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Alwine kann nicht länger mitansehen, wie ihr Patensohn Nils sein Leben als Vollzeit-Papa und freiberuflicher Reiseleiter verplempert. Er soll ihr Kölner Kaffeehaus erben, um es vor der Pleite zu retten. Und eine vernünftige Frau benötigt er auch. Schließlich braucht Patenenkel Jurek eine Mutter. Kurzerhand beschließt Alwine, ihren 85. Geburtstag auf einer Reise mit Nils und einer illustren Reisegesellschaft zu feiern, um ihn währenddessen auf den rechten Weg und unter die Haube zu bringen. Das ist aber gar nicht so einfach ...
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Zeit:7 Std. 10 min
Veröffentlichungsjahr: 2014
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
I. Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
II. Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
III. Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
IV. Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
V. Teil
1.
2.
Epilog
Danksagung
Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Köln.
Ellen Jacobi
TEATIMEMITTANTE ALWINE
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2014 by Ellen Jacobi
Copyright Deutsche Originalausgabe © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Daniela Jarzynka
Titelillustration: © Fabian Erlinghäuser
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-5385-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Karl W.Halb Franzose,ganz Filou.Ein Lebenskünstler und Mensch,der in schwierigster Zeit widerstanden hat.See you in heaven!
Dem Himmel sei Dank!
Oda Wilhelmi braucht kein neues Herz.
Eine abschließende Untersuchung beim Kardiologen hat ergeben, dass sie nicht an dem unheilbaren Herzfehler leidet, der ihre Mutter viel zu früh das Leben gekostet hat. Lediglich einen automatischen Dings – wie hieß das noch? – Kardioverterdefi irgendwas – muss sie sich in drei Tagen einsetzen lassen. Ein schmerzfreier, kleiner Routineeingriff, versichern die Ärzte. Selbst mit ihren zweiundsiebzig Jahren.
Damit und mit einem Computerchip über dem Schlüsselbein kann sie leben. Er wird ihr häufig stolperndes Herz im Takt halten und ihm einen Stromschock versetzen, sollte es mal ganz vergessen zu schlagen. Angenehm klingt das nicht, aber besser, als tot umzufallen.
Etwa in die Teigschüssel vor ihr, in der sie Hefeteig für Brioches zusammenrührt, na ja, eher zusammenklumpt. Sie hat seit einer Ewigkeit nicht mehr gebacken. Aber das lässt sich lernen. Sie wird überhaupt eine Menge Dinge lernen müssen, um »Ferdinand Wilhelmis Dampffbäckerei gegründet 1919« in Köln-Ehrenfeld wieder zu eröffnen. Natürlich unter anderem Namen. Als »Café Ährensache« will sie die erste Bäckerei ihres Vaters nach mehr als fünfzig Jahren wiederbeleben. Mit Dorkas und für Dorkas. Ein seliges Lächeln umschlängelt ihren Mund.
Es wird die zweite oder dritte Neueröffnung der alten Konditorei »Wilhelmi« nach 1945 werden, aber die erste, an der sie selbst beteiligt ist. Zeitweise war das Ladenlokal mal Bürgerbüro für Obdachlose oder Musikkneipe. Na ja, eher Kaschemme. Oda hat sich nie groß um ihr Erbe gekümmert. Stets Jahre hat sie das Ladenlokal und ehemalige Wohnhaus der Eltern in Köln-Ehrenfeld nur vermietet, nie das Geschäft selbst betrieben oder das Haus bewohnt.
Bald tut sie beides.
»Zum Sterben habe ich momentan wirklich keine Zeit«, teilt sie einem jubilierenden Rotkehlchen in der Birke vor dem Backstubenfenster mit. Oda schlägt die Hand vor den Mund. Jemine, wie albern sie klingt!
Aber vielleicht ist das normal, wenn man Wochen zwischen Bangen und Hoffen und voll endloser Untersuchungen hinter sich hat und dem Tod unverhofft von der Schüppe hüpfen darf. Jetzt kann ihr Leben neu beginnen. Ganz neu. Angeschlagen oder nicht. Ihr Herz ist Optimist geblieben, und das ist gut so, denn sie hat noch viel vor und muss entscheidende Dinge regeln.
Etwa Erbfragen. Die vor allem.
Ihr Lächeln verbreitert sich.
Nie zuvor in ihrem Leben hat Oda über ein Testament nachgedacht. Schon gar nicht mit einem Lächeln auf den Lippen. Es gab ja niemanden, dem sie etwas hätte vererben können. Wechselnde Liebhaber und ihre grantige Schwester Alwine, die ja, aber keinen Ehemann, keine Kinder. Das ist nun anders. Ganz fabelhaft anders! Dank Dorkas.
In Odas Augen stiehlt sich ein Leuchten des Glücks. Wer hätte gedacht, dass sie in ihrem Alter noch einmal Gelegenheit bekommen würde zu lieben. Wirklich und wahrhaftig zu lieben. Fast wie eine Mutter. Was sie nie gewesen ist. Aber fühlen kann sie wie eine. Oh ja, das kann sie, basta. Niemand wird es ihr verbieten. Niemand. Diesmal nicht.
Fühlbar ermuntert streicht sie ihre Schürze glatt. Der Stoff ist neu und steif, überhaupt ist die Schürze ein ungewohntes Kleidungsstück für sie. Genau wie die Bäckerclogs an ihren Füßen. Verzückt betrachtet sie das klobige Schuhwerk. Als ehemalige Schauspielerin fühlt sie sich gern mit Leib und Seele in ihre neue Rolle als künftige Kaffeehausbesitzerin ein. Es muss die Rolle ihres Lebens werden!
Sie will Dorkas Mendel etwas vererben, auf das sie stolz sein kann. Etwas, mit dem sie dem Mädchen eine Zukunft sichern kann. »Dorkas«, murmelt sie so selig wie jemand, der frisch verliebt ist und sein Glück nicht fassen kann.
Wäre ihr Herz nicht aus dem Takt geraten und sie nicht hierher zurückgezogen, hätte sie Dorkas nie kennengelernt. Ein schrecklicher Gedanke. Die junge Frau ist das größte Geschenk, das sie auf ihren letzten Lebensmetern erhalten konnte. Ein Geschenk, das sie sich verdienen will und bei dem der Himmel, jedenfalls eine höhere Instanz, die Hand im Spiel haben muss. Im Alter, findet Oda, darf sie sich diese kindliche Sichtweise wieder gönnen. Sie tröstet ungemein, und ohne den Glauben daran, dass alles im Leben aus gutem Grund geschieht, hätte sie ihr eigenes nicht bewältigt.
Ihr Blick fällt wieder in die Schüssel – an dem Briochesteig ist sie gründlich gescheitert. Sie legt den Rührlöffel beiseite und greift mit beiden Händen hinein. Vielleicht hilft beherztes Kneten.
Mindestens fünf beschwerdefreie Jahre kann ihr dieses Defi-Dings bescheren, haben die Ärzte versprochen. Wahrscheinlich sogar mehr, denn ihre anderen Organe sind tadellos gesund. Sie wird die geschenkte Zeit nutzen. Jeder Morgen ist der Beginn eines neuen Lebens, heißt es. Wenn man wie sie eine zweite Chance bekommt, zu leben und auch noch zu lieben, ist das doppelt wahr!
Ihrer Mutter Friederike war das leider nicht vergönnt. Eben vierzig war sie, als ihr Herz einfach ausgesetzt hat.
»Mumpitz«, meldet sich aus einer ihrer Hirnkammern unwirsch ihre Schwester Alwine zu Wort. Muss eine Rumpelkammer sein. »Heinrich Gimmler hat sie umgebracht, genau wie unseren Vater.«
Oda seufzt. Mit zweiundsiebzig Jahren hat man leider auch ein altes Leben. Dazu gehört Alwine, ihre herrische, unverwüstliche, zwölf Jahre ältere Schwester. Und – Oda verzieht voll Abscheu den Mund – Heinrich Gimmler.
Fahrig streut sie mehr Mehl über den Teig, formt ihn zur Kugel und gibt ihr einen zornigen Klaps.
Der Klaps gilt Gimmler.
An den will sie nicht denken. Am liebsten nie mehr. Gewisse Geschichten, die keinen was angehen, wird sie einfach mit ins Grab nehmen. Und gewisse Geheimnisse, für die sie lange genug gebüßt hat.
Oda schürzt die Lippen in stummem Selbsttadel und angelt nach einem Küchentuch, um die Hefekugel abzudecken. »Immer schön ehrlich bleiben, Schätzchen«, ermahnt sie sich streng, »gebüßt ist übertrieben.«
Jetzt aber Schluss mit der Vergangenheit, sie hat genug mit Ferdinands Brioches zu tun. Um halb zehn kommt Alwine, um davon zu kosten und zu entscheiden, ob sie dem »Café Ährensache« einen Startkredit gewähren wird oder nicht.
Flink steckt Oda die Tuchzipfel unter der Schüssel fest und schiebt sie unters Fenster, durch das die warme Septembersonne schielt. Sie zieht eine Backuhr auf. Ob zehn Minuten reichen, damit die Kugel aufgeht?
»Zwanzig, du hibbeliger Wibbelsterz, und das zweimal«, flüstert es in kölscher Tonart in ihrem rechten Ohr. Oda zuckt zusammen. Sie widersteht der Versuchung herumzuwirbeln. Ihr Vater, Konditormeister Ferdinand Wilhelmi, kann unmöglich hinter ihr stehen. Gleichgültig, wie deutlich sie ihn zu hören glaubt, seit sie vor sechs Monaten aus einem Dorf bei Hamburg in ihr Kölner Geburtshaus zurückgezogen ist. Ferdinand ist wie ihre Mutter Friederike seit bald siebzig Jahren tot.
Muss an ihren hoch dosierten Herzmedikamenten liegen, dass sie seine Stimme hört, beruhigt sie sich. Die Tabletten sorgen anscheinend nicht nur nachts für »lebhaft erhöhte Traumtätigkeit«. Na, sollen sie nur. Ihren Vater hört sie gern. Ob tot oder nicht.
Ferdinand lebt in Odas Erinnerungen als Frohnatur im Bäckerkittel und mit Baskenmütze. Wenn er gehustet hat, stäubte das Mehl vom Kittel auf. Als Kind hat sie geglaubt, er schneit. Und geduftet hat er! Nach Rosinen, Zimt und Vanille. Nicht nur darum hat sie ihn so leidenschaftlich gern umarmt. In Gegenwart ihres Vaters hatte man das Gefühl, einfach zu leben sei schon etwas Großartiges. Und das ist es auch.
In ihrem Herzen hat Ferdinand auf immer einen Ehrenplatz – samt seinem grünsamtenen Ohrensessel. Schon deshalb hätte sie es niemals austauschen lassen wie einen defekten Automotor. Mal davon abgesehen, dass sie in ihrem Alter kaum Chancen auf ein Spenderorgan hätte. Nur gut, dass bald dieser Defi-Dingsda ihr Leben verlängern wird.
Oda öffnet einen Fensterflügel und zerbröselt altes Brot auf dem Fensterbrett. Das Rotkehlchen legt den Kopf schief, ohne seinen perlenden Reviergesang zu unterbrechen. Ihr Sängerknabe scheint seine Kunst ihrem Brot vorzuziehen. Oder er wartet auf die Brioches. Egal, Hauptsache, er ist da.
Oda schließt lächelnd das Fenster. In jungen Jahren war sie so damit beschäftigt, sich die Aufmerksamkeit eines Mannes, Anerkennung, Beifall, eine glanzvolle Zukunft oder auch nur ein bestimmtes Kleid zu wünschen, dass sie häufig vergaß, sich die Welt anzuschauen. Sie nahm keine herrlichen Gebäude, keine Bäume und Rotkehlchen wahr. Oder Kinder. Die schon gar nicht. Heute tut sie das. Keine Frage, ihr Leben hat ungemein an Farbe und Qualität gewonnen, seit sie dem Tod ins Gesicht schauen musste.
Ihr alter Freund, der so rührige wie rührend besorgte Dr. Hilkmar Seelentag, sieht das nach wie vor anders. Beim Auftreten der ersten Symptome ihrer Herzschwäche hat er sofort für ein Spenderorgan plädiert. Sogar eine Scheinehe hat er ihr vorgeschlagen, weil ältere Alleinstehende ohne Partner und Familie nur in sehr seltenen Ausnahmefällen Chancen auf eine Transplantation haben. Sie weisen eine zu hohe Sterblichkeitsrate nach dem Eingriff auf. Ein neues Herz macht eben nicht weniger einsam. Oder jünger.
»Ach, Hilkmar, du gibst eben nie auf«, murmelt Oda.
Der alte Hagestolz ist der Familie Wilhelmi seit einer Ewigkeit verbunden. Ein unverbesserlicher Lebensretter und ritterlicher Mann vom Typ des ewigen Minnesängers.
Minnesänger? Jetzt wird sie aber wirklich albern! Der Heiratsantrag war doch nicht ernst gemeint. Ausgeschlossen. Jedenfalls nicht in romantischer Hinsicht. Schließlich hatten sie zuvor jahrelang kaum Kontakt, haben völlig verschiedene Leben gelebt. Er hier in Köln und sie nahe Hamburg.
Minnesänger! Also nein, davon hat sie genug gekannt und hinter sich gelassen. Muss am Rotkehlchengesang liegen, dass sie darauf gekommen ist. Hilkmar ist doch wie ein großer Bruder für sie. Ein wundervoller Bruder, den sie von Kindesbeinen an kennt.
Falls er je eine Wilhelmi geliebt haben sollte – also in erotischem Sinne –, dann doch wohl Alwine. Die war die Schönheit der Familie und konnte sich vor Verehrern kaum retten. Vom Typ her war sie der jungen Hildegard Knef ähnlich, herb und eher abweisend.
Was für eine vergebliche Liebesmüh, sie zu umwerben! Diskrete Affären hat Alwine sich gegönnt, aber mit dem Heiraten hat sie es nur ein einziges Mal versucht. In den frühen Fünfzigern. Nach drei Ehejahren hat sie dann entschieden, dass sie sich nicht herumkommandieren lassen will.
Befehle erteilt sie lieber selber und tut es als Haupterbin der Konditoreikette Wilhelmi und Gründerin eines Cateringservice noch heute. Mit bald fünfundachtzig Jahren ist Alwine die Grand Dame der Kölner Kaffeehausszene. Sehr vermögend, zäh wie Ziegenleder und beißfreudiger als ein Terrier.
Schon merkwürdig, dass der bedächtige, oft grüblerische Hilkmar einen solchen Narren an Alwine gefressen hat. Noch heute glucken die beiden aufeinander, gehen spazieren und rufen sich täglich an, seit Hilkmar verwitwet ist. Sogar seinem Lesezirkel in einer Pfarrbücherei ist Alwine beigetreten.
Nicht um über Bücher zu diskutieren, schon gar nicht mit »betagten Moosgesichtern und Trübetümpeln, die sich über anständige Krimis erhaben fühlen«, um Alwine zu zitieren, sondern um zu streiten. Über Gott und die Welt. Alwines größte Passion seit jeher.
»Widerspruch regt mein Hirn an, und am Ende weiß ich immer, dass ich recht habe«, behauptet sie.
Demnächst will sie mit Hilkmar und dem Lesezirkel sogar verreisen. Zur Feier ihres fünfundachtzigsten Geburtstages spendiert sie allen eine Luxusreise samt rauschendem Abschlussfest. Schöner Höllentrip wird das werden. Für alle Beteiligten. Außer für Alwine. Nur gut, dass sie selber nicht mit von der Partie sein muss, findet Oda. Dorkas und das Café gehen vor.
Sie wird sich ihrer herrischen Schwester nach einer jahrelangen, ach was, jahrzehntelangen Eiszeit, in der sie sich nur per Telefon ausgetauscht haben und einander allenfalls bei Festen und Beerdigungen alter Bekannter begegnet sind, mit Vorsicht annähern.
Und mit Ferdinand Wilhelmis berühmten Brioches.
Apropos. Sie lupft das Tuch und wirft einen Blick auf den Teig. Hm, platt wie ein Pfannkuchen ist der mit einem Mal. Damit kann sie die zänkische Alwine Besserwisser nicht beeindrucken. Das muss sie aber, schließlich braucht sie den Kredit von Alwine. Sie schielt zur Uhr. Himmel, schon bald neun. Um halb zehn kommen Alwine und Hilkmar zum Frühstück.
Oda lupft erneut das Tuch über der Schüssel. Meine Güte, der Teig lässt sich schrecklich viel Zeit.
»Wibbelsterz!«
Jaja, schon gut. Sie schielt erneut in Richtung Backuhr. Gerade mal acht Minuten sind vertickt. Herrje, das dauert aber. Na, Hauptsache, ihr Herz macht keine Kapriolen. Höchstens Freudensprünge. Weil es sich zuhause fühlt. Endlich daheim. Nach über einem halben Jahrhundert.
»Du kannst hier nicht links abbiegen, Alwine. Das ist eine Einbahnstraße!« Hilkmar Seelentag tritt auf eine imaginäre Bremse im Fußraum vor dem Beifahrersitz.
»Papperlapapp«, erwidert Alwine schnippisch und schlägt den Lenker ein. »Ich kenn doch den Weg zu meinem Elternhaus.«
»Wann warst du zuletzt in Ehrenfeld?«, will Hilkmar wissen und klammert sich haltsuchend an die Handschuhablage, während Alwine tüchtig Gas gibt.
Seine Fahrerin, ganz Dame in Chanelkostüm und altmodischen Autohandschuhen mit Lochmuster, zuckt mit den schmalen Schultern. »Vor vier, fünf Jahren?«
»Eher vor einem Jahrzehnt. Du bewegst dich doch so gut wie nie aus deinem Café in der Innenstadt weg«, bemerkt Hilkmar so streng wie vergeblich.
Ihrer zum Umhauchen zarten Erscheinung zum Trotz lenkt Alwine ihr Mercedes Coupé tollkühner als Ben Hur.
»Was du machst, ist verkehrswidrig, Alwine!«
»Quatsch, du Bangbüchs. Ich fahre sportlich, und hier ist weit und breit kein Polizist zu sehen!«
Hilkmar gibt sich geschlagen. Ihm liegt viel daran, heute für milde Stimmung zu sorgen. Es gehört sich einfach nicht, dass die beiden Schwestern seit Jahren entfremdet sind, und es tut ihm weh. So lange tut ihm das schon weh.
Die Wilhelmis waren eine ausnehmend glückliche Familie, als er sie kennenlernte. Der Inbegriff einer glücklichen Familie, die fest zusammenhielt, und das in schwerster Zeit. Im Krieg. Mit fortschreitendem Alter wird Hilkmar immer klarer, was für ein seltenes Glück das war. Sein Leben lang wollte er den Schwestern Wilhelmi etwas dafür zurückgeben, dass sie seine Familie waren, seine Heimat, die einzige, die er als Halbwüchsiger kennengelernt hat. Er seufzt leise.
Ohne die Wilhelmis wäre sein Leben unglücklicher verlaufen, vielleicht gäbe es ihn ohne die Wilhelmis nicht mehr. Vielleicht? Ganz sicher nicht. Hinter seinen Brillengläsern zieht Nebel auf, richtig feucht wird es. Herrje, das Alter macht rührselig. Rasch sucht er nach einem Taschentuch und nimmt die Brille zum Putzen ab.
All das darf er Alwine weder sagen noch zeigen. Von Sentimentalitäten hält sie nichts. Manchmal tut sie so, als könne eine zärtliche Gefühlsbezeugung – und sei sie noch so leise – sie umbringen.
Nahe kommt man ihr nur, wenn man einen Streit anbietet. Dann funkt und blitzt Alwine, wird leidenschaftlich, wenn auch in ausfallender und kindischer Weise. Ihr oft irrwitziger Zorn hält Alwine am Leben und dient dem Schutz ihrer zarteren Gefühle. Ein Herz, so zerbrechlich wie ein rohes Ei, verbirgt Alwine unter ihrer Schale aus Panzerstahl. Da ist er sich sicher.
»Weg da«, schimpft seine Freundin soeben und hält auf eine nickende Taube zu, die die Straße überqueren will. »Scheußlich, diese fliegenden Ratten.«
Hilkmar setzt seine Brille wieder auf. Wenn er sich nur nicht so ungern streiten würde. Er tut es nur Alwine zuliebe, und das ist kein richtiges Streiten, findet Alwine. Versuchen wird er es trotzdem. Vielleicht verraucht dann ihr Zorn über Odas geplante Neueröffnung der alten Bäckerei, bevor sie dort ankommen.
Mit einer gefühlvollen Wiedervereinigung der Schwestern will er gar nicht erst rechnen. Sie ist ähnlich utopisch wie eine endgültige Lösung des Nahostkonflikts, aber ein vernünftiges, wenn auch nur geschäftliches Gespräch zwischen Oda und Alwine wäre schon mal ein Fortschritt.
Alwine lässt den Mercedes gerade über einer Bremsschwelle abheben.
»Nimm sofort den Fuß vom Gas. Ich möchte lebend bei Oda ankommen«, schimpft Hilkmar so scharf wie möglich.
»Und ich pünktlich«, antwortet Alwine patzig und behält ihr rasantes Tempo bei. »Ich bin bekannt für meine Pünktlichkeit. Ganz im Gegensatz zu Oda. Wetten, sie hat noch nicht einmal den Kaffee fertig? Und backen will sie auch! Ausgerechnet Oda. Hat vom Backen und Kochen so viel Ahnung wie eine Kuh vom Stricken und kann keine Lauchstange von einem Staubwedel unterscheiden. Was ist das überhaupt für ein Quatsch, Frühstück um halb zehn! Dämliche Schauspielermanieren sind das. Kein Wunder, dass sie es im Leben zu nichts gebracht hat.«
»In deinen Cafés lässt du doch selber Frühstück bis mittags servieren.«
»Das ist was anderes. Meine Gäste können von mir aus um sechs Uhr abends frühstücken samt Drei-Minuten-Ei. Der Kunde hat immer recht.«
Alwines Mercedes rauscht über eine Kreuzung, das Auto hebt über einer weiteren Bodenwelle ab und landet auf einem klackernden Kanaldeckel. Hilkmar greift nach der Handschuhablage, um den Aufprall abzufedern. Himmel, das geht auf die Bandscheiben. Alwines müssen aus Titanstahl sein. Außerdem hat er sich den Kopf am Wageninnendach gestoßen. Alwines Coupé ist für einen Ein-Meter-neunzig-Mann wie ihn zu niedrig gebaut, selbst wenn er es gewohnt ist, stets geneigt durchs Leben zu gehen.
»Alwine, bitte zügele das Tempo und dein Temperament. Das Frühstück ist ein Versöhnungsangebot.«
»Ist es nicht«, widerspricht prompt Alwine. »Oda will mir nur Geld abknöpfen. Für diese Schnapsidee von einem eigenen Café. Als ob ich nicht genug Sorgen hätte.« Ihr Gesicht verfinstert sich.
»Vielleicht ist es gar keine Schnapsidee«, wendet Hilkmar vorsichtig ein. »Oda braucht eine Aufgabe. Oder kannst du dir deine quirlige Schwester beim Entenfüttern im Park vorstellen?«
»Nur bei Sonnenschein, in Stöckelschuhen und falls ein Fotograf in der Nähe ist. Weißt du noch? Als Kind durfte sie kurz nach dem Krieg im Kölner Zoo mal neben dieser Opernsängerin einen Schwan füttern. Für ein herziges Zeitungsfoto. Damit fing der Künstlerblödsinn an! Oda als die Shirley Temple von Köln. Pah. Ich hätte sie in der Bäckerei gebraucht, aber nein, sie wollte unbedingt zur Bühne. Die hofft wahrscheinlich immer noch, dass sie eines Tages wiederentdeckt wird als der Star, der sie nie war. Außer als Tierstimme in Zeichentrickfilmen.«
»Alwine, sei nicht töricht. Oda hat sich ungemein verändert.«
Vor allem seitdem ihr Herz aus dem Takt geraten ist, aber davon darf Hilkmar Alwine nicht einmal ansatzweise etwas verraten. Der ärztlichen Schweigepflicht wegen, und weil es Alwine tatsächlich umbringen könnte. So groß wie Alwines vorgeblicher Zorn auf Oda ist nämlich ihre Liebe für die kleine Schwester. Mit echter Inbrunst zürnt sie nur Menschen, die sie liebt, die anderen straft sie mit Missachtung oder einer Höflichkeit, die an Beleidigung grenzt. Wenn Alwine jemanden wirklich verabscheut, wird sie so höflich, dass man sich wundert, warum sie sich nicht selber siezt.
»Wahrscheinlich will Oda mein schwer erarbeitetes Geld in ihre Kellnerinnengarderobe investieren«, lästert sie neben ihm unverdrossen weiter, »neckische Schürzchen, enge Röcke, schwankende Stöckelschuhe. Hauptsache, die Pose stimmt und ihre Beine kommen zur Geltung.«
»Alwine, bitte! Oda ist eine Frau von zweiundsiebzig Jahren.«
»Und kein bisschen weise. Wenn sie in einem Café hätte arbeiten wollen, hätte sie das ihr Leben lang tun können. Zu königlichen Bedingungen. Als meine Geschäftspartnerin. Stattdessen haut das Fräulein mit siebzehn Jahren ab nach Hamburg. Wegen der Schauspielerei und bestimmt wegen eines halbseidenen Kerls. Bevor die jemals einen Kuchen anschneidet, lackiert sie sich zunächst die Fingernägel. Könnte ja sein, dass ein Heiratsschwindler mehr als nur ein Stück Herrensahne von ihr möchte.«
»Alwine, rede keinen Unsinn«, begehrt Hilkmar bestürzt auf. »Oda wird das Café nicht selber führen oder darin bedienen, sondern nur im Hintergrund mitarbeiten.«
Alles andere hat er ihr aus gesundheitlichen Gründen verboten und hofft, dass sie sich wenigstens an diesen Ratschlag halten wird.
»Oda kann auch aus dem Hintergrund jedes Geschäft ruinieren«, ätzt Alwine. »Sie hat nicht einmal einen Bäckermeister oder Konditor angestellt! Weder eigenes Brot noch Kuchen darf sie außer Haus verkaufen. Ein Café, das nur Sofortverzehr und teuer zugekaufte Backwaren anbietet, muss sehr erfolgreich sein, um …«
»Da vorne kommt eine rote Ampel«, lenkt Hilkmar erleichtert ab.
Widerwillig drosselt Alwine das Tempo, bremst, bleibt aber beim Thema.
»Warum ausgerechnet du dich für Odas absurde Geschäftspläne begeisterst, ist mir schleierhaft. Sie riskiert damit einen soliden Teil von Nils’ künftigem Erbe.«
Hilkmar windet sich auf seinem Sitz. Das ist noch so ein Thema, das er vermeiden wollte. Die kinderlose Alwine betrachtet seinen Sohn Nikolaus mehr und mehr als ihren Besitz. Erst recht, seit sie ihn als ihren Erben eingesetzt hat.
Als Patentante hat sie ihn stets großzügig bedacht, aber in jüngster Zeit wirkt seine alte Freundin unsagbar fordernd, wenn sie auf Nils zu sprechen kommt. »Fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen«, blitzt nicht zum ersten Mal eine lateinische Spruchweisheit in Hilkmar auf.
»Nils wird es verkraften, wenn dein Testament für ihn weniger üppig ausfällt«, sagt er vorsichtig. »Er hat eigenes Geld und Pläne für seine Zukunft.«
Falsches Stichwort.
»Pläne nennst du das!«, unterbricht ihn Alwine und versetzt dem Lenkrad einen Schlag. »Der Junge ist komplett durchgedreht! Schmeißt seinen Bankjob hin, um Ganztags-Papa zu spielen, und gibt sich seit über drei Jahren unnötigem Herzeleid wegen seiner Scheidung hin. Der dumme Junge braucht eine Aufgabe und endlich eine neue Frau. Ich werde dafür sorgen, dass er beides bekommt.«
»Eine neue Frau? Wie meinst du das?«, will ein alarmierter Hilkmar wissen.
Alwine übergeht die Frage. »Nils ist die Zukunft des Unternehmens Wilhelmi«, fährt sie fort, »es wird Zeit, dass er sich nicht länger wie ein unreifer Bengel benimmt.«
Der Bengel ist immerhin zweiunddreißig, denkt Hilkmar, und alles andere als unreif. Im Gegenteil hat er sich nach seiner viel zu frühen Heirat und einer sehr, sehr hässlichen Scheidung äußerst verantwortungsbewusst gezeigt, was seinen achtjährigen Sohn betrifft.
Hilkmars Vaterstolz gebietet einen Verteidigungsversuch, während Alwine mit aufjaulendem Motor wieder anfährt. »Nils hat seine Karriere als Investmentbanker aufgegeben, weil er sich in der Finanzwelt fehl am Platz fühlt. Er passt dort nicht hinein, und er hat viel nachzuholen.«
»Was denn bitte?!«, protestiert Alwine.
»Sein Leben! Ich meine, ein wirkliches Leben. Nils will nicht länger sechzehn Stunden vor Computern verbringen oder durch die Weltgeschichte fliegen, um windige Finanzprodukte zu verkaufen. Er möchte für Jurek da sein, nachdem die Mutter einfach abgehauen ist.«
»Wofür er dem lieben Gott ein Kerzchen anstecken sollte! Diese Tina ist kalt wie Hundeschnauze, immer schon gewesen.«
»Eben darum begrüße ich Nils’ Entscheidung, sich intensiv um seinen Jurek zu kümmern, und was eine berufliche Aufgabe angeht, ist Nils mit seiner derzeitigen Aufgabe zufrieden …«
»Als Teilzeit-Reiseleiter auf Honorarbasis? Noch dazu für ein Busunternehmen! Kegelbrüdern und Schnapsleichen Paris zu erklären ist doch keine Aufgabe!«
»Bei Beutel-Reisen handelt sich um eine Gesellschaft für gehobene Kulturreisen, wie du sehr wohl weißt. Immerhin hast du deine Geburtstagsreise dort gebucht.«
»Nur um Nils den Reiseleiterblödsinn auszureden. Am Telefon hört dein Sohn mir ja nicht zu. Ebenso wenig wie Oda. Die beiden sind die Nägel zu meinem Sarg …«
»Vorsicht Alwine, von links kommt ein Auto!«
»Dann habe ich Vorfahrt«, sagt sie.
»Nicht in einer EINBAHNSTRASSE.«
Hilkmar bremst mit beiden Füßen. Leider nur auf der Vorlegematte. Der herannahende Fahrer steigt ebenfalls in die Bremsen und bringt sein Auto mit quietschenden Reifen zum Stehen.
»Hasenfuß«, konstatiert Alwine. Sie nickt ihrem kopfschüttelnden Kontrahenten hoheitsvoll durch das Seitenfenster zu und fährt weiter. »Wo waren wir stehengeblieben?«, greift Alwine das Gespräch wieder auf.
»Bei Oda«, lügt Hilkmar beherzt. Das Thema Nils will er unbedingt beenden. »Sie wird als Geschäftsführerin für ihr Café übrigens eine junge Frau einstellen, die Erfahrung im Gastgewerbe hat. Deine Schwester ist höchst angetan von ihr.«
»Hat sie erwähnt«, knurrt Alwine. »Nehme an, es handelt sich um eine hergelaufene Servierkraft, die Oda faustdicke Lügen aufgetischt hat. Taucht aus dem Nichts auf, ohne jegliche Referenzen.«
»Auf mich hat die junge Frau einen guten Eindruck gemacht. Für ihre vierundzwanzig Jahre wirkt sie äußerst zielstrebig. Ein wenig verschlossen vielleicht. Was allerdings kein Wunder ist. Oda sagt, sie habe vor zwei Jahren ihre Eltern bei einem Unfall verloren.«
Alwine schnaubt. »Wer’s glaubt, wird selig!«
»Alwine!«
»Ist doch wahr! Meine kleine Schwester ist ihr Leben lang auf Dummschwätzer hereingefallen, die das Blaue vom Himmel gelogen haben. Jetzt scheint sie ihr mütterliches Herz für verdächtige Rumtreiberinnen zu entdecken.«
»Du kennst diese Dorkas doch noch gar nicht.«
»Aber meine Schwester! Naiv wie Jim Knopf. Hat zu viele Kinderfilme synchronisiert. Dorkas, was ist das überhaupt für ein affiger, neumodischer Name?«
»Der Name ist nicht neu, sondern sehr alt. Altgriechisch, um genau zu sein«, erläutert Hilkmar und verfällt ins Dozieren, was ihm bedeutend mehr liegt als Zanken. »Dorkas bedeutet Gazelle und kommt bereits in der Bibel vor, meist in der aramäischen Form Tabita, die Luther mit ›Reh‹ übersetzt hat, was nicht korrekt ist. Dorkas war eine Jüngerin Jesu, bekannt für ihre Hilfsbereitschaft.«
»Weder altgriechische Gazellen noch biblische Rehe haben in anständig geführten Kaffeehäusern was zu suchen. Im Gastgewerbe braucht man eine Ochsennatur. Gazelle, pah! Wenn ich daran denke, an welches Gelichter Oda unser schönes altes Geschäft immer so vermietet hat.«
»Ihr Geschäft«, korrigiert Hilkmar.
Alwine überhört es. »Der letzte Mieter war ein Knastbruder!«
Hilkmar runzelt verwirrt die Stirn. »Meinst du den Badezimmer-Ausstatter, der Insolvenz anmelden musste?«
»Wenn der jemals Badezimmer eingerichtet hat, dann bin ich die Hochzeitstortenlieferantin für die Königin von England! Der hat doch nur drei Duschköpfe ins Schaufenster gelegt, um im Hinterzimmer Pferdewetten anzunehmen oder Geld für die Russenmafia zu waschen.«
»Der arme Mann hatte lediglich Ärger mit dem Finanzamt, sagt Oda. Wir leben in wirtschaftlich sehr schwierigen Zeiten.«
»Wem erzählst du das! Aber das Unternehmen Wilhelmi bringt keiner zur Strecke, das verspreche ich dir! Erst recht keine linke Gazelle.«
»Was du meinst, sind linke Bazillen. Du solltest weniger Kriminalromane lesen, Alwine. Überall vermutest du Bösewichter. Danach sieht diese Dorkas ganz und gar nicht aus.«
»Na und? Wenn der Teufel mit Hörnern und Bocksfuß rumliefe, würde keiner auf ihn reinfallen. Nicht mal Oda. Merk dir das!«
»Trrrrrrrrrrr«, schrillt die Backuhr.
Jetzt aber! Oda zieht das Tuch von der Schüssel. Zum Kuckuck noch eins! Mindestens doppelt so hoch müsste der Teig sein und kleine Blasen werfen, damit die Weckchen im Ofen ihr fluffiges, langfaseriges Innenleben entwickeln. Ferdinand würde sich beim Anblick dieser Katastrophe samt Baskenmütze im Grab umdrehen. Wo auch immer das liegen mag. Aus, basta, Schluss mit der Vergangenheit!
Sie versetzt dem zähen Teigklumpen einen verärgerten Klaps und hievt ihn auf ein Holzbrett. Mehl stäubt auf und setzt sich kitzelnd in Odas Nase fest. Sie wendet den Kopf und niest so damenhaft wie möglich in Richtung Fenster.
»Gesundheit und guten Morgen!«
»Dorkas!« Oda wirbelt herum. Ihr Herz macht einen Freudenhüpfer – das kann es wirklich einwandfrei – und hopst verlässlich, sobald sie Dorkas sieht. Ihr Gesicht lädt Oda wie stets zum Verweilen ein. Sie kann sich nicht sattsehen an diesen meergrauen Augen unter dichten Wimpernkränzen, den hohen Wangenknochen. Wundervoll. Ein richtiges Bühnengesicht. Man vergisst es nicht, wenn man es einmal betrachtet hat. So ein Gesicht haben nur wenige Menschen. Zwar steht die Nase darin leicht schief, und kleine kirschförmige Münder sind derzeit völlig aus der Mode, aber alles in allem ist Dorkas zum Anbeißen hübsch.
Wer das nicht sieht, muss blind sein, findet Oda, die sich an den Silberringen in Dorkas’ Augenbrauen und dem Peridotsteinchen im linken Nasenflügel nicht stört. Die gefallen dem Mädchen wahrscheinlich, weil es in Indien zur Welt gekommen ist. Ihre Eltern waren in jungen Jahren richtige Abenteurer. In jedem Fall sieht der Schmuck apart aus, genau wie die blau gefärbte Strähne in Dorkas’ dunklem Haar.
Sie pustet sie sich gerade aus dem Gesicht, zieht eine Glaskanne aus der Kaffeemaschine und gießt sich einen Becher ein.
»Ich dachte, Sie säßen oben am Computer«, sagt Oda.
Die junge Frau schlängelt sich an einer blitzenden Knetmaschine vorbei zu ihr an den Backtisch.
»Ich musste den Postboten abgefangen«, erklärt sie und hält ein Päckchen hoch, das Oda bislang nicht bemerkt hat. »Da ist was Spannendes für uns drin.«
»Ach ja?«
Dorkas reißt den Umschlag auf und zieht eine vom Alter gelb gewordene Pappbroschüre heraus. »›Zeitgemäße Sparrezepte für die kluge Hausfrau‹. Eine Koch- und Backfibel aus dem Jahr 1947. Gedruckt in Köln. Ich habe es in einem Internetantiquariat für gebrauchte Bücher bestellt. Wussten Sie, dass die ersten Bücher nach 1945 Kochbücher waren? Na ja, eigentlich kein Wunder.« Sie flippt ein paar Seiten mit den Fingern durch. »Dadrin finden wir bestimmt die Nachkriegsrezepte, von denen Sie erzählt haben. Kuchen aus Eichelmehl, Salat aus Vogelmiere und gefärbten Pudding aus Kartoffelstärke mit Aromaersatz. Ich will sie unter dem Stichwort ›Historie‹ auf unsere Café-Homepage stellen. Mit solchen Sachen haben Sie und Ihre Schwester doch damals wieder angefangen. Oh, hier sind sogar handschriftliche Notizen drin.«
»Eh ja, gut, glänzende Idee«, lobt Oda verhalten und wie zerstreut. Sie spielt gern die Zerstreute, wenn sie ein Thema nicht weiterverfolgen will. Zerstreutheit wirkt in ihrem Alter normal, und, wenn man es gekonnt anstellt, sogar charmant. Die Rolle der leicht tüddeligen älteren Dame eröffnet neue Möglichkeiten, ungestraft nur das zu tun und zu hören, was man auch tun und hören möchte, und den Rest zu ignorieren.
Etwa Dorkas’ Idee, die wechselvolle Geschichte des »Café Wilhelmi« im Internet nachzuerzählen.
Bei aller Liebe, dem Vorschlag kann sie nichts abgewinnen. Zumal es eben Geschichten gibt, die sie Dorkas unter keinen Umständen weitergeben kann. Nie und nimmer. Zumindest nicht vor ihrem eigenen Ableben. Kuchen aus Eichelmehl und Brennnesselsuppen sind die eine Sache, ihre Familiengeheimnisse eine andere.
»Nach meinen Recherchen«, fährt Dorkas unbekümmert fort und legt die Broschüre beiseite, »konnte nur eine Hand voll von Bäckern in Köln sofort nach dem Krieg wiedereröffnen, und nur wenige haben einen so glanzvollen Neustart geschafft wie Ihre Schwester. Abgesehen von der Firma Gimmler natürlich. Glauben Sie, dass Ihre Schwester mir nachher mehr über die Familie erzählen kann als Sie?«
»Es wäre mir lieb, wenn Sie die Gimmlers im Beisein meiner Schwester nicht erwähnen«, sagt Oda hastig.
»Aber warum denn nicht? Die Familien müssen sich gekannt haben, und immerhin war Heinrich Gimmler …«
Rasch wendet Oda sich dem Teig zu und stößt einen genau dosierten, theatralischen Schrei aus. »Gott, der ist das reinste Trauerspiel!«
Das genügt. Heinrich Gimmler ist vergessen. Dorkas betrachtet Odas Werk mit kaum merklich gelupften Brauen. Sie legt die Kochfibel beiseite und tupft einen Finger in den Teig. Der Teig gibt nicht nach.
»Zäh wie Knetgummi«, stöhnt Oda hilflos.
»Haben Sie genügend Hefe genommen?«, fragt Dorkas sachlich.
»Natürlich! Zwei Würfel auf ein Kilo Mehl. Das ist doch richtig, oder?«
»Schon, aber war es vielleicht nur einer?«, fragt Dorkas und fischt ein Päckchen in goldglänzender Folie vom Boden.
»Herrje, das muss mir heruntergefallen sein«, stöhnt Oda. Manchmal ist sie leider wirklich zerstreut.
»Macht nichts«, tröstet Dorkas. »Wir müssen einfach ein bisschen pfuschen. Ich knete rasch einen Zwillingsteig mit Backpulver. Den mengen wir dann unter.« Rasch krempelt sie die Ärmel ihres wild gemusterten Indienhemdchens auf.
Reflexhaft wandern Odas Augen zu Dorkas Handgelenken, die mit bunten Flechtbändern umwickelt sind. Bis fast hinauf zu den Ellbogen. Legt sie die eigentlich nie ab? Hm, auf Dauer geht das nicht in einer Bäckerei.
»Keine Bange«, sagt Dorkas, während sie den Mehlschub aus dem Backtisch zieht und schwungvoll eine Schaufel abmisst, »den Unterschied merkt hinterher keiner.«
Außer Alwine, weiß Oda.
»Gehen Sie ruhig nach vorne und warten Sie auf Ihre Schwester«, sagt Dorkas. »Ich habe bereits einen Tisch gedeckt und Blumen in die Vase gestellt. Rote Gerbera, die mögen Sie doch, oder?«
»Danke, das ist sehr lieb.«
Und typisch Dorkas. Ein so umsichtiges Kind. Mit gerunzelter Stirn betrachtet Oda beim Hinausgehen die »Sparrezepte«. Irgendwie kommt ihr das Büchlein bekannt vor. Na, die hatten nach dem Krieg ja alle. Für Alwine war ein ähnliches Heft bis weit in die Fünfziger ihre liebste Bettlektüre. Außerdem hat sie gefälschte Lebensmittelmarken darin versteckt. Nein, waren das Zeiten!
»Alwine, bieg jetzt bitte nicht auch noch rechts ab! Das ist wieder eine Einbahnstraße.«
»Papperlapapp, wir müssen rechts rein, da ist doch die Bäckerei. Einbahnstraßen sind nützlich wie ein Loch im Kopf.«
»Alwine, halt sofort an! Da kommt uns ein Radfahrer entgegen.«
»Das ist ein Briefträger, der kann ausweichen.«
Nicht ohne gewaltig ins Schlingern zu geraten.
Alwine bremst abrupt, der Briefträger auch. Knapp vor Alwines Kühlerhaube kommt er zum Stehen, um ihr einen Vogel zu zeigen. Alwine setzt schimpfend zurück, legt krachend den ersten Gang ein und weicht ihm und einer Schimpfkanonade mit einem Linksschlenker aus.
»Also, ein Benehmen ist das!« Alwine verdreht den Kopf nach dem Postboten und tastet nach dem elektronischen Fensterheber, während der Wagen weiterrollt. »Kein Respekt vor gebrechlichen alten Damen! Diesem Armloch in Uniform werde ich mal Manieren und Anstand beibringen.«
»Alwine! Schau wenigstens geradeaus, wenn du dich schon nicht an die Verkehrsregeln hältst«, fordert Hilkmar und bremst erneut in seinem Fußraum.
»Sei nicht so feige«, kontert Alwine, gibt Gas und dreht zur Abwechslung ihm das Gesicht voll zu. »Ich fahre seit über sechzig Jahren nahezu unfallfrei Auto und …«
»Halt dich rechts«, schreit Hilkmar.
Zu spät.
Der linke Vorderreifen schrappt mit hässlichem Geräusch an einer Bordsteinkante entlang, es gibt einen Schlag, Blech knirscht, Alwine bringt ihren Mercedes unter Zuhilfenahme der Bürgersteigkante zum Stehen.
Stille.
Bis auf ein feines »Pppppfffft«, das durch das heruntergelassene Fahrerfenster dringt und mit dem zischend der Reifen verendet.
»Jetzt schau dir nur an, was du jetzt wieder angerichtet hast, Hilkmar«, schimpft eine bleiche Alwine.
»Ich«, stößt Hilkmar eher verblüfft als empört hervor.
»Natürlich du! Hättest du mich nicht abgelenkt, wäre das nicht passiert. Das Taxi zurück geht auf deine Rechnung, und über die Schadensregulierung reden wir noch.«
»Kaffee aus Togo für einen Euro fünfzig. Was soll denn das sein?«, fragt Alwine angriffslustig und blickt von einem Probedruck einer Speise- und Getränkekarte auf. Sie rückt bis zur Stuhlkante vor und fixiert ihre Schwester wie ein Kriminalkommissar, der eine Fangfrage stellt.
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