Rentner sind besser als ihr Ruf - Ellen Jacobi - E-Book

Rentner sind besser als ihr Ruf E-Book

Ellen Jacobi

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Beschreibung

Ein heiterer Roman über fiese Investoren, tatkräftige Senioren und das, was jahrzehntelange Freundschaft ausmacht

Henriette von Aschberg ist fassungslos: Ihr Adoptivbruder Konstantin setzt alles daran, das Hochhaus zu entmieten, das ihnen je zur Hälfte gehört. Er will es abreißen, auf dem Grundstück lukrative Eigenheime errichten lassen und sich damit eine goldene Nase verdienen. Für die Altmieter empfindet er nichts als Verachtung, Henriette dagegen bedeuten sie alles. Zusammen mit ihren Freunden schmiedet die alte Dame einen Plan, um das Haus und die langjährige Gemeinschaft zu retten. Wie gut, dass sie in der Eifel noch ein altes Jagdschloss besitzt, in das sie und ihre Freunde sich einstweilen zurückziehen können ...


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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMotto1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.Epilog

Über das Buch

Ein heiterer Roman über fiese Investoren, tatkräftige Senioren und das, was jahrzehntelange Freundschaft ausmacht Henriette von Aschberg ist fassungslos: Ihr Adoptivbruder Konstantin setzt alles daran, das Hochhaus zu entmieten, das ihnen je zur Hälfte gehört. Er will es abreißen, auf dem Grundstück lukrative Eigenheime errichten lassen und sich damit eine goldene Nase verdienen. Für die Altmieter empfindet er nichts als Verachtung, Henriette dagegen bedeuten sie alles. Zusammen mit ihren Freunden schmiedet die alte Dame einen Plan, um das Haus und die langjährige Gemeinschaft zu retten. Wie gut, dass sie in der Eifel noch ein altes Jagdschloss besitzt, in das sie und ihre Freunde sich einstweilen zurückziehen können ...

Über die Autorin

Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt Ellen Jacobi mit ihrer Tochter in Köln. In ihren Regionalkrimis sorgen die Privatermittler Lothar E. Schuknecht und Veronika Dornbusch-Bommelbeck im Bergischen Land für Ordnung. In ihren beliebten Rentner-Romanen suchen und finden jung gebliebene Senioren das Glück.

Ellen Jacobi

Rentner sind besserals ihr Ruf

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Personen, Schauplätze und Geschehnisse dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig, aber nicht unerwünscht.

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2020 by Ellen Jacobi

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Titelillustration: © Ommo Wille

Umschlaggestaltung: Thomas Krämer

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-8612-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Den Helden meinerKindheit gewidmet.

 

Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodiedeines Herzens kennt und sie dir vorspielt,wenn du sie vergessen hast.

Albert Einstein

Echte Fründe ston zesamme.

Die Höhner

1.

Wind blättert in den Säulenpappeln, lässt letzte Blütenkätzchen schneien, frischt plötzlich auf. Eine Böe wiegt und zaust die maigrünen Kronen, zwingt sie zum Tanz. Zu schwindelhohen Riesen sind die Bäume in sechzig Jahren aufgeschossen, ihre Wipfel verschleiern einen verkehrsbrausenden Autobahndamm in Richtung Rheinbrücken und Düsseldorf und reichen bis hinauf zu den Fenstern der kleinen Penthousewohnung auf dem Hochhausdach.

Es ist die ehemalige Hausmeisterwohnung, direkt neben dem Anbau für die ächzende, mitunter rumpelnde, weil betagte Fahrstuhltechnik. Hinter den Fenstern, die Pappeln fest im Blick, mit dem Rumpelfahrstuhl per Du und längst versöhnt, ja, geradezu darin vernarrt, steht Henriette »Henny« von Aschberg, seit fünf Jahren Bewohnerin des Hochhausdachs, außerdem Unternehmerstochter, Architektenwitwe und Erbin der sechs Stockwerke unter ihren Füßen.

Henny runzelt missvergnügt die Stirn.

Nun ja, zur Hälfte. Noch.

Wäre das Haus ganz ihr Eigen und hätte sie Kinder als Erben, würde sie nicht so schrecklich in der Bredouille stecken. Der Aschberg-Clan, ihre dank Baustoffhandel – erst Holz, dann Ziegel, später Zement, Kies, Beton et cetera – über Generationen steinreich gewordene Familie, will Hand oder besser gesagt Kettensägen, Wurzelgrubber und Fräsen an die Pappeln legen. Um freie Bahn zu schaffen für Bagger und Abrissbirnen.

Gefühlloses Pack, elende Sippschaft, immer gewesen!, schimpft Henny stumm.

Das Hochhaus und halb Hoffnungsthal, ein luftiges Vorzeigeviertel des sozialen Wohnungsbaus, 1959 nach Entwürfen von Stararchitekt Johann Riemann, Hennys längst Verstorbenem, in Rekordzeit gebaut, soll lukrativen Luxusimmobilien und Tiefgaragen weichen. Auf der anderen Seite der Autobahn haben die Bauarbeiten bereits begonnen. Da stört ein ehemaliger Sozialbau der Wirtschaftswunderzeit, egal, wie hübsch er ist mit seinem rosaroten Backstein, dem lichten Terrazzotreppenhaus und den schwebenden Balkonen. Seine Bewohner – egal, wie alt und glücklich sie in dem Hochhaus, mit den günstigen Mieten und den tapfer tanzenden Pappeln sind – stören erst recht.

Ebenso die Schrebergartenanlage Grünbäumchen 1930 e.V., der reizende Park mit Schaukeln, Ententeich und Schützenhaus, der Kirmesplatz, der am Niederrhein nie fehlen darf, und die bescheidenen Reihenhäuschen. Hennys Blick durcheilt die grüne Wohnoase tief unter ihren Wohnzimmerfenstern. Ein Paradies, wie sie findet. Eine heile Welt. Die Aschbergs wollen diese Welt ausradieren und eine neue bauen – eine hässliche.

Wenn das der Riemann noch erleben müsste!, schnaubt Henny innerlich. Johann Riemanns Devise lautete: Ein Hochhaus soll schmücken, nicht erdrücken. Und daran hat er sich gehalten. Er mag ein lausiger Ehemann gewesen sein, aber er war ein ausgezeichneter Architekt.

Ihrer sogenannten Familie schweben gruselig klotzige weiße Flachdachwürfel in Stapeln, vom Singleformat bis hin zur Villengröße, vor. Dicht an dicht gebaut, damit genug Rendite abfällt. Dazwischen soll es künstliche schnurgerade Kanäle geben, klinisch saubere Rollrasenflächen im Handtuchformat und Zierkirschen, stramm in Reih und Glied gepflanzt. Anstelle von Kirmesplatz, Kleingartenanlage und Park ist ein Golfplatz angedacht.

Eine Art gehobene Disneylandschaft und vornehme Käfighaltung soll das werden, findet Henny. Für Großstadtpendler, Besserverdiener und Betuchte oder solche, die sich dafür halten und sich hinter bodentiefen Fenstern zur Schau stellen wollen.

Von Aschbergs werden hier nicht wohnen, das ist mal sicher. Die würden selbst niemals zu horrenden Mieten oder astronomischen Kaufpreisen in sterilen Bauklotztürmchen leben wollen. Schon gar nicht würden sie ihren Reichtum herzeigen. Tja, und für so einen Mist sollen ihre alten Mieter rausgeworfen und in alle Winde zerstreut werden.

Zorn kocht in Henny hoch, ihr Rebellenblut pulsiert, ihr juckt es in den Fingern, dem morgendlichen Besucher, der ihr im Nacken, genauer gesagt am Biedermeiertisch in ihrem Rücken sitzt, ein paar Backpfeifen zu verpassen. Noch besser, sie holt ihre alte Jagdbüchse aus der Besenkammer und schießt ihn zur Tür hinaus. Dank Förster Bellhaus weiß sie seit ihrer Kindheit, wie man eine Flinte benutzt und damit trifft.

Haltung, Henny, Haltung!, mischt sich ihre innere Gouvernante ein. Vergeblich. Zumindest, was ihre wahren Gefühle betrifft. Äußerlich anzusehen ist Henny davon freilich nichts. Kerzengerade, tadellos frisiert und erlesen elegant gekleidet, ganz Inbegriff einer vornehmen alten Dame von 79 Jahren, steht sie trotz kochendem Rebellenblut an den Fenstern.

Die Bau- und Abrisspläne sind Henny natürlich nicht neu. Neu ist, dass der einleitende Pappelkahlschlag am Hochhaus bereits für diesen Herbst und ganz an ihr vorbei geplant worden ist, wie ihr Überraschungsgast vor zehn Minuten mit raumgreifender Stimme verkündet hat.

Dreckskerl.

»Die Pappeln müssen weg. Schon aus Sicherheitsgründen«, hat Konstantin von Aschberg sie noch im Türrahmen – Begrüßung Fehlanzeige – mit einem Mundwerk wie ein Maschinengewehr unter Feuer genommen. »Die sind bestimmt morsch bis auf die Knochen, völlig verrottet. Wir wollen ja nicht, dass auf die letzten Meter noch ein Mieter durch umfallende Bäume zu Schaden kommt.«

Sodann hat er ihr kleines, aber feines Wohnzimmer erstürmt, die Pappeln voll Abscheu beäugt und nachgeladen. »Ich sehe schon die Schlagzeilen Rentner auf Balkon von Pappel erschlagen. Gruselige Vorstellung, so geschäftsschädigend. Und denke nur, einer der Bäume könnte dich treffen! Welch ein Verlust.«

Sollte das eine verkappte Drohung sein?, sinniert Henny grimmig. Möglich wäre alles. Konstantin Freiherr von Aschberg, ihr dreißig Jahre jüngerer Adoptivbruder, ist der geborene Kotzbrocken.

Optisch gibt er gern eine Art britischen Gentleman vom Lande. Mal im hundebehaarten Tweedjackett und Hunter-Gummistiefeln, mal, so wie heute, im dunkelblauen Wappenblazer zu rahmengenähten Schuhen, stets mit keramikverblendetem Lächeln. Außerdem hat er eine Vorliebe für Paisley-Einstecktücher. Kurz, er sieht meist aus wie einer Inspektor Barnaby-Folge entsprungen. Ein Endvierziger in der Rolle des jovialen Landedelmanns. Henny kann er damit nicht täuschen.

Konstantin ist kein Gentleman, sondern der Mann fürs Grobe im Aschbergclan. Heimtücke und unsaubere Methoden sind Konstantins Spezialgebiet. Mehr traut man ihm als Sprössling einer allenfalls halbadeligen Seitenlinie nicht zu, das allerdings zu hundert Prozent. Konstantin würde alles tun, um in die oberen Ränge der Familie aufzusteigen.

Zweifellos hat man ihm das Kommando in Sachen Hochhaus übergeben. Er soll sie in den Wahnsinn treiben oder mit viel Glück einen Herzanfall bei ihr auslösen. Ihr plötzliches Ableben würde schließlich den sofortigen Abriss des Hochhauses ermöglichen. Im Falle ihres Todes gehen das Haus und der Grund und Boden – ehemals spottbilliges Ackerland, jetzt millionenwertes Bauland – nämlich zurück an den Aschbergclan. Das ist Familientradition, wenn erbberechtigte Kinder fehlen.

Hennys Mund wird zum wütenden Strich.

Nun, noch lebt sie und ist, von ein paar Altersmalaisen abgesehen, geradezu lächerlich gesund. Da kommt sie auf ihren Urgroßonkel, Graf Heinrich Siegismund Frowein. Der war im Alter mehr Lebemann als Industriebaron, ist 98 geworden, bis zuletzt Parforcejagden geritten und am Ende einem Herzschlag in der Bügelkammer seiner properen Haushälterin erlegen – und das nicht beim Wäschefalten.

Alles in allem war er einer der wenigen sympathischen Vertreter des Aschberg-Geschlechts. Und ein origineller. Seine Nachfahren nennen ihn allerdings despektierlich »Graf Gaga«.

Herrje, jetzt schweifen deine Gedanken ab!, ruft Henny sich zur Ordnung. Leider neigen ihre Gedanken zum Abschweifen, besonders in Gegenwart von Kotzbrocken Konstantin, dem Unerträglichen.

»Wie du weißt«, meldet der sich in schönstem Einklang mit seinem wahren Charakter – dem eines Schmierlapps und Lügners – hinter ihr wieder zu Wort, »nehme ich Fragen der Fürsorgepflicht sehr ernst. Du und deine Mieter, ihr liegt mir am Herzen.«

Als ob!

Konstantins Herz ist ein Rechenschieber, weshalb er gerade seine zweite Scheidung durchmacht. Vielleicht ist es auch die dritte, überlegt Henny. Ihr Adoptivbruder hat eine Schwäche für teure Vorzeigeblondinen. Gewöhnlich kommen sie aus halbwegs gutem Hause und sind nicht komplett bildungsfern, dafür aber wohlstandsverblödet. Kurz, es handelt sich um strohdumme, aber gerissene Gänse und verwöhnte Zicken.

Wenn Henny sich recht entsinnt, heißt Konstantins derzeitige künftige Ex-Frau Katja und hat als Erbin selbst Geld »an de Fööss«, wie es am Niederrhein heißt. Trotzdem dürfte die Trennung für Konstantin mal wieder kostspielig werden. In besseren Kreisen schenkt man sich nichts.

Ein Grund mehr für ihn, die lukrativen Baupläne forsch und im Sinne des Clans voranzutreiben. Er dürfte kräftig daran mitverdienen.

Was sagt man zu so einem? Nichts! Den schweigt man tot. Deshalb hat sie diesem Prinz Protz mit Wappenring den Rücken zugekehrt und gibt sich ungerührt, obwohl sie sich in Wahrheit wie ein Häufchen Elend fühlt.

Hinter ihr am Biedermeiertisch raschelt Papier. Konstantin ist zum Studium von Mietunterlagen, Kontoauszügen und Geschäftsakten – ihren Auszügen und Akten – übergegangen. Leider hat er als Miteigentümer des Hochhauses ein Recht darauf. Bei den von Aschbergs gebietet die Tradition – und Tradition ist bei den Aschbergs alles –, dass die Männer der Familie sämtliche Vermögenswerte und deren Vermehrung ständig im Blick behalten.

Konstantin murmelt was von »unsinnigen Investitionen ins Haus«, »Kostenoptimierung«, »lächerlichen Mieten auf Sozialhilfeniveau« und »heillos überzogenen Konten, kurz vor Bankrott«.

Hallo? Ich bin doch noch nicht pleite! Oder doch? Jedenfalls nicht vollständig. Henny ist kurz verunsichert, beruhigt sich aber sofort wieder. Sie hat schließlich immer noch Graf Heinrich Siegismund Froweins Jagdschloss in der Eifel, das kann ihr keiner nehmen.

Das hat auch keiner vor, denn das Schloss ihres Urgroßonkels, eher eine ziemlich geschmacklose kleine Burg aus der Gründerzeit, gilt als unverkäufliches Groschengrab. Sonst hätten die von Aschbergs es ihr, dem sprichwörtlichen Enfant terrible der Familie, niemals vollständig und – anders als das halbe Hochhaus – ohne Bedingungen überlassen. Von ein, zwei höchst dubiosen Geschäftsleuten abgesehen, hat Henny denn auch bislang niemand ein Kaufangebot unterbreitet. Egal, in welchem Zustand es ist: Es liegt ihr am Herzen, ist sie hier doch fern der Familie und des in den letzten Zügen liegenden Zweiten Weltkriegs glücklich aufgewachsen.

Konstantin seufzt hinter ihr, als müsse er sich ohne Betäubung einer Wurzelbehandlung unterziehen. »Oh, oh«, stöhnt er. »Das sieht schlimm aus, fürchterlich.«

Kurz drohen Hennys Knie einzuknicken. Stimmt das?

»Übrigens stehe ich mit dieser Ansicht nicht allein«, fährt Konstantin Lackaffe fort. »Ich habe kürzlich ein Schreiben vom Finanzamt erhalten, in dem der von dir in der Steuererklärung veranschlagte Mietzins angesichts der begehrten Wohnlage als viel zu gering erachtet wird. Mit anderen Worten: Man hält deine Angaben für getürkt, dich für eine Steuerbetrügerin und fordert dich zu einer sofortigen Mietanpassung auf. Ein Abriss und die Neubauten würden diesen unerquicklichen Vorgang natürlich beenden.«

Haltung, Henny, Haltung, predigt sie sich, streckt sich energisch, zaubert eine tadellos entspannte Miene auf ihr Gesicht. Mit Erfolg. Kurz wendet sie den Kopf, schenkt Konstantin ein höfliches Lächeln, bis der den Blick senkt und sich in die Aktenlektüre zurückflüchtet. Mit Höflichkeit kann der nicht umgehen. Wurm!

Sie hat nicht umsonst in jungen Jahren, zur Zeit des deutschen Fräuleinwunders, also in den 1950ern, kurz als Hutmodell und dann als eine der ersten Lufthansa-Stewardessen – Gastgeberin der Lüfte hieß das – gearbeitet. Natürlich zum Entsetzen der Familie. Eine selbstständige Frau galt als unschicklich, Arbeit als »Proletenschicksal«.

Obwohl beides damals durchaus vornehme Tätigkeiten waren. Ihr Adelsname kam ihr bei beidem zugute. Frauen von unnahbarem Charme und Eleganz bis in die Handschuhspitzen waren gefragt, Damen wie sie eben.

Und mit den Mitteln einer solchen wird sie den Kampf um das Hochhaus gewinnen. Jawohl! Ihr linealgerader Gang, einschüchternde Manieren und der Anschein, unerschütterlich bis hin zur Gefühlskälte zu sein, können, wie Henny glauben will, nach wie vor so gewinnend wie vernichtend sein. Kommen noch eine Prise Bauernschläue, List und Tücke hinzu. All das steuern die fabelhaften Mitstreiter unter ihren Mietern bei. Lauter gewiefte alte Kämpen. Sie ist also bestens gewappnet.

Na ja … fast, denn in ihr sieht es nun mal anders aus. Wieder zittern Hennys Knie. Aus so vielen Gründen.

Ihr Blick flüchtet zurück ins goldene Blättergeflirr vor den Fenstern, tanzt ein Weilchen mit den Bäumen. Seit sie vor fünf Jahren hergezogen ist, liebt sie die Pappeln so leidenschaftlich wie das Haus. Unter anderem. Der Rest geht keinen was an.

Schon gar nicht Konstantin, den Rechenschieber. Gefühle tiefer Zuneigung gelten den von Aschbergs – einer rheinisch-katholischen Unternehmerdynastie in zwölfter Generation, adlig in sechster, Motto »Keiner begehre, was mein ist« – von jeher als verzichtbarer Luxus, der angreifbar macht und dem Geschäft schadet. Was stimmen mag. Ganz sicher sogar.

Es genügt, dass der Aschbergclan sie wegen ihres Auszugs aus einer Villa mit Rheinblick und des Umzugs hierher sowie einiger Schenkungen, die sie seither verfügt und durch die sie ihr Privatvermögen stark gemindert hat, für restlos übergeschnappt hält.

»Die irre Hochhausgräfin« nennt ihr Clan sie mit abfällig gerümpfter Nase, als sei sie ein schlechter Geruch und eine Wiedergängerin des »Grafen Gaga«. Was nichts Neues ist. Henny schluckt, ihre Gedanken stolpern ungebremst eine düstere Kellertreppe hinab.

Sie galt von Anfang an als Fehlschlag, weil sie ein Mädchen war und den im Krieg gefallenen Sohn und designierten Erben nicht ersetzen konnte. Sie war allenfalls geeignet, mit ihr ein lohnendes Geschäft am Heiratsmarkt zu tätigen und die Erbfolge für die mehrköpfige Geschäftsführung – rein männlich wie seit anno Piefendeckel, versteht sich – zu sichern.

In beiderlei Hinsicht hat sie früh und noch minderjährig ganz grandios und unverzeihlich skandalös gepatzt. Der Liebe wegen. Entehrt war sie, so sagte man damals. Damaged goods, beschädigte Ware, trifft es eher. In der Folge ist sie kinderlos geblieben. Es war eine dunkle, schrecklich dunkle Zeit, gemessen an ihrem langen Leben freilich nur eine kurze Episode, aber was die Familie ihr damals angetan hat … und …

Haltung, Henny, Haltung!, trotzt sie gegen ihre erneut schweifenden Gedanken und einen silberhellen, messerscharfem Schmerz an, der sie hinterrücks durchbohren will. Gott, wie besessen sie als junges Mädchen davon war, ihre blöde, hundsdämliche Unschuld zu verlieren, und wie schmerzlich zu begreifen, dass verlorene Unschuld nie mehr zurückzuholen ist!

Henny reckt das Kinn. Gleichgültig! Wenn es darum geht, eiskalt Haltung in allen Lebenslagen zu wahren, ist sie nicht nur ehemaliges Hutmodell und Ex-Gastgeberin der Lüfte, sondern auch von Aschberg durch und durch. Gelernt ist gelernt. Von ungezählten Kinderfrauen, die sie mit viel Energie verschlissen hat, deren Prinzipien in Gestalt ihrer inneren Gouvernante aber immer noch nachwirken.

Momentan ist das gut so, versichert sich Henny, sehr gut, und zupft die Manschetten ihrer Chanelbluse glatt, denn Schmerz, Reue oder, schlimmer noch, Liebe – Gott bewahre! –, einfach jede Art von Gefühlsbekundung sind in Anwesenheit von Konstantin fehl am Platz, sogar brandgefährlich.

Dumm nur, dass ihre Gefühle mehr noch als ihre Gedanken zum Ungehorsam neigen und Konstantins als Überraschungsbesuch getarnter Überfall ungelegener nicht kommen könnte. Sie erwartet schließlich weiteren, wirklich wichtigen Besuch aus Berlin, dem Konstantin keinesfalls begegnen darf. Sie hat extra eine feine kleine Einladung unter der Wohnungstür im Erdgeschoss durchgeschoben. Auf feinstem Bütten. Für 12 Uhr zu einem leichten Lunch, Räucherlachs und Crémant. Sie muss Konstantin vorher unbedingt hinauskomplimentieren, ohne dass er Verdacht schöpft. Nur wie?

Denk nach, Henny, denk nach!

Erneuter Seufzer von hinten, dieser Dämlack macht sie mit seinem Aktenstudium ganz wirr und mürbe!

Ach, hätte sie nur vorher ihre langweiligen Akten ein wenig – nun ja – sortiert und gelichtet. Henny durchfährt ein Riesenschreck. Hat sie am Ende etwa die letzte Schenkungsurkunde und Frau Mattkas Testament bei den Hausunterlagen abgeheftet? Die darf Konstantin keinesfalls finden. Gestern hatte sie beides noch in der Hand, um alles sicher wegzulegen.

Nur wohin?, hakt ihre innere Gouvernante nach, die doch sehr lästig fallen kann. Ein Rohrstock sirrt in der Stimme mit.

Kann doch mal vorkommen, dass man was verlegt, rechtfertigt Henny sich reflexhaft vor dem strengen Anteil ihres Aschberg-Ichs. Sie war schließlich im Rausch der Gefühle. Kein Wunder, wenn man in einem Kuschelründchen versinken will, weil man gerade Hölderlingedichte vorgelesen bekommt, die haargenau so klingen, wie sie sich fühlt, seit sie hier wohnt: endlich erwünscht, wirklich erwünscht, gewollt, geborgen. Und erlöst aus einem inneren Sibirien mit Rheinblick an der Seite von Johann Riemann, in dem sie Jahre, Jahrzehnte einem Kältetod entgegenfror. Dagegen half auch kein Valium, kein Rohypnol, kein Tavor, das gewisse, sehr zugängliche Ärzte ihr wie Smarties verschrieben.

Aber Liebe, die hilft, hilft immer.

Jawohl, beim Kuscheln und bei Gedichten kann man schon mal die Haltung und dämliche Urkunden aus dem Blick verlieren. Man muss es sogar, trotzt Henny auf und verliert die Urkunden so vollständig wie gestern aus dem Blick.

Ach, Hölderlin!

Lange tot und tiefverschlossen,

Grüßt mein Herz die schöne Welt,

Seine Zweige blühn und sprossen,

Neu von Lebenskraft geschwellt.

Was für ein Liebesgeständnis an das Leben. Und an mich, schwelgt Henny. Ihr unbelehrbares Herz geht auf und lenkt sie vollständig ab von Konstantin, der Abrissbirne. Es war aber auch ein unglaubliches Geständnis, noch dazu von so einem Mann, einem echten Kerl!

Also, jetzt nicht Hölderlin, der bekanntlich verrückt wie ein Hutmacher war, obwohl Hölderlin – Hennys Wissens nach – nie Hüte modelliert und folglich keine hirnzersetzenden Quecksilberdämpfe beim Versteifen von Zylinderfilz eingeatmet haben kann, und … Oh je! Henny fängt sich und ihre immer wilder vagabundierenden Gedanken ein, weil sie zugegebenermaßen ein klitzekleines bisschen irre klingen.

Aber nicht nach Hutmacher mit Hirnzersetzung, beruhigt sie sich, sondern wie frisch verliebt. In ihrem Alter! Und das nach fünf Jahren des heimlichen Beisammenseins im Hochhaus. Praktischerweise verliebt sie sich ja jeden Tag neu. Wahrscheinlich, weil sie in dieser Hinsicht sehr viel nachzuholen hat, seit sie damals gepatzt hat.

In ihrem Rücken stöhnt es erneut entsetzt. »Sag mal, bist du jetzt komplett wahnsinnig geworden? Was ist denn das?«, fragt Konstantin empört und wedelt, den Geräuschen nach zu urteilen, mit Papier herum.

Hennys Aschbergblut beginnt panisch zu pulsieren, ihre Gedanken starten eine wilde Jagd. Hat er tatsächlich die Schenkungsurkunde und Frau Mattkas Testament entdeckt? Dann ist ihr schöner Hochhausrettungsplan für die Katz, besser gesagt: der Plan der seligen Frau Mattka aus dem Erdgeschoss.

Dann muss Konstantin gleich nur noch auf ihren Berliner Besuch treffen – Mattkas Erbin –, ihr ein Kaufangebot in astronomischer Höhe für die Wohnung unterbreiten, sich damit selbst zum sofortigen Mehrheitseigner machen, und die Pappeln werden im September fallen.

Konstantins mit Aschberggeld gefüllte Kriegskasse dürfte weit üppiger und strapazierfähiger als ihre Konten sein, und er hat dem Wunsch ihrer Eltern gemäß Vorkaufsrecht für alle frei werdenden Mietwohnungen, die ihr gehören. Geld und Vermögenswerte sollen schließlich in der Familie Aschberg bleiben, und sie hat nun mal keine andere.

Mit Frau Mattkas Tod droht nun der Ernstfall einzutreten. Sie ist als Erste von Hennys betagten Dauermietern auf immer gegangen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann andere ihr folgen werden und Henny Stück für Stück ihren Hochhausanteil an Konstantin verliert, wenn sie nichts dagegen unternimmt.

Seine eigenen Wohnungen vermietet ihr Halbbruder bereits seit Jahren bevorzugt an junge Singles und nur auf Zeit und gegen Staffelmieten. Nach zwei, drei Jahren sind die meisten wieder weg. Potenzielle Dauermieter wie Familien oder alte Leutchen sind bei ihm unerwünscht. Inzwischen freut er sich mit Blick auf die Abrisspläne sogar über Leerstand. Dank ihm stirbt das Haus regelrecht aus.

Henny zürnt innerlich, auch wenn sie nach wie vor darauf achtet, sich nichts anmerken zu lassen. Was zählen für diesen Gefühlslegastheniker schon ihre alten Mieter, von denen einige seit fünfzig, sechzig Jahren im Hochhaus leben? Was zählen für Konstantin deren selige Erinnerungen, geschweige denn ihr eigenes spätes Lebensglück, ihr Gefühl, endlich zuhause angekommen zu sein?

Nichts.

Und für Henny alles!

»Henny, was hast du dir dabei gedacht?«, verlangt Konstantin von Aschberg zu wissen. Seiner Stimme ist scharf wie ein Teppichmesser.

Wieder wird Henny schwach ums Herz und in den Knien. Ihr Blick sucht verzweifelt Halt bei den tanzenden Pappeln, Krapolskis Pappeln. Sie muss verhindern, dass es ihr Totentanz ist.

Der Verlust seiner Bäume und seiner Heimat Hoffnungsthal würden Fritz Krapolski – obwohl mit 80 Jahren immer noch ein kompakter Kraftkerl – das Herz brechen. Und Henny weiß, dass man an einem gebrochenen Herz durchaus sterben oder irre werden oder nur wie tot weiterleben kann. Sie hat das jahrzehntelang getan.

»Henny? Träumst du?«, echauffiert sich Konstantin. »HENNY?«

Muss endlich was sagen, mobilisiert Henny ihre letzten Reserven, wendet sich mit einer Laufstegdrehung und ihrem besten Hutgesicht so präzise wie lässig um. »Entschuldige, Konstantin, ich war abgelenkt. Unverzeihlich, aber ich müsste mal kurz telefonieren … Mit, äh, der Fußpflegerin«, sagt sie und geht, nein, schreitet, jeder Zoll ein Fräuleinwunder, Richtung Küche.

Ihr Herz wummert panisch wie ein Presslufthammer. Sie braucht umgehend Hilfe. Sie braucht ihren Mann fürs Grobe, ihren Spezialisten für List und Tücke. Unter anderem. Sie wird drei Etagen tiefer anrufen. Bei Hölderlin. Quatsch, Hölderlin, bei Krapolski natürlich. Ihrem Fritz, dem Unvergleichlichen. Rasch zieht sie die Küchentür hinter sich zu.

2.

Mit hydraulischem Zischen schließen die Bustüren, der Dieselmotor zittert, lässt die Fenster vibrieren. Holpernd geht die Fahrt weiter über ein Stück Kopfsteinpflaster und Straßenbahnschienen, vorbei an dem zum Parkhaus umgewidmeten ehemaligen Kaufhaus Horten mit seinen scheußlich grauen Keramikwaben.

Bonjour, Tristesse, willkommen zurück in den Sechzigerjahren und in deiner beschissenen Kindheit.

Regina Sanders’ bislang stabile, sogar zuversichtliche Stimmung sinkt.

Worauf sie gefasst war.

Nicht gefasst war sie allerdings darauf, dass ihre Laune beim Anblick des Kaufhauses derart kellertief abstürzen würde. Natürlich hat das nachvollziehbare Gründe, aber, herrje, die liegen länger als ein halbes Leben zurück. Viel länger. Ihre Mutter hat dort mal gearbeitet, in der Spielwarenabteilung, war stolz darauf, gleich nach Reginas Einschulung einen begehrten Job als »Hortensie« ergattert zu haben, wie sich die Verkäuferinnen Anfang der 1960er nannten.

Ihre Mutter war damit glücklich, überglücklich, zum ersten Mal seit Jahren, denn sie war überzeugt, dass es nun sogar für Familie Sanders aufwärtsgehen könnte im Wirtschaftswunderland. Dank Personalrabatt, Ratenkaufkredit, Weihnachtsgeld und trotz eines kriegsversehrten, jähzornigen Trinkers als Ehemann, der kaum zum Hausmeister taugte – außer wenn’s um Rumbrüllen ging. Ein Gatte, der auch das Familienleben nicht selten mit Befehlsgebell in einen Kasernenhof und Kriegsschauplatz verwandelte, weil er von Jugend an nicht viel anderes kennengelernt, mit 17 an die fallende Ostfront gemusst, sich davon nie erholt hatte und den Weltkrieg als Kleinkrieg in der Familie fortsetzte.

Noch weniger als zum Hausmeister eignete er sich zum Betreuer für I-Dötzchen Nina. Weshalb Frau Mattka, soweit es ihre Schichten im Krankenhaus zuließen, oder ihre Mitbewohnerin Frau Greulich und Herr Stachulla ab mittags einsprangen.

Gegen ein kleines Taschengeld haben sie Regina, das »arme Kindchen«, nach Strich und Faden verwöhnt. Nina-Regina beglückte neben Mamas ansteckendem Glück als Hortensie die Aussicht auf eine Schlummerle-Puppe, die ihr zu Weihnachten versprochen wurde. Womit erstmals Aussicht darauf bestand, in den Club der ultimativen Hochhaus-Puppenmütter – angeführt von Britta Bönsch, wem sonst? – aufgenommen zu werden.

Sie hat die Puppe nie bekommen.

Der Krebs und der Tod hatten andere Pläne mit ihrer Mutter. So viel zum Thema Horten und dazu, warum der Anblick einer dämlichen Kaufhausfassade ihre Laune killt.

Hätte sie schon damals begriffen, dass Glück in der Familie Sanders immer nur ein flüchtiger und heimtückischer Gast sein würde, dem man besser misstraut, sie hätte sich vermutlich viel erspart.

Oh, komm schon! Geht es auch noch melodramatischer? Sei erwachsen!, ruft Regina sich bestürzt zur Ordnung und fängt sich sogleich. Selbstmitleid ist ihr zuwider, nicht hilfreich und völlig fehl am Platz.

Immerhin hat der Tod ihr selbst eine zweite Chance gegeben. Und es gibt mehr als einen Grund, ihr Überleben nach ihrem beinahe tödlichen Unfall vor fast drei Jahrzehnten als fantastische Wiedergeburt, großes Glück und Geschenk zu betrachten.

Der schönste sitzt direkt neben ihr, schnarcht leise und zaubert ein zaghaftes Lächeln auf Reginas Gesicht. Ihr Blick streift voller Zärtlichkeit ihre Tochter Fee, die ihren Kopf an ihre Schulter gekuschelt hat und sich nach einer anstrengenden Bahnfahrt von Berlin bis hierher ein kurzes Nickerchen gönnt. Ganz so, als sei sie noch ihr kleines Mädchen und keine junge Frau und tatkräftige Klinikärztin von 28 Jahren, auf die Regina unermesslich stolz ist.

Fee heißt nicht zufällig Fee, eine englische Kurzform für Felicitas, sie ist einfach eine und sieht mit ihrem feinen Blondhaar, der hellen Haut, ihren blauen Augen und leicht spitzen Ohren – das einzige Erbteil des mutmaßlichen Erzeugers – auch so aus. Eine Fee, deren Geburt ihr vor 28 Jahren das Leben gleich mehrfach gerettet hat, zu einem Zeitpunkt, als sie – kaum älter als ihre Tochter heute – nur noch sterben wollte. Als ihr Lebensfaden tatsächlich hauchdünn war und die Ärzte sie in ein künstliches Koma versetzen mussten.

Was dem lebenshungrigen Zellhäufchen in ihrem Unterleib wunderbarerweise nichts anhaben konnte. Ein Zellhäufchen, von dessen Existenz sie zum Zeitpunkt des Unfalls nichts wusste.

Leben wollte es dennoch.

Es wuchs und wuchs, trat und boxte sie zurück ins Leben und in eine vollkommen andere Welt. Eine bessere als je zuvor. Nie hätte Regina damit gerechnet, wie leidenschaftlich gern und begeistert sie Mutter sein würde und – ihrer bescheidenen Kindheit zum Trotz – eine nicht allzu miserable. Fee ist der Beweis.

Deutlich aufgemuntert kehrt Reginas Blick zum Fenster zurück. Der Bus passiert ein imposantes mittelalterliches Festungstor, womit die Innenstadt hinter ihnen liegt. Noch sechs Haltestellen bis Hoffnungsthal, berechnet Regina und zieht unwillkürlich die breite Krempe ihres Hutes tiefer in die Stirn.

Sie trägt immer Hut, wenn sie unter Menschen geht. Gewohnheitssache. Früher der frischen Unfallnarben wegen, inzwischen, weil sie sich gern bedeckt hält und darunter wortwörtlich gut behütet fühlt. Hoffentlich auch hier. Mit neugierigen, bedauernden, sogar mit verstörten Blicken kann sie umgehen, sehr souverän sogar, mit Schadenfreude und vielleicht sogar Gehässigkeit nicht.

Nun, auch das wird sie lernen.

Im Klostergarten, Alte Sauerkrautfabrik, Beim Bunker, Aschbergwerke, Am Autobahntunnel, Zum Grünbäumchen. Mühelos zählt sich Regina die Haltestellennamen der alten Linie 7, inzwischen Nummer 23, weil die Stadt gewachsen ist, auf.

Sie hat die Namen nicht vergessen. Wer hätte das gedacht? Sie nicht. Immerhin war sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr hier. Bald vierzig Jahre. Achtunddreißig, um genau zu sein, erinnert sich Regina mühelos und mit leisem Grimm. Ihr lächerlich exaktes Gedächtnis wird ihr langsam unheimlich. Wer weiß, was es noch so hergeben wird.

Verdammt, sie will sich nicht erinnern, wollte sie nie. Sie hatte über die letzten drei Jahrzehnte genug damit zu tun, die Gegenwart im Griff zu behalten, was ihr gelungen ist. Im Hier und Jetzt lebt es sich für sie am besten. Hoffnungsthal und alles, was damit einmal zusammenhing, hatte sie in ihren Gedanken komplett ausradiert.

Wären nicht die Mattka und ihr völlig überraschendes Testament, sie wäre niemals hierher zurückgekehrt. Nie.

Macht sie vielleicht gerade einen gewaltigen Fehler?

Sei nicht albern, bekämpft Regina energisch einen aufkeimenden, uralten Fluchtimpuls. Es gibt Wichtigeres als deine dämliche Kindheit, und Hoffnungsthal ist nicht die Hölle.

Im Gegenteil hat sie es lange Zeit als Paradies erlebt. Selbst nach dem Tod ihrer Mutter. Nicht zuletzt dank Frau Mattka, Frau Greulich und Herrn Stachulla, die schon zu ihren Barackenzeiten als Ersatzfamilie für Fritz Krapolski gute Arbeit geleistet hatten.

Noch wichtiger: Sie sollte sich – vom Ableben der alten Dame einmal abgesehen – über das unverhoffte Erbe freuen und dankbar sein, denn nun ist sie fürs Alter halbwegs abgesichert. Darauf hat sie seit ihrem Unfall, ihrer in Folge komplett gescheiterten Karriere und einer löcherigen Erwerbsbiografie als alleinerziehende Mutter bislang nicht zu hoffen gewagt. Vermutlich wird sie sogar ihre Tochter beim Einkauf in eine Arztpraxis finanziell ein wenig unterstützen können, sodass die ihrem mörderischen Klinikalltag rascher als gedacht entfliehen kann.

Reginas Blick wandert erneut zu Fee. Ja, Fee ist die Sache wert. Fee ist alles wert. Auch das Risiko, noch einmal mit den bewölkten Seiten ihrer Vergangenheit in Kontakt zu kommen.

Wer nichts riskiert, wird nie Champagner trinken.

Hoppla, wo hat ihr Gedächtnis diesen flotten Spruch ausgekramt? Von Frau Mattka stammt der nicht. Nein, fällt Regina ein, den hat sie von Henriette von Aschberg, einer weiteren von ihr zeitweise angebeteten Heldin aus Kindertagen.

Einer eher schemenhaften Heldin, die nur sporadisch, meist zu Festen im Hochhaus auftauchte, weit weniger verlässlich als Luiselotte Mattka, Frau Greulich und Herr Stachulla war, aber dafür amüsant, atemberaubend elegant, der Inbegriff von Übermut, erfrischendem Leichtsinn und Champagnerlaune.

Trotz solcher Lichtblicke: Die Rückkehr nach Hoffnungsthal ist ein heikler Trip auf der Straße der Erinnerung und auch aus einem anderen Grund mehr als riskant, vor allem ist er einfach … einfach … was?

Deprimierend!

Gleichgültig, wie idyllisch die alten Klostermauern, die der Bus soeben passiert, und der Park mit seinen alten Kastanien dahinter scheinen. Ihres Wissens ist das sogenannte Klösterchen noch immer eine Klappskiste mit Pinguinen.

Okay, nein … Das ist eine dämliche Bezeichnung aus Kindertagen. Es handelt sich natürlich um eine psychiatrische Fachklinik, in der Ordensschwestern walten. Und Regina weiß seit ihrem Unfall nur zu gut, wie segensreich therapeutische Hilfe sein kann.

Eine Weile machte im Hochhaus das Gerücht die Runde, Henriette von Aschberg sei in jungen Jahren mal Patientin im Klösterchen gewesen. Was genau wie die immense Größe der Einrichtung in Reginas Augen ein Beweis dafür ist, dass diese Stadt ein Ort zum Verrücktwerden ist, zumindest für Menschen, die sich nicht den üblichen Regeln unterwerfen, die die gerade gültigen Grenzen des Erlaubten sprengen wollen und sich weigern, der Norm zu entsprechen.

Und sei es nur aus Langeweile.

Zuletzt ist sie hier als Gymnasiastin im Bus entlanggefahren, oft bedrückt und mit dem festen Plan, das Stadtrandviertel Hoffnungsthal so rasch und endgültig wie möglich hinter sich zu lassen. Um die Welt zu erobern und allen zu beweisen, was in Regina Sanders steckt.

Kein Hochhauskind, keine bedauernswerte Halbwaise mit einem tobsüchtigen Doornkaat-Trinker als Vater, kein chancenloses Nichts aus der Provinz, sondern ein Mensch mit ungeahnten Begabungen. Eine kommende Berühmtheit, völlig unbehindert von Gefühlsballast. Ganz so, wie eine Band es in den frühen 80ern besungen hat: In meinem Film bin ich der Star, ich komm auch nur alleine klar. Wer hat das noch mal getextet? Ideal, genau, so hieß die Band. Junge, Junge, ihr Gedächtnis kommt wirklich auf Trab und ist nicht zu bremsen.

Gegenwehr scheint sinnlos. Am besten, ich bringe all das hinter mich, bevor ich das Hochhaus erreiche, beschließt Regina. Damit ist sie besser gewappnet, wenn ihre Vergangenheit live, in Farbe und Gestalt ehemaliger Nachbarn oder deren Nachfahren auf sie einstürmt.

Um ungebunden, frei und irgendwie bedeutend zu werden, gab sie als Kind zunächst wenig originell in der Schule ihr Bestes, stieg rasch zur Klassenersten, zum Jahrgangsstar, zum Lehrerliebling und damit zum Hass- und Spottobjekt für die Mehrzahl ihrer Klassenkameraden auf. Das hat ihr bis zu ihrem vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahr allerdings nichts ausgemacht. Sie kam tatsächlich alleine klar – nun ja, fast. Es gab ja Frau Mattka. In ihren farbenfrohen Zukunftsträumen sah sie sich als unerhört begabte Biologin, als Geologin, Geografin, Ethnologin, in jedem Fall als Weltenbummlerin mit wichtigen Forschungsaufträgen und – das vor allem – spektakulären TV- und Filmauftritten. Schließlich sollte ganz Hoffnungsthal ihr beim Berühmt- und Begabtsein zuschauen.

Regina lächelt schief.

Das kommt davon, wenn man als Kind den weltreisenden Tchibomann aus der Kaffeewerbung anhimmelt, mit Grzimek auf Safari geht und wie süchtig Tierdokus von Sielmann und exotische Tauchabenteuer von Hans Hass oder Jacques Cousteau guckt, um in der Fantasie mühelos die Welt zu erobern.

Es war ein früher Fall von Binge Watching, aber immerhin mit Bildungshunger, weshalb kein Erwachsener sie je davon abhielt oder sie für verkorkst hielt, weil sie sich ab ihrem achten Lebensjahr statt Barbiepuppen, Monchichis, Click-Clack-Kugeln oder ähnlich angesagtem Krimskrams stets Lupen, Mikroskope, Nachtferngläser zwecks Tierbeobachtung, Bücher über große Entdecker, Pflanzenbestimmungsfibeln oder einen Tropenhelm zum Geburtstag wünschte.

Letzteren bekam sie – von Frau Mattka. In Liebe für die künftige Dschungelforscherin. Frau Greulich wollte ihr – zu Studienzwecken – sogar ihren geliebten ausgestopften Lemuren aus dem Naturkundemuseum Breslau schenken, den sie unmöglich annehmen konnte. Herr Stachulla hat ihr seine Ausgabe von Brehms Tierleben in Kalbsleder verehrt, von Fritz Krapolski kamen Karten für das Löbbecke-Aquarium in Düsseldorf.

Regina seufzt stumm. Gott hab sie alle selig. Nein, es war nicht alles schlecht in ihrer Kindheit.

Dann kam die Pubertät. Die zwar nichts an Reginas Ziel – abzuhauen und berühmt zu werden – änderte, allerdings nachhaltig ihren Verstand eintrübte. Hormonell bedingt, was sonst. Wissenschaft und Forschung, Grzimek oder Sielmann, Nachtferngläser, Mikroskope oder eine Eins in Latein spielten quasi über Nacht keine Rolle mehr in ihren Zukunftsträumen. Zumal sie mittlerweile von einem blassen Nichts zu einem überraschend hübschen Etwas mutiert war, heiß umworben von Provinzcasanovas mit albernen Spitznamen wie Easy, Porky oder Lucky, die ein Jahr zuvor noch ausschließlich mit Fahrrädern und Bananensatteln, Fußballvereinen, Bananenflanken und Pickeln ausgelastet waren.

Plötzlich war sie eine ultimative Trophäe im männlichen Teeniekosmos von Hoffnungsthal und das meistgehasste Mädchen im weiblichen. Eine verwirrende Ehre und Form von Ruhm und Anerkennung, auf die sie nicht vorbereitet war. Und eine gefährliche, wenn man wie sie einen naiven Hang zum schlimmsten Herzensbrecher von allen entwickelt. Von wegen Lucky. Ein Glücksfall war der wirklich nicht!

Reginas Mund wird zum bitteren Strich. Genug davon. Die Lektion Love hurts bleibt niemandem erspart, sie hat sie blutjung, im Schnelldurchgang und auf die harte Tour gelernt und später, viele Jahre später, nur ein einziges Mal wiederholt. Mit demselben Ergebnis.

Nun ja, nicht ganz. Egal.

Beim ersten Mal erschien es ihr wie eine Erlösung, ein Schicksalswink, dass zeitgleich zum großen Liebeskummer ihr Traum von medialem Ruhm wunderbarerweise in Erfüllung ging. Dank eines Modellscouts, der sie 1979 mit »siebzehn Jahr, blondes Haar« auf der Düsseldorfer Kö als Reklamegesicht entdeckte. Für Tampons, Binden und Verhütungszäpfchen. Ausgerechnet sie!

In sämtlichen Illustrierten hat sie zwei Jahre lang für Patentex und Tampons gelächelt, Werbespots gedreht, als sexy Bravogirl posiert.

Im braven Hoffnungsthal, das die wilden Achtundsechziger komplett ausgelassen und die Siebziger allenfalls in Form von bunt gestreiften Schlaghosen von C&A, Plateauschuhen und Smokey-Hits mitgemacht hatte, war sie fürderhin eher berüchtigt als berühmt. Ihr Ruf als Hochhausschlampe – die sie in Wahrheit nur in den Fantasien anderer war – war nunmehr perfekt und ihr »im Felde unbesiegter« Vater ordnungsgemäß entsetzt.

Zumindest tat er so, falls er nicht gerade zu betrunken war oder Geld von ihr brauchte. Frau Mattka, die Greulich und Herr Stachulla hatten den Anstand, zu ihrer Karriere zu schweigen, was allerdings Bände sprach. Und sie machten sich Sorgen, ja, das auch.

Regina war das alles gleichgültig. Dank Liebeskummer flog sie auf Autopilot. Die Pappeln beim Hochhaus, die ihr als Kind von gütigen Schutzgeistern bewohnt schienen, hatten ihre Wünsche erhört, das allein zählte. In ihren neuen, hochfliegenden Plänen, ausgebrütet bei Nachtsitzungen auf der Fensterbank ihres kammergroßen Zimmers und mit Sehnsuchtsblick in den schwarzen Himmel, an dem Flugzeuge aus Düsseldorf sternblinkend ihren Steigflug absolvierten, sah sie sich fortan als Weltstar auf dem Weg nach Hollywood.

Tatsächlich kamen Fernsehangebote für Teenie-Shows, Serienauftritte, immer bessere Gagen und später – sie war längst weg aus Hoffnungsthal – haufenweise Filmrollen in leichter Bekleidung, deutsches Trash-Kino mit erotischem Touch, einige hart an der Grenze zum Softporno. Und mit ihrem neuen Agenten, Anton Achleitner, einem Großmaul, ging es dann tatsächlich irgendwann nach Hollywood. Zumindest kurzfristig, sehr kurzfristig und ganz anders als gedacht und mit fatalen Folgen. Zugegeben: Ihre fünfzehn, eher fünf Minuten Ruhm hat sie im Leben gehabt. Dafür hat sie allerdings teuer bezahlt. Tiefer will sie da nicht einsteigen, es reicht.

Während Regina auf die am Busfenster vorbeiziehenden Gebäudereste der alten Sauerkrautfabrik schaut, verabschiedet sie ihre albernen Träume und das herzzerreißend alberne, naive Mädchen, das sie einmal war. Es ist längst gestorben, mausetot, und das ist gut so, sie weint ihm keine Träne nach. Ihr jähes Karriereende Anfang der 1990er – ein Paradebeispiel von Hochmut, besser: Übermut, kommt vor dem Fall – war schlussendlich das Beste, was ihr passieren konnte.

Thema erledigt.

»Magst du was essen?«, befreit Fee sie wie aufs Stichwort aus ihren Erinnerungen. Sie löst sich gähnend von Reginas Schulter und beginnt in ihrem Fjällräven-Rucksack zu graben.

Regina kehrt erleichtert in die Gegenwart zurück, wo sie hingehört.

Fee hält ihr ein abgepacktes Sandwich unter die Nase. Regina lehnt lächelnd ab.

»Wir sind seit fünf Uhr unterwegs«, beharrt Fee tadelnd, »und du hast seit Berlin noch immer nicht gefrühstückt.«

Fee entwickelt ihr gegenüber seit Kurzem mütterliche Züge. Eine reichlich verfrühte Rollenverkehrung. Mit 57 Jahren ist sie doch noch keine Greisin. Nun, vielleicht verdankt sich Fees Fürsorglichkeit einfach der Tatsache, dass sie Ärztin ist, die geborene Lebensretterin eben. Zwei Wochen – ihren halben Jahresurlaub – opfert sie, um ihrer Mutter beim Räumen und dem Verkauf der Wohnung zu assistieren. Das ist typisch für sie.

Auch in Sachen Frühstück gibt Fee nicht auf, hält ihr nun einen Apfel unter die Nase. »Jetzt komm schon, dein Blutzucker muss im Keller sein, und wenn du Hunger hast, wirst du unausstehlich.«

»Wir warten mit dem Picknick besser, bis wir in der Wohnung sind«, sagt Regina und deutet auf ein Verbotszeichen über ihnen.

Rot eingekreist und durchgestrichen sind darauf eine Spitztüte Pommes Frites und eine Bierflasche abgebildet. »Bitte nehmen Sie Rücksicht. Der Verzehr von Speisen und Getränken ist in unseren Bussen verboten«, steht für all jene, die des Lesens mächtig sind, darunter.

»Ach, Mama, bleib cool«, lacht Fee, die Sorglose, und schüttelt den Kopf, dass ihre Haare tanzen. »Seit wann hältst du dich denn an so bekloppte Regeln? Komm, iss was.«

»Hier ist nicht Berlin«, antwortet Regina knapp. »In der Provinz meinen die solche Verbote ernst.«

Wie aufs Stichwort beugt sich ein älterer Herr auf dem Sitz hinter ihnen leicht vor. »Wir sind hier nicht in der Provinz, meine Damen«, sagt er streng, aber nicht unfreundlich. »Wir sind Großstadt und wissen uns trotzdem zu benehmen. Sie doch sicher auch?«

Fee verdreht die Augen, steckt das Sandwich weg und kramt ihr Smartphone hervor.

»Telefonate im Bus stören uns ebenfalls, meine Damen«, ergänzt der Mann.

Hier ist eindeutig Provinz, denkt Regina düster. In Berlin würde niemand hinterrücks fremde Fahrgäste ansprechen oder sie »meine Damen« nennen, jedenfalls nicht, um höflich auf Verzehr- oder Handyverbote hinzuweisen. Was zudem völlig zwecklos wäre.

»Aschbergwerke«, kündigt der Fahrer in rheinischem Singsang über Lautsprecher die nächste Haltestelle an. Regina schultert hektisch ihre Tasche. »Wir müssen gleich raus«, sagt sie und ist mit einem Mal ganz albern aufgeregt.

»Doch erst an der übernächsten Haltestelle«, wundert sich Fee, erhebt sich aber, um ihrer Mutter den Weg frei zu machen und dann selbst aufzustehen. »Du kannst es wohl gar nicht abwarten. Und ich dachte immer, du hasst dieses Hoffnungsthal.«

Womit Fee recht hat, und wie, denkt Regina. Genau darum will sie den Verkauf der Wohnung so schnell und schmerzlos wie möglich hinter sich bringen. Vor allem ohne allzu viele Begegnungen mit alten Nachbarn, von denen manche laut ihrer Google- und Facebook-Recherchen, die sie anlässlich des Erbes gemacht hat, noch in Hoffnungsthal und sogar im Hochhaus leben.

Darunter sind auch einige ihrer Kindheitsfreunde/-feinde, so wie Britta »das Biest« Bönsch oder Kai »Lucky« Krapolski. Sie wird ihnen konsequent aus dem Weg gehen, sie muss ihnen aus dem Weg gehen. Vor allem Kai. Entschlossen rückt Regina ihren Hut zurecht. Das Thema hat sie durch. Mit sämtlichen Höhen und Tiefen und … Regina fühlt eine Welle von Übelkeit in sich hochschwappen. Ach was, auch daran wird sie keinen Gedanken mehr verschwenden!

»Also, ich bin voll gespannt darauf, wie du als Kind gelebt hast«, sagt Fee, die noch nie hier war. Sie wird todsicher enttäuscht sein, glaubt Regina. Von Spießermuff, falscher Idylle und ödester Langeweile.

Zurück zum Geschäft. Das ist erfreulicher.

Eine erste Verkaufsanzeige für die Wohnung ist bereits online, und vor zwei Tagen hat eine örtliche Immobilienvermittlerin sie angemailt und geschrieben, Reginas Preis sei zu gering und es gebe potente Bieter für Eigentum in Hoffnungsthal. »Sehr potente Bieter«, hat die Dame geheimnisvoll hinzugefügt und um Rückruf gebeten.

Das klang vielversprechend, und diese Mail war nicht die einzige Nachricht von Immobilienfritzen. Kein Wunder. Wohnungen sind heute kostbarer denn je, eine begehrte Kapitalanlage, sie hat bestimmt die besten Chancen auf einen hohen Verkaufspreis.

Der Bus passiert die Aschbergwerke, ohne anzuhalten. Heute will hier niemand mehr aus- oder einsteigen. Wozu auch? Die alten Fabriken sind seit der Jahrtausendwende sukzessive stillgelegt worden, abgewandert oder umgezogen. Jetzt soll ein neues Wohngebiet entstehen, hat Regina noch in Berlin im Internet recherchiert.

Ihr Blick fährt mit dem Bus an dem riesigen Gelände vorbei, auf dem früher das halbe Hochhaus geschuftet hat, wo damals noch letzte Flüchtlingsbaracken – Läusehütten genannt – Vertriebene und später erste Gastarbeiter beherbergten. Zerkratert wie eine Mondlandschaft sieht es hier nun aus. Krantürme zerschneiden den Himmel, Bagger schachten Erdreich aus, mit Dampfwalzen geebnete Anfahrtsstraßen verbinden unzählige Baustellen, Sandschleier und Zement liegen dick in der Luft. Der Geruch von Teer dringt durch ein aufgeklapptes Busfensterchen in Reginas Nase.

Fee hält sich die ihre zu, macht »Bäh, das stinkt«.

Regina genießt zu ihrer eigenen Verwunderung den Teergeruch. Er ist vertraut und weckt – endlich, endlich – gute Erinnerungen.

Erinnerungen an ihre frühen Kindertage, als rings um das alte Hochhaus das Hoffnungsthal der 1960er hochgezogen wurde, als ihre Welt ein herrlicher Abenteuerspielplatz war, als ein Gebirge aus Sandgruben, Gebüschhöhlen und verfallende Bahnwärterhäuschen lockten, die Sommertage endlos schienen und für alle Hochhauskinder die großzügige und für alle Eltern nervensparende Devise galt: »Wenn die Laternen angehen, seid ihr zu Hause.«

Kinder wurden damals nicht wie seltene Kostbarkeiten bewacht, waren kein Lebensprojekt. Sie waren selbstverständlich, es gab sie im Überfluss, und sie passten aufeinander auf. Teilten Abenteuer, aufgeschürfte Knie, Cola-Lutscher und Geheimverstecke.

Herrje, ich werde wirklich alt, besinnt Regina sich. Sommer sind und waren niemals endlos, auch Kindersommer nicht. Der ihre schon gar nicht. Der endete spätestens mit dem Krebstod ihrer Mutter. Himmel, das hat sie doch vorhin erst hinter sich gebracht.

Rasch wendet sie sich wieder ihren Verkaufsplänen zu.

Das Neubaugebiet dürfte ein Grund für den gestiegenen Wert des alten Hochhauses sein, mutmaßt Regina. Genau wie die schon immer günstige Autobahnanbindung. Wahrscheinlich kann sie tatsächlich einen weit höheren Preis als zunächst angenommen für die Wohnung herausschlagen. Sie wird beizeiten Kontakt mit den Immobilienmaklern aufnehmen, sobald …

Reginas Freude verschattet sich mit einem Schlag ganz so wie vorhin beim Anblick des alten Horten. Tatsächlich längst vergessene Bilder einer kleinen Küche steigen in ihr hoch, eine gepolsterte Eckbank … dampfender Kakao in Rosentassen … Trink, mein Täubchen … das Streicheln einer rauen Hand auf ihrem Kinderkopf und der Geruch von frischem Streuselkuchen.

Sie muss tief Luft holen, bevor sie den zuvor angefangenen Gedanken zu Ende führen kann. Ich werde Kontakt mit den Immobilienhändlern aufnehmen, sobald ich Mattkas Wohnung in Augenschein genommen und ausgeräumt habe. Punkt.

Aber das wird wehtun.

Tut es jetzt schon.

Es tut sogar entsetzlich weh.

Ein alter Tom-Waits-Song von 1985, den sie damals in Endlosschleife gehört hat, schlängelt sich in Reginas Ohr. Mit whiskyschlingernder Reibeisenstimme singt Waits, der Gossenbarde: The things you can’t remember tell the things you can’t forget. Stimmt das? Erzählen die Dinge, an die man sich nicht zu erinnern vermag, in Wahrheit von dem, was man nicht vergessen kann oder will?

Ach, halt die Klappe, Blödmann! Regina will den Ohrwurm stummschalten. Vergeblich. Die nächste Songzeile stiehlt sich hinterher. Eine Zeile, in der von Heiligen die Rede ist, die Gott oder das Schicksal in jedem Traum platziert.

Regina schluckt. Das ist die Antwort, nach der sie nicht gesucht hat, an die sie sich nicht erinnern wollte. Egal, was Waits damit meint, wahr ist sie trotzdem. Die Wohnung von Frau Mattka zu räumen tut entsetzlich weh, weil die Mattka die Heilige ihrer Kindertage war. Eine stille, heitere Heilige mit dem einzigartigen Talent, glücklich zu sein und andere Menschen dadurch glücklich zu machen. Was ihr erklärtes Lebensziel zu sein schien. Sei ein Segen und kein Fluch, lautete eine ihrer vielen Lebensweisheiten.

Die Mattka hat sich dran gehalten, allen Widrigkeiten und Zumutungen des Lebens zum Trotz. Und Luiselotte Mattkas Leben als Kriegskind, Flüchtling und jahrelange Barackenbewohnerin war reich an Widrigkeiten der schlimmsten Art. Ausgerechnet diese Frau hat sie, Regina, über die Jahre, nein, Jahrzehnte ihrer Abwesenheit sträflich vernachlässigt. Sie hat auf ihre Briefe nicht geantwortet, sie allenfalls mit nichtssagenden Postkarten und Weihnachtsgrüßen abgespeist.

Aber vergessen?

Nein, wirklich vergessen hat sie sie nie, nicht wirklich, oder? Eine wie die Mattka vergisst man nicht. Eins jedenfalls steht fest: Luiselotte Mattka hat sie nicht vergessen, anscheinend sogar geliebt bis zuletzt, völlig unverdientermaßen und bis in ihr neunzigstes Lebensjahr hinein, wie ihr Testament beweist. Frau Mattka hat es kurz vor ihrem Tod aufgesetzt. Wie kann man nur so selbstlos sein, so gütig und nachsichtig? Oder war sie am Ende einfach nur ganz entsetzlich einsam, gefangen in trügerischen Bildern von einer seligen Vergangenheit mit einem kleinen Mädchen namens Nina?

»Mama!«, ruft Fee neben ihr leise entsetzt. »Weinst du etwa?«

»Ich?« Regina blinzelt die Feuchtigkeit aus ihren Augenwinkeln weg. »Nein, ich bin nur empfindlich gegen beißende Teerschwaden«, erwidert sie, wischt sich kurz über die Augen, rückt nochmals ihren Hut zurecht und ist froh, dass der Bus in die stockdunkle Autobahnunterführung vor ihnen abtaucht.

Tom Waits singt schlingernd, düster und recht atonal den Refrain dazu. And it’s time. And it’s time. That you love.

Der kann sie mal! Von ihrer Tochter Fee und von der toten Frau Mattka, der Mattka ihrer Kindertage, einmal abgesehen, hat sie mit Liebe nichts mehr im Sinn. Schon gar nicht in Hoffnungsthal. Im Gegenteil ist Regina unendlich froh, dass diese Zeiten hinter ihr liegen. Sie ist keine Romantikerin mehr, nicht sentimental, sondern eine nüchterne Realistin.

Für das, was man gemeinhin so alles Liebe nennt, hat sie ihr Leben lang einen zu hohen Preis gezahlt.

3.

»Was, zum Teufel, ist ein Baumpsychologe, Henny?«

Konstantin wedelt erzürnt mit einem Stapel Quittungen. Soll er mal. Henny ist heiterer, geradezu übermütiger Stimmung, seit Krapolski vor fünf Minuten im Penthouse eingetroffen ist.

Nach ihrem telefonischen Hilferuf klempnert er in der Küche am Abfluss herum. Als ihr vorgeblicher Hausmeister und Mann für alles – was er ja tatsächlich ist.

Nach kurzem Kriegsrat mit Krapolski steht Henny nun wieder Posten an ihren Wohnzimmerfenstern, diesmal von Angesicht zu Angesicht mit Konstantin, der vor Empörung aufgesprungen ist, im Zimmer auf- und abmarschiert und herrlich hilflos aussieht. Ach, tut das gut!

Henny ist sogar in Plauderlaune, denn Konstantin hat statt Mattkas Testament und ihrer Schenkungsurkunde lediglich ein paar Rechnungen für Burg Heintzfeld entdeckt. Darüber können sie gerne stundenlang reden, denn das gräfliche Jagdschloss geht Konstantin einen feuchten Kehricht an, wie er sehr wohl weiß. Er kennt es ja nicht mal.

»Wofür hat dieser Herr Psychologe Bellhaus dir 5000 Euro in Rechnung gestellt?«, verlangt er nichtsdestotrotz zu wissen.

»Für hervorragende Arbeit«, sagt Henny schlicht.

Konstantin schüttelt voll Abscheu den Kopf und fummelt an seinem Smartphone herum. Der kann sie mal! Seit Per Bellhaus da war, tanzen die alten Pappeln vorm Hochhaus biegsamer denn je. Das musste sogar Krapolski zugeben. Vor allem aber hat der junge Mann den Wald bei ihrem Eifler Jagdschloss prima wieder hinbekommen, und was die Schlossheizung angeht, hat er ganz fabelhafte Ideen.

Zugegebenermaßen hat Bellhaus eine Neigung zu merkwürdigen Frisuren, schlingt sein Langhaar gern zum Dutt. Jugend eben, rennt auch den unkleidsamsten Trends hinterher, aber im Wald sieht es tipptopp aus, fast wie neu oder eher wie alt, also so wie früher und wie es sich gehört. Wie in Hennys Kindertagen, als noch der Großvater von Per Bellhaus Förster war. Gott, wie hat sie diesen Wald geliebt, sie liebt ihn noch immer!

»Und was für eine Arbeit genau soll das gewesen sein, die der Herr Baumpsychologe abgeliefert hat?«, lässt Konstantin nicht locker.

Henny hebt leicht, ganz leicht ihre perfekt geformten Brauen. »Ich darf dich daran erinnern, dass dies Rechnungen für mein Schloss Heintzfeld sind. Aber wenn du schon fragst: Die Hochhauspappeln hat Herr Bellhaus sich ebenfalls angesehen. Kostenlos, eine reine Gefälligkeit.« Sie deutet in Richtung Fenster. »Er kann jederzeit ein Gutachten darüber verfassen, dass die Pappeln nicht gefällt werden müssen, weil sie rundum gesund und glücklich sind.«

Nimm das!

»Ein Psychologengutachten über glückliche Pappeln?«, hakt Konstantin fassungslos nach. Überzogen fassungslos. Man merkt, dass er kein echter Aschberg ist.

»Herr Bellhaus ist vor allem zertifizierter Baumphysiologe, Juniorprofessor für Forstwirtschaft, ein Experte für Schnitt und Kronenpflege und außerdem der Enkel unseres alten Försters. Sein Vorgehen ist sehr innovativ«, das Wort sollte Konstantin doch gefallen, »und ganzheitlich orientiert. Bäume haben nämlich eine Seele.«

Anders als du, denkt Henny und gönnt sich ein kurzes Triumphgefühl.

»Eine Seele, aha. So wie diese tote Ratte auf deiner Anrichte?« Konstantin deutet gehässig in Richtung ihres Birnbaumbüfetts. »Hat dieser Doktor Waldschrat sie dir mitgebracht?«

Welche Ratte? Kurz ist Henny verwirrt. Bellhaus hat einen zahmen Fuchs, der ihm oft lästig, weil überaus anhänglich und quicklebendig ist. Aber keine tote Ratte. Ihr Blick folgt widerwillig Konstantins ausgestrecktem Zeigefinger.

Das ist doch keine Ratte!

Henny wird wieder ausnehmend höflich und schweigt. Die einzige Ratte in ihrem Wohnzimmer ist Konstantin.

Der redet ungebremst weiter. »Nun, Schloss Heintzfeld ist dein Vergnügen. Soweit ich informiert bin, ist es ein komplett baufälliger alter Kasten. Wobei die Familie es bedauerlich findet, dass du den Wald wirtschaftlich so gar nicht nutzt. Wald ist ein äußerst profitables Geschäft. Sei’s drum«, besinnt sich Konstantin überraschend. »Anderes Thema! Warum zum Kuckuck bestellst du ohne Anlass bei einem Metzger für über fünfhundert Euro schlesische Würste, kalte Platten und rheinischen Kartoffelsalat für achtzig Personen, Henny?« Zum gefühlt hundertsten Mal wedelt er mit einem Stapel Quittungen. »Dazu zwanzig Partyfässchen Bier, ganze zweihundert Liter, und …«, Konstantin stolpert kurz an einer Teppichkante, muss die Rechnungen konsultieren, »eine Kiste Stonsdorfer? Was ist denn das?«

»Ein schlesischer Kräuterlikör aus Heidelbeeren, Anis, Bitterorangen, Enzian und Nelken, früher mal weltberühmt«, erklärt ihm Henny. »Eine Kiste echte Kroatzbeere habe ich auch bestellt. Für unsere Damen. Die sind mehr fürs Süße.«

»Sagt mir alles nichts«, erwidert Konstantin unwirsch. »Hier steht außerdem was von einer Band. Henny, was soll dieser Unsinn? Das ist nicht einfach überspannt, das ist total verrückt!«