Rentner halten heute länger - Ellen Jacobi - E-Book

Rentner halten heute länger E-Book

Ellen Jacobi

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Beschreibung

Rentnerin Annemie ist außer Schulden wenig geblieben - nur eine Schrottimmobilie auf Rügen, in die sie und ihr verstorbener Mann vor Jahren blind investierten. Um das heruntergekommene Anwesen für den Verkauf wieder in Schuss zu bringen, hat sie eine Idee: Warum nicht eine Kommune gründen, in die jeder seine Tatkraft und seine Finanzen gegen lebenslanges Wohnrecht einbringt? Tatsächlich findet sich auf ihre Annonce bald ein munteres Grüppchen ein. Doch niemand ist, wer er zu sein vorgibt ...

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Seitenzahl: 354

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Anzeige

1.

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Epilog

Über die Autorin

Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Köln.

Ellen Jacobi

RENTNERHALTEN HEUTELÄNGER

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durchdie Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2017 by Ellen JacobiCopyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Dr. Stefanie HeinenTitelillustration: © Gerhard GlückUmschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4064-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Christian Schims,einen wunderbaren Buchpaten und Motivator.

www.Abendrot-WG.comDas Portal für aktive Senioren und alternatives Wohnen

Inserat 127 – Paradies in PriesewitzWir suchen Rentner mit Niveau für eine Wohngemeinschaft auf einem historischen Rittergut

Region: Ferieninsel Rügen (!)

Kostenloser Probemonat

Eingestellt: April 2016

Kontaktperson: Annemie Mompart

Gültig: ab sofort

Gemeinsam statt einsam im Paradies von Priesewitz

Rentner, aufgepasst! Wir erfüllen Ihren Traum von einem sonnigen, sorgenfreien Lebensabend. Wohnen Sie ab sofort und auf Wunsch für immer auf Deutschlands größter Insel inmitten von paradiesischer Natur, in gesundem Seeklima, bei 1800 Sonnenstunden im Jahresschnitt, im Kreis anregender Menschen und zu einer unschlagbar günstigen Miete:6 Euro pro qm! Nebenkosten max. 1,20 Euro/qm/Monat, Wasser und Strom nach Zähler, Kaution 3 Monatsmieten.

Einmalig und nur jetzt bieten wir Best Agern 55plus einen Monat kostenloses Probewohnen auf dem ehemaligen Rittergut Priesewitz. Der denkmalgeschützte Dreiseithof liegt unweit der entzückenden, ehemals fürstlichen Residenzstadt Putbus auf Rügen. Das berühmte Seebad Binz direkt am perlweißen Ostseestrand ist mit dem Auto 18 Minuten entfernt (ohne Verkehr, in der Nebensaison).

Auch Aldi, Netto, Ärzte, Apotheken – also alles, was man braucht – liegen nur knapp 9 km entfernt. Nach Bedarf können wir einen geländetauglichen Lada Niva zwecks Einkaufsfahrten, Arztbesuchen, Inselerkundungen etc. für die Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Für sportliche Senioren halten wir Räder vor (ohne Aufpreis, auf Anfrage). Reitpferde und Segeljollen können in der näheren Umgebung kurzfristig gebucht werden.

So wohnen Sie:

Gut Priesewitz liegt in solitärer Lage umgeben von einem Buchenwäldchen und der lieblichen Hügel- und Ackerlandschaft am Rande des Biosphärenreservates Südost-Rügen. Eine großflächige Bebauung in unmittelbarer Nähe ist ausgeschlossen. Hotelkomplexe oder Wellnesskliniken haben hier keine Chance! Himmlische Ruhe ist und bleibt, von gelegentlichen Dampflokpfiffen des Rasenden Roland abgesehen, garantiert.

Das Unterkunftsangebot besteht aus sechs ehemaligen, teilweise sanierten Landarbeiterkaten in Sichtweite des pittoresken Herrenhauses von 1850 (unsaniert, noch in Fremdbesitz).

Die Wohnfläche beträgt pro Einheit 80 qm inklusive Dachkammern (idealer Schlafbereich mit Blick auf Bäume!). Handwerklich begabte Mieter erhalten bei zupackender Mithilfe später Mietnachlass. Auch der Erwerb der Katen und eines Eigentumsanteils an Priesewitz inklusive Land ist möglich.

Jede Kate verfügt über ein Bad, eine Kochgelegenheit und charmante historische Kamine und Öfen. In einer ehemaligen Maschinenhalle vis-à-vis der Katen sollen eine Gemeinschaftsküche und ein Saal für evtl. Veranstaltungen und gemeinsames Feiern entstehen (Nutzung als Restaurant ebenfalls möglich! Existenzgründer der Generation Gold sind willkommen).

Für die Kreativen gibt es darüber hinaus die Möglichkeit, Ateliers, Werkstätten oder Bastelräume in den Geräteschuppen und dem Gewächshaus der ehemaligen Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft »Frohes Schaffen« anzumieten und einzurichten (2 Euro/qm).

Das teils parkähnliche Grundstück und der Innenhof laden ein zum Hobbygärtnern, Relaxen und Grillen etc.

Wer es eilig hat, kann natürlich auch sofort als Festmieter oder Eigentümer einziehen und überzählige Möbel in leeren Gebäudeteilen zwischenlagern.

Wen suchen wir?

Es handelt sich bei Priesewitz nicht um eine komplett durchsanierte Luxusanlage, sondern um eine einzigartige Immobilie mit Charakter, die durch solidarisches Miteinander und Kreativität wachsen soll. Daher suchen wir mutige Individualisten, lebenslustige Aussteiger und Querdenker mit Freude am Unkonventionellen, denen ein Miteinander und Füreinander im Alter am Herzen liegt.

Die nach eigener Einschätzung lockere, aber nicht gewissenlose Besitzerin (Rentnerin und Rheinländerin »mit Hätz!«) sowie ein alteingesessener Rüganer als Hausmeister leben mit Ihnen vor Ort.

Aufgrund gemachter Erfahrung folgende Bitte: Wir suchen keine Spießer, die die Spaltmaße der alten Innentüren, klappernde Fensterläden, vereinzelte lose Dachpfannen oder den Pflegezustand der Rasenflächen bemängeln. Natürlich wollen wir auch keine Messies und Chaoten, die den Weg zu den Müllräumen nicht finden, oder Leute, die Alkohol schlecht vertragen und dadurch ausfallend oder schwermütig werden.

Das Alter der künftigen Bewohner kann und darf gemischt sein, wobei wir Rentner und Bewerber der Gruppe 55plus bevorzugen.

Anfragen an: [email protected]

1.

Von Osten her rollt und grollt es immer bedrohlicher. Scheint, als tobe ein Gewitter von der Südostküste direkt auf Priesewitz zu. Romeikes Knie hatte wieder mal recht. Anders als der Wetterbericht. Wie ärgerlich!

Ein Sturm ist als Vorbote des Unwetters bereits eingetroffen. Und was für einer. Heulend tanzt er um ihre krumme Kate und fährt mit wütenden Stößen in die Buchen vor ihrem Dachfenster, rüttelt am Rahmen. Fröstelnd zieht Annemie »Mia« Mompart sich die Bettdecke ans Kinn.

Ab Ende März wird bei ihr nur auf Sparflamme geheizt. Da ist sie eisern, so wie sie das einmal von ihrer ewig ums Geld besorgten Mutter gelernt hat. Dabei gab es vorgestern sogar noch Schnee.

Über Nacht hatte der April urplötzlich den Winter wieder hervorgezaubert. Nun legt er mit dem eisigen Sturm nach. Will das Jahr rückwärtslaufen und eine Woche vor dem ersten Mai und Rügens Saisonbeginn eine Kehrtwende in Richtung Frost vollziehen? Brrrr!

Ausgerechnet jetzt, wo sie doch morgen Abend die ersten Mietkandidaten zum Probewohnen im Paradies erwartet. Sieben an der Zahl! Lauter Fremde aus ganz Deutschland – bis auf eine alte Bekannte, die sie selbst eingeladen hat. Ihre frühere Putzfrau Hella Kautz. Eine sprichwörtliche Perle – ach was, ein Juwel und ihre ehemalige Vertraute.

Mit ihrer letzten Stelle als Haushälterin bei einer begüterten Kölner Witwe hat Hella vor Jahren das große Los gezogen und nach deren Tod nun eine hohe Erbschaft in Aussicht.

Klingt vielversprechend.

Nicht dass Mia darauf spekulieren würde, von dem Geld etwas abzubekommen. Obschon Hella die lohnende Stelle allein ihrer Empfehlung – trotz einiger kleiner Verfehlungen! – zu verdanken hatte. Hella konnte Mein und Dein im Hause Mompart am Ende nicht immer so sauber auseinanderhalten, wie sie geputzt hat.

Zugegeben, sie hatte es nie leicht im Leben und brauchte für ihre diversen Gerichtsprozesse, die sie führen musste, sicher mehr Geld, als sie mit Besen und Schrubber verdienen konnte, nur warum hat sie damals nicht einfach um Hilfe gebeten, statt zu stehlen?

Mia seufzt stumm. Sie hätte ihr doch geholfen. Gerne geholfen. Hellas Geheimniskrämerei hat sie mehr geschmerzt als die Diebereien. Na, Schwamm drüber. Es wäre ein Glücksfall und Gewinn, wenn Hella sich bei ihr auf Priesewitz einmieten würde. Man will im Alter ja nicht mit lauter Fremden leben, die rein gar nichts von dem Leben wissen, das man geführt hat, und davon, wer man mal war.

Hagelkörner nehmen das Dach unter Trommelfeuer und damit Mia, die direkt darunter schläft. So ein Elend! Gewiss werden all ihre fröhlichen Osterglocken und Tulpen vor der Tür erschlagen. Wie wird das morgen nur aussehen? Nicht dran denken, nicht dran denken. Sie braucht jetzt Ruhe, wenigstens eine letzte Nacht.

Mia will sich tief, ganz tief unter der Decke verkriechen, stattdessen lässt ein greller Blitz sie wie einen Springteufel im Bett hochfahren. Trips und Schabernack maunzen am Fußende kurz Protest, dann kuscheln sie sich wieder in schwarzen Pelz und weiße Pfötchen.

Am Kopfende schläft mit der Seelenruhe einer Sphinx und ausgestreckten Gliedern ihre rot getigerte Mutter Bobbin, die alte Streunerin. Falls Katzen tatsächlich einen siebten Sinn für Katastrophen besitzen, scheint der Weltuntergang nicht bevorzustehen, versucht sich Mia zu beruhigen.

Ausgenommen natürlich dein eigener.

Mia verzieht verdrossen den Mund. Jetzt denkt sie doch wieder daran. Aus gutem Grund: Wenn ihre künftigen Mitbewohner Gut Priesewitz bei triefendem Regen, in öligen Pfützen schwimmend und unter einem Himmel aus Blei kennenlernen – so wie sie selbst im März vergangenen Jahres –, werden sie es für eine Ansammlung trister Bruchbuden halten.

Was der Wahrheit nahekommt, auch wenn sie fünf der sechs Katen im letzten Jahr halbwegs instand setzen, das Fach- und Ziegelwerk sanieren, jede Menge DDR entfernen, eigenhändig Linoleum abziehen, wunderhübsche Fliesen und Dielen freilegen und die Dächer neu eindecken lassen konnte. Mit historischen Biberschwanzziegeln. Dafür sind ihre letzten Ersparnisse draufgegangen. Von Pfusch am Bau hält sie als Handwerkerwitwe nicht viel.

Leider fehlten ihr danach unter anderem die Mittel für den Landschaftsbauer, der in ihrem Anteil des Parks Hand anlegen, die ehemaligen Vorgärtchen der Katen neu gestalten, den betonierten und von Unkraut überwucherten Innenhof zurückbauen und ihn mit einer gekiesten Auffahrt zum Gutshaus versehen sollte.

Im derzeitigen Zustand ist der Blick von den Katen in den Innenhof furchtbar deprimierend. Die in DDR-Beige kratzverputzte Herrenhausruine an der Stirnseite des Hofgeländes gibt dem Ensemble den letzten Rest. So ganz ohne Dach, mit verbretterten Fenstern und von Frösten zersprengten Treppen, Simsen und Balkonen, aus denen Birken herauswachsen.

Über einem Fenster verblasst ein »Konsum«-Schriftzug, auf einer Seitenmauer alberne DDR-Parolen wie »Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein« oder, ziemlich missverständlich, fast makaber: »Meine Hand für mein Produkt«.

Der mysteriöse Investor oder Erbe, dem das ehemalige Prachtstück gehört, lässt aus der Ferne und durch Matthies Romeike gerade so viel tun, dass das Haus nicht zu Staub zerbröselt. Dafür verfallen vis-à-vis ihrer Katen die Maschinenschuppen und ein letztes Gewächshaus der längst abgewickelten Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft GPG Frohes Schaffen im Licht sozialistischer Peitschenlampen.

Die will Matthies Romeike, dieser zusammen mit den Gebäuden verwitterte Grimmkopf und selbsternannte Hausmeister von Priesewitz, partout behalten. Warum, das bleibt sein Geheimnis. Eines von vielen. Er speist die Lampen gelegentlich mit Strom aus unbekannter Quelle und wartet sie hingebungsvoll.

Leider hat er für so etwas Talent und einen endlosen Fundus von Originalersatzteilen. Den lagert er auf seinem Reifen-, Schrott- und Traktorfriedhof gleich hinter dem von Efeu überwucherten Pförtnerhäuschen, das er mit seinem Enkel Henning und Hund Oblomow bewohnt.

Schrecklicher Köter. Macht Bobbin komplett verrückt. Genau wie Romeikes garstige Hühner. Leider ist das Trio samt Federvieh auf Lebenszeit unkündbar. Romeike gehört das Häuschen samt Schrottplatz nämlich.

Mia seufzt. Zu allem Überfluss musste sie ihm ein Mitspracherecht bei der Auswahl ihrer Mieter einräumen, damit er im Gegenzug kostenlos die letzten Reparaturen an den Katen vornimmt. Vor allem an ihrem Haus. Sie hat ihm sogar etwas von dem Parkanteil, der zu den Katen gehört, überschrieben. Nur einen kleinen, aber für einen ehemaligen Sozialisten kann Romeike verdammt zäh verhandeln.

Der Hagel erhöht seine Taktzahl, prasselt staccato, in der Luft liegt ein unheilvolles Dröhnen, das Mia so noch nie gehört hat. Zu allem Überfluss öffnet der Himmel seine Schleusen. Sturzbäche rauschen von einer Sekunde auf die nächste nieder, in den Regenrinnen gurgelt und platscht es.

Am liebsten würde Annemie das Licht anknipsen, um den tobenden Elementen nicht bei Finsternis ausgesetzt zu sein, aber sie hängt mit an Matthies’ Stromnetz und misstraut seiner kreativen Elektrik. Wer weiß, welchen DDR-Schrott er da verkabelt hat und ob seine Leitungen gewitterfest sind.

Ein tagheller Blitz geht, gefolgt von krachendem Donner, im umliegenden Buchenwald nieder. Herrje, das Unwetter wütet nun genau über Priesewitz. Nicht auszudenken, welche Verwüstungen es im ohnehin verwilderten Park anrichtet. Einladend wird der nach so einem Sturm wohl kaum aussehen.

Annemie würgt die Bettdecke. Wenn die Bewerber morgen auf dem Absatz kehrtmachen, ist sie mit ihren 67 Jahren in absehbarer Zeit reif für Grusi – Grundsicherung im Alter. 404 Euro für den Lebensunterhalt, vielleicht noch ein kleiner Obolus für Warmwasser. Das war’s. Sie hat sich beim Amt erkundigt. Und bevor sie irgendwas bekommt, müsste sie ihre Katen für ein Butterbrot zwangsversteigern lassen und Mumpes’ alten Mercedes verkaufen, an dem ihr verstorbener Ehemann so sehr gehangen hat.

Mit Grusi wäre sie danach für immer an ihre Kate Nummer sechs gefesselt. Falls man ihr die überhaupt lässt. Mit achtzig Quadratmetern liegt sie hart an der Grenze der erlaubten Eigenheimwohnfläche für Grusi-Greise.

Mias Beklommenheit wächst.

Na, dieses unsanierte Groschengrab wird man ihr doch wohl zugestehen, oder? Zumal sie in der Mitte von nirgendwo steht, weit weg von Strand, Meer, Seebädern oder Bodden, noch dazu am westlichen Rand des Biosphärenreservats Südost-Rügen, was lukrative, große Hotelbauten, wie sie auf Rügen noch immer und überall entstehen, verbietet.

Mit anderen Worten: Touristisch gesehen ist Priesewitz komplett wertlos, genau wie das verfallene Herrenhaus.

Entgegen ihrer anfänglichen Hoffnungen und Pläne haben auch ihre Katen in der letzten Saison keine Übernachtungsgäste angezogen. Mit bald 60000 Betten gibt es auf der Insel verlockendere Alternativen.

Die wenigen Besucher, die nach Priesewitz kamen, hatten sich mit dem Fahrrad verirrt oder wollten für acht Euro die Nacht auf Matthies’ Obstbaumwiesen beim Schrottplatz campen. Um sich in einem von Romeike aus alten Fallschirmen gebastelten Indianertipi mit Kuhschädel über dem Eingang ungestört zu betrinken. Das vor allem.

Menschliches Strandgut scheint Gefallen an Herrn Romeikes bizarrer Landschaftsgestaltung zu finden. Vor wenigen Tagen hat er einen neuen Besucher mit Wohnmobil bei sich aufgenommen, einen zwielichtigen jungen Gesellen mit filziger Rasta-Mähne und merkwürdiger Kleidung. Trägt Armbänder bis zu den Ellenbogen und einen Hut mit Feder, als sei er ein um vierzig Jahre verspäteter Hippie. Zu allem Überfluss fühlt sie sich von dem Kerl belauert, ständig streicht er um die Katen.

Angeblich ist er auf dem Weg nach Schweden, er zeigt aber keine Eile, von hier wegzukommen. Stattdessen schweigen Romeike und er sich als Veteranen versunkener Epochen mit wachsender Begeisterung an. Etwa beim Herumschrauben auf Romeikes Schrottplatz oder bei Ausbesserungsarbeiten in der Ruine. Romeike hat seinen neuen Liebling sogar zu seinem streng geheimen Angelplatz am Greifswalder Bodden mitgenommen. Da schweigt die Natur ausgiebig zurück.

Wieder zuckt ein Blitz und mit ihm Annemie. Es folgt ein ganzes Bündel, wie von Zeus höchstselbst herabgeschleudert oder von diesem rüganischen Heidengott Svantevit. Elektrisch blau zeradert es die Dunkelheit und leuchtet für endlose Sekunden das tobende Naturschauspiel aus, verwandelt die Landschaft in etwas Fahles, Unheilvolles.

Gott, das sieht beängstigend aus und hört sich auch so an!

Eine orkanartige Böe lässt Romeikes ausgeschaltete Laternen schwanken und zwingt die betagte Buche vor Annemies Fenster zu einem torkelnden Tanz, rüttelt unter Triumphgeheul deren regenschwere Krone. Knarrend schwankt sie direkt über dem Dach, Äste fegen die maroden Pfannen, der Wind krallt sich wie ein Raubtier ins Gemäuer.

Wenn das mal gut geht, wenn das mal gut geht, bibbert Mia.

Ihre Kate ist als Letzte in der Reihe nicht neu geschindelt. Sie schuldet dem Dachdecker noch Geld für die anderen Häuschen. Genau wie dem Trockenbauer, dem Installateur, den Glasern, dem Küchenspezialisten und dem …

NICHT. DRAN. DENKEN!

Mias Blick tastet sich zum Fenster. Gerade erst ergrünte Zweige peitschen gegen die nassen Scheiben, kratzen mit dürren Fingern am alten Glas, als flehten sie um Einlass. Wieder ein Blitz. Mia stockt der Atem: Ein armdicker Ast rast auf das Fenster zu. Wenn der trifft, dann Nacht Matthies!

Quatsch, Mattes.

Der Ast wird im letzten Moment vom Wind zurückgerissen. Die Böe wechselt den Kurs, saust in den Wald zurück. Um eine Atempause einzulegen oder um neue Kraft zu sammeln – wer weiß das schon. Statt Sturmgeheul ist jetzt nur das Pladdern von Starkregen zu hören.

Hoffentlich hält Matthies’ frischer Kitt einem weiteren Ansturm auf ihr Dachfenster stand, soll ein Geheimrezept sein, »kein niemodscher Krom ut Selikon«, hat der alte Sauertopf versichert.

Nun, wenn er mal ins Plattdüütsch verfällt – was selten vorkommt –, ist er eigentlich verlässlich, versucht Mia sich zu beruhigen. Vor allem verlässlich schlecht gelaunt. Auf Hochdeutsch ist er unerträglich feindselig – also die meiste Zeit – und freundlich nur, wenn ihm das ostpreußisch raue R versehentlich nach vorne rollt, sobald er mit seinem Enkel Henning oder mit Oblomow spricht. Ostpreußisch ist Matthies’ ursprünglicher Zungenschlag, das steht mal fest. Das verrät schon sein Nachname. Romeike.

Solche Nachnamen sind keine Seltenheit auf Rügen, hat Mia in einem Buch des Schaproder Pfarrers Martin Holz gelesen. Um 1945 muss es zeitweise mehr Ausgebombte, Vertriebene und Flüchtlinge als Einheimische auf der Insel gegeben haben. Wenn sie sich recht erinnert, sollen es neben den ehemals etwa 53000 Insulanern über 61000 gewesen sein. Kurz darauf kamen auf Weisung der Sowjetischen Militärs zwangsumgesiedelte Sachsen, Thüringer, Sudeten und andere unfreiwillige neue Genossen hinzu.

Viele der Geflüchteten blieben, die Umgesiedelten mussten bleiben. Matthies – damals vermutlich ein Säugling – und seine Familie, oder das, was davon übrig war, dürften zu den unfreiwilligen Rüganern gezählt haben. Nicht dass er je von sich erzählen würde. Er erzählt nie von sich, er erzählt überhaupt nicht gern.

Sogar mit rheinischem Charme und Redseligkeit beißt man sich an diesem Knurrhahn die Zähne aus. Freunde scheint er nicht zu haben, jedenfalls keine, die sich bei ihm blicken lassen. Selbst Hennings Mutter, also Romeikes Tochter, hat Mia noch nie zu Gesicht bekommen. Seltsame Familie, wirklich seltsam, anscheinend vollkommen zerrüttet und zerstritten.

Wer weiß, ob Matthies was am Stecken hat? Vielleicht war er mit dem alten System per Du oder als Spitzel für Horch und Guck tätig, hat menschlich unverzeihliche Dinge getan?

Klar ist: Herr Romeike legt Wert auf Abstand. Soll er haben. Als sie sich vor knapp einem Jahr bei ihm vorgestellt und auf ein Tässchen Kaffee eingeladen hat – »Annemie Mompart. Annemie, wenn Sie mögen, und für Freunde Mia« –, hat er sich gegen den Kaffee, für »Frau Mompart« und das Sie entschieden. Dabei ist es geblieben. Soll er haben.

Was Ostpreußen angeht, kann der ungeschliffene Kerl ihr trotzdem nichts vormachen, mit Vertriebenengeschichten kennt sie sich aus. Sogar bestens, als gebürtige Brodkorb, geboren 1948 in Köln von einer Mutter, die nie über die verlorene Heimat hinwegkam, zumal sie in der neuen nicht freundlich aufgenommen wurde. Hunger, Not und Schmalhans waren bei ihnen weit länger Küchenchef als bei alteingesessenen Rheinländern.

Bis in die Sechzigerjahre haben sie in einer Barackensiedlung gehaust, sich durch die Winter gefroren und nach klammer Wäsche, Kohl und Moder gerochen, wofür sie in der Schule oft gehänselt wurde.

Annemies Mund wird zum Strich.

Daran will sie jetzt erst recht nicht denken, sie hat seit Ewigkeiten nicht mehr daran gedacht.

Warum auch? Den größten Teil ihres Lebens war sie eine glückliche Mompart und überzeugte Kölnerin. Daran muss sie festhalten, um nicht unterzugehen. Ihr Leben an Max »Mumpes« Momparts Seite war eine Erfolgsgeschichte. Basta. Für 45 Jahre, um genau zu sein.

Dass es sie im Alter aus einem mehr als stattlichen Bungalow in Kölner Bestlage gen Osten und in eine Bruchbude auf Rügen verschlagen hat, war nicht geplant. Genauso wenig wie ihr finanzieller Ruin. Der schon gar nicht.

Et hätt noch immer jot jejange, flüstert es heiter in ihrem Kopf. Mit der Stimme von Mumpes, ihrem Verstorbenen. Selbst von ganz oben mag Max es nicht, wenn seine Mia sich Sorgen macht und finstere Gedanken hegt. Hat er nie gemocht.

»Du bist ming Sunnesching un ’ne herrlisch bunte Schmetterling«, darauf hat er beharrt, und daran hat sie sich gehalten. Er hatte es verdient, sie überwiegend fröhlich zu sehen, und Mia hat sich immer bemüht, als sonniger Schmetterling durch sein Leben zu tanzen. Heiterkeit war sozusagen Pflicht.

Manchmal war das harte Arbeit, und manchmal, wenn auch nur insgeheim, hat sie sich von Mumpes nicht ganz ernst genommen gefühlt. Fast ein bisschen so wie Ibsens Nora in ihrem gutbürgerlichen Puppenheim. Was bei einem Altersunterschied von 17 Jahren vielleicht unvermeidbar war.

Im Gegenzug hat Mumpes verlässlich seine schützende Hand über sie gehalten, sie verwöhnt wie kein Zweiter. Es gab genug Frauen, die sie um einen solchen Ehemann beneidet haben, obwohl Mumpes äußerlich nie viel hermachte.

De Hauptsach is, et Hätz is jot, summt ein alter Karnevalsschlager in ihr hoch, und Max Momparts Herz war mehr als gut, es war aus purem Gold.

Alles in allem hat sich ihr Leben an Mumpes’ Seite so angefühlt, als wäre sie eine Münze, die in den passenden Schlitz gefallen ist. Von wenigen Eintrübungen, den üblichen Unstimmigkeiten zwischen Paaren und geschäftlichen Turbulenzen abgesehen, erschien ihr das gemeinsame Leben von nahezu glasglatter Vollkommenheit.

Bis zu Mumpes’ Tod vor zwei Jahren. Ein Herzanfall. Bei Nacht. Im Schlaf. Ein jäher, aber gnädiger Tod für ihn, ohne Abschied für sie und von ihr. Seither hasst Mia die Dunkelheit doppelt.

»Ach, Mumpes, wenn du wüsstest, wie es mir geht«, wispert sie verzagt, lässt sich zurück in die Kissen sinken und starrt ins Dunkel ihres Schlafzimmers.

Von wegen Zimmer, eine Kammer ist das!, übernimmt ihre rebellische Seite. An den Wänden pellt sich die Tapete wie nach einem Sonnenbrand, und viel mehr als ihr Bett hat auf den kaum zehn Quadratmetern unterm Dach juchhe nicht Platz. Nur ihre Sorgen, Ängste und andere Nachtgespenster. Darunter uralte, die noch aus der Barackenzeit stammen.

Die finden hier reichlich Raum.

Es ist erschreckend, wie nah ihr im Alter die eigene Kindheit wieder kommt. Ganz schutzlos fühlt sie sich mitunter, unbehaust, als sei sie den Elementen ausgesetzt wie diese Kate. Vor allem, weil sie so ganz auf sich gestellt ist, ohne Kinder, ohne Freunde, ohne Geld und eben ohne Mumpes. Das vor allem. Mia ohne Max – wie soll das gehen? Ohne Mumpes ist sie doch nur ein halber Mensch.

Und dank ihm völlig pleite, rebelliert es erneut in ihr.

Ach, Mumpes, Mumpes, eigentlich müsste ich dir böse sein, gesteht Mia sich und ihm im Schutz der Dunkelheit. Sieht und hört ja keiner. Aber ihm richtig böse sein, das kann sie nicht, nicht nach all dem Guten, das Mumpes in ihr Leben gebracht hat.

Et kütt, wie et kütt, zitiert der Verstorbene in ihrem Kopf ein zweites kölsches Grundgesetz. Daran will sie sich festhalten, doch eine höhnische Böe rast aus dem Wald auf die Kate zu, fährt in den Schornstein, heult im Kamin, lässt lose Dachpfannen klappern und nimmt schätzungsweise ein halbes Dutzend mit auf einen Ritt durch die Nacht und zurück in den Wald.

Grauenhaft tückisch, dieser Sturm. Im maroden Dachgebälk knirscht und knarrt es, klingt fast so, als wolle ihr Häuschen Segel setzen, um Sturm und Untergang zu entkommen. Ein kluges kleines Haus, aber es sitzt hier fest. Zusammen mit ihr und seinen fünf Häuserkameraden, die Annemie als letztes Vermögen ihr Eigen nennen darf, nein, muss.

Das alles hat sie Mumpes zu verdanken, der sich in Finanz- und Anlagefragen stets vertrauensvoll an den Kassenwart seines Karnevalsvereins »Die jecken Klempner« gewandt hat. Der hat ihm bei fröhlichen Brauhausabenden unter anderem eine Menge Pleitefonds, »todsichere« Hochrisikoanlagen und Schrottimmobilien wie diese aufgeschwatzt. Gegen Honorar. Bar und in diskreten Briefumschlägen.

Der Kassenwart lebt jetzt in Panama – oder war es Paraguay? – und feiert rund ums Jahr Karneval auf Südamerikanisch. Mit Mumpes’ fürstlichen Honoraren und dessen restlichem Vermögen, das dieser Windhund von Berater in eigener Sache durchaus gewinnbringend anzulegen wusste. Es dürfte sich um eine stattliche Summe handeln.

Mumpes war schließlich nicht nur ein jecker Klempner, sondern stolzer letzter Inhaber des zweitgrößten Kölner Sanitär- und Heizungsfachbetriebs »Mompart & Söhne seit 1893«. Deshalb waren seine Eltern anno 1966 auch strikt gegen die Ehe ihres Sohnes mit einem heimatvertriebenen, kaum achtzehnjährigen Barackenkind gewesen. Aber von seiner Mia wollte Mumpes nicht lassen. Mumpes konnte herrlich stur sein. Die Eltern prophezeiten ihm Untergang und Ruin.

Bundesweite Aufträge bei Großunternehmen haben Mumpes dann noch reicher gemacht, und sie hat dazu beigetragen. Ihr sonniger Charme kam bei Auftraggebern, Freunden und am Ende sogar bei Mumpes’ Mutter, die Mia mit Hella Kautz’ unschätzbarer Hilfe bis zum Tod gepflegt hat, gut an.

Ja, Mia darf sich schmeicheln, Mumpes’ Leben in vielerlei Hinsicht bereichert zu haben, wenn auch nicht um Kinder und den heiß ersehnten Erben. Doch Mumpes ist selbst darüber großzügig hinweggegangen und hat treu zu ihr gestanden.

Sie selbst hat ihren Kummer über das Ausbleiben von Nachwuchs fest in sich verschlossen und vor Mumpes, so gut es ging, verborgen. Sunnesching und Schmetterling eben. Dabei hätte sie so gerne Kinder gehabt.

Mia seufzt hörbar. Wer weiß, vielleicht ist ihre Kinderlosigkeit letztlich ein Segen, denn für einen Erben bliebe jetzt weniger als eine Tüte Sand.

Ach, wenn Mumpes ihr neben der offiziellen Firmenbuchhaltung doch auch seine Finanzgeschäfte überlassen oder wenigstens für sie in die Rentenkasse eingezahlt hätte! Aber da war Mumpes eigen und extrem altmodisch. Seine Frau musste nicht für Geld arbeiten, und seine finanziellen Kungeleien gingen sie nichts an. Zugegeben, sie hat sich nicht ungern auf diesen Deal eingelassen. Ein gutes Gewissen ist bekanntlich ein sanftes Ruhekissen.

Erneut peitschen Äste gegen das Fenster. Mit beispielloser Wucht setzt sich einer durch, zersprengt Glasvierecke und Rahmen, bohrt sich unter splitternden Geräuschen in die Dachkammer. Die federführende Böe heult in den Raum, eiskalter Sprühregen geht über Mia nieder. Sie schreit auf. So schrill, dass sie sich vor sich selbst erschreckt.

Trips und Schabernack erwachen fauchend, springen synchron vom Bett. Bobbin und Mia folgen ihnen auf dem Fuße. Starr vor Schreck kommt Mia auf Scherben zu stehen, die Böe spielt mit ihrem Nachthemd Fangen, Dach- und Schornsteinziegel segeln am Fenster vorbei in die Tiefe. Im Kaminschacht rumort und rumpelt es, Rußklumpen poltern in die Tiefe, rauschend quillt eine Aschewolke in den Raum.

Bobbin scheucht ihren Nachwuchs unters Bett. Mia würde am liebsten folgen, stattdessen kneift sie – starr vor Schreck – die Augen zu und versucht sich im Beten. Klappt aber nicht. Ihr fallen in ihrer Panik keine Gebete ein. Nur dieses: »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.«

Kein Gebet, mit dem man den zürnenden Elementen trotzen kann. Sie versucht es dennoch.

»Komm, Herr Jesu«, wispert sie.

Von oben tippt Regen auf Mias Stirn. Erst tropft er nur, dann rieselt er, dann regnet es richtig rein. Ein Sturzbach ergießt sich über ihren Rücken. Das Dach muss ordentlich was abbekommen haben, und der Spuk ist noch nicht vorbei. Unten rüttelt der Sturm an der verriegelten Haustür, ganz so, als wolle er sie aus den Angeln heben. Oje, so wörtlich hat sie das »Komm, Herr Jesu« nicht gemeint.

»Rauskommen!«, brüllt es rau und von schepperndem Gebell untermalt von unten. Das ist weder Jesus noch der Sturm, das sind Matthies Romeike und sein Hund.

»Ihr Dach fliegt weg!«, schreit Matthies.

Das weiß ich, du Torfkopf!, flammt urplötzlich Zorn in Mia auf.

»Verflucht noch eins, sperren Sie auf!«, verlangt Matthies und drischt mit seinen Fäusten auf die Tür ein, malträtiert sie mit Tritten und – das darf nicht wahr sein – Axthieben.

Will der die Tür etwa aufbrechen? Eine so schöne Tür. Mit hundert Jahre altem Schnitzwerk. Unersetzlich. Die darf er nicht zerstören.

Annemie schaut sich suchend nach ihrem Morgenrock um. Sie wird Herrn Romeike jetzt endlich mal die Leviten lesen. Allerdings nicht im nassen Nachthemd.

»Ich komm jetzt rein und hole Sie!«, schreit es gegen den Wind an. Nicht von unten, sondern direkt vom Fenster her.

Kann Romeike fliegen? Mia wirbelt herum.

Das Licht einer Taschenlampe flammt auf, leuchtet suchend durch die Kammer. »Nicht erschrecken!«

Annemie erschrickt sich ganz fürchterlich. Es regnet erneut Glas, ein Gummihammer zertrümmert die letzten Scheibenvierecke. Sie erkennt eine Leiter, eine Hand greift nach dem Fenstergriff, stößt es auf, ein Bein schwingt sich in ihre Kammer und noch eins, dann ist der ganze Mann im Raum. Ein Schattenriss samt Federhut und Räubermähne streckt einen Arm nach ihr aus. Unten splittert Holz.

»Hallo«, sagt in der Kammer Matthies’ mysteriöser Camper, packt sie mit festem Griff beim Handgelenk und zerrt sie in Richtung Kammertür.

»Die Katzen müssen mit, Herr …?«, protestiert Annemie und macht eine Kinnbewegung in Richtung Bett.

Der Fremde hockt sich vors Bett, legt die Taschenlampe ab und greift sich – der kratzenden, spuckenden, fauchenden und mittlerweile ebenfalls durchnässten Bobbin zum Trotz – deren Nachwuchs, zieht sich den Hut vom Kopf und setzt die Fellbündel hinein. Er erhebt sich in einer fließenden Bewegung, reicht Annemie die Taschenlampe, zieht sie mit der frei gewordenen Hand zur Tür und über die schmale Stiege nach unten ins Erdgeschoss. Die ganze Aktion dauert weniger als eine Minute. Bobbin folgt fauchend.

»Wer sind Sie?«, verlangt Annemie atemlos zu wissen.

»Alexander«, antwortet der Fremde. »Alexander Mompart, um genau zu sein.«

Wie endgültig vom Blitz getroffen friert Annemie am Fuß der Stiege fest. »Alexander wer?«

»Mompart. Ich weiß, das kommt jetzt ein wenig plötzlich für Sie …« Der Mann im Federhut richtet sich zu voller Größe auf. »Ich bin der Sohn Ihres verstorbenen Mannes.«

Aber ganz gewiss nicht meiner!

Et hätt noch immer jot …

Oh Klappe, Mumpes, auf Rügen gilt kein kölsches Grundgesetz!

2.

»Soll ich … Soll ich nicht … Soll ich …« Nele zählt Zuckertütchen ab. Mist, jetzt sind die Tütchen alle! Was nach ihren Spielregeln heißt: Sie soll. Aber soll sie wirklich?

Mit gerunzelter Stirn schaut sie durch die Terrassentüren des Rosencafés in den ehemaligen Schlosspark des Fürsten Malte zu Putbus. In Putbus, wo sonst. Wunderhübsch ist der Garten vor ihr. Zwar sind die Rosenstämmchen noch kahl, und die Hecken stehen wie zerschlagen vom gestrigen Unwetter da, dafür glänzen Diamantcolliers aus Regentropfen im Strauchwerk.

Man kann gut erahnen, was für ein Paradies der Garten und der Park dahinter bald sein werden. Stichwort Paradies. Darum geht es bei ihrem Zuckertütenorakel. Genauer gesagt: um das im Internet annoncierte Paradies namens Priesewitz, für das sie sich heute offiziell als Mitbewohnerin bewerben will.

Im nahen und noblen Hotel Badehaus Goor ist für den frühen Abend ein Treffen aller Interessenten anberaumt. Das hat ihr Matthies Romeike gesteckt. Er will sich bei der Vermieterin, Frau Mompart, für sie einsetzen. Das ist sehr freundlich, aber ob Priesewitz wirklich das Richtige für sie und Lotta ist?

Dafür spricht, dass ihre Tochter im elfjährigen Enkel des Hausmeisters vielleicht einen halbwegs gleichaltrigen Spielkameraden hätte, falls elfjährige Jungen einem achtjährigen Mädchen, noch dazu einem bedenklich braven und ernsthaften, etwas abzugewinnen wissen.

Lotta täte ein unternehmungslustiger Bruder Leichtfuß, der Kinderunsinn und Streichen nicht abgeneigt ist, gewiss gut, nach all dem Schweren, was sie erlebt hat, und der verschmitzte Henning Romeike sieht mit Zahnlücke und Sommersprossen ganz so aus, als passe die Beschreibung auf ihn. Lotta braucht eine große Dosis Freiheit und Abenteuer, um mehr Selbstvertrauen zu entfalten. Außerdem hätte Lotta in Oblomow endlich den Hund, von dem sie seit Jahren träumt.

Einen ziemlich verschlafenen Hund, aber nun.

Ein weiterer Vorteil wäre die quasi kostenlose Kinderbetreuung nach Schulschluss. Dann, wenn sie noch arbeiten muss, lange arbeiten, manchmal bis in die Abendstunden und an den Wochenenden. Matthies Romeike hat angedeutet, dass ihm zwei Kinder nicht mehr Arbeit – genau genommen sagte er »Ärger« – machen würden als eins, und seine Obstwiesen wären sicher ein idealer Tobeplatz.

Nele nickt sich Mut zu, leert ein Zuckertütchen in ihren Kaffee und rührt um. Lotta hätte auf Priesewitz so viel mehr Bewegungsfreiheit als in der möblierten Besenkammer, die sie beide derzeit in Binz bewohnen. Die sie überdies bald verlassen müssen, damit die Kammer pünktlich zum Saisonbeginn als Ferienappartement doppelt so teuer vermietet werden kann. Binz ist im Sommer ein Paradies für solvente Touristen, nur nicht für Mieter mit geringem Einkommen und Schulden.

Nele schiebt den Gedanken an ihre Dauermisere beiseite. Wenigstens gibt es in der Saison hier Gastronomiejobs bis zum Abwinken. Mies bezahlt, aber immerhin.

Zurück zu Priesewitz.

Zur Schule in Putbus hätte Lotta es von da auch nicht ewig weit, den Weg zum Bus könnte sie mit dem Rad zurücklegen. Es geht zwar ein ganzes Stück durch die wilde Pampa, aber Henning wäre ja mit von der Partie. Im Winter, wenn es morgens dunkel ist, wird sie die beiden fahren.

Falls ihre alte Klapperkiste bis dahin nicht auf Romeikes Behelfsschrottplatz gelandet ist. Nun, zur Not gibt es immer noch dessen Lada. Alles in allem spricht also viel für Priesewitz und wenig dagegen. Außer, dass es verdammt einsam liegt und nicht einmal eine richtige Zufahrt hat.

Bleibt die Frage, ob Frau Mompart, die nicht da war, als Nele vor zwei Tagen persönlich auf Priesewitz vorgesprochen hat, bereit ist, eine alleinerziehende Mutter in ihre Pläne miteinzubeziehen. Schließlich will sie eine Art Rentner-WG gründen, und von der Rente – falls sie jemals eine bekommen sollte – ist Nele mit neunundzwanzig noch Lichtjahre entfernt. Erst recht bei ihrem künftigen Hungerlohn.

Nele schnaubt leise. Hungerlohn – was für eine makabre, aber treffende Bezeichnung für das Salär einer angehenden Imbissköchin in einer Fischbude unweit der Binzer Strandpromenade. Aber so ist das in der Gastronomie nun mal. Reich werden nur sehr, sehr wenige, erst recht auf Rügen.

Darum reizt sie auch der mietfreie Probemonat auf Priesewitz. Genau wie die Möglichkeit, die besser bezahlten Spätschichten zu übernehmen, falls Lotta sich gut einlebt und in Matthies Romeike einen Ersatzopa findet. Könnte ja sein. So knurrig, wie der Alte sich gibt, ist der sicher nicht.

Das sieht man am vergnügten Henning.

Im Gegenzug soll Nele für das Mittagessen sorgen. Nichts leichter als das, schließlich ist sie gelernte Köchin, na ja: fast. Die Prüfung hat sie damals geschmissen, um stattdessen Bartenderin zu lernen. Fred zuliebe. Bartenderin ist allerdings ein Job, bei dem man niemals Kinder haben und jenseits der dreißig, spätestens vierzig, männlich sein sollte. Beichtfreudige Trinker, Schönschwätzer und notorische Schürzenjäger schätzen keine reifen Frauen hinter dem Tresen.

Egal, sie wird das nie mehr machen.

Sie müsste für Romeike und die Kinder also regelmäßig vorkochen und kann aus der Fischbude bestimmt einiges mit nach Hause nehmen, das sonst verderben würde. Womit sie weiteres Geld sparen kann. Und sparen muss sie, wenn sie irgendwann wieder auf die Füße kommen will. Auch darum ist sie nach Rügen gezogen; der Osten ist in Sachen Lebenshaltungskosten billiger als Hamburg und zudem weniger hochnäsig.

»Wünschen Sie noch etwas zu trinken?« Ein Kellner in adretter Weste und langer Schürze wendet sich an sie und deutet auf ihr halb leeres Wasserglas.

»Nein danke, für mich nichts, aber für meine Tochter können Sie gleich einen Kakao bringen.«

Die 2,80 Euro dürften noch drin sein. Ach, es tut so gut, in diesem wunderhübschen Raum zu sitzen, dem ehemaligen Gärtnerhaus derer zu Putbus, das heitere Sorglosigkeit ausstrahlt.

Der Kellner schaut sich fragend am Tisch um, an dem nur Nele sitzt.

»Meine Tochter wird in etwa zehn Minuten hier sein, um drei hat sie Schulschluss«, beeilt sich Nele zu erklären.

»Vielleicht möchten Sie dann auch eine Kleinigkeit essen? Unsere Küche ist durchgehend geöffnet.«

Wow, der macht seinen Job verdammt gut! Wirkt unaufdringlich und lässt gleichzeitig nicht locker. Solche Kellner hätten Fred und sie damals in der Shark Bar gebraucht.

»Wollen Sie einen Blick in die Karte werfen?«, fragt der Kellner mit charmantem Lächeln und hält ihr die in rotes Leder gebundene Lektüre hin.

Nele gibt sich geschlagen und greift zu. Hineingucken kostet ja nichts, und zu ihrer Erleichterung betreten soeben weitere Gäste das Gartenzimmer des Cafés. Ein älteres, wohlsituiert wirkendes Ehepaar in der für Nebensaison-Touristen typischen Funktionskleidung. Die ist samt den zugehörigen Funktionstaschen gebügelt. Die Logos diverser Designermarken prangen auf den Westen, Hosen und Schuhen. Grob überschlagen dürften die beiden Klamotten im Wert von an die zweitausend Euro tragen.

Der Kellner lässt sofort von ihr ab und versichert dem Paar, dass die Küche geöffnet und der in Butter geschwenkte Hornfisch an Bärlauchschaum sowie die Limonenbaisertorte mit Pistaziensahne heute sehr zu empfehlen seien. Klingt das lecker! Sie würde zu gerne davon kosten, immerhin schwingt hier neuerdings das Konditorenteam von Schloss Ralswiek den Schneebesen. Nicht aus Hunger möchte sie probieren, sondern aus Neugier, zwecks Weiterbildung sozusagen.

Das Ehepaar wählt den Hornfisch.

»Und für mich die Torte zum Dessert«, setzt die Frau hinzu. »Nur für mich. Mein Mann muss abnehmen und hat seine zehntausend Schritte für heute noch nicht erledigt.« Sie deutet auf einen digitalen Schrittzähler, der am Hals ihres Gatten baumelt. Ein untersetzter Mann, Typ gemütlicher Bär, der nur ergeben nickt.

Beide pellen sich umständlich aus Anoraks und Westen. Die Frau, ein leicht verhungert wirkendes Persönchen mit spitzer Mausnase und noch spitzerer Stimme, zieht ein Notizbuch hervor, schlägt es auf.

»Wir gehen noch einmal die Liste durch, Hermann, damit später nichts fehlt«, verkündet sie.

»Ist gut, Inge«, nickt Hermann. Er nickt noch resignierter als in Sachen Torte, wie Nele findet.

Seine Gattin beginnt, eine lange Lebensmittelliste vorzulesen. Ist das ein Einkaufszettel? Wenn ja, dann ist er mehr als merkwürdig und will so gar nicht zu dem eben bestellten Feinschmeckermenü passen. Wer braucht schon dreißig Dosen Linsen, fünfzig Päckchen gestückelte Tomaten, hundert Pack Nudeln und – hat sie das gerade richtig verstanden? – acht Kartons Dosenbrot? Wer isst denn so was?

»Am Brot haben wir schon tüchtig gespart«, freut sich Inge. »Sobald Aldi es wieder im Angebot hat, schlagen wir noch mal zu. Die Dosen nehmen kaum Platz weg und sind ewig haltbar. Anders als die neunzig Liter Wasser, die wir regelmäßig bevorraten müssen. Außerdem brauchen wir Regentonnen.«

»Trinkwasser ist doch momentan überhaupt kein Problem«, wagt Hermann einzuwerfen. »Ich meine–«

»Man muss immer vorbereitet sein. Immer«, unterbricht ihn Inge. »Wasser brauchen wir schließlich nicht nur zum Trinken, sondern auch zum Kochen und Waschen und – oh, da fällt mir ein: Haben wir genug Wasseraufbereitungstabletten?«

Sie konsultiert ihre Liste mit der Miene einer schlechtgelaunten Mathematiklehrerin.

Die beiden müssen Camper sein, entscheidet Nele. Vielleicht auf einer längeren Fahrt durch halb Europa? Oder zum menschenleeren Nordkap? Rentner machen so was heutzutage. Sie kennt welche, die auf dem Rad ganz Deutschland umrundet oder sich zu Fuß nach Skandinavien oder zum Jakobsweg aufgemacht haben.

Sehnsucht keimt in ihr auf.

Früher hat sie ständig von solchen Reiseabenteuern geträumt, einige sogar als Kellnerin auf einem Kreuzfahrtschiff erlebt, um sich dann mit zwanzig Jahren auf das Abenteuer mit Barmann Fred einzulassen. Fehler, böser Fehler! Ihre unbändige Abenteuerlust hat sie schon immer zu den schrecklichsten Fehlentscheidungen inspiriert.

Abgesehen von der Sache mit Lotta. Lotta ist das Beste, was Fred ihr hinterlassen hat, der Rest sind die vermaledeiten Kreditschulden und – oh ja, nicht zu vergessen! – eine abgebrannte Bar. Das Ergebnis seines Versuches, sich und die Shark Bar heiß zu sanieren. Nicht sein erster Versicherungsbetrug, wie sie später, zu spät, herausgefunden hat. Hinzu kamen Scheckfälschungen, dubiose Kreditgeschäfte, Insolvenzverschleppung und am Ende Kokainhandel. Weshalb Fred kurz vor Lottas zweitem Geburtstag in den Knast einfahren sollte. Stattdessen hat er sich abgesetzt. Auf Nimmerwiedersehen und mit unbekanntem Ziel.

Und da wird er hoffentlich bleiben, während sie den Teil seiner Kredite, auf denen sie dank ein paar idiotischer Unterschriften festsitzt, abstottert. Zehntausend Euro haben genügt, um ihr finanziell das Genick zu brechen.

»Soll ich den Kakao jetzt bringen?«, meldet sich der Kellner zu Wort. »Ich glaube, Ihre Tochter kommt gerade durch den Vorraum. Mit Sahne?«

Nele schaut suchend in Richtung der Flügeltür. Sie nickt. Alle düsteren Gedanken an Fred verfliegen im Nu. Nele hat sich antrainiert, sie zu verscheuchen, sobald Lotta in der Nähe ist.

Anfangs war das schwer, aber jetzt ist es ihre leichteste Übung, genau wie das strahlende Lächeln, das ganz von selbst auf ihrem Gesicht aufscheint, wenn sie ihre wunderhübsche, wundervolle, einzigartige Tochter sieht.

Inzwischen ist ihr völlig egal, dass Lottas hellblaue Augen denen von Fred so ähnlich sind, genau wie ihre weißblonden Haare, die sie sich zu strengen Zöpfen geflochten hat. Immerhin hat sie die schmale Statur und die fröhliche Stupsnase von ihr.

Die ernste Miene, den feierlichen, fast damenhaften Gang, mit dem Lotta den Raum betritt, und den verschüchterten Blick, mit dem sie die Holzpaneele und die Stuckdecke in Augenschein nimmt, hat sie hingegen weder von ihr noch vom Vater. Das ist ganz allein Lotta.

Neles Herz krampft sich kurz zusammen. Ach, wenn Lotta doch nur ein wenig mehr Kind wäre, abenteuerlustiger und unbekümmerter! Vor allem das.

»Hallo, süße Maus!«, ruft Nele, springt auf und stürmt Lotta mit weit ausgebreiteten Armen entgegen, leider bringt sie dabei ihren Stuhl zu Fall.

»Ts, ts, ts!«, kommt es ob Neles Gefühlsausbruch tadelnd von Inges Tisch. Der Kellner gleitet wie auf Schienen übers Parkett, um den Stuhl aufzuheben.

Lotta hat die Augen aufgerissen und den Finger an die Lippen gelegt, um ihrer Mutter zu bedeuten, dass Süße-Maus-Rufe und emotionaler Überschwang, der das Mobiliar zu Fall bringt, in einem Café wie diesem unangebracht sind. Da ist sich Nele sicher, sie kennt doch ihre süße Mau … Tochter!

Egal, sie schert sich nicht um Lottas abwehrendes Gesicht, sondern drückt sie fest an sich. »Ich hab dir Kakao bestellt. Mit Sahne.«

»Danke schön«, erwidert Lotta artig und murmelt »Guten Tag« in Inges Richtung.

Fehlt nur noch der Knicks, seufzt Nele innerlich.

Lotta löst sich aus der Umarmung. »Ich geh mir mal die Hände waschen und mach die Zöpfe neu«, sagt sie und verschwindet in Richtung der Waschräume.

Muss sie denn immer alles so verdammt richtig machen? Noch dazu ohne mütterliche Aufforderung? Wirklich, dass ihre Tochter sich quasi selbst erzieht und ihr so gar keine Sorgen macht, macht Nele ganz besonders große Sorgen und ein schlechtes Gewissen dazu.

»Und jetzt zu den Waffen«, flüstert mit verschwörerisch gesenkter Stimme in ihrem Rücken Inge.

Waffen?

Nele stutzt. Sie muss sich verhört haben, wahrscheinlich geht es um Waffeln – in Form von Dauergebäck, versteht sich.

Irrtum.

»Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich gegen jegliche Art von Waffen bin«, protestiert Hermann flüsternd. »Ich würde mich lieber ganz dem Saatgut widmen.«

»Deinen ewigen Pazifismus können wir uns nicht mehr leisten. Daran glauben doch nicht mal mehr die Grünen. Wir müssen uns bewaffnen. Für den Anfang schlage ich Macheten vor, später werden wir uns um Gewehre bemühen. Ich hab meinen Jagdschein nicht aus Jux und Dollerei gemacht«, insistiert Inge und vergisst das Flüstern. »Wenn es zu Plünderungen kommt, wollen wir doch unsere Vorräte und unser Gemüse verteidigen! Du weißt, was dazu im Ratgeber steht: Ein Mangel an Vorbereitung ist Vorbereitung auf den Mangel.«

»Aber meine Liebe, wer sollte denn Priesewitz plündern? Es liegt doch wirklich sehr, sehr versteckt und abgelegen. Laut Navigationssystem führt nicht einmal eine befestigte Straße dorthin. Uns erwartet vollkommene Abgeschiedenheit.«

»Eben«, giftet Inge triumphierend, »und wer weiß, wer dort noch alles so einziehen wird! Der Mensch ist des Menschen Wolf. Erst recht in Zeiten wie diesen, vergiss das nicht, und leg endlich mehr Pioniergeist an den Tag.«

3.

Gosch! Auf Rügen! Die Filiale der Sylter Schickimicki-Imbissbude liegt direkt an der Strandpromenade Binz, schräg gegenüber der Normuhr und dem Entree zur Seebrücke.

Leichter Bratfischgeruch weht zu Bodo Klimke, der am Betonfuß der Uhr steht, mischt sich mit dem Aroma von Salzluft und See. Ach, Gosch! Wenigstens etwas, das an Sylt erinnert. Hätte sein Geld doch nur für Sylt gereicht! Das wäre ein weit angemesseneres Jagdrevier für ihn.

Freilich, die Binzer Promenade ist herrlich wiederhergerichtet, die schneeweißen Bädervillen mit ihren Erkern, Türmchen, Balkonen und den filigranen Schnitzereien sind ein Traum, das majestätische Kurhaus als erstes Hotel am Platze innen wie außen eine Offenbarung, aber diese Touristen, diese Touristen!

Sind samt und sonders Banausen.