Zum Glück gibt's Rentner - Ellen Jacobi - E-Book
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Zum Glück gibt's Rentner E-Book

Ellen Jacobi

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Beschreibung

Nächster Halt: Rügen. Lena ist erleichtert. Bald wird sie die »Villa Glück« erreichen. Dort, in der Klinik für Sinnsuchende und Orientierungslose, soll ihr unbekannter Vater gelebt haben oder noch leben. Lena hofft inständig, dass ihr Vater »normal« ist, vielleicht ein Mitarbeiter der Klinik, denn ihre zukünftigen Schwiegereltern machen ihr wegen ihrer exaltierten Mutter schon genug Vorwürfe. Die Suche gestaltet sich zunächst schwierig, doch Hilfe kommt von unerwarteter Seite, und mehr als einmal muss sie eingestehen: Zum Glück gibt‘s Rentner ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumMottoWidmung1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.45.Epilog

Über das Buch

Sinnsuchende und Orientierungslose finden in der Villa Glück, einer kleinen Klinik auf Rügen, Hilfe und Unterstützung. Auch Lena ist auf dem Weg hierher – vorgeblich, um als Hausdame zu arbeiten. Eigentlich aber, um ihren unbekannten Vater zu finden. Lena hofft inständig, dass er »normal« ist, vielleicht ein Mitarbeiter der Klinik, denn ihre zukünftigen Schwiegereltern machen ihr wegen ihrer exaltierten Mutter schon genug Vorwürfe. Und »Irre« gibt es in der Villa reichlich: eine exzentrische Porzellanmalerin, einen Karrieremann mit Burnout, eine klavierspielende Frau von und zu. Und ihre Tante Gertrud, die sich – inkognito – einmal wieder in Dinge einmischt, die sie nichts angehen. So gestaltet sich Lenas Suche zunächst schwierig, doch Hilfe kommt von unerwarteter Seite ...

Über die Autorin

Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt Ellen Jacobi mit ihrer Tochter in Köln. In ihren Regionalkrimis sorgen die Privatermittler Lothar E. Schuknecht und Veronika Dornbusch-Bommelbeck im Bergischen Land für Ordnung. In ihren beliebten Rentner-Romanen suchen und finden jung gebliebene Senioren das Glück.

Ellen Jacobi

Zum Glückgibt’s Rentner

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2019 by Ellen Jacobi

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Titelillustration: © Gerhard Glück

Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia di Stefano

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-7251-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Das Leben ist ein Märchen, erzählt von einem Narren.

William Shakespeare

 

Für Mechthild Düpmann – denn Freundschaft ist die beste Therapie!

1.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Im Namen der Deutschen Bahn heiße ich alle in Stralsund zugestiegenen Fahrgäste willkommen an Bord des ICE München–Ostseebad Binz. Unser nächster Halt ist Bergen auf Rügen.«

Lena Pischkale hebt erwartungsvoll den Blick und lenkt ihn über ihren mit Dauertelefonaten befassten Sitznachbarn, einen Geschäftsmann vom Typ »Ich-bin-wichtig«, hinweg zum Abteilfenster.

Endlich Rügen! Na ja, noch nicht ganz. Der ICE schlängelt sich im Schneckentempo durch Stralsunds Bahngelände und stoppt abrupt mit Blick auf ausrangierte Güterwaggons und zwei zerfallende Backsteinschuppen, die noch aus Kaisers Zeiten stammen. Damals, als die deutsche Bahn noch pünktlich war, denkt Lena mit leisem Grimm.

Erneut knackt das Mikrofon. Der Zugbegleiter meldet sich mit einem Räuspern, das verlegen klingt. Lena und ihre beiden Mitreisenden im Viererabteil erster Klasse spitzen schicksalsergeben die Ohren. Der Mann musste sich seit Berlin Gesundbrunnen bereits mehrfach für seinen Arbeitgeber, Baustellen, eingleisige Streckenführung, den Ausfall der Stromversorgung im Bordbistro und damit jeglicher Verpflegung sowie für verpasste Verbindungen entschuldigen.

»Verehrte Fahrgäste. Leider befindet sich noch ein verspäteter Regionalexpress vor uns auf dem Gleis. Daher wird sich unsere Weiterfahrt etwas verzögern, wir bitten um Ihr Verständnis.«

Nach unglaublichen sieben Stunden Gesamtfahrtzeit ist das ziemlich viel verlangt, findet Lena. So lange ist sie von Hamburg aus dank Zugausfällen, Umleitungen und zweimaligem Umsteigen mit Wartezeiten unterwegs. Auf einer Strecke, für die sie mit dem Auto maximal dreieinhalb Stunden benötigt hätte. Sei’s drum, muntert sie sich als leidgeprüfte Weltenbummlerin auf, laut Fahrplan trennen sie nun nur noch dreiundzwanzig Minuten von Bergen, von ihrem Kurzzeit-Job als Hausdame der Privatklinik Villa Glück und dem womöglich größten Abenteuer ihres Lebens. Was etwas heißen will.

Mit ihren 28 Jahren hat Lena als begehrte Housekeeping-Managerin für gehobene Kreise schon einige erlebt, und das rund um den Erdball. Meist angenehme, finanziell äußerst lohnende Abenteuer. Was diesmal beides mehr als fraglich ist. Lenas Atem geht unwillkürlich rascher, ihr Blick gleitet auf der Suche nach Ablenkung erneut zum Abteilfenster. Draußen herrschen Nieselregen, trüber Himmel und kühle zehn Grad, wie ihr Smartphone verrät. Der April gibt auf seinen letzten Metern das Beste. Hinter Greifswald hat es Taubeneier aus Eis gehagelt.

Egal, sie fährt ja nicht hierher, um Ferien zu machen.

Lenas Herzschlag verfällt in Galopp vor Aufregung und ein wenig auch vor Angst. Nackter Angst. Das gesteht sie, die gewöhnlich Unerschrockene, sich ein. Immerhin hängt viel von dieser Reise ab. Vielleicht ihr ganzes Lebensglück.

Nicht beruflich, nein, ihre vor einem Jahr gegründete Hamburger Butler-Schule und Personalagentur läuft hervorragend, sondern privat. Ihre für Ende Mai geplante Hochzeit steht infrage. Ob sie je stattfinden kann? Was, wenn sie auf Rügen und in der Villa Glück herausfindet, dass …

Halt!, verordnet Lena sich einen rigorosen Gedankenstopp. Sie hasst Melodramatik genauso wie unnütze Grübelei und versteht sich auf die unter Vertretern der Generation Selfie, Twitter, Facebook selten gewordene Kunst, Zurückhaltung und Haltung in allen Lebenslagen zu wahren. Selbstentblößung ist ihr ein Gräuel.

Sie hat gelernt, kühl und überlegt zu handeln, ihre Gefühle stets zu zügeln und selten zu zeigen. Schon gar nicht gegenüber ihren meist anspruchsvollen Auftraggebern, die häufig zum Gegenteil neigen. In ihrer Profession sind Diskretion und emotionale Abstinenz von ebenso entscheidender Bedeutung wie Effizienz, eine makellose Erscheinung und erstklassige altmodische Manieren. Zum Glück kommt all dies ihrem Naturell entgegen. Selbstschutz und ein innerer Sperrbezirk, der niemanden etwas angeht, sind ihr heilig, seit sie denken kann.

Also, keine Panik!

Noch weiß sie schließlich nichts, rein gar nichts, was gegen ihre Heirat mit Karsten von Amelong sprechen könnte – außer dessen hochnäsigen Eltern. Hamburger Bankiers und Pfeffersäcke der ersten Stunde, mit einer Ahnengalerie, die bis in die Hansezeit zurückreicht, die mit Adelsnamen glänzt und Thomas Manns Buddenbrooks arm aussehen ließe, aber das ist ein eigenes Kapitel. Sie will ja nicht die Eltern oder die Ahnengalerie heiraten, sondern Karsten. Und er sie. Noch.

Erneutes Herzgalopp. Ruhig, nur ruhig. Karsten ist anders. Falls sie auf Rügen etwas Störendes über ihre Herkunft herausfinden sollte, wird sie das in Ordnung bringen. Nur gut, dass sie eine vierzehntägige Auszeit mit Karsten vereinbart hat, vorgeblich, um sich ganz auf den neuen Job zu konzentrieren. Tatsächlich aber, um wichtige Erkenntnisse zu erlangen und dann zu entscheiden, was zu tun ist. Wenn es hart auf hart kommt, wird sie einfach alles verschweigen. Karsten gegenüber, seinen Eltern – denen vor allem – und dem Rest der Welt. Punkt.

Verschweigen?, fragt empört ihr Gewissen nach.

Warum nicht?, fragt Lena, die Energische, stumm zurück.

Weil du dich nicht ein Leben lang verstellen und deine Wurzeln verleugnen kannst.

Oh doch, ich kann.

Damit wirst du nicht glücklich.

Ach, Klappe!

Dankenswerterweise reißt der Geschäftsmann am Fenster Lena aus ihrem unerfreulichen Selbstgespräch.

»Hier noch mal Sellmann«, bellt der leicht übergewichtige Endfünfziger in edlem Businesszwirn von Boss ins Telefon. »Senden Sie mir umgehend die korrigierten Quartalszahlen als PDF, Frau Kienbaum, und denken Sie an die Abmahnung ans Labor wegen der Rückrufaktion von Dog’s Choice Gourmetdinner Reh. Ich erwarte eine schriftliche Stellungnahme zu den übersehenen Schrotresten im Futter. Es handelt sich immerhin um unsere Premium-Marke! Setzen Sie den Vorstand in CC. Und natürlich Gernot Schaffer … Wie? Ja, ich weiß, dass er mit Gattin in Tibet weilt, aber er ist und bleibt der Firmengründer. Noch was, Berlingers Präsentation seiner neuen Frettchen-Food-Linie darf keinesfalls ohne mich stattfinden, ich habe da entscheidende Optimierungsimpulse …«

Auf die bedauernswerte Frau Kienbaum, bei der es sich um Herrn »Wichtig« Sellmanns Sekretärin – pardon: persönliche Assistentin oder in feinstem Denglisch seinen Executive Assistant – handeln muss, prasseln mit wenigen Unterbrechungen seit Berlin Aufträge nieder. Und das auch noch an einem Samstag.

Lena fragt sich, wann die Arme Gelegenheit finden soll, sie zu erfüllen, wenn ihr hyperaktiver Chef aus der Hölle sie unablässig mit Anrufen bombardiert. Hört sich wohl gern befehlen, dieser Herr Wichtig.

Ein anstrengender Mensch, urteilt Lena. Wäre er ihr Auftraggeber, sie würde kündigen. Überdies wirkt sein Auftreten ein wenig lächerlich, wenn man bedenkt, dass sein Geschäftsfeld Haustierfutter ist und er für ein Unternehmen namens FidoFit reist. Falls sie sein Dauergeschwätz richtig verstanden hat, wobei sie bislang bemüht war, so wenig wie möglich davon mitzubekommen.

Genau wie von der zierlichen mausgrauen Mittfünfzigerin auf dem Fensterplatz schräg gegenüber, die wie sie in Berlin zugestiegen ist. Eine Martha Blass. Selten, so findet Lena, hat sie einen Menschen kennengelernt, dessen Aussehen derart vollkommen mit seinem Nachnamen harmoniert, wenn auch nicht mit dem überbordend kontaktfreudigen Wesen von Frau Blass. Kurz hinter Berlin hat sie sich Lena vorgestellt, ihr hart gekochte Eier aus einer Plastebox, eine Käsestulle, Spreegurken sowie Schwärmereien über ihre Heimat Thüringen, das schöne Rügen und eine Unterhaltung zum Thema »Damals in der DDR« angeboten.

Herr Wichtig hat ob der dargereichten Tilsiter-Brote die Nase gerümpft und überdeutlich etwas sehr Verächtliches wie »Und so was in der ersten Klasse« gemurmelt, wobei unklar blieb, ob mit »so was« die Brote oder die ganze Frau Blass gemeint war.

Lena konnte die Käsestullen, den Smalltalk-Überfall und vor allem Martha Blass’ Fragen nach ihrem Namen und ihrem Woher und Wohin liebenswürdig, aber bestimmt abwenden. Anschließend hat sie sich hinter ihrem Reiseführer verschanzt. Niemand bekommt einfach so Zutritt zu ihren Plänen, Gedanken oder zu ihrem eigentlichen Ich. Lena kraust kurz die Stirn. Außer – in gewissen, notwendigen Grenzen – Karsten und natürlich Tante Gertrud, bei der sie aufgewachsen ist und der selbst sie nichts vormachen kann. Immerhin kennt Tante Gertrud sie noch in Windeln.

Lena verzieht unwillig den Mund. An Gertrud möchte sie momentan ebenso wenig denken wie an die mögliche Gefährdung ihrer Hochzeit. Schon gar nicht an Gertruds vehementen Einspruch gegen diese Rügen-Reise, gegen den Job in der Villa Glück, den sie allein als Tarnung für ein wenig Ahnenforschung angenommen hat, und ihre Vorbehalte gegen Karsten. In ihrer Beziehung, also der zwischen ihr und Tante Gertrud natürlich, herrscht momentan Eiszeit, begleitet von Gertrud als Sturmtief.

Männer, und erst recht Lenas künftigen Ehemann, hält ihre Tante als Urgestein eines sehr verbohrten Feminismus für eine Fehlkonstruktion der Natur. Frei nach einem ihrer angestaubten Lieblingsscherze: »Als Gott Adam schuf, übte sie nur.«

Ha! Ha!

Na endlich. Mit einem Ruck fährt der Zug wieder an, nimmt mit gedrosselter Geschwindigkeit Kurs auf den Rügendamm, der Pommerns Küste von Deutschlands größter Urlaubsinsel trennt. Frau Blass tut, was sie seit Lenas Abfuhr getan hat: Sie bewegt in stummem, aber offenbar angeregtem Selbstgespräch die Lippen. Ein wenig tut sie Lena leid, nein, sie tut ihr sogar ziemlich leid, denn Frau Blass sieht mit einem Mal todtraurig aus, aber Lena hält gern Abstand von anderer Leuts Dramen – so anrührend sie auch sein mögen.

Frau Blass ist offensichtlich einsam und daran gewöhnt, ihre obsessive Mitteilungsfreude auf sich selbst beschränken zu müssen. Während der herrschsüchtige Herr Wichtig die seine der Sekretärin aufzwingt. Gerade greift er erneut zum Smartphone, tippt auf Wahlwiederholung. Wirklich eine Zumutung, der Mann.

»Frau Kienbaum, ich werde gleich auf Rügen ankommen«, teilt er seiner Sekretärin so lautstark mit, als gelte es, einen Dialog unter Schwerhörigen zu führen. Was der wohl auf der Insel verloren hat? Besuch einer Hundefutter-Konferenz, ein Kauknochen-Seminar? Haustiermesse? Und nebenher ein paar Deals beim Golftraining einfädeln, wie die Schlägertasche mit drei Übungseisen auf der Gepäckablage über seinem Kopf nahelegt. Wobei diese verdächtig neu und unbenutzt aussehen. Kein Wunder, der Mann ist viel zu hektisch für Golf. Ach egal, er und Frau Blass gehen sie dem Himmel sei Dank nichts an.

Lena konzentriert sich erneut auf den Ausblick. Linker Hand erhebt sich imposant, beinahe prahlerisch, die parallel zum alten Rügendamm verlaufende Autobahnhochbrücke mit harfenförmig gespannten Stahlseilen. Der Koloss im Stil der San Francisco Bay Bridge wirkt reichlich überdimensioniert, findet Lena, doch laut Reiseführer ist die vor über einem Jahrzehnt eröffnete Rügenbrücke im Sommer mehr als ausgelastet, stehen Urlauberautos und LKW auf dem dreispurigen Asphaltband bisweilen Stoßstange an Stoßstange.

Ziemlich stressiger Einstieg in Strandidylle, in die verträumten Boddenlandschaften, Seebäder von anno 1900 und unberührte Naturparadiese aus grünen Hügeln, Schilfgürteln, winzigen Nehrungen und atemberaubenden Steilküsten, von denen ihr Reiseführer schwärmt.

Über eine Million Besucher reisen zwischen April und Oktober jährlich an, die Mehrzahl im Hochsommer, um die Magie der Insel, so es sie denn tatsächlich gibt, zu erleben – und sie ein wenig zu zerstören, mutmaßt Lena. Tief unter der Brücke wogen bleigrau und abweisend die Wellen des Strelasund. Brr, zum Baden lädt ein so unwirtliches Meer nicht ein. Und doch soll die Strandsaison wie in jedem Jahr am 1. Mai – also in drei Tagen – mit einem Massenschwimmen im Strelasund eröffnet werden. Strahlende Frühlingssonne wäre dabei wünschenswert.

Der Dänholm, ein der Hansestadt Stralsund vorgelagertes Inselchen mit düsterer militärischer Nutzungsgeschichte und der Geburtsort der preußischen Marine, wie Lenas Reiseführer vermerkt, kommt umhüllt von Regendunst in Sicht und liegt in Sekunden hinter ihnen. Am Horizont wellt sich deutlich sichtbar Rügens Küstenlinie. Kirchtürme spitzen fröhlich rot in den bleifarbenen Himmel. Ländlich, friedlich und nach längst versunkenen Zeiten sieht das aus, so friedlich, dass Lena mit einem Mal ruhig wird.

Hoffentlich ist – im Gegensatz zur Deutschen Bahn – der Chauffeur der Privatklinik Villa Glück pünktlich, überlegt sie. Sie hätte gern genügend Zeit, um sich am vor ihr liegenden Sonntag dort einzurichten und erste Nachforschungen anzustellen. Diskret, versteht sich, äußerst diskret. Ihr offizieller Dienstbeginn ist Montag. Lena strafft den Rücken, legt ein Gäste-Infoblatt der Villa als Lesezeichen in den Reiseführer auf ihrem Schoß und klappt ihn zu.

Kaum hat der Zug die Küstenlinie passiert, greift Sellmann erneut zum Smartphone. Nur gut, dass sie bald von ihm und seiner verbalen Luftverschmutzung erlöst sein wird.

»Frau Kienbaum«, kläfft Sellmann in den Hörer, »ich wollte Sie noch einmal an den täglichen Rapport erinnern … Am besten so gegen sieben Uhr dreißig, danach beginnen meine Rhetorik- und Strategie-Workshops, da gilt Handyverbot … Wie? … Dann müssen Sie eben in den nächsten vierzehn Tagen früher im Büro sein. Ich erwarte Einsatz und tadellose Performance, gerade in Ihrer Probezeit. Ihre Vorgängerin, Frau Blum, hat ihre Agenda stets exakt der meinen angepasst. Werfen Sie noch einmal einen Blick in Frau Blums alte Terminkalender. Sie sind unter ›Agenda 2010 bis 2017‹ abgespeichert …«

Rhetorik-Workshops? Lena wundert sich. Na, hoffentlich bringen die dem Kerl auch die Grundlagen höflicher Gesprächsführung und vor allem die Kunst des Zuhörens bei.

Der ICE gewinnt an Tempo, ganz so, als sei er ein Pferd, das nach einem langen Tag auf steinigem Acker den heimischen Stall wittert. Endlose, gepflügte Felder fliegen vorbei, auf vielen zeigt sich erstes Grün, einige tragen einen zartgelben Schleier. Das dürfte knospender Raps sein, glaubt Lena. Bald wird die Landschaft in Gelbtönen schwelgen. Am Horizont blitzt hier und da ein Wäldchen auf, schmucke Eigenheime und alte Gehöfte fliegen vorbei. Hm, alles sehr unspektakulär so weit, sogar langweilig. So viel zu Reiseführern.

»Bei Lietzow hinter Bergen wird die Strecke erst richtig schön. Da hat man vom Zug aus Blick auf den kleinen Jasmunder Bodden. Zauberhaft«, meldet sich Frau Blass zu Wort. »Glauben Sie mir: Rügen ist pure Magie. Vor allem, wenn man sich etwas abseits der ausgetretenen Pfade umtut. Ich könnte Ihnen da Dinge zeigen …«

Lena hebt irritiert den Blick. Martha Blass schenkt ihr ein einladendes Lächeln. Kann die Gedanken lesen, oder – schlimmer noch – sieht man ihr selbst etwa ein Gefühl der Enttäuschung oder Abwehr an? Lena nickt stumm und senkt den Blick.

Der Zug wiegt sich singend in eine Kurve. Ein wenig zu schnell, weshalb die Abteiltür aufgleitet. Lena hebt automatisch die Hand, um sie zu schließen. Frau Blass hat sich vorhin über Durchzug beklagt. So viel Fürsorge muss sein, die Frau ist harmlos und bei aller Aufdringlichkeit freundlich.

Lenas Hand erstarrt mitten in der Bewegung, als ihr vom Gang her Parfümgeruch entgegenweht. Eine wahre Duftfanfare aus Geißblatt, Jasmin und einer Ahnung von Patschuli. Es handelt sich ganz ohne Zweifel um Private Collection von Estee Lauder, einen Klassiker aus den 1980ern, als Frauen begannen, Schulterpolster zu tragen, und Karrierefrauen in Mode kamen. Der Geruch reißt Lena vom Sitz, sie schiebt die Abteiltür energisch auf, statt sie zu schließen, steckt ein wenig panisch den Kopf in den Gang. Ihr Herzrhythmus übt sich an einem Trommelsolo.

Lena kennt nur eine Person, die diesem selten gewordenen Duft fanatisch treu geblieben ist. Es ist die Person, die sie als Letzte hier auf Rügen antreffen möchte. Lena späht links und rechts den Gang hinab. Pech gehabt, die Person ist bereits im nächsten Waggon, dem Bordbistro, auf dem WC oder in einem Nachbarabteil verschwunden. Einzig ein hochbetagter Dackel watschelt in einiger Entfernung über den Noppenboden.

Sokrates!

Das darf nicht wahr sein!, empört sich Lena innerlich. Was für eine Frechheit, ihr einfach nach Rügen zu folgen.

»Gibt es ein Problem?«, meldet sich in ihrem Rücken mit gleichermaßen alarmierter wie begeisterter Stimme Frau Blass zu Wort.

Ruhig bleiben, ganz ruhig, befiehlt sich Lena und schließt kurz die Augen, während Sokrates um eine Ecke verschwindet. Das wirst du klären, wenn du angekommen bist. Unmissverständlich klären. Sie wendet sich um und ihrem Platz zu. Hallo? Davor kniet Martha Blass und angelt den Reiseführer und das Infoblatt der Villa Glück unter dem Sitz hervor.

»Das ist Ihnen beim Aufspringen vom Schoß gefallen«, sagt Frau Blass fröhlich und erhebt sich mit leisem Ächzen. Kurz bevor sie Lena Buch und Flyer übergibt, studiert sie Letzteren mit einem begeisterten Aufschrei. »Privatklinik Villa Glück! Nein so etwas. Sie fahren auch dorthin? Wie wunderbar, dann werden wir uns also doch noch richtig kennenlernen.«

Frau Blass vergisst jegliche Hemmungen, reißt die Arme auseinander und Lena an ihre recht mütterliche, weiche Brust. »Haben Sie auch eine Zwangsstörung?«, fragt sie begeistert. »Oder ist es ein Burnout? Oder ein leichter Verfolgungswahn? Ich meine, so panisch, wie Sie gerade in den leeren Gang gestarrt haben … Na, keine Bange, Professor Balsereit bekommt Sie wieder hin. Der bekommt alle wieder hin. Ruckzuck. Ich bin so gut wie geheilt und muss nur zur Nachkontrolle.«

In Martha Blass’ exaltiertes Geplapper mischt sich ein vernehmliches Stöhnen. Ein Stöhnen tiefster Verzweiflung. Es kommt vom Abteilfenster. Über den Kopf von Martha Blass hinweg sieht Lena, dass Herr Sellmann kreidebleich geworden ist. Sein entsetzter Blick bohrt sich in den Rücken von Frau Blass. Will der auch zur Villa Glück?

»Meine Damen und Herren, unser Zug erreicht in wenigen Minuten Bergen auf Rügen. Ausstieg dort in Fahrtrichtung rechts. Wir verabschieden uns von allen Reisenden, die den Zug dort verlassen. Danke, dass Sie die Deutsche Bahn gewählt haben. Bye-bye und have a nice day.«

Das dürfte schwierig werden, sehr schwierig, glaubt Lena, während sie sich Martha Blass’ Umarmung entwindet.

2.

Das darf nicht wahr sein. Er ist unter lauter Irre geraten!

So richtig Irre, vermutet Harald Sellmann erbost. Zu allem Überfluss handelt es sich um ausschließlich weibliche Irre. Von dem hochbetagten Rauhaardackel einmal abgesehen. Rasch klettert er in den Fond des Pick-ups, der vor dem piefigen Bahnhof Bergen auf sie gewartet hat, um weiterem Begrüßungsgeplauder zwischen Gästen und dem Fahrer der Villa Glück zu entkommen.

Sellmanns Kamm schwillt weiter an: Ihn mit einem Pick-up, noch dazu einem älteren und äußerst schmutzigen Dieselmodell, abzuholen ist der Gipfel der Unverschämtheit. Die Privatklinik sollte bei ihren Behandlungskosten – für Selbstzahler fast achttausend Euro für zwei Wochen – angemessenere Fahrzeuge zum Gästetransport einsetzen. Und geschulte Fahrer. Stattdessen haben sie den Gärtner geschickt.

Den Gärtner!

Es ist ein ungehobelter Kerl namens Enno – und sonst nichts –, der in Khakihosen, mit weißem Zopf und Ranger-Hut den kernigen Naturburschen mimt. Zugegeben, dieser Enno ist gut erhalten für einen Mann in den Sechzigern und wirkt trainiert. Na ja, mehr Muskeln als Verstand, mutmaßt Sellmann mit einem Anflug von Neid, der ihm selbst nicht ganz entgeht.

Die Dackelbesitzerin, eine empörend herrisch auftretende Rentnerin mit hennaroter Bobfrisur von Anfang siebzig namens Gertrud Domröse, besteigt mit dem Hund unterm Arm den Wagen. Sie platziert den Dackel ungefragt neben ihm auf der Sitzbank.

Nicht mit ihm!

Sellmann reckt kampflustig das Kinn und wirft erst einen abfälligen Blick auf den Dackel, dann einen vernichtenden auf Frau Domröse. »Kann der nicht nach hinten auf die Ladefläche?«

»Sokrates stört Sie nicht«, pariert Madame Domröse knapp und mit durchdringender Bassstimme seine unmissverständliche Aufforderung, den Hund zu entfernen. Unmögliche Frau. Unmöglich wie ihr aufdringliches Parfüm. Wahrscheinlich will sie damit den Altherrengestank ihres Vierbeiners überdecken. Mundgeruch hat der Dackel auch. Nie und nimmer wird dieses Tier mit gesunder, artgerechter Premiumkost versorgt. Nein, Sellmann tippt auf das übliche Futter aus drittklassigen Schlachtabfällen: gemahlene Hörner, Hufe, Hühnerklauen, Sehnen und Gedärm. Damit scheffeln die Giganten der Branche Milliarden!

Nun, immerhin bleibt damit eine schöne Nische für echte Premiummarken aus mittelständischen Unternehmen wie FidoFit. Sehr erfolgreichen mittelständischen Unternehmen. Dank mir. Ein Gedanke, der Sellmann selbst in einer misslichen Lage wie dieser verlässlich beruhigt.

Wenn auch nicht für lange. Was der nächsten Irren, die zusteigt, zu verdanken ist. Die zwanghafte Plaudertasche Martha Blass quetscht sich zu ihnen in den Fond. »Hach, das wird aber kuschelig, so zu dritt auf einer Bank. Noch dazu mit einem so niedlichen Dackel«, behauptet sie und wendet sich übergangslos an Frau Domröse, die sie vor gerade mal fünf Minuten kennengelernt hat. Was Martha Blass nicht davon abhält, ihre unfassbar dreiste Lieblingsfrage an sie zu richten: »Sind Sie auch zwangsgestört?«

Frau Domröse nickt begeistert. »Oh und wie! Ich bin komplett neurotisch«, dröhnt sie. »Seit ich in Rente bin, habe ich einen furchtbaren Ordnungstick entwickelt. Wie angeschmissen. Ich war früher Universitätsbibliothekarin, müssen Sie wissen, und, nun ja, mir fehlt die Arbeit. Mittlerweile katalogisiere ich daher meine Küchenhandtücher nach Muster, Farbe und Waschtemperatur. Nicht zu vergessen die Socken, das Geschirr, sogar die Putzlappen! Einfach alles. Nach Schlagwort, Stichwort und Sachgebiet. Äußerst nervenaufreibend und die pure Zeitverschwendung. Ich hoffe, Herr Balsereit bekommt das wieder hin.«

Sellmann wird immer mulmiger zumute. So freimütig erzählt doch kein Mensch von seinen Macken, also echten Macken und nicht solch harmlosen Malaisen wie seine gelegentlichen Schlafstörungen, unerklärliches Herzrasen, Muskelzuckungen und übermäßiges Essen unter Stress. Wollen die ihn vielleicht hochnehmen? Vorsichtig schielt er zu der überkandidelten Frau Blass hinüber.

»Aber ganz bestimmt bekommt der Professor das hin«, versichert diese soeben Frau Domröse. »Nehmen Sie zum Beispiel mich. Noch vor vier Monaten und vor meiner ersten Kur in der Villa kam ich praktisch nicht mehr vor die Tür, weil ich vorher zwanghaft meine Nippfiguren abstauben, durchzählen und neu arrangieren musste. Und dann das ständige Überprüfen des Sicherungskastens und die Frage, ob der Herd wirklich aus ist. Es dauerte jedes Mal Stunden, bis ich alles erledigt hatte und vor die Tür konnte, und da habe ich dann die Gehwegsteine gezählt. Ich durfte nur jeden dritten betreten, keinen mit Rissen und keinesfalls auf einen Strich treten. Ein innerer Zwang, verstehen Sie?«

»Oh, das kenne ich, das kenne ich«, geht die Domröse enthusiastisch dazwischen. »Ich muss immer alle Primzahlen von hundert rückwärts aufsagen, bevor ich mich vor die Tür traue.«

»Nun, das alles ist bei mir dank Professor Balsereit vorbei«, versichert ihr Frau Blass und tätschelt der Domröse die Hand. »Der Mann wirkt Wunder! Und bei leichteren Fällen wie unseren sogar in erstaunlich kurzer Zeit. Balsereit nimmt neben einigen Dauergästen ohnehin nur normale Irre an, also Menschen, die vorübergehend aus dem Tritt geraten sind. Besonders gern arbeitet er mit der Märchentherapie. Aschenputtel-Komplex und dergleichen, Sie wissen schon. Man muss sich nur auf seine ungewöhnlichen Behandlungsmethoden einlassen. Manche scheinen auf den ersten Blick leicht irre, aber das sind wir ja auch!«

Die Damen lachen lauthals im Duett. Die Quasselstrippe Blass wiehert in hysterischem Dur, das Flintenweib Domröse in durchdringendem Moll.

Sellmann schnappt nach Atem, schiebt den Zeigefinger in seinen Hemdkragen und lockert ihn. Ihm bleibt ob so viel Irrsinns glatt die Luft weg. Dabei strömt durch die offene Fahrertür reichlich kühle Aprilluft in den Innenraum. Frau Domröses Dackel schmiegt sich enger an ihn an und hechelt mit treuherzigem Blick.

»Nein, so was, ich glaube, der Hund mag Sie«, schrillt Frau Blass, als handele es sich um ein Wunder.

»Sokrates ist so gut wie blind«, kommentiert Frau Domröse schroff.

Sellmann überhört die unverhohlenen Beleidigungen der armen Irren, dreht den Kopf und wirft einen Blick nach hinten. Fahrer Enno verlädt, assistiert von Lena Pischkale, die zugegebenermaßen keine Irre ist, sondern die neue Hausdame der Villa Glück und so hübsch wie ausnehmend höflich, das Gepäck.

Der Dackel schmiegt sich noch enger an Sellmann. Muss am Fido-Fabrikgeruch liegen, der sich leider nie ganz aus seinen Anzügen entfernen lässt. Jedenfalls nicht für Hundenasen. Oder hat er versehentlich eine Produktprobe einstecken?

Sellmann befühlt seine Jacketttaschen. Tatsächlich, das fühlt sich nach den neuen Dentalsticks Rebhuhn für verwöhnte Hundegaumen an, die er gestern bei einer Messe in Nürnberg vor Großeinkäufern präsentiert hat. Ein echter Hit für Rassehundzüchter. Nie und nimmer wird er den penetranten Dackel damit füttern, dann wird er das Viech nicht mehr los. Energisch schiebt er seine Laptoptasche zwischen sich und Sokrates.

Endlich schließt der Fahrer / Gärtner geräuschvoll die Heckklappe, Lena Pischkale klettert behände auf den Beifahrersitz, streicht ihren Kostümrock glatt, nestelt eine Wasserflasche aus ihrer Handtasche und nimmt einen nervösen Schluck. Sellmann zieht die Brauen zusammen. Wirkt plötzlich ein wenig angespannt, die junge Frau. Während der Zugfahrt war sie die Ruhe selbst, praktisch kaum wahrnehmbar. Selbst ihre tadellose Frisur, ein etwas strenger Nackenknoten aus kastanienbraunem Haar, ist mittlerweile leicht aus der Fassung geraten.

Tja, wahrscheinlich wird auch Frau Pischkale langsam klar, auf was sie sich hier eingelassen hat. Ihr Sitzgurt klickt. Der Pseudo-Chauffeur Enno hingegen reißt – anstatt hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen – die Tür an Sellmanns Seite auf. So forsch, dass Sellmann zusammenzuckt. Tölpel!

»Den Laptop bitte«, sagt Enno und streckt fordernd die rechte Hand aus.

»Wie?«, fragt Sellmann verdutzt.

»Ich möchte Ihren Laptop in Verwahrung nehmen. Elektronische Arbeitsgeräte sind in der Villa Glück unerwünscht. Das Ding kommt weg, solange Sie bei uns Gast sind. Anweisung von Professor Balsereit, steht auch alles so im Infoblatt. Sie können einmal wöchentlich und auf Antrag für eine halbe Stunde das Klinikinternet nutzen, um private Mails zu empfangen und zu beantworten.«

»Also bitte, was erlauben Sie sich«, protestiert Sellmann und reißt den Laptop schützend an seine Brust. Sokrates nutzt die entstandene Lücke, um sich vollends an ihn anzukuscheln und ihn bei der Fahndung nach den Dentalsticks zu beschnuppern. Sellmann spürt die feuchte Hundenase durch den Anzugstoff seiner Hose. Ekelhaft.

Der Rangertyp weicht nicht. Sein Blick wird stählern.

»Nun rücken Sie das dämliche Ding schon raus«, mischt sich Frau Domröse befehlend ein. »Wir haben bald sechs, ich will mein Abendessen. Im ICE gab es aufgrund des Stromausfalls nur Schokoriegel und Mini-Salamis. Widerlich. Ich hoffe, Sokrates muss davon nicht spucken. Wäre schade um Ihren Anzug.«

Schokoriegel und Mini-Salamis für einen Hund? Die Frau ist eine Barbarin. Sellmann umklammert seinen Laptop fester.

»Gönnen Sie sich doch mal eine Pause von dem Ding«, drängt Frau Blass aufreizend fürsorglich. »Es ist Samstag. Ihr letztes freies Wochenende! Spannen Sie aus, bevor es ab Montag ans Eingemachte geht. Ich nehme an, Sie sind ein klassischer Burnout-Fall?«

»Ich gebe meinen Laptop grundsätzlich nicht aus der Hand, schon wegen der vertraulichen Firmendaten, außerdem habe ich noch einiges zu erledigen …« Weiter kommt Sellmann nicht.

Frau Domröse unterbricht ihn mit einem »Sokrates, fass!«. Woraufhin ihr Dackel nach der Laptoptasche schnappt, Sellmann das Gerät überrumpelt loslässt und Ranger Enno beherzt zupackt. Er zieht den Laptop an sich. Mit einem Rumms fällt die Autotür neben Sellmann ins Schloss, Enno springt auf den Fahrersitz, verstaut den Laptop in Lena Pischkales Fußraum und startet durch. Um sich Sekunden später in zähfließenden, sehr zähfließenden Verkehr einzufädeln.

»Ich werde mich bei Herrn Balsereit …«, setzt Sellmann mit Donnerstimme an und bricht vor dem Wörtchen »beschweren« ab. Seine Schultern sinken resigniert herab. Nein, er wird sich nicht bei Balsereit beschweren. Er kann sich nicht beschweren, schließlich ist er auf Anweisung von Gernot Schaffer, dem Gründer und Herrn von FidoFit, hier.

Was hat sich Schaffer, immerhin sein ältester und ehemals bester Freund seit Studientagen und Alphatier der ersten Kategorie, nur dabei gedacht, ihn hierher und in diese dämliche Klinik zu beordern? Schaffer zahlt den ganzen Summs sogar. Der hat ihn quasi zwangsverpflichtet, für zwei Wochen in die Villa Glück zu ziehen.

»Ich will dir was Gutes tun, Harry, bevor es zu spät ist. Vertrau mir, du brauchst eine grundlegende Veränderung noch dringender als ich. Wir nähern uns in Siebenmeilenstiefeln dem Rentenalter, es ist an der Zeit aufzuwachen. Es ist nie zu spät. Die Villa Glück wird dir den richtigen Anstoß geben«, hat er gesagt.

Was »Gutes tun«, schnaubt Sellmann innerlich, na danke auch. Die Ernährungsberatung vor acht Monaten und der Personal Trainer, den Schaffer ihm aufgedrängt hat, sind schon anstrengend genug. Richtige Zeitfresser, auch wenn er bereits fünfzehn Kilo abgespeckt hat. Und von wegen Rentenalter, er hat gar nicht vor, in Rente zu gehen, jedenfalls nicht vor siebzig.

Wenigstens weiß niemand in der Firma über seine Villa-Glück-Kur Bescheid. In dieser Hinsicht ist Schaffer loyal geblieben. Wenigstens das.

»Vielleicht paart Herr Balsereit uns beide ja«, mischt sich Frau Blass’ Stimme unvermittelt in seine düsteren Gedanken. »Niemand soll in der Villa allein bleiben, darauf legt er großen Wert. Seine wichtigste Lektion lautet nämlich: Glück ist nur echt, wenn man es teilt.«

Wie bitte, was? Sellmann reißt den Kopf herum und starrt ungläubig in ihre Richtung.

Frau Blass fixiert ihn kurz und lächelt ihm augenklimpernd zu, dann wendet sie sich wieder der Domröse zu. »Zwei Patienten – pardon, es heißt natürlich Klienten – bilden für die Dauer des Aufenthalts eine Art Paar. Sie dienen einander als Paten und bekommen gemeinsame Aufgaben oder ein Projekt. Vielleicht wohnen wir zwei ja in einem Haus! Zur Villa gehören nämlich historische Schnitter-Katen mit Reetdach, in denen ausgewählte neue Patienten – hoppla, nein, Klienten! Klienten! – gemeinsam wohnen. Soo idyllisch, direkt am Bodden. Man schaut nur auf Schilf und Wasser. Eine Ruhe, sag ich Ihnen. In Rügens allerschönster Landschaft. Der Westen der Insel ist in Teilen noch ziemlich unberührt. Da hat man alle Zeit der Welt für intensiven Austausch in kompletter Abgeschiedenheit von der Welt.«

Nur das nicht.

Sellmann tastet verstohlen nach seinem Smartphone in der Innentasche seines Jacketts. Wenigstens das hat er noch. Er wird später vom Zimmer aus bei Frau Kienbaum anrufen. Hoffentlich kann sie ihn unter irgendeinem geschäftlichen Vorwand nach Baden-Württemberg zurückbeordern. Zum Glück kennt er Frau Kienbaums private Handynummer. Er wird auf keinen Fall ein Paar mit irgendeiner Irren bilden, in einer alten Kate hausen, tagelang auf nichts als Wasser stieren und intensiv mit Idioten reden, noch dazu über Kindermärchen. Wer nicht schon bekloppt ist, wird es spätestens dann. Sellmann legt zur Selbstberuhigung seine Hand aufs Herz und das darüberliegende Handy.

Sokrates hebt mit drohendem Knurren den Kopf.

Hallo? Will diese greise Fußhupe ihm jetzt auch noch das Smartphone streitig machen?

»Wuff«, kläfft Sokrates angriffslustig und wie zur Bestätigung.

»Brav, mein Bester, der Laptop ist ja weg«, beruhigt ihn sein Frauchen und vertieft sich erneut in ihr angeregtes Gespräch über Zwangsneurosen. Frau Blass schildert hingebungsvoll weitere Symptome, Frau Domröse offenbart detailreich ihren Ordnungswahn. »Sobald ich Unordnung entdecke, sei es im Haushalt oder in Steuererklärungen oder anderem Papierkram, muss ich das in Ordnung bringen. Ich kann da einfach nicht an mich halten. Ich räume sogar bei Fremden auf. Und das sehr gründlich.«

Vorn auf dem Beifahrersitz räuspert sich Lena Pischkale und greift nach einer Flasche Wasser. Ihr Räuspern klingt fast so, als wolle sie einen Einwand erheben oder Kritik an diesem Smalltalk unter Bekloppten üben, findet Sellmann. Was keine schlechte Idee wäre.

»Putzen Sie auch wie unter Zwang?«, erkundigt sich Martha Blass teilnahmsvoll bei ihrer Sitznachbarin.

»Wie eine Besessene«, bestätigt Frau Domröse, »ich tue an meinen Nachmittagen nichts anderes. Ich meine, ich liebe Hausarbeit, aber was ich mache, das ist schon manisch.«

Lena Pischkale verschluckt sich im Cockpit an ihrem Wasser und hustet. In äußerst bestimmtem Ton greift von vorne her Enno in das Irren-Gespräch ein. »Immer noch der alte Scherzvogel, Frau Blass? Glauben Sie ihr weder in Sachen Zimmerverteilung noch Zwangsneurosen irgendein Wort, Frau Domröse. Jeder bekommt bei uns ein Einzelzimmer und Rückzugsmöglichkeiten. Zudem hält Herr Balsereit rein gar nichts von Selbstdiagnosen, dem üblichem Psychojargon oder der unter Psychiatern leider verbreiteten Neigung, alles zu pathologisieren. Konzentrieren Sie sich lieber auf die Landschaft. Rügens Natur ist Balsam für die Seele.«

Was sollte denn das jetzt heißen?, wundert sich Sellmann. Ist Frau Blass eine notorische, vielleicht sogar gemeingefährliche Lügnerin? In jedem Fall ist sie eine unerträgliche Quasselstrippe, die der Zurechtweisung nun allerdings Folge leistet und schweigt. Fragt sich nur, für wie lange. Der Pick-up quält sich noch immer durch eine Wohnsiedlung und einen Stau.

Frau Blass bricht nach nur drei Minuten ihr Schweigen.

»Ist die Bundesstraße wieder gesperrt?«, fragt sie den Fahrer mit Blick auf die Blechkolonne vor ihnen.

Der nickt. »Bis Ralswieck, wegen des Ausbaus. Darum müssen alle durch Bergen, und heute herrscht Wochenend-Einkaufsverkehr.«

»Ah, das macht nichts«, freut sich Frau Blass. »Herr Balsereit sagt immer, ein Stau ist eine hervorragende Gelegenheit zum Achtsamkeitstraining. Genau wie eine Schlange vor der Supermarktkasse. Soo entschleunigend! Ich nehme jetzt immer absichtlich die längste Schlange und lasse jeden vor, der es eilig hat. Und ich liebe Rentnerinnen, die im Portemonnaie nach Kleingeld kramen. Man kann sich dann ausgiebig mit seinen Gefühlen beschäftigen, seine Gedanken beobachten und meditieren!«

Teure Privatklinik hin oder her, schäumt Sellmann innerlich, nach dem bislang Erlebten handelt es sich unzweifelhaft um eine Klapsmühle mit einem Idioten und Märchenonkel als Chef.

Ihn beschleicht ein schrecklicher Gedanke. Ist diese Reise als Eignungstest für ihn gedacht? Hält Schaffer ihn für irre? Soll er auf seine seelische Stabilität hin geprüft werden? Sellmann fühlt, dass sich auf seiner Stirn Schweißperlen bilden. Immerhin steht die Nachfolgeentscheidung in Sachen erster Geschäftsführer an.

Derzeit ist er Nummer zwei im Unternehmen, hinter Schaffer, der als Firmengründer in Personalfragen das letzte Wort hat. Schaffer will seinen Posten als erster Geschäftsführer abgeben, sogar ganz aus der Firma aussteigen, sich nur noch der Gattin widmen, reisen, buddhistische Klöster und indianische Schamanen besuchen und all solchen Quatsch.

Passt alles gar nicht zu ihm, aber seit Schaffer nach einer Bypass-Operation vor einem Jahr selbst bei Balsereit in Behandlung war, neigt er zu unsinnigen, um nicht zu sagen komplett durchgeknallten Anweisungen und Entscheidungen. So viel zum Thema Villa Glück.

Eins steht fest: Er, Sellmann, will da nicht hin, aber – so gesteht er sich erneut ein – er muss. Schon wegen Berlinger, diesem intriganten Jungspund, den Schaffer vor vier Monaten in den Betrieb geholt hat und der mit veganem Katzenfutter, seiner Frettchen-Foodline oder der Umbenennung ihrer Traditionsfirma in »Fidos Food-Manufaktur« zum Sprung nach oben ansetzt. Manufaktur, auch so ein Unsinn, jede dämliche Eisdiele nennt sich heute Eis-Manufaktur. Neuer Name, gleicher Inhalt. Allein die Kosten für neue Firmenschilder, Packungen, Briefpapier! Berlinger ist ein unkalkulierbares Risiko für FidoFit. Und die Idee mit dem Frettchen-Futter hat er ihm geklaut.

Apropos Futter, ob Frau Kienbaum Berlingers Frettchen-Präsentation in der Zeit seiner Abwesenheit bereits gecancelt hat? Wirklich, er muss Frau Kienbaum dringend anrufen. Hoffentlich sind sie bald in der dämlichen Villa.

Sellmann schaut forschend aus dem Fenster. Nach Einsamkeit, Idylle und heilsamer Natur sieht hier nichts aus. Immerhin, der Stau löst sich in Kriechverkehr auf. Sie passieren das Gewerbe- und Shoppinggebiet am Rande von Bergen. Aldi, Lidl, Penny, Netto, real, familia, der ganze Summs. Aber ah! Wie schön. Da ist auch eine große Fressnapf-Filiale.

Guter Kunde, freut sich Sellmann, hält fast das gesamte Sortiment von FidoFit vor. Dank ihm, dem besten Mann, um FidoFit ins nächste Jahrzehnt zu führen. Demnächst wird aufgrund einiger von ihm generierter Großaufträge sogar eine neue Produktionsstraße eröffnet. Wie beruhigend es doch ist, an die eigenen Erfolge zu denken, er muss das öfter tun, nimmt Sellmann sich vor. Nur an seine Erfolge denken. Und an die Firma.

Und an die Firma.

Das Summen seines Smartphones reißt ihn aus den erhebenden Betrachtungen. Rasch nestelt er es aus seiner Jacketttasche. Aha, Frau Kienbaum. Endlich zeigt sie mal proaktiven Einsatz. Hoffentlich meldet sie Vollzug in Sachen Berlingers vorschneller Frettchen-Futter-Präsentation. Er drückt auf Empfang und bellt ein »Sellmann hier« in das Gerät. Tut gut, die eigene dynamische No-Nonsens-Chefstimme zu hören. Sellmann lauscht kurz und mit wachsender Verwirrung in sein Smartphone.

»Hochzeitstag?«, fragt er irritiert. »Am Montag? Welcher Hochzeitstag? Ist es jemand vom Vorstand? Ich bin mir sicher, dass ich keinen wirklich wichtigen Hochzeitstag vergesse!«

Wieder lauscht er, wird schlagartig blass.

»Mein Hochzeitstag?«

Sellmann spürt heiße Wut in sich aufsteigen.

Das hatte er vorhin im Zug nicht gemeint, als er Frau Kienbaum Anweisung gab, sich intensiv mit den alten Terminkalendern von Frau Blum vertraut zu machen. Nein, das wirklich nicht.

»Sie haben am Montag Hochzeitstag? Wie schön, dass Sie eine so aufmerksame Sekretärin haben«, schrillt von rechts Martha Blass so laut, dass Frau Kienbaum es garantiert mithören kann. »Männer vergessen so was ja gern. Wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«, beendet Frau Blass ihren dreisten Einwurf.

Sellmann überhört ihn und senkt die Stimme. »Das hat sich vor zwei Jahren erledigt, Frau Kienbaum«, zischt er in den Hörer. »Nein, schicken Sie keine Blumen oder Geschenke!«

Die dämliche Kienbaum lässt nicht locker, macht Vorschläge in Sachen Grußkarten und stellt sich dumm. Eines ihrer größten Talente. Oder macht sie das am Ende extra? Will sie ihn ärgern, gar bloßstellen?

»Wir haben uns in gegenseitigem Einvernehmen getrennt«, raunt Sellmann emotional so unbeteiligt und sachlich wie möglich in den Hörer. Er fühlt genau, dass die Augen seiner Sitznachbarinnen auf ihm ruhen. Selbst der blöde Dackel guckt interessiert.

Sellmann räuspert sich und nimmt Haltung an. »Eine entsprechende Scheidungsmitteilung liegt in der Firma vor«, macht Sellmann unbeirrt weiter. »Herrgott, lesen Sie endlich alle Unterlagen, die ich Ihnen bei Ihrem Eintritt ins Unternehmen überreicht habe!«

Aufs Äußerste verärgert drückt Sellmann das Gespräch weg, will das Smartphone einstecken. Fahrer Enno bremst vor einer roten Ampel und einer Kreuzung, hinter der offenes Land liegt. Er bremst ein wenig energisch, sämtliche Fahrgäste kippen in ihre Sitzgurte. Ennos Rechte schnellt mit nach oben gekehrter Handfläche nach hinten. »Handy her«, befiehlt er.

»Jetzt übertreiben Sie! Das brauche ich nun wirklich«, wehrt sich Sellmann.

»Ganz sicher nicht! In der Villa Glück haben Sie nämlich so gut wie keinen Empfang. Die Klinik liegt in einem Funkloch«, teilt Enno ihm mit. »Einem ausgedehnten Funkloch.«

Das darf nicht wahr sein!

3.

So, genug geredet. Dieser harmlosen Schwatzbase Martha Blass sei Dank ist das erste Ziel ihrer Übung erreicht, freut sich Gertrud Domröse und lehnt sich entspannt im Sitz zurück. Ihre Mitpatienten und der Fahrer dürften sie nunmehr für hochgradig bekloppt und ebenso behandlungsbedürftig wie dieses geschiedene Burnout-Wrack Sellmann und Martha Blass halten. Noch nie ist ihr eine Frau begegnet, auf die die Beschreibung »nützliche Idiotin« besser zutreffen würde.

Fahrer Enno hat Sellmanns Smartphone konfisziert und fährt an. Sie lassen Bergen endlich hinter sich, tauchen in eine Landstraße Richtung Westen und eine Ortschaft namens Gingst ein. Gertrud krault Sokrates und gönnt sich ein verstohlenes Schmunzeln.

Völlig mühelos sind ihr im Gespräch mit Frau Blass immer neue und immer passendere Symptome für sich eingefallen. Ein Unterfangen, das für eine seelisch vollkommen stabile und in Sachen geistiger Gesundheit topfitte Frau und diplomierte Universitätsbibliothekarin wie sie kein Kinderspiel war. Trotz Lektüre einschlägiger Fachliteratur im Vorfeld der Reise.

Gott nein, was musste sie Bücher wälzen!

Psychologie war nie ihr Fachgebiet, und ihre Macke sollte schließlich zu ihrem Vorhaben passen. Das ist jetzt geklärt. Ein außer Kontrolle geratener Ordnungsfimmel dürfte ein hervorragender Vorwand sein, um in der Villa Glück herumzuschnüffeln, glaubt Gertrud. Am besten natürlich in den Patientenakten. Ob sie da wohl drankommt?

Hm. Wird nicht einfach sein, aber im Klinik-Infoblatt ist von einem hohen arbeitstherapeutischen Anteil am Heilungsprozess à la Professor Balsereit die Rede. »Gesundung durch Handeln« heißt sein Motto. Als Tätigkeitsfelder werden beispielhaft Küche, Hauswirtschaft und Garten der Villa erwähnt.

Nur das nicht!

Sie muss versuchen, irgendeine Art Bürotätigkeit zu ergattern, die ihr im Idealfall Zugang zu den Aktenschränken im Verwaltungstrakt ermöglicht. Nun, sie wird darauf hinweisen, dass Hausarbeit, ob Putzen, Gärtnern oder – ganz schlimm – Kochen, sie eben leider verrückt macht. Was sogar stimmt. Und wie das stimmt! Gertrud hat Haushaltsarbeiten seit jeher gehasst und will auf ihre späten Tage gar nicht erst mit ausbeuterischen, verblödenden Sklaventätigkeiten anfangen.

Bei dem, was sie vorhat, ist allein ihr Hirn gefragt. Mithilfe von Wischmopp, Putzeimer oder Nudelholz wird sie keine entscheidenden Informationen und Erkenntnisse erlangen. Erkenntnisse über Lenas potenziellen Erzeuger – das Wort Vater verbietet sich. Der Mann ist ja nie in Lenas Leben aufgetaucht. Nicht einmal namentlich! Er war – wie in Lenas Geburtsurkunde vermerkt – ein Vater »unbekannt«. Nicht, dass dieser nichtsnutzige, pflichtvergessene Drückeberger Gertrud auch nur im Geringsten interessieren würde. Hat er nie, aber sie muss ihre Lena vor ihm beschützen. Das vor allem.

Am besten wäre es, jede Begegnung zwischen beiden zu unterbinden. Nur muss sie dazu wissen, wer der Mann ist. Immerhin dürfte es sich bei ihm um einen Irren oder psychisch zumindest schwer angeschlagenen Menschen handeln. Sonst würde er wohl kaum in der Villa Glück residieren. So einen Vater braucht kein Mensch, schon gar nicht Lena.

Die Kindheit ihres Mädchens war wegen der leiblichen »Mutter«, Gertruds zwölf Jahre jüngerer Schwester, überschattet genug. Ihrer vor einem Jahr verstorbenen Halbschwester Susanne, um genau zu sein. Susa war wirklich durchgedreht. Völlig durchgedreht. Geradezu berühmt dafür, einen unheilbaren Knall zu haben. Vor allem in ihren letzten Lebensjahren. Das Showbusiness liebt eben kranke, geltungssüchtige, labile Charaktere. Und mitunter bringt es sie um.

So wie ihre Halbschwester Susa, besser bekannt als »Roxy Melodi«, One-Hit-Wonder der Neuen Deutschen Welle, professionelle Skandalnudel und Liebling der Klatschpostillen bis zuletzt. Dank eines einzigen peinlichen Sommerhits von 1991 mit dem unsäglichen Titel Boom, boom – boom up Balloon, der bei Oldie-Shows leider immer noch im Radio gespielt wird und in Festzelten und Rumtata-Discos zum Dauerrepertoire gehört. Demnächst soll er sogar als Werbe- und Warteschleifenmelodie eines großen Telefonanbieters wiederauferstehen.

Schauderhaft, schüttelt sich Gertrud innerlich.

Zumal deshalb momentan eine juristische Auseinandersetzung wegen der Urheberrechte tobt, in der sie, Gertrud, Lenas Ansprüche an den Tantiemen und Verwertungsrechten des Titels durchsetzen will. Das Mädchen selbst tut nichts in der Sache. Lena hat Susas Erbe ausgeschlagen, weshalb es an Gertrud gefallen ist, inklusive Urheberrechtsstreit.

Na, sie wird schon dafür sorgen, dass das Kind am Ende doch an das Geld kommt. Es ist das Mindeste, was Susa für ihr Kind noch tun konnte. Aber das ist eine andere Geschichte. Hier und jetzt geht es nicht um das Geld, sondern darum, Lena vor einem weiteren kranken Elternteil zu beschützen. So wie sie das immer getan hat. Von Beginn an.

Knapp acht Monate vor ihrem Karrieredurchbruch anno 1991 hat Susa Lena als kaum vier Wochen altes Baby bei Gertrud abgeliefert. Um fürderhin nur noch Roxy Melodi zu sein. Baby Lena hätte Susa dabei und bei ihrer Europa- und Asientournee nur gestört.

Gertrud fühlt, wie ihre Gesichtszüge versteinern – ein wenig vor Schmerz und Trauer um die mit gerade einmal 57 Jahren verstorbene Schwester, aber mehr noch vor Groll. Einem sehr alten, unversöhnten Groll, auch wenn es sicher Susas klügste Lebensentscheidung war, Lena bei ihr abzugeben und einer Adoption zuzustimmen. So konnte Gertrud das Kind aus dem ganzen Roxy-Melodi-Zirkus hinaushalten. Kein Mensch hat je erfahren, dass Roxy eine Tochter hatte.

Trotzdem, so etwas tut man nicht!

Tief in ihrem Inneren, da ist sich Gertrud sicher, verspürt Lena immer noch den unfasslichen Schmerz, ein von der leiblichen Mutter unerwünschtes Kind zu sein. Man muss kein Seelenklempner sein, um zu wissen, dass es für Kinder einer Katastrophe gleichkommt, von Mutter und Vater nicht gewollt zu sein. Erst recht, wenn das Kind in der Ära problemloser, sicherer Verhütungsmethoden wie der Pille gezeugt wurde. Da kann man sich schließlich frühzeitig gegen Kinder entscheiden.

Auch wenn Lena, die personifizierte Liebenswürdigkeit, ihren Schmerz nicht zeigt, nie gezeigt und sie selbst als Ersatzmutter ihr Bestes gegeben hat; ein Schaden ist gewiss zurückgeblieben. Dem Kind die Mutter zu ersetzen war nicht schwer. Lena zu lieben ist einfacher, als einen Stuhl umzutreten oder Luft zu holen, aber Susa hat es nie versucht. Unverzeihlich!

»Rechter Hand geht es gleich ab nach Rappin, zu den Banzelvitzer Bergen und den Halbinseln Lebbin und Lindow«, meldet sich im Ton eines beschwingten Fremdenführers Fahrer Enno zu Wort. »Sie werden diese herrliche Gegend, das sogenannte nördliche Muttland, im Rahmen von Wanderungen und Ausflügen noch kennenlernen. Auf Lidow wurde übrigens die TV-Serie Hallo Robbie! gedreht.«

Ein guter Grund, dort auf keinen Fall hinzufahren, findet Gertrud mit flüchtigem Blick aus dem Fenster.

Martha Blass hingegen klatscht in die Hände wie ein Kind: »Ich liebe Banzelvitz«, ruft sie aus.

Sie tauchen in eine Alleestraße mit knospenden Bäumen ein, Hinweisschilder mit heiteren Dorfnamen wie Patzig, Thesenvitz und Boldevitz und endlose Felder fliegen vorbei. Alles in allem ist es – trotz bedecktem Himmel – recht hübsch hier, bemerkt Gertrud, aber Hallo Robbie! klingt nach genau dem Fernsehkitsch, bei dem Susa gelegentlich als Gaststar mitwirken und Boom up Balloon zum Vortrag bringen oder die Femme fatale für Arme spielen durfte.

Nein, Gertrud wird sich keinesfalls irgendwelche Drehorte anschauen. Überhaupt kommen unsinnige Ausflüge und Landpartien für sie nicht infrage. Sie muss sich bei ihren Nachforschungen ganz auf die Villa konzentrieren – genau wie Lena es vorhaben dürfte. Zur Not wird Gertrud sich auf eine Anthophobie, eine Arachnophobie oder eine Acarophobie herausreden, also eine panische Angst vor Blumen, Spinnen oder Insektenstichen. Am besten auf alles drei.

Gertruds Augen heften sich auf die Rücklehne des Beifahrersitzes. Ihre Lena sitzt da wie eine Statue. Gibt mal wieder die Unberührbare und Undurchschaubare. Das kann sie gut, aber nicht gut genug für Gertrud. Ha!

Lena hat sie vor dem Bahnhof mit einem kurzen, eisigen Blick begrüßt, der Gertrud mehr als nur ein wenig verhaltenen Ärger verriet. Lena schäumt innerlich vor Wut, das steht fest. Vor allem, weil sie Gertruds kleines Schauspiel, das sie unter dem Namen ihres bescheuerten Ex-Ehemanns Klaus Domröse gibt, schlecht aufdecken und beenden kann, ohne sich selbst zu verraten. Sokrates’ verdächtig stürmische Begrüßung – der Hund ist nun mal kein Schauspieler, wenn es um seine Zuneigung geht – hat Lena mit dem Satz quittiert: »Hunde lieben mich, ich weiß gar nicht, warum.« Womit klar war, dass sie den Mund in Sachen »meine Tante und Ziehmutter« halten will.

Tja, soll Lena mal ruhig wütend sein, richtig wütend. Das macht gar nichts. Kann ihr nur guttun. Als liebende Mutter – auch als Ersatzmutter – steht man das so gelassen durch wie den brüllenden Trotzanfall einer Dreijährigen vor dem Süßigkeiten-Regal. Sie sowieso. Wobei Lena niemals brüllende Trotzanfälle hatte. Schon gar nicht vor Süßigkeiten-Regalen. Nein, die ihren waren still, zeitweise bedrückend still, aber hartnäckig und im Grunde sogar äußerst angenehm. Sie war ein so pflegeleichtes Kind. So brav, verdächtig brav!

Gertrud muss ein Seufzen unterdrücken.

Lenas Widerstand gegen Gertruds pädagogische Leitidee, das Mädchen unabhängig, frei und vor allem jenseits aller weiblichen Rollenzwänge aufwachsen zu lassen, äußerte sich in ihrem beharrlichen Wunsch, schon als Fünfjährige ihr Zimmer picobello aufzuräumen – und Gertruds gleich mit. Oder freiwillig Staub zu saugen und zu wischen – eine nach Gertruds Dafürhalten völlig unsinnige Tätigkeit, da man Staub hervorragend übersehen kann. Irgendwann kommt ihrer Erfahrung nach kein neuer mehr dazu.

Als Sechsjährige hat sich Lena mithilfe eines Puppenherdes die Grundlagen des Kochens beigebracht. Mit sieben konnte sie minutiöse Einkaufslisten verfassen und kannte sich hervorragend in Sachen Putzmittel aus. Von ihr hätte Lena das nun wirklich nicht lernen können. Nein, das Mädchen hat sich alles selbstständig und freiwillig beigebracht, da half keine noch so liebevolle Gegenrede oder tadelnde Miene.

Klar ist: In Sachen Befreiung vom Rollenkorsett hat Gertrud als Erziehungsbeauftragte versagt. So vollständig versagt, dass Lena mit sechzehn Jahren und der mittleren Reife die Schule geschmissen, eine Ausbildung zur Hotelfachfrau begonnen und diese knapp 22-jährig in London mit einem Butler-Diplom und Bestnoten beendet hat.

Mit anderen Worten ist Lena – ihre kluge, hochintelligente Lena, die mit vier Jahren bereits lesen und mit sechs hervorragend rechnen konnte – ein studiertes Dienstmädchen! Also quasi Hausfrau mit Diplom. Was für eine unglaubliche Talentverschwendung!

Na, Schwamm drüber. Gertrud Domröse reckt kämpferisch das Kinn. Hauptsache, sie kann das Kind diesmal von seinen blödsinnigen Plänen abhalten. Den leiblichen Vater finden, so ein Quatsch! Diese Reise in die Vergangenheit kann doch nur in Tränen, Leid oder Chaos enden. Kein vernünftiger Mann – die ohnehin höchst selten sind – kann eine Roxy Melodi aufrichtig geliebt haben.

Lenas Hochzeitspläne sind ein weiteres Ärgernis. Karsten von Amelong ist ein Musterexemplar männlicher Gier und emotionaler Beschränktheit und – da ist sich Gertrud sicher – nicht frei von Berechnung. Immerhin ist dieser Karsten ihr Anwalt im Urheberrechtsstreit. Ein kostspieliger Anwalt, der genau weiß, welche Summen zu erwarten sind, wenn die Verwertungsrechte an Boom up Balloon