihrem letzten Gespräch über Janniks Therapiefortschritte doziert. Dabei hat sie sie aus ernsten Augen hinter einer noch ernsteren Brille angeschaut, die sie für gewöhnlich nicht trägt. Sollte sie aber. Die Brille verleiht ihr einen ungemein seriösen Anstrich. So hätte Hans, ihr Vater, sie mal sehen müssen. Er hält Frau Spielvogel für eine esoterisch durchgeknallte Kurpfuscherin. Also, danach klang sie nun wirklich nicht.

»Wenn Sie, Frau Nittenwilm, Ihrem inneren Perfektionisten – ich nenne ihn gerne den ›Mr. Spock in uns‹ – mal frei geben, wird Ihr Sohn automatisch mehr Vernunft und Verantwortungsbewusstsein zeigen.«

Das wäre wünschenswert.

»Es ist erwiesen, dass in Familien immer nach einem Ausgleich der Kräfte gestrebt wird. Schwächelt der eine, ermutigt das ein anderes Familienmitglied, ungeahnte Stärken zu entfalten. Gönnen Sie Ihrer Vernunft mal Ferien, damit Jannik die seine entdecken kann. Der große Analytiker C. G. Jung hat gesagt: ›Nichts hat einen stärkeren Einfluss auf das Leben der Kinder als das ungelebte Leben der Eltern.‹ Falls Sie sich also weiterhin jede Form des unüberlegten Handelns verkneifen, muss Ihr Sohn zwangsläufig noch mehr Dummheiten begehen. Das leuchtet doch ein, nicht wahr?«

Annika stöhnt leise auf. Bitte nicht noch mehr Dummheiten! Jannik hat sich in letzter Zeit mehr als genug geleistet. Wenn sie nur an die Sache mit dieser Vanessa denkt … Zeitweise hat ihr Junior vierzig Liebes-Kurznachrichten täglich an diese eitle Ziege abgesetzt. Anonym. Bis sein akuter SMS-Daumen – sprich eine Sehnenscheidenentzündung – und eine fehlgeleitete Kurznachricht ihn verraten haben. Eine Anzeige von Vanessas Eltern wegen Stalkings konnte sie gerade noch abwenden. Als hätte sie nicht schon genug mit dem Trennungsschaden ihres eigenen Vaters am Hals!

Der Meinung war auch Frau Spielvogel.

»Angesichts Ihrer enormen Belastungen in Beruf und Familie, scheint es mir geboten, dass Sie sich einmal vollkommen ungehemmt ausleben, Frau Nittenwilm. Sie sind doch im Grunde Ihres Herzens ein fröhlich veranlagter Mensch. Konzentrieren Sie sich im Urlaub ganz auf Ihr eigenes Glück statt aufs Grübeln. Wer der Stimme des Herzens folgt, den wird das gesamte Universum auf diesem Weg unterstützen.«

Gut, der letzte Satz klang in Annikas Ohren ein wenig nach esoterischem Geschwurbel und passte überhaupt nicht zu Frau Spielvogels wissenschaftlich fundiertem Ansatz, geschweige denn zu ihrer Brille. Aber sei’s drum, jeder Mensch hat mal kleine Aussetzer. So wie sie selbst, als sie ihr Herz zwecks Karriere kurzfristig auf den Gefrierpunkt heruntergeregelt hat. Das ist dank Torsten vorbei.

Annika nestelt die Pumps aus ihrem Seidenbett und fährt mit zwei Fingerspitzen über das tizianrote Leder. Diese Schuhe sind prachtvoll unvernünftig. Ihre Zehn-Zentimeter-Absätze grenzen sogar an Wahnsinn, doch immerhin werden sie sie zumindest größentechnisch an ihr 1,70 Meter hoch gewachsenes Idol Audrey heranreichen lassen.

Sie legt die Schuhe neben sich auf das schokobraun geblümte Frotteekissen und konsultiert erneut den Wecker. Erst zehn vor sieben. Frustriert lässt Annika den Kopf zurück aufs Kissen fallen und – autsch! – in die Absätze der Slingpumps. Verflucht, sind die spitz!

Annika fegt die Pradas vom Kissen zu Boden. Jetzt ist sie endgültig wach und viel zu hibbelig, um weiter im Bett zu liegen. Sie schlägt die Decke zurück, ist in zwei Schritten am Fenster und zerrt an den Rollladenbändern. Ratsch, ratsch, ratsch, heben sich die Lamellen und geben den Blick auf Frühaufsteher und Pendler frei, die über einen unwirtlichen Platz auf Bus- und Hauptbahnhof zuhasten. Im Hintergrund glüht als Augentrost morgenrot der Dom vor einem Himmel aus Azur. Vielversprechender könnte ihr Tag kaum beginnen. Wenn nur nicht so viel Wartezeit vor ihr läge, bis sie Torsten zu Gesicht bekommt, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Es sei denn …

Annikas Gedanken rasen mit einem Mal. Es sei denn, sie gibt sich einen Schubs, verzichtet auf Kerzenlicht und Sacré-Cœur und gesteht Torsten bereits am Bahnsteig ihre Liebe. Das würde die Wartezeit um acht Stunden verkürzen. Aber natürlich! Das ist es. Wer braucht schon Kerzenschein? Oder getrüffelte Täubchen (igitt!) oder Paris! Paris ist als Stadt der Liebe doch reichlich abgegriffen. Ein Bahnsteig ist mindestens ebenso romantisch, ach was, viel romantischer! Da muss man nur an die verliebten Bahnhofsszenen von Anna Karenina denken, ihre erste Begegnung mit dem Grafen Wronski und … oh, stopp, nein, lieber nicht. Anna Kareninas letzte Bahnsteigszene endet bekanntermaßen auf den Gleisen und vor einem Zug. Damit wäre der Bahnsteig als Ort der Liebesbeichte gestrichen.

Am besten, sie ist noch impulsiver und holt Torsten in seinem Hotel ab. Im Florint am nahen Heumarkt. Spontan wie in einer dieser romantischen Filmkomödien, in denen die Paare kurz vor Schluss endlich doch noch ihre Gefühle füreinander erkennen. Was die Liebenden – im Gegensatz zum Zuschauer – derart überrascht, dass sie Geschäftsflüge nach Hongkong sausen lassen, aus im Stau stehenden Taxis springen, über hupende Autos klettern und durch halb New York aufeinander zujoggen, um einander ewige Liebe zu schwören. Im Abspann sieht man dann das Brautpaar vor der Hochzeitstorte oder hört Kirchenglocken läuten.

Nanu, sie hört tatsächlich Glocken. Ach so, das ist der Dom. Sieben Schläge zählt Annika. Wenn das kein Zeichen ist! Verschmitzt zwinkert sie der Kathedrale zu. Sie muss nur duschen, auschecken, ihren Koffer in einem Schließfach deponieren, und schon ist sie frei zu tun, was ihr Herz begehrt: Torsten abholen.

Mit unbändigem Elan flitzt Annika zum Bett zurück und aus Versehen in die Absätze der Pradas. Barfuß. Aua!

Die Absätze sind wirklich mörderisch spitz.

4.

Glück ist, was passiert, wenn Vorbereitung auf Gelegenheit trifft.Seneca

Dicht über Hans Nittenwilms Nase schwebt ein Frauengesicht. Das Gesicht erinnert an ein betagtes Rotkehlchen mit Kringellöckchen. Schmalnasig und zartknochig staunt es aus plüschbraunen Knopfaugen in die Welt hinein.

»Soll ich Ihnen die Brille reichen?«, fragt das Gesicht. »Ach was, ich setze sie Ihnen gleich auf die Nase.« Sagt es und tut es und schwätzt ununterbrochen weiter.

Entsetzt schließt Hans die Augen. Sein Kopf fährt mit ihm Karussell. Er lupft das linke Augenlid, um es zu stoppen.

Martha Spielvogel sitzt nach wie vor auf seiner Bettkante und zupft den Ausschnitt eines rotgeblümten Kleides zurecht, das sie gestern Abend schon getragen hat. Hans erkennt den Klatschmohn wieder. Schrecklich laute Farbe, passt zu ihr.

»Was … was machen Sie hier?«, stammelt er und zieht schutzsuchend seine Decke bis ans Kinn. Die Decke knistert. Ihr Bezug ist aus gestärktem Leinen, und sie ist zu kurz, um seine lange Gestalt samt Bauchhügel bis zu den Fußspitzen zu verbergen. Aber das ist ja auch gar nicht seine Bettdecke!

»Wo bin ich überhaupt?«, setzt Hans heiser hinterher. Seine Kehle ist rau wie Schmirgelpapier, in seinem Kopf arbeitet ein Hammerwerk.

»In Zons«, trällert die Spielvogel. »Weiter sind wir gestern nicht gekommen. Macht nichts. Selbst der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt, und Schloss Friedestrom ist ein wirklich zauberhaftes Hotel. Der Rheinblick ist sa-gen-haft. Genau, wie Sie es mir gestern versprochen haben.«

Wie? Was? Hans versteht gar nichts mehr.

Die Spielvogel guckt streng. »Immer können wir uns solche Hotels natürlich nicht leisten. Bis Sie Ihr Erbe in Brandenburg antreten können, müssen wir die Reisekasse schonen. Falls es überhaupt noch ein Erbe gibt. Dem letzten Schreiben des Notars nach zu urteilen, trägt sich die Erblasserin mit dem Gedanken, andere Verwandte zu begünstigen, falls Sie sich nicht umgehend melden. Der Brief klang überaus dringlich.«

Hans schüttelt sich, seinen schmerzenden Schädel. Den vor allem. In der Hoffnung, wenigsten ihn zur Vernunft zu bringen. Es hilft nicht, doch immerhin nimmt der Raum klarere Konturen an. Genau wie die Quasselstrippe auf seiner Bettkante.

»Was soll das alles? Warum sind wir hier?«, versucht Hans krächzend, Ordnung ins Chaos zu bringen.

»Aber Herr Nittenwilm«, seufzt die Spielvogel, »haben Sie denn wirklich alles vergessen, was gestern Nacht geschehen ist?«

Ja, hat er. Bis auf Frau Spielvogels Postdiebstahl und die vermaledeite Karussellfahrt Hand in Hand mit ihr. Himmel, was ist danach passiert? Ihm drängt sich eine Vermutung auf, die ihm vor Schreck fast die Kehle zuschnürt.

»Habe ich heute Nacht etwa … Ich meine …« Hans räuspert sich, wagt kaum weiterzusprechen. »Haben Sie und ich heute Nacht in diesem Bett zusammen …« Er bricht ab. So tief kann er unmöglich gesunken sein.

Oder doch?

»Ob wir zusammen geschlafen haben?«, beendet die Spielvogel unbekümmert seine Frage. »Aber natürlich! Wunderbare Matratze übrigens, so breit und elastisch, finden Sie nicht?« Zum Beweis hüpft sie im Sitzen darauf auf und ab.

Hans’ Magen gerät ins Schlingern. Diese Person ist der wandelnde Brechreiz.

»Zwei Einzelzimmer wären ja doppelt so teuer gekommen«, plappert Martha Spielvogel munter weiter. »Jetzt gucken Sie nicht so entsetzt. Wir sind doch beide erwachsen, sogar mehr als das und … Oh, ach so! Ich Dummerle. Sie wollten wissen, ob wir Sex hatten?«

Hans’ Finger krallen sich in den Saum der Bettdecke. Unwillkürlich entfährt ihm ein jaulender Laut, seine Ohren werden heiß vor Scham. Nie, nie wieder wird er einen Tropfen Alkohol anrühren. Oder Zimtmandeln. Und schon gar nicht Frau Spielvogel.

»Aber, aber, Herr Nittenwilm, Sex ist doch nicht verboten«, flötet es neben ihm. »Oder verwerflich. Schon gar nicht in unserem Alter. Da ist er höchstens unmöglich. Jedenfalls auf die Schnelle. Nun, ich darf Sie beruhigen: Als Ihre Therapeutin bin ich quasi geschlechtsneutral.«

»Als meine …«, will Hans sie unterbrechen. Stattdessen unterbrechen ihn ein staubtrockener Hustenanfall und Frau Spielvogel.

»Sexuelle Kontakte mit einem Klienten verbieten sich aus rechtlichen, ethischen und professionellen Gründen. Wir möchten ja kein Abhängigkeits-, sondern ein Vertrauensverhältnis entwickeln, nicht wahr? Apropos: Hatten Sie denn entsprechende Fantasien? Mit mir?«

Hans stemmt sich im Kissen hoch. »Nein! Nie im Leben könnte ich mit Ihnen … Das ist doch grotesk!«

»Aber im Gegenteil«, wirft die Spielvogel ein und klingt geradezu widerlich entzückt. »Nach Ihrer traumatischen Trennung von Hilde wäre es ein Zeichen der Gesundung, wenn Sie diesen primären Triebimpuls nicht länger verdrängen würden. Freuds Lustprinzip ist bekanntlich –«

»Halten Sie den Mund! Sie sind nicht meine Therapeutin. Sie sind überhaupt keine Therapeutin!«, donnert Hans und zuckt angesichts der eigenen Lautstärke zusammen. Sein Kopf bestraft den Ausbruch mit einem Schmerzgewitter und Drehschwindel. Seine ausgedörrte Kehle reagiert mit Brennen und Kratzen.

»Also, Ihr Filmriss ist wirklich gewaltig«, legt Frau Spielvogel ungerührt nach. »Sie haben mich gestern auf der Kirmes engagiert. Auf dem Kettenkarussell. Mit Handschlag. Als Begleitung in der Erbangelegenheit und wegen der damit verbundenen, womöglich schmerzlichen Kindheitserinnerungen. Herr Krusewitz war dabei und kann das bezeugen.«

»Dann sind Sie mit sofortiger Wirkung gefeuert!«, protestiert Hans heiser. Er muss wieder husten. Als Frau Spielvogel ihm ein Glas Wasser reichen will, reißt er dennoch beide Hände hoch. Diese verdrehte Nervensäge soll es ja nicht wagen, auch noch Krankenschwester zu spielen.

»Wie komme ich überhaupt hierher?«, krächzt er feindselig und den Hustenanfall mannhaft unterdrückend.

»Na, zu Fuß natürlich«, trillert fröhlich, ja, triumphierend die Spielvogel. »Sie wollten mir gestern noch das Sternbild vom Bärenhüter am Nachthimmel zeigen. Und die Venus. Da konnten wir gleich für unsere Wanderungen durch Brandenburg trainieren. Zu Fuß sind Sie etwas aus der Übung. Dafür haben Sie auf Ihrer Geige nichts verlernt!« Sie verdreht schwärmerisch die Augen in Richtung Decke.

»Auf meiner … meiner … Geige«, stammelt Hans völlig entgeistert. Die verstaubt doch seit Jahrzehnten im Keller.

Frau Spielvogel nickt begeistert. »Oh ja! Die wollten Sie unbedingt mitnehmen, um mir etwas vorzutragen. Ich wusste gar nicht, dass man While My Guitar Gently Weeps auch auf der Geige spielen kann. Bei dem Lied geht es doch um eine Gitarre! Na, wahrscheinlich kann man die Beatles sogar auf dem Kamm blasen. So was von eingängig. Zum Glück spielen Sie kein Klavier wie Ihr Freund Krusewitz. Das könnten wir nicht mit auf Reisen nehmen, schon gar nicht auf unsere Wanderungen.«

Hans fährt jäh nach oben. Unbändiger Zorn macht das seinem Bauchberg zum Trotz möglich. »Welche verfluchten Wanderungen?«, stößt er, so laut es ihm eben noch möglich ist, hervor.

Frau Spielvogel bleibt unbeeindruckt. »Na, unsere Wanderungen durch Ihre alte Heimat Brandenburg. Wer nach Brandenburg reist, muss dort wandern, haben Sie gesagt. So wie weiland Fontane. Ich finde, das ist eine fabelhafte Idee, wo Sie doch abnehmen wollen.«

»Abnehmen? Ich will gar nicht …«, setzt Hans an, kommt aber nicht weit. Frau Spielvogels Redeschwall rollt tsunamigleich über ihn hinweg. »Vorher müssen wir aber zu diesem Notar und Rechtsanwalt in Templin, und dann forschen wir nach Ihrer verschollenen Mutter …«

»Ich habe keine Mutter«, bricht es schroff aus Hans hervor.

»Unsinn.« Frau Spielvogel winkt mit flatternder Geste ab. »Jeder Mensch hat eine Mutter. Sie Glückspilz hatten sogar zwei, wenn ich alles richtig verstanden habe, was Sie mir erzählt haben.«

»Ich habe Ihnen von meinen, ich meine, von meiner …« Hans unterbricht sich rasch. Vorsicht! Vorsicht! Er redet schon wieder zu viel. »Meine Mutter Margarete Nittenwilm ist seit zwanzig Jahren tot«, beendet er das Thema. Das war’s. Ab jetzt wird er eisern schweigen.

Anders als die Spielvogel. Die redet munter weiter. »Die Mutter meine ich doch nicht. Ich meine Ihre leibliche Mutter! Die, die in den Briefen vom Rechtsanwalt erwähnt wird. Leider ohne genaue Namensnennung. Schrecklich diskret, dieser Mann.« Ihr Gesicht legt sich flüchtig in Kummerfalten. »Aus seinen Briefen lässt sich lediglich schließen, dass sie ebenfalls tot ist. Muss sie ja. Sonst könnten Sie schließlich nichts von ihr erben.«

Hans hält sich an sein soeben gefasstes Schweigegelübde. Er ist 67 Jahre lang sehr gut ohne leibliche Mutter ausgekommen und sie ohne ihn. Bevor die blöden Briefe kamen, hat er nicht einmal gewusst, dass er überhaupt eine hatte. Und was soll er in seinem Alter mit einer neuen Vergangenheit? Noch dazu mit einer im Osten, kurz nach dem Krieg. Er will gar nicht wissen, was da im Jahr 1947 los gewesen ist. Seine Kindheit als Flüchtlings- und Barackenkind im Westen hat ihm vollauf genügt.

Martha Spielvogels Kummerfalten lichten sich. »Aber Ihre Tante mit dem hübschen französischen Namen, diese Laurette de la Barré, die lebt. Noch jedenfalls. Sonst hätte sie den Notar in Templin ja nicht mit der Erbensuche beauftragen können. ›De la Barré‹ hört sich adlig an. Vielleicht haben Sie ja blaues Blut! Könnte doch sein. Dann wären Sie ein Valentin de la Barré. Halt, da fehlt noch der Hans … Ich glaube, in Frankreich wird daraus ein Jean. Ein Baron würde sich dazu prachtvoll machen: Baron Jean-Valentin de la Barré. Mein Gott, wie das klingt! Man möchte glatt knicksen.«

Lächerlich! Hans windet sich. Er ist doch keine Figur aus Friseurmagazinen wie dem Goldenen Blatt.

»Fragt sich nur, wie französischer Adel nach Brandenburg kommt«, fabuliert die Spielvogel unverdrossen weiter. »Und wie er die Russen und den Sozialismus überlebt hat. Na, mit vereinten Kräften werden wir das Geheimnis schon lüften. Unser lieber Freund Krusewitz hat bereits Kontakt zu Ahnenforschern vor Ort aufgenommen. Und jetzt raus aus dem Bett! Ich gehe vor und sichere uns einen Platz im Frühstückssalon. Für Sie eine Portion Eier mit viel Speck? Ohne Brot macht das nicht dick, habe ich in einem Heilpraktikermagazin über Steinzeitkost gelesen. Nach neuesten Erkenntnissen macht Fett sogar schlank. Sie müssen nur genug davon essen. Ist das nicht fan-tas-tisch?« Sagt’s, hüpft vom Bett und ist bereits an der Tür.

»Frau Spielvogel«, kräht Hans in höchster Not, reißt die Decke weg und wuchtet sich mit Titanenkräften, die ihn selbst erstaunen, aus dem Bett. »Ich werde weder mit Ihnen frühstücken noch verreisen! Ich will umgehend nach Hause!«

»Dann sind Sie in Brandenburg goldrichtig, mein Lieber … allerdings nicht in solchen Unterhosen.« Frau Spielvogels rechter Zeigefinger schnellt vor und deutet auf Regionen, die Hans völlig aus dem Konzept bringen. »Ts, ts, ts, wir haben doch nicht Weihnachten«, setzt sie nach.

Weihnachten? Unterho …? Hans schaut alarmiert an sich herab. Bestürzt zieht er das Plumeau vom Bett und bedeckt seine betagten Boxershorts samt den rotnasigen Rentieren, die sie zieren.

Frau Spielvogel legt den Kopf schief, ohne ihren Rotkehlchenblick von seinem nunmehr verhüllten Intimbereich abzuwenden. »Da müssen wir was Neues kaufen, bevor wir in Köln in den Zug steigen«, beschließt sie. »Wanderhosen brauchen Sie auch. In Ihrer zerlumpten Jeans nehme ich Sie nicht mit zum Notar und erst recht nicht zu einer womöglich blaublütigen Erbtante. Adel verpflichtet, mein Lieber!«

Dieser unfassbare Irrsinn muss aufhören! Sofort. »Ich werde in keinen Zug einsteigen«, sagt Hans so beherrscht wie möglich, schließlich hat er es mit einer vollkommen Verrückten zu tun.

»Natürlich werden Sie in den Zug einsteigen«, beharrt Frau Spielvogel auf ihrer Wahnidee. »Wir wollen zwar in, aber doch nicht bis Brandenburg laufen! Da würden wir unseren lieben Krusewitz und Jannik doch nie im Leben einholen. Wobei mir einfällt, dass Ihr Enkel Trekkingschuhe benötigt. Er sollte nicht die ganze Zeit mit Ihrem Mercedes herumfahren. Das Abenteuer Landstraße erlebt man am besten zu Fuß. Wie heißt es so schön bei Goethe: ›Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.‹«

»Mein Enkel?«, stößt Hans perplex hervor. Er würgt die Bettdecke vor seinem Bauch, möchte erneut losbrüllen, kann aber nicht mehr. Beim besten Willen nicht. Verfluchter Alkohol. »Was zum Kuckuck hat Jannik mit diesem Irrsinn zu schaffen?«, krächzt er.

Und mit dem Benz, stottert sein Brummschädel, während er vor seinem inneren Auge entsetzliche Unfallszenarien produziert.

Frau Spielvogel schweigt. Genauer gesagt schweigt die Zimmertür, die sie mit einem fröhlichen »Bis glei-hei-ch!« fest hinter sich zugezogen hat. Über den Flur hallt ein Lied. Es handelt sich um »Auf, du junger Wandersmann«.

Die Frau ist wahnsinnig, komplett wahnsinnig.

5.