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Wehe, wenn sie losgelassen!
Obwohl er eigentlich längst in Rente ist, bietet Helmut seine Dienste gleich mehreren Arbeitgebern an: Madame Lambert, für die er täglich kocht, einer Teleshopping-Hotline, deren Kunden er Küchenzubehör anpreist, und einer Tarot-Hotline, für die er in die Zukunft schaut. Helmut ist mit seinem Leben zufrieden. Bis ihn eine Anruferin in Alarmzustand versetzt, indem sie behauptet, dass ihr Mann sterben wird - "so sicher wie das Amen in der Kirche". Gut, dass Helmut in Hildchen eine loyale Freundin hat, die bereit ist, mit ihm an den Ort zu reisen, an dem der Mord stattfinden soll. Und auch Madame Lambert ist sofort Feuer und Flamme ...
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2018
Seit jeher ist Horst das schwarze Schaf der Familie. Lange hat ihn das wenig gestört. Jetzt aber, im Alter, ist er einsam - bis er in die weite Welt des Internets vordringt. Überraschend schnell knüpft Horst eine Mail-Freundschaft zu seiner alten Klassenkameradin Elisabeth und ergattert einen Nebenjob bei einer Tarot-Hotline. Sein Charme ist in der Community schnell legendär. Eine besondere Kundin jedoch versetzt ihn in Alarmzustand, ist sie doch davon überzeugt, dass ihr Mann sterben wird, »so sicher wie das Amen in der Kirche« …
Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Köln.
Ellen Jacobi
RENTNERGÜNSTIGABZUGEBEN
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2018 by Ellen Jacobi
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dr.Stefanie Heinen
Titelillustration: © Gerhard Glück
Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-5648-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Das Beste sollte nie hinter uns,sondern immer vor uns liegen.
Bertrand Russell
Helmut gießt die Brühe ab. Goldbraun strömt Flüssigkeit durchs Sieb in die Schüssel, die in einer alterskrummen Spüle steht. Immerhin ist es dank des runden Fensters über dem Wasserkran eine Spüle mit Ausblick. Es erinnert an ein Bullauge und erfreut Helmut als ehemaligen Kombüsenchef doppelt. Lang ist’s her, aber unvergesslich. Zwar geht das Glasrund nicht aufs Meer, aber zumindest auf ein Kirchenschiff – das von St.Bruno in Köln-Klettenberg samt kupferspangrünem Glockenstuhl.
Der Herr ist sozusagen jetzt sein Lotse. Bislang haben sie einander höflich ignoriert. Na, es gibt miesere Aussichten als die auf eine Kirche und schlechtere Schlafplätze als seine Mansarde. Bis vor sechs Monaten war ein verbeulter Sprinter Helmuts Zuhause. Tagsüber klapperte er mit der Rostlaube als Entrümpler und Trödler Haushaltsauflösungen und Flohmärkte ab. Nächtens parkte er den Transporter unter Rheinbrücken und schlief zwischen Gerümpel, Gaskocher und Waschgelegenheit. Als Strandgut eines rastlosen Weltenbummlerlebens. Das ist dank Madame Lambert vorbei und gut so.
Mit bald 66 Jahren ist es an der Zeit, vor Anker zu gehen und sesshaft zu werden. Er hat genug Abenteuer für drei Leben gehabt. Ist endlos rumgestromert zu Wasser und zu Lande. Was er jetzt anstrebt ist Ruhe. Endlich Ruhe. Nicht die ewige, versteht sich, und – so Gott will – Nicoletta.
Helmut schüttet die abgeseihte Brühe zurück in den Topf, sein Blick streift die Turmuhr. Die Zeiger glänzen in vollkommenem Septemberlicht. Gleich elf. Jetzt aber fix, die Bügelwäsche für die Witwe Käsmacher von nebenan wartet, und zum Mittwochsmarkt will er auch noch. Für den Abend benötigt er noch eine Seezunge für seine Vermieterin Madame Lambert drei Stockwerke tiefer, und mit der reizenden Polin vom Reibekuchenstand lässt es sich nett schäkern. Er muss in dieser Hinsicht wieder in Übung kommen. Jahrelang war er als Charmeur und Gentleman völlig eingerostet.
Aus gutem Grund.
Ein Grund, an den er nicht mehr denken will. Nie mehr. Zwei Jahre Trauer und Erstarrung auf Kreta waren genug. Trostloser als Knast – und er weiß, was Knast ist – war diese Zeit. Helmuts Gesicht verschattet sich trotzdem, seine Seele flaggt reflexhaft Trauer. Das hat er nun davon, dass er sich wieder auf die Liebe einlassen will.
Der Geruch von Bleichmittel will ihm in die Nase steigen, in seinen Erinnerungen flackert Neonlicht, quietschen Gummisohlen auf Krankenhauslinoleum.
Nichts da, wehrt sich Helmut gegen die ohnmächtige Wut, anbrandende Schuldgefühle und alten Schmerz, die ihn anspringen wollen wie ein scharf gemachter Kettenhund. Er schüttelt energisch den Kopf. Das Ganze ist über zwanzig Jahre her. Er hat endlich eine Chance, wieder richtig Tritt zu fassen, und wird sie nutzen. Denn jetzt gibt es Nicoletta. Er wird das Ruder noch mal rumreißen, sein Leben endlich in ruhiges Fahrwasser lenken.
Hoppla, nautische Metaphern sind ihm gewöhnlich zuwider, und er klingt wie ein komplett vernarrter Trottel. Fehlt nur noch der Hafen der Ehe. Nun, warum nicht?, denkt Helmut kampflustig. Diesmal wird er alles richtig machen, wird »auf jeden Regentropfen achten«, der seine Liebste erschlagen könnte, wie es sehr frei nach Brecht heißt.
Sein Herz wagt einen zaghaften Freudenhüpfer. So was, dass es das noch kann! Helmut erlaubt sich ein krumm-seliges Griemeln. Wunder gibt es immer wieder, summt Katja Ebstein in ihm und nimmt vor seinem inneren Auge Gestalt an – in ultraknappem Minirock, wallendem Maximantel und silbernen Glamrockstiefeln. Ganz wie weiland 1970, als sie beim Grand Prix in Amsterdam zumindest optisch die höchste Punktzahl erreichte.
Nicht, dass er Katja Ebsteins Schlager sonderlich schätzt, aber ungefähr so wie die Ebstein hat Nicoletta früher ausgesehen. Ein Mädchen wie ein Blitzeinschlag. Sie schien nur aus Haaren und Beinen zu bestehen, ein Rotschopf mit großen grasgrünen Augen war sie ebenfalls. Die dürften ihr geblieben sein – oder?
Hoffentlich postet sie bald ein Bild. Er will da nicht drängeln, Frauen sind in Fragen des Alterns bekanntlich heikel, aber sein Foto hat sie schon. Mit gestutztem Vollbart, schlohweißer Mähne, Schlips, Kragen, Sonntagslächeln und überreichlich Wetterfalten hat er im Drogeriemarkt zwischen Tiernahrung und Gesundheitstee Porträt gesessen. Der Kodak-Automat hat die zerfurchte Wahrheit biometrietauglich ausgespuckt. Sie hat Nicoletta nicht abgeschreckt. Im Gegenteil mailt sie nun fast täglich, und es gibt niemanden mehr, der ihre Post an ihn und seine an sie abfangen kann – wie damals im fromm vermuckten Wermelskirchen.
Egal und vorbei. Alte Liebe rostet nicht. Nicht seine und vor allem nicht so eine. Er war sein Leben lang ein rastloser Streuner, aber auch ein treuer Hund. Wenn es um das größte aller Gefühle geht, war er immer schrecklich unmodern. Von Jugend an. Häufig ist er der großen Liebe freilich nicht begegnet, streng genommen nur zweimal.
Zum letzten Mal auf Kreta. Helmut blendet die Sonnenbilder der ersten Begegnung mit Penelope aus, bevor deren jäher Tod sie wieder eintrübt, und zoomt alte Schulhofszenen von erstaunlicher Schärfe heran. Er sieht sich als Teenager und Milchbart neben Hildchen Trautwetter, seiner besten Freundin, auf einer Bank sitzen, um Geheimnisse, Albernheiten und Brote zu tauschen. Dabei hat ihn die Liebe zum ersten Mal erwischt! In Gestalt von Nicoletta, dem Blitzschlag, dem Schulschwarm. Das vergisst man nicht. Noch weniger die heimlichen Küsse hinter dem Hausmeisterkiosk. Seine ersten Küsse überhaupt.
Sentimentaler Hund!, ruft Helmut sich zur Ordnung. Vor der Liebe kommt die Pflicht. Und das Geldverdienen. Dank Finesse, Facebook und ein paar Kleinanzeigen hat er nicht nur Nicoletta und alte Seekameraden wieder aufgespürt oder ist – wie im Fall vom guten alten Hildchen Trautwetter – gefunden worden, er hat sich auch reichlich Minijobs an Land gezogen.
Schließlich will er Nicoletta, die finanziell in Bedrängnis geraten zu sein scheint, mehr als seine karge Seemannspension bieten, wenn er sie demnächst, hoffentlich bald, trifft. Zum ersten Mal nach fast fünfzig Jahren!
Sein Neffe Alexander hatte ausnahmsweise recht: Das Internet schafft in jedem Alter grenzenlose Möglichkeiten. Gut, dass er dem nassforschen Spund gestattet hat, den Computer-Kladderadatsch hier oben in der Mansarde für ihn einrichten zu lassen. Samt Smartphonegedöns, Laptop, Freisprechanlage und Headset für die telefonische Logistik und seine Heimarbeiten.
»Homeoffice-Jobs per Inboundcalls«, nennt Alexander das. Der Junge kennt sich aus in Sachen Web und hat Helmuts virtuelle Angebote im Google-Ranking geschickt nach oben manipuliert. Alexander macht richtig dickes Geld mit irgendwelchem Softwarequatsch und damit ihrem gemeinsamen Familiennamen – Gier – alle Ehre. So wie schon sein Vater, Helmuts Bruder, und davor sein Großvater, also Helmuts Vater. Kaltherzige Geldscheffler und Raffzähne vom Stamme Nimm waren das. Leider kommt Alexander – obwohl früher ein reizender Bengel – inzwischen ganz nach denen.
Nur er, Helmut Gier, ist aus der Art geschlagen. Ist auch besser so, findet Helmut und hebt das Sieb aufs Abtropfblech. In seiner kurzen Phase als erfolgreicher Gastronom und Clubkönig auf Kreta hat er nur schlechte Erfahrungen gemacht. Nichts zerstört den Charakter mehr als Geld. Gier ist nichts anderes als fehlgeleitete Sehnsucht, wie seine Familie immer wieder aufs Schönste bewiesen hat.
Helmut greift zu einem Löffel, schmeckt kurz die Suppe ab. Donnerlittchen, Schweinerippchen! Hat schon richtig Wumms, seine Brühe. Das kommt vom Ochsenschwanz, der nun im Sieb ausdampft. Madame Lambert legt heute wieder Wert darauf, un peu malade zu sein und nur Schonkost in Form von Kraftbrühe zu vertragen. »Und abends Seezungenröllchen in Zitronenbutter.«
Pünktlich um halb zehn wie jeden Morgen hat sie telefonisch ihre Essensbestellung bei ihm aufgegeben. Mit einer Stimme fragil wie Glas.
Angesichts der halben Flasche Lillet mit Kirschwasser, die sie gestern Abend nach eigenem Bekunden mit einer Freundin verkümmelt hat, und ihres Alters von fast 86 Jahren muss man sich über eine gewisse Zerbrechlichkeit am Morgen danach nicht wundern. Madame Lambert, verarmt geborene Freiin Anike zu Polwitz und Diva aus Leidenschaft, zwitschert sich gern einen und macht hernach das Meiste und Beste aus jedem Anflug von Unwohlsein – ob eingebildet oder echt. Als geschiedene Gattin eines französischen Botschafters, die in der ganzen Welt zu Gast war und an dienstbare Boys, Chauffeure, Haushälterinnen und Kindermädchen gewöhnt ist, lässt sie sich völlig schamfrei betüddeln.
Ihren Hang zu Schnaps und Likör und das Talent zum genüsslichen Krankfeiern hat sie sich – so mutmaßt Helmut – nach ihrer unschönen Scheidung vor zwanzig Jahren angeeignet. Neben der halben französischen Diplomatenpension ihres Ehemaligen und einem Jugendstil-Mietshaus in Klettenberg. Einem Viertel, in dem es von betuchten älteren Damen zu wimmeln scheint und wo sie einst das Licht der Welt erblickte.
Aller Malaisen zum Trotz ist Madame zäh wie Ziegenleder und eine unverwüstliche Kämpferin, die kein Scharmützel scheut – was Helmut imponiert, auch wenn er dem Gefecht oft zum Opfer fällt. Madame Lambert wird ihn gewiss um Jahre oder gar ein Jahrzehnt überleben.
Na, noch lebt er und hat gut zu tun. Das Bügelbrett wartet, und die Brühe muss zum Reduzieren auf den Herd. Helmut streift sich Backhandschuhe über, hievt den heißen Topf vom Abtropfblech und will ihn gerade mit Schwung zurück zum Herd tragen, als ihn mit noch mehr Schwung, Fanfarenton, schmetternden Trompeten und Trommelgerassel ein Infanterieregiment samt Musikkorps ins Stolpern bringt.
Heiliges Kielschwein, ist das laut!
Kein Wunder. Das Regiment marschiert in Surround-Sound mitten durch beide Gehörgänge. Eine ganze Strophe lang. Dann legt es eine Verschnaufpause ein. Helmut knallt den Topf auf den Tisch und haut sich mit dem rechten Backhandschuh aufs Ohr. Dieses vermaledeite Headset, das sein Neffe Alexander ausgesucht hat, macht Telefonieren mitunter zum akustischen Albtraum. Warum hat er alter Esel eigentlich die Marseillaise als Klingelton für Madame Lamberts Anrufe gewählt? Helmut beantwortet sich die Frage gleich selbst: Weil Frankreichs Nationalhymne zu dieser frankophilen Henne passt und er am Klingelton erkennen muss, wer anruft, um sich entsprechend zu melden.
Wahlweise als Madame Lamberts Personal Caterer, als Callcenter-Mitarbeiter für TV-Shoppingprodukte, als Tarot-Online-Berater oder als Chef und einziger Mitarbeiter seines »Haushaltsservice Heinzelmännchen«. Der läuft dank Mund-zu-Mund-Propaganda via Madame Lambert und seiner Kleinanzeige im Wochenblatt – Stichwort »Rentner günstig abzugeben« – beim Klettenberger Witwenzirkel bombig. Fast so gut wie die Wahrsagerei, für die er zudem im öffentlichen Bereich seines Facebook-Profils wirbt.
Madames Musikkorps nimmt erneut Anlauf. Verdammt, er hat den Abschaltknopf nicht getroffen! Helmut reißt sich die Handschuhe von den Händen und drückt auf den Empfangsschalter am Ohr.
»Madame?«, meldet er sich fragend und zieht das schwenkbare Mikrofon dichter an seinen Mund.
»Mir fiel ein«, zwitschert es am anderen Ende der Leitung, »dass ich nach der Consommé gerne ein kleines Dessert hätte. Nichts so Aufwendiges wie damals auf unserer lieben Arcadia«, sinniert Madame, »seulement quelque chose de doux avec vanille. Sie kennen mich, nur kein Chichi.«
Irgendetwas Süßes mit Vanille und kein Chichi – soso. Darauf fällt er nicht mehr rein. Mit Vanillepudding etwa darf man ihr nicht kommen. Dabei ist sein selbstgekochter Pudding Weltklasse. Er hat ihn im Kühlschrank immer auf Vorrat und schlägt Madame Lavendelcreme vor. Dafür muss er den Pudding nur mithilfe von Bunsenbrenner und Rohrzucker flambieren und mit Lavendelblüten aufpeppen. Die wird er aus einem Tütchen von Madames Beruhigungstee rausfriemeln. Fertig ist der Lack. Aber Madame ist noch immer unzufrieden.
»En français, s’il vous plaît«, verlangt sie eine französische Bezeichnung für das von Helmut avisierte Lavendeldessert. Er kratzt sich ein »Crème brûlée à la lavande« zusammen.
»Parfait«, pariert Madame.
»Halbgefrorenes? Das dauert aber entschieden länger«, warnt Helmut.
»Ich meinte ›perfekt‹ wie ›vollkommen‹, nicht ›Parfait‹ wie ›Eiscreme‹, mon cher«, kontert Madame. Ihr mon cher übersetzt Helmut im Stillen, wie es gemeint ist – mit »Trottel«. Ein Wort, das sie als ehemalige Diplomatengattin nie in den Mund nehmen würde, sie beleidigt auf gehobenem Niveau.
»Ihr Französisch war auf der Arcadia wesentlich besser«, befindet Madame. »Ihr charmanter Wiener Akzent übrigens auch, man hört ihn so gar nicht mehr.«
Sie legt grußlos auf. Das ist die Höchststrafe.
War sie damals als Gast an Bord der Arcadia wohl auch so ein verwöhnter, starrsinniger Snob?
Helmut zuckt mit den Schultern und stellt den Rest Suppe zurück auf den Herd. Er erinnert sich nur dunkel an seine kurze Episode auf dem Luxusliner und überhaupt nicht an Madame. Schließlich war er 1969 nur als Commis de Cuisine – zu Deutsch: als Topfspüler und zum Gemüseschnippeln – an Bord. Tief im Bauch des Schiffes und meilenweit entfernt vom Erste-Klasse-Deck, wo Madame damals nebst ihrem Diplomatenheini logierte. Er war für sie somit vollständig unsichtbar.
Was Madame nicht davon abhält, ihn für ihren damaligen Kellner zu halten, der offenbar Österreicher und im Charmieren so begabt wie im Französischen war. Weshalb sie ihn penetrant mit Franz-Josef anredet und nach zwei, drei Lillets mit »Ach, Franzl«.
Die Verwechslung ist kein Anzeichen altersbedingter Vergesslichkeit, sondern der Tatsache geschuldet, dass Madame, sobald sie sich etwas in den Kopf setzt, stur daran glaubt. Sie ist ohnehin am liebsten ihrer eigenen Meinung.
So viel entspricht immerhin den Tatsachen: Im Mai 1969 hatte er wegen einer Jobflaute im Frachtverkehr auf einem Luxusliner der britischen Reederei Peninsular & Oriental Steam Navigation Company – kurz P&O – angeheuert. Auf der Transpazifik-Route London–Australien. Die Arcadia war ein schnittiges Schiff, außen und innen elegant und majestätisch wie ein Schwan.
Trotzdem hat er nach der Tour frohen Herzens abgemustert. Ein Job als erster Koch auf einem Schiff für echte Kerle lockte. Ohne Serviceoffiziere in schnöseligen Uniformen mit Epauletten und dem Gehabe von Luftwaffengenerälen. Bärbeißige Teerjacken, Brikettgestank und fliegende Pfannen in einer Frachterkombüse waren mehr nach seinem Geschmack. Also ist er unter Mitnahme von ein paar Arcadia-Souvenirs – alte Menükarten, Besteck und zwei Eierbecher mit Arcadia-Schriftzug – von Bord gegangen. Genau dieses Logo hat Madame im März dieses Jahres bei einem Sonntagsbummel über den Klettenberger Flohmarkt in helles Entzücken versetzt.
Hinter seinem Trödeltisch hockend hat er ihren Erinnerungen an die Arcadia gelauscht und sich als ehemaliges Crewmitglied vorgestellt, woraufhin Madame ihn spontan als »Franzl« erkannt und Menükarten, Besteck und Eierbecher als Memorabilien erworben hat – und ihn gleich mit dazu.
Helmut leckt den Zeigefinger an und legt ihn prüfend ans Bügeleisen. Temperatur stimmt. Mit spitzen Fingern greift er sich einen von Witwe Käsmachers Großraumschlüpfern und streicht ihn auf dem Bügelbrett glatt. Vier Unterhosen und einen Stapel Taschentücher später bimmelt sein Headset erneut. »Das bisschen Haushalt«, trällert eine Stimme den Uraltschlager von Johanna von Koczian in sein Ohr.
Eine TV-Homeshopperin wünscht Informationen zum 24-teiligen Keramikmesserset »Klingon« mit Japanschneide und zum Mikrowellenreiniger »Saubere Sonja«, einem mit Essigwasser befüllbaren Plastikpüppchen, das sich neckisch das Näschen zuhält.
Es ist eine sehr gesprächsfreudige Kundin, die sich mit ihrem Haushalt ziemlich zu langweilen scheint, merkt Helmut, während er die Saubere Sonja verbal auseinandernimmt und von japanischer Messertechnik schwärmt. Unter Einflechtung seiner als Chef de Cuisine bei der Handelsmarine in Japan erworbenen Kenntnisse mit asiatischen Messern. Seemannsgarn kommt bei älteren Damen gut an und veranlasst die Anruferin, ihre liebste Traumschiff-Folge mit Klaus-Jürgen Wussow und Udo Jürgens an Bord zu rekapitulieren. Kapitänsdinner inklusive.
Immerhin bestellt sie die Japan-Messer und ein Set Bratfix Pfannenschoner in Herbsttönen. Drei Anrufe und sieben Bestellungen später ereilt Helmut eine gewisse Schläfrigkeit. Zeit für frische Luft und den Markt. Er will sein Headset gerade ablegen, als es darin wieder summt. Mitten hinein in drei wuchtige Viertelstunden-Schläge von St.Bruno.
Verärgert drückt Helmut auf Empfang: »Herzlich willkommen bei Homeshopping Happy Hausfrau, Helmut am Apparat, womit dürfen wir Ihr Leben leichter machen?«
Am anderen Ende raschelt es, dann folgen Geklapper und ein dumpfer Knall. Es klingt, als fiele jemandem der Telefonhörer aus der Hand. Endlich meldet sich eine ältliche weibliche Stimme. »Bin ich da nicht bei Drittes Auge – Tarot für alle Lebenslagen?«
Helmut beißt sich auf die Lippen. Böser Patzer, er hat die Klingeltöne verwechselt. Lag an dem dämlichen Glockendröhnen.
»Oh, kleiner Leitungsfehler. Ich werde Sie sofort zu den Kollegen weiterschalten. Hervorragendes Team. Bleiben Sie dran«, rettet sich Helmut hastig und hofft, dass dieses Gespräch nicht zwecks Überprüfung der Servicequalität mitgeschnitten wird. Er drückt zweimal kurz für die Begrüßungsansage von Drittes Auge – Tarot für alle Lebenslagen.
Er hechtet zum Laptop, ruft sein Online-Tarot-Programm auf und nimmt auf dem Bürostuhl Platz. Wieder drückt er auf Empfang und meldet sich sodann mit sonorer Bassstimme als »Sandalphon, Ihr Tarot-Berater in allen Lebenslagen. Einfühlsam, seriös und anonym. Wie lauten Ihre Fragen?«.
»Das ist doch wirklich anonym?«, nuschelt die Stimme undeutlich. Klingt, als würde die Anruferin durch einen Wattebausch sprechen oder das Gebiss sitzt nicht. Vielleicht ist sie auch angeschickert. Hat er alles schon gehabt.
»Aber natürlich ist das anonym und wie bei jedem Erstanruf kostenlos«, versichert Helmut-Sandalphon. Für mehr als Erstgespräche reichen seine Kenntnisse ohnehin nicht. Die Schulung bei der Hotline war dürftig. So viel jedenfalls ist hängengeblieben: bei Anfängern immer positiv bleiben und vage. Am Ende müssen viele Fragen offen sein, auch bei aussichtslosen Fällen muss noch Hoffnung bestehen und der Drang, erneut anzurufen – dann gegen saftige Gebühren.
»Worum geht es, wenn ich fragen darf?« Hoffentlich ein leichtes Thema, sonst sind die Seezungen weg.
»Den Tod meines Mannes«, schlingert es leicht lallend durch die Leitung. Kein Wunder, dass die wohl einen hinter der Binde hat.
Verdammt! Der Tod eines geliebten Menschen ist das schwerste Thema überhaupt und eines, über das er so gar nicht mehr nachdenken, geschweige denn zu dem er alberne Karten legen will. Aber einfach auflegen, das bringt er nicht übers Herz. Sein Ruf als »Sandalphon, der Seelentröster für ältere Damen« ist dank Madame legendär.
»Genauer gesagt, geht es um Mord«, zischelt kaum hörbar die Gesprächspartnerin in seine Gedanken.
Wie bitte?
Helmut räuspert sich. Das kann nicht sein, er muss sich verhört haben.
»Äh, sind Sie mit dem Tarot vertraut, oder darf ich es kurz erläutern?«, fragt er, um Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln.
»Ich habe mir die Karten bereits selbst gelegt«, wehrt die Wattestimme forsch ab. Und klingt plötzlich erstaunlich nüchtern. »Das Liebesorakel. Ich brauche nur eine zweite Meinung bezüglich der Quintessenz.«
Puuh! Helmut atmet erleichtert auf. Das Liebesorakel. Er muss sich eben völlig verhört haben. Die Dame nuschelt wirklich gewaltig. Mord. Also wirklich! Und was den Tod des Gatten angeht – vielleicht spricht ja am anderen Ende eine Witwe, die sich neu verliebt und darum ein schlechtes Gewissen hat.
Das Liebesorakel ist eine leichte Legung mit vier Karten. Sehr überschaubar. Dürfte schnell gehen. Bei Erstberatungen sind ohnehin maximal zehn Minuten Gesprächszeit erlaubt, dann schaltet sich das Band ein.
Das scheint auch die Anruferin zu wissen, die bereits die Namen der vier gezogenen Karten und ihrer Positionen herunterrattert wie der Dealer eines Black-Jack-Casinos die Kartenwerte.
Helmut stellt die Legung auf seinem Bildschirm per Mausklick nach. Heiwei, schön sieht das nicht aus: eine grausame Schwertkarte, eine todtraurige Kelchkarte und »Der Gehängte«. Nicht gut. Na, immerhin liegt an erster Stelle und somit als Themenkarte der Beziehung das Bild der Liebenden aus. Nackt wie im Paradies steht ein Paar beieinander, gesegnet von Erzengel Michael.
Helmut gratuliert zu den tiefen Gefühlen, die zwischen der Anruferin und ihrem Partner schwingen, fabuliert von einer Beziehung zwischen Seelenzwillingen und ruft per Rechtsklick das Stichwortkästchen »Kartenbedeutung« auf, als ihm die Worte auszugehen drohen.
Wie er nicht anders erwartet hat, ist von Hochzeitsglück, beständiger Liebe und traumhaften Aussichten die Rede. Einziger Wermutstropfen: Erzengel Michael ist unter anderem für den Rauswurf aus dem Paradies zuständig. Das könnte auf Trennung hinweisen. Den Aspekt lässt er besser weg. Jetzt muss er sein detektivisches Gespür bemühen, um persönlicher zu werden. Hm, der fallengelassene Telefonhörer beim ersten Anruf und die brüchige Stimme deuten auf eine ältere Dame hin. Sein Spezialgebiet.
Er wagt einen Schuss ins Blaue: »Ihre Ehe ist von einzigartiger Harmonie geprägt und das seit, äh, vielen, vielen Jahren.«
»Sparen Sie sich die Gefühlsduselei, das habe ich nach fünfundvierzig Jahren Ehe hinter mir«, schnappt die Anruferin dumpf. »Wir sind seit 1972 verheiratet.«
Helmut gerät ins Schwitzen. Er würde die letzten Gratisminuten gern bei Harmonie und Liebe verweilen, aber alles, was die Karten für das Paar in petto haben, ist schwer bis gar nicht schönzureden. Falls am Tarot irgendetwas dran sein sollte, droht eine Katastrophe. Die Karte »Fünf der Kelche« auf Position zwei steht für die Gefühle der Anruferin und ist ein Bild von grenzenloser Einsamkeit und Kummer – wie sein virtuelles Stichwortverzeichnis verrät.
Er sieht es auch selbst: Vor einem grauen Himmel, so grau, dass man ihn trösten möchte, wie Jacques Brel mal gesungen hat, steht vom Betrachter abgewandt eine trauernde Gestalt. Wie versteinert steht sie da, eingehüllt in einen schwarzen Umhang und Schmerz. Vor ihr liegen drei umgestoßene Kelche, blutrot versickert der Inhalt im Boden. Er wird sich auf die kleine Brücke im Hintergrund konzentrieren müssen und auf die zwei noch gefüllten Kelche, die die trauernde Gestalt nicht sieht, weil sie hinter ihr aufgereiht sind.
»Ihnen stehen eine Reise und ein Neuanfang bevor«, beginnt Helmut aufmunternd.
»Das ist mir nicht neu«, stöhnt die Anruferin, »am Samstag fahren wir ins Kloster Sternthal im Westerwald, aber wie geht’s da weiter?«
Gar nicht gut, wenn man der Karte »Drei Schwerter« Glauben schenkt. Drastischer kann man den jähen Tod einer Liebe nicht darstellen: Drei scharfe Klingen durchbohren ein signalrotes Herz, am farblosen Himmel dahinter regnet es aus schweren Wolken. Sieht aus wie ein Seemannstattoo und erinnert Helmut spontan an seine Zeit auf Kreta nach Penelopes plötzlichem Tod.
Ach was, Tarot ist blanker Unsinn!
»Sie reisen in ein Kloster? Ein wundervoller Ort, um einmal ganz mit sich selbst in Kontakt zu kommen.«
»Wohl kaum. Ich reise mit meinem Mann«, kontert die Kundin bitter. »Zum allerletzten Mal«, fügt sie an.
Helmut wird wieder mulmig zumute. In der Stimme schwingt Zorn mit. Das kann vorkommen bei Ehen, die in die Jahre kommen, aber dieser Zorn klingt nach Schiller und Weibern, die zu Hyänen werden.
»Bleiben wir bei der Klosterreise«, sagt er so milde wie möglich. »Im Zusammenhang damit scheint mir die etwas erschreckende Herzkarte dringlich den Weg nach innen zu empfehlen. Vielleicht sollten Sie Ihre seelischen Wunden einmal erforschen. Überdies könnten Sie sich fragen, ob Sie Ihrem Mann vielleicht auch Verletzungen zugefügt haben …«
Wenn er weiter so rumsülzt, wird ihm schlecht.
»Das kommt erst noch«, geht die Anruferin brüsk dazwischen.
»Was?«
»Die Verletzungen. Das zeigt die nächste Karte ja wohl klarer als glasklar.«
Die nächste Karte ist der Gehängte. Kopfüber baumelt ein Delinquent an einem T-förmigen Galgen aus Baumstämmen. »Himmel, was hat das wieder zu bedeuten?«, hört Helmut sich selbst laut fragen. Er steht unter Schock.
»Dass mein Mann sterben wird. So sicher wie das Amen in der Kirche«, kommt die Antwort. »Können wir endlich zur Quintessenz kommen?«
Je schneller, desto besser, findet Hermann, dem das Telefonat richtig unheimlich wird.
Verdammt, ausgerechnet jetzt streikt das komplette Programm, es reagiert nicht auf den Befehl »Quintessenz anzeigen«. Da heißt es Kopfrechnen. Wie ging das noch? Ach ja. Die Quintessenz – und damit die Schlussfolgerung und die Zukunftsaussicht der Legung – ergibt sich aus der Quersumme der Kartenzahlen. Mal sehen: Fünf Kelche plus drei Schwerter sind zusammen acht, plus die Zahl sechs für die Liebenden und zwölf für den Gehängten, macht sechsundzwanzig, und das ergibt als Quersumme acht.
Er entsinnt sich dunkel, dass die Acht eine vertrackte Karte ist. Bei manchen Decks steht sie für Mut und Leidenschaft und zeigt eine Frau, die einem Löwen so furchtlos wie beherzt das Maul aufreißt. Aber das ist historisch falsch, und bei Drittes Auge – Tarot für alle Lebenslagen gilt die traditionelle Kartenzählung nach dem Marseille-Tarot von 1713. Aber wofür stand da noch mal die Acht?
»Sind Sie noch dran?«, fragt es am anderen Ende ungeduldig, ganz so, als stünde die Anruferin kurz vor einer Explosion. Hoffentlich hört die Servicekontrolle nicht mit.
»Ich hab’s!«, entfährt es Helmut, als vor seinem inneren Auge das Bild der Karte entsteht. Es zeigt eine Justitia mit dem Schwert in der rechten und der Waage in der linken Hand, aber ohne Binde vor den Augen. »Es geht um wahre Gerechtigkeit.«
»Bedeutet das, ich komme dafür in den Knast?«, kommt es vom anderen Ende.
»Wofür?«
Ein hohles Schluchzen dringt durch die Leitung. »Sie sind so hellsichtig wie ein Maulwurf – für den Mord an meinem Mann natürlich!«
»Ihre kostenlose Erstberatung ist beendet«, mischt sich säuselnd die elektronische Bandansage ein. Sphärenklänge wabern durch die Leitung, kraftvoll untermalt von St.Brunos Glocken, die zwölf Uhr Mittag läuten.
Helmut starrt entsetzt auf seinen Laptop, mit zitternder Hand reißt er sich das Headset vom Kopf. Wurde ihm da wirklich gerade ein Mord angekündigt? Hoffentlich hat die Servicesicherung das alles mitgeschnitten!
»Wir müssen sofort los und etwas unternehmen, Herr Gier«, verlangt Hildchen Trautwetter und nimmt nicht, wie gebeten, vor seinem Schreibtisch Platz. Sie nimmt überhaupt nie vor ihm Platz, wenn er sie darum bittet, und pflegt ihren Schrubber resolut wie einen Marschallstab vor sich herzutragen. Man könnte meinen, sie nimmt ihn nicht ernst.
Für eine Putzfrau – zugegeben eine äußerst gründliche, sie entstaubt sogar die Tastaturen und poliert die Telefone – ist diese Frau verdammt selbstbewusst und vereinnahmend. Was bitte schön soll das Wörtchen »wir«? Und der Koffer?
Statt ihres Schrubbers umklammert Hildchen diesmal die Teleskopstange eines silbern blinkenden Samsonite-Spinners. Seines Samsonite-Spinners. Frechheit! Alexander Gier deutet über seinen Schreibtisch hinweg auf den Bordkoffer. »Darf ich fragen, wo Sie den herhaben?«
Er fragt möglichst lässig. So cool und unbeteiligt, wie sich das gehört für einen erfolgreichen Entwickler medizinischer Software, dessen Startup-Firma zwar nur in einem bescheidenen Mehrzweckbau in einem Wermelskirchener Gewerbepark residiert, dafür aber auf dem Sprung nach oben ist. Das Donnerwetter hebt er sich für den Schlussakkord auf, wenn er Frau Trautwetter aus seinem Büro werfen wird. Am besten für immer.
Ja, beschließt Alexander spontan, er wird sie rausschmeißen. Es langt. Dinah, seiner persönlichen Assistentin – aka Tippse – wird er ebenfalls gehörig den Kopf waschen. Was fällt der ein, diese Nervensäge überhaupt zu ihm vorzulassen?
Hildchen wirft einen kurzen Blick auf den Koffer. »Den Koffer? Na, den habe ich natürlich aus Ihrem Schlafzimmer«, erwidert sie mit angriffslustigem Blick im herzförmigen Gesicht und lässt den rechten Zeigefinger wie einen Lift in Richtung Decke hin- und hersausen. Über ihnen liegt sein Firmen-Appartement. Leider putzt sie da auch.
Und nicht nur das, wie Frau Trautwetters nächste Worte beweisen.
»Ich habe alles Notwendige für eine Woche eingepackt. Viel brauchen Sie im Kloster ja nicht. Die zerknüllte Unterwäsche Ihres letzten Damenbesuchs, die neben dem Koffer lag, habe ich übrigens entsorgt. Sie liegt bereits vier Monate unter dem Bett. Davon wird sie ja nicht schöner. Oder kommt die Dame noch mal wieder? Dann kann ich sie natürlich auch zu den Hinterlassenschaften Ihrer anderen Bekanntschaften legen. Ziemlicher Haufen. Man weiß gar nicht, was da zueinander gehört. Oder blicken Sie noch durch?«
Alexander stöhnt innerlich auf. Was für unverschämte Fangfragen! Jetzt bloß nicht reagieren. Seine gelegentlichen Damenbesuche gehen die Trautwetter nichts an. Überdies kann er sich an die meisten Damen – na ja, viele Damen werden nicht darunter gewesen sein – kaum erinnern. Irgendwann wird er mal an seinem Frauengeschmack feilen, aber jetzt geht der Deal mit London vor.
»Herr Gier?«, fragt die dreiste Trautwetter fordernd in die Stille. »Hören Sie mich noch?«
Alexanders Blick kehrt demonstrativ zum Bildschirm seines Laptops zurück, er muss die neuesten Einschätzungen seiner Analysten prüfen. Beim letzten Meeting hatten sie noch Bedenken bezüglich der Marktreife seiner Verschlüsselungs- und Abrechnungssoftware für Krankenhäuser, trotzdem liegt ein Übernahmeangebot aus London vor. Für seinen kompletten Laden. Ein Millionending. Wenn er das durchzieht, ist er frei und kann endlich machen, was er will.
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie mit mir sprechen würden«, verlangt Hildchen Trautwetter dreist. »Immerhin geht es um Leben und Tod.«
»Ich kann gleichzeitig lesen und reden«, bekundet Alexander. Leben und Tod – die hat sie ja nicht alle!
»Wie effizient. Vielleicht sollte ich es mit ein paar Kapiteln Vom Winde verweht versuchen, während wir uns unterhalten?«
Er hätte diese penetrante Putzlappen-Plage niemals einstellen dürfen. Auch nicht Helmut zuliebe, und schon gar nicht, weil er selbst in ferner Vergangenheit mal bei ihr in den Kindergarten gegangen ist und sie »Tante Hildchen« nennen musste oder wollte. Mit vier, fünf Jahren ist so was Usus. Mit 34 hingegen braucht man keine Kindergartentanten mehr. Gleichgültig, was er seinem Onkel gelegentlich zu schulden glaubt, die Trautwetter ist eine Heimsuchung.
»Haben Sie wenigstens noch mal versucht, mit Helmut zu sprechen?«, verlangt sie zu wissen.
»Ich habe vor drei Tagen mit ihm telefoniert und ihm geraten, die Polizei einzuschalten, die – wie er mir später mitgeteilt hat – nichts zu unternehmen gedenkt. Was zu erwarten war. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Und das ist auch gut so.
»Und was gedenken Sie zu unternehmen?«, fragt Frau Trautwetter.
»Dasselbe wie die Polizei: nichts.«
»Das lasse ich nicht zu!«, schnaubt die Trautwetter. »Sie kommen jetzt sofort mit mir mit. Wir reisen nach Sternthal!«
Unfassbar, was diese Frau sich rausnimmt. Ständig belästigt sie andere Menschen mit ihrer übergriffigen Fürsorglichkeit. Bringt Süßes und Selbstgebackenes für seine Mitarbeiter mit und für Dinah kunterbunte Blumen aus dem Schrebergarten, die im Nu verwelken und seinen Heuschnupfen triggern. Zu allem Überfluss liegt sie ihm ständig in den Ohren, er solle sich mehr um Helmut kümmern. Aber das heute ist der Gipfel.
Zeit für Klartext.
Alexander löst kurz den Blick vom Bildschirm. »Frau Trautwetter, Ihre Anteilnahme und Ihr Interesse für die Angelegenheiten meines Onkels ehren Sie, aber diese Tarot-Geschichte ist ausgemachter Blödsinn. Niemand ruft bei einer Hotline an, um einen Mord anzukündigen! Das Ganze war ein schlechter Scherz.«
»Und wenn nicht?«
»Frau Trautwetter, mein Onkel sagt selbst, die Frau klang ziemlich seltsam oder betrunken.«
Und Helmut ist prompt auf sie hereingefallen. Sein innerer Abenteurer muss mal wieder mit ihm durchgegangen sein. Außerdem hat er ein seltenes Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Erst recht, wenn es um Frauen in Not geht. Wie damals in der Türkei. Oder auf Kreta, wo er vor zwanzig Jahren betrunken seinen Club abgefackelt hat. Fest steht: Seit er mit siebzehn von zuhause abgehauen ist, um zur See zu fahren, hat Helmut nichts als Ärger gemacht. »Ein geborener Taugenichts«, hat schon Helmuts Vater, also sein Großvater, ihn immer genannt. Okay, na ja … Alexander richtet sich auf. Sein Großvater war ein verhärmter Griesgram, kalt wie Hundeschnauze. Herrje, mit was er sich plötzlich alles beschäftigt, seit der Onkel wieder im Lande ist.
Familie ist einfach nur lästig.
»Betrunken oder nicht«, meldet sich Frau Trautwetter erneut zu Wort. »Wir müssen los!«
»Ich arbeite!«
Alexander schielt zurück zum Bildschirm seines Laptops, eine Mail poppt auf. London! Frau Trautwetter ist vergessen. Das könnte das Angebot sein. Er tippt auf Öffnen. Dear Mr.Gier …
Weiter kommt er nicht.
Hildchen Trautwetter klappt von hinten – schwupps – den Laptop zu.
»Frau Traut…«, fährt Alexander hitzig auf. Hitziger, als ihm als geschultem Pokerface lieb ist. Gefühlsbekundungen wirken entsetzlich unsouverän. Erst recht vor seiner ehemaligen Kindergartentante.
»Das muss warten«, nutzt Frau Trautwetter seinen emotionalen Ausrutscher und fällt ihm resolut ins Wort. »Hier geht es um Ihren einzigen noch lebenden Verwandten.«
»Das kann nicht warten«, zürnt Alexander bemüht verhalten. »Ich bin mitten in äußerst sensiblen Verhandlungen über einen Softwaredeal.«
»Herr Gier, wir müssen einen Mord verhindern«, beharrt Hildchen Trautwetter auf Helmuts fixer Idee.
Gute Güte, kommt für alte Leutchen nichts Spannendes mehr im Fernsehen? Oder vielleicht zu viel?
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie jetzt mein Büro verlassen würden. SOFORT!«, wird Alexander laut, sehr laut, manchmal hilft nichts anderes.
»Ich gehe nur, wenn Sie mitkommen. Die Klosterwoche beginnt morgen, Anreise ist bereits heute ab 17 Uhr, und wir haben von Wermelskirchen bis in den Westerwald gut drei Stunden Fahrtzeit vor uns. Das Kloster liegt sehr einsam, inmitten von Wäldern. Ein idealer Ort für einen Mord. Schau an, das reimt sich sogar.«
Und klingt wie eine schlechte Folge Polizeinotruf oder einem uralten Derrick, findet Alexander. Er erhebt sich hinter seinem Schreibtisch, stützt die Hände auf, beugt sich bedrohlich vor, hebt die rechte Braue. Bei seiner stattlichen Größe von einem Meter neunzig und dank seiner sorgsam erarbeiteten Fitnessstudiofigur reicht das normalerweise, um Mitarbeiter einzuschüchtern.
Frau Trautwetter weicht keinen Zentimeter.
Es ist eindeutig von Nachteil, dass er schon mal als Krepppapier-Pusteblume beim Frühlingsfest der »Kleinen Kröten« vor ihr gestanden hat und Alle Vögel sind schon da singen musste. Da hilft nichts, er muss das Donnerwetter vorziehen.
»Ich sage es Ihnen jetzt zum letzten Mal: Es gibt keinen Mord im Kloster oder sonst wo, und ich denke nicht daran, wegen Helmuts Hirngespinsten in irgendeiner Form aktiv zu werden«, ereifert sich Alexander. Zu seinem Ärger muss er feststellen, dass sein Tonfall etwas Schrilles bekommt. »Und außerdem: Sie sind gefeuert!«
Klingt fast wie Trotzanfall.
Hildchen zieht den Koffer in einer eleganten Kurve direkt vor ihre Knie, reckt das Kinn, strafft die Schultern, setzt eine halb tadelnde, halb enttäuschte Kindergärtnerinnen-Miene auf. Was kommt jetzt? Will sie ihn auf die stille Treppe verbannen?
»Helmut weiß genau, wovon er redet«, sagt sie ruhig. »Er kennt sich bestens aus mit Mördern. Schließlich hat er dank Ihrer Familie zwei Jahre lang mit übelsten Vertretern dieser Spezies im türkischen Knast verbracht.«
Oh nein, nicht wieder diese Platte!
»Das kann man so nicht sagen«, trotzt Alexander und bemerkt zu spät, wie kläglich abwehrend, fast nachgiebig er klingt.
»Ach nein? Wie denn dann? Helmuts Vater und sein Bruder – Ihr Vater – haben ihn damals jedenfalls nicht da rausgeholt. Nicht mal einen Anwalt hat Ihre Familie bezahlt, stattdessen hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als Helmuts Erbanteil zu streichen. Wenn es nach denen gegangen wäre, wäre Helmut dort unten verreckt! Ihr eigener Onkel! Und wie war das nach der Sache auf Kreta? Eine Tragödie, aber niemand aus Ihrer Familie hat sich gekümmert, keiner hat kondoliert. Ich denke, Sie schulden ihm was. Sie schulden ihm sogar eine ganze Menge.«
»Ich habe ihm oft genug Geld angeboten«, verteidigt sich Alexander erzürnt. »Seinen kompletten Erbteil samt Zinseszins. Er nimmt es nicht.«
»Weil er etwas anderes von Ihnen möchte«, sagt Hildchen mit einer Stimme, die klingt, als sei Honig reingetropft. Sie pausiert kurz, um Luft zu holen. »Von gewissen Dingen kann man sich nicht mit Geld freikaufen, Herr Gier. Das wissen Sie doch. Schließlich haben Sie ein Herz. Da kommen sie ganz auf Helmut. Na ja, ein bisschen jedenfalls.«
Gut zehn Minuten später findet sich Alexander – kaum wissend, wie ihm geschehen ist – auf dem Parkplatz des Mehrzweckbaus wieder. Dinah, dieses Luder, hat ihm frech »schöne Ferien« gewünscht, während Hildchen Trautwetter das Kommando übernommen hat.
Sie rollert mit seinem Samsonite in der rechten Hand und ihrer Reisetasche über dem linken Arm auf einen schwarzen Mercedes SUV zu. Vor dem protzigen Geschoss steht ein ältliches Pärchen. Das darf nicht war sein, noch mehr Rentner! Und anscheinend die Fahrzeughalter.
Hildchen winkt ihnen unter Huhu!-Rufen zu.
Alexander wundert sich. Woher hat Helmut plötzlich so viele Freunde? Noch dazu lauter bekloppte: Das Pärchen ist offensichtlich in ein Streitgespräch verwickelt, und beide sehen aus wie Witzfiguren. Der männliche Teil des Duos erinnert an eine Edelparodie auf einen Eintänzer beim Tanztee im Altenheim: Maßanzug mit Weste, Lackschuhe, Einstecktuch und ein Panamahut bilden sein Outfit. Die üppige Dame neben ihm präferiert eine Art späten Space-Hippie-Look: Hennarot gefärbte Locken und ein Klimbim aus Federn und Perlen um den Hals kombiniert sie mit kreischbunten Gewändern und einer Tücherwolke. Könnte es sich um eine alte Bekannte aus Helmuts Tagen als Magic-Bus-Fahrer auf dem Hippie-Trail Richtung Indien handeln?
Früher, ganz früher, als er ein kleiner, dummer Junge war, hätte ihn diese Frage ohne Zweifel brennend interessiert, so wie Seemann Helmuts ganzes abenteuerliches Leben, jetzt wahrt Alexander lieber einige Meter Abstand, als er und Hildchen bei den beiden ankommen.
»Darf ich vorstellen?«, ruft eine mittlerweile sehr fröhliche Frau Trautwetter und schiebt, ja, schubst ihn geradezu auf die Henna-Hippie-Tante zu, die ihn mit silberblauem Laserblick einem anzüglichen Body-Scan unterzieht.
»Das sind Veronika Dornbusch-Bommelbeck, eine alte Schulfreundin von mir, und ihr Partner Lothar E. Schuknecht, ehemaliger Oberstaatsanwalt in Köln. Die beiden betreiben in Veronikas Postfiliale in Biblinghausen bei Dabringhausen eine Detektivagentur und haben bereits erfolgreich zwei Mordfälle bearbeitet. Ich bin mir sicher, sie werden uns und Helmut bei der Aufklärung des mysteriösen Anrufes eine große Hilfe sein! Ihre Honoraransprüche sind zivil – von den Reisespesen einmal abgesehen. Das Monastère im Westerwald ist leider ein sehr hochpreisiges Klosterhotel.«
»Für dich, Hildchen, mache ich deinem Chef einen Freundschaftspreis«, versichert Veronika Dornbusch-Dingsda und zwinkert ihm zu.
»Heißt das etwa, ich soll diese Senioren-Kaffeefahrt für Bekloppte auch noch bezahlen?«, zischt Alexander empört in Hildchens Ohr.
Seine Wischmoppfee überhört ihn geflissentlich und öffnet die Kofferraumklappe. Dafür holt der Eintänzer zu scharfem Protest aus. »Sie müssen überhaupt nichts bezahlen, weil es nichts zu bezahlen geben wird. Zum Teufel nochmal!«, bemerkt der Oberstaatsanwalt a.D. erbost. »Ich bin als Privatier unterwegs und habe nicht vor, irgendjemandem irgendwobei eine Hilfe zu sein. Schon gar nicht im Westerwald.« Er spricht den Namen der Mittelgebirgsregion so aus, als handele es sich um eine Krankheit oder ein Seuchengebiet.
»Womit Sie Ihrem edlen Charakter auf das Schönste treu bleiben«, giftet Frau Dornbusch und wuchtet Alexanders Bordkoffer in den SUV. »Aber hier auf dem Land läuft das anders. Man hilft einander in allen Lebenslagen.«
Der Oberstaatsanwalt antwortet mit mordlustigem Seitenblick: »Frau Dornbusch-Bommelbeck, Sie haben mir eine Überraschungsreise in Form einer Vier-Sterne-Schlemmerwoche in denkmalgeschützter, intimer Umgebung avisiert. A deux! Ich weigere mich, an irgendeinem gruppendynamischen Blödsinn in der finstersten Provinz teilzunehmen, der auf einer Ihrer absonderlichen Verbrechensfantasien fußt. Der Westerwald ist doch ein weißer Fleck auf der kulinarischen Landkarte.«
Oha, scheint ganz so, als habe er mit dem juristischen Eintänzer einen Mitstreiter in Sachen Vernunft gefunden!
»Keine Bange, Sie bekommen Ihre Überraschungsreise, Schuknecht«, pariert Frau Dornbusch ungerührt, »mit ein paar klitzekleinen Programmänderungen. Und jetzt steigen Sie ein, ich will nicht im Dunkeln ankommen. Man muss Verbrechervisagen bei Tageslicht unter die Lupe nehmen. Außerdem gibt es heute noch eine Olivenöl-Verkostung mit dem Chefkoch Vittorio Lambaste. Er ist Italiener und geprüfter Sommelier für Weine und Gourmetöle.«
»Lambaste, Sie meinen den Lambaste?«, horcht Herr Schuknecht auf, und seine Augen bekommen einen glückseligen Glanz. »Und Olivenöl«, fügt er allem Anschein nach völlig überwältigt hinzu.
»Unter anderem toskanisches, aus Frantoio- und Leccino-Oliven, sorten- und standortrein, händisch gesammelt und direkt nach der Ernte kalt extrahiert«, rattert Frau Dornbusch-Dingsda herunter. Das muss sie auswendig gelernt haben.
»Wir fahren wirklich zum Gott der Cucina Italiana?«, will Schuknecht wissen, und der Glanz in seinen Augen bekommt etwas Fiebriges. »Der Herr der weißen Trüffel, des Ossobuco und des einzig wahren Ragù alla bolognese, der vom Gault-Millau zum Koch des Jahres gekrönt wurde, in München kurz vor einem Stern im Guide Michelin stand und dann – nach seinen bedauerlichen TV-Abenteuern – komplett von der Bildfläche verschwunden ist?«
Frau Dornbusch nickt langsam. »Lambaste ist zurück«, haucht sie. Ihr Blick bekommt etwas Verführerisches, oder täuscht Alexander sich da? Überhaupt liegt plötzlich eine Art Knistern zwischen beiden in der Luft, das er gewöhnlich nicht mit Essen in Verbindung bringen würde.
»Das nenne ich einen spannenden Fall! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt«, freut sich Schuknecht.
»Ich wollte Sie doch überraschen«, schnurrt Frau Dornbusch sanft wie ein Kätzchen, das soeben den Sahnetopf ausgeschleckt hat. »Vittorio Lambaste hat im Westerwald vor wenigen Monaten und nach aufwendigen Renovierungsmaßnahmen einen exklusiven kleinen Gourmettempel samt Wellnesshotel auf dem historischen Gelände des Klosters Sternthal eröffnet. Jetzt veranstaltet er seine erste große Schlemmerwoche. Mit ausgewählter Prominenz und Liebhabern seiner Kochkunst, heißt es. Da müssen Sie doch dabei sein!«
Zu Alexanders Erstaunen steigt der Staatsanwalt ohne weiteren Protest ins Auto. Er hopst geradezu ins Körbchen.
Essen scheint tatsächlich die Erotik des Alters zu sein.
Garniert mit komplett absurden Mordphantasien.
Veronika Dornbusch nimmt die nächste Haarnadelkurve und wirft einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel. Sehr gut, das Olivenöl tut nach wie vor seine heilsame Wirkung: Schuknecht schmökert auf dem Rücksitz glückselig in Gourmetmagazinen und einem Kochbuch des angeblich legendären Asturi Pellegrino, einem Landsmann Lambastes aus der Emilia-Romagna. Beides hat sie ihm aus ihrer Biblinghauser Postfiliale und Zeitungshandlung mitgebracht. Teures Zeug, keine ollen Remittenden, aber was tut man nicht alles, um einen Mord zu verhindern.
Schuknechts Sitznachbar Alexander Gier wischt hektisch auf einem Tablet herum und schmollt, weil der Staatsanwalt a.D. ihm gleich zu Beginn der Fahrt das Telefonieren verboten hat.
»Fernmündliche Privatgespräche sollten privat bleiben und keine Unbeteiligten belästigen«, hat er verfügt. »Schon gar nicht mit inhaltsleerem Geschwätz.«
»Ich habe keine Zeit für Geplapper, ich muss Geschäftsgespräche führen«, hat Alexander Gier zurückgekläfft und sein Tablet herausgeholt.
»Wussten Sie übrigens, dass es inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass Smartphones und Touchpads zu einer mentalen Demenz führen?«, hat Schuknecht mit maliziösem Unterton gekontert. »Es soll Kindergartenkinder geben, die beim Anblick von Aquarien die Finger auf die Scheiben legen, darüberwischen und sich wundern, dass die Fische sich nicht automatisch vergrößern lassen. Ich halte diesen ganzen digitalen Unsinn – mit Verlaub – für ein Verbrechen an der Zivilisation.«
»Dieser digitale Unsinn ist unsere Zukunft«, hat Alexander geschnaubt. »Also meine, Sie haben ja nicht mehr allzu viel davon.«
Hildchen Trautwetter hat das unschöne Duell mit einem tadelnden Blick beendet, den Alexander noch aus seinen Kindergartentagen kennen müsste.
Kurzfristig hatte es auf dem Parkplatz ja so ausgesehen, als könnten Schuknecht und dieser Alexander sich verbrüdern und die Reise torpedieren, aber das Handyverbot hat Herrn Gier in einen überzeugten Gegner Schuknechts verwandelt. Sich Feinde zu machen ist eine von Schuknechts leichtesten Übungen.
Gleich wird sie dem ollen Knötterpilz den Prospekt der Klosteranlage Sternthal nach hinten reichen und die klitzekleinen Programmänderungen in Sachen Schlemmerwoche erläutern müssen.
Das wird noch mal heikel. Als sie Schuknecht vorhin auf dem Parkplatz in Wermelskirchen verraten hat, dass der eigentliche Anlass ihrer Reise der mögliche Hotline-Mord ist, ist der zum Rumpelstilzchen mutiert. Dummer Kerl! So einen spannenden Fall kann man doch nicht ausschlagen.
Veronikas Blick streift das eingebaute Navigationssystem. Es zeigt eine äußerst kurvenreiche Berg- und Talfahrt und eine verbleibende Fahrtzeit von einer halben Stunde bis Sternthal an. Na, fünf Minuten wird sie mit dem Prospekt und ihren Erläuterungen noch warten, dann hat der Staatsanwalt a.D. nicht allzu viel Zeit für seinen nächsten Tobsuchtsanfall.
Und der ist garantiert.
Die Straße wird schmaler, windet sich tiefer in einen Wald, als suche sie darin ein Versteck. Biblinghausen ist ja schon reichlich abgelegen und schwer zu finden, aber hier sind sie wirklich mitten im Nirgendwo angekommen.
»Da, das erste Hinweisschild für Sternthal«, reißt ihre Beifahrerin Hildchen Trautwetter Veronika aus ihren Gedanken.
Tatsächlich steht am Straßenrand zwischen schwindelerregend hohen Tannen und einer Schlehenhecke ein braun-weißes Schild mit einem Klosterpiktogramm. Es ist ein zweigeteiltes Piktogramm, denn Sternthal ist ein zweigeteiltes Ensemble, ein ehemaliges Doppelkloster mit einem prachtvollen barocken Gebäude für Mönche und einem weniger prachtvollen für Nonnen, dabei waren die schon seit dem Mittelalter hier. Die Gebäude, oder das, was davon übrig ist, liegen recht weit auseinander und inmitten eines einsamen Tals. Früher, also ganz, ganz früher, haben Sternthal mal der halbe Wald, riesige Ackerflächen und sogar ein paar Weinberge am Rhein gehört. Ein Netz von Pilgerwegen kreuzte sich hier.
»Sie wollten mir noch den Prospekt des Klosters geben«, erinnert sich auf der Rückbank Schuknecht.