Ein Rufer in der Wüste - Jakob Bosshart - E-Book

Ein Rufer in der Wüste E-Book

Jakob Bosshart

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Beschreibung

Der Roman "Ein Rufer in der Wüste" gilt als Hauptwerk des Schweizer Schriftstellers Bosshart. Er versucht darin, soziale und politische Gegensätze innerhalb der schweizerischen Gesellschaft vor und während des Ersten Weltkrieges zu versöhnen.

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Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Ähnliche


Ein Rufer in der Wüste

Jakob Boßhart

Inhalt:

Ein Rufer in der Wüste

Erster Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Schluß

Ein Rufer in der Wüste, J. Boßhart

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849623197

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Ein Rufer in der Wüste

Erster Teil

Erstes Kapitel

An der Schwelle des Lebens

Dichter Rauch strich durch den kleinen Saal und durchwob ihn mit bläulichem Licht. An drei langen Tischen, die zu einem Hufeisen zusammengerückt waren, saßen etwa vierzig junge Leute mit geröteten Gesichtern vor Biergläsern. Sie tranken sich geräuschvoll zu und klappten nach vollbrachtem Zug knallend mit den Deckeln der Gläser. Fast alle hatten Zigaretten im Mund und bliesen die Rauchballen selbstbewußt gegen die Decke oder dem Nachbar ins Gesicht.

Die Jünglinge feierten ihren Abgang vom Gymnasium. Die Professoren hatten sich entfernt, als der Uhrzeiger über die Zwölf hinausgeglitten war, und nachdem sie mit weiser Rücksichtnahme auf den Magen und den folgenden Tag die übliche Mehlsuppe in sich hineingelöffelt hatten. Eben war der ›Mops‹, der Spaßhafteste von ihnen, durch die Türe verschwunden. Er hatte trotz seiner sechzig Jahre die Biergemeinde mit etwas übertriebenem Jugendfeuer geleitet und vor dem Weggehen die Präsidialwürde dem Primus der Klasse, Karl Simmler, überbunden. In einer Ecke fing man an zu summen: »Wir wünschen eine Antrittsrede ...« und bald gröhlte das ganze Hufeisen die paar dürftigen Worte und Noten durcheinander. Karl Simmler rutschte hilflos auf seinem Stuhl hin und her. Was war zu machen? Er hatte sich ja nicht vorbereitet. Sein Maturitätsaufsatz fuhr ihm wie eine Erlösung durch den Sinn, der konnte helfen. Er schoß von seinem Stuhle auf und posaunte: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht ...«

»So geh' hin und kauf' einen Strick!« rief ihm eine näselnde Stimme zu. Allgemeines Gelächter. Der Primus wurde schon fassungslos. Wut erfaßte ihn gegen die Lacher, denen er sich weit überlegen fühlte. Er setzte wieder an: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht ...«

»Verkauft man's beim Meter oder Liter?« näselte es ihm wieder entgegen.

»Schiller will sagen...«

»Wir wollen dich hören, nicht Schiller!«

Nun gab er es auf: »Ich mache den Unsinn nicht mit,« schrie er und suchte mit den Augen den, der ihn lächerlich gemacht hatte. Er warf einen verächtlichen Blick auf sein Opfer oder seinen Richter und schleuderte ihm kurz zu: »Ich trete das Präsidium an Oswald Wäspi, vulgo Immergrün, ab.«

Auf der innern Seite des Hufeisens regte sich etwas Spatzenartiges, flatterte nach vorn und setzte in leichtem Flug über den Tisch an den Präsidialsitz. Karl Simmler hatte kaum Zeit, auf die Seite zu hüpfen. Immergrün sperrte nun seinen Spatzenschnabel weit auf: »Kommilitonen, ich werde euch die Ehre erweisen, über euch zu reden. Ihr erwartet von mir gewiß keine Verbindlichkeiten, ich will euch Aufrichtigkeiten auftischen! Wer seid ihr? Der Rektor hat in seiner Abschiedsrede gesagt, ihr seiet die Zukunft unseres Volkes. Das ging euch natürlich wie Süßöl ein, was? Armes Land, wenn ihr wirklich seine Zukunft seid ...«

Man unterbrach ihn. Er griff nach dem Schläger, der vor ihm lag, und hieb dröhnend und drohend auf den Tisch. »Silentium!« Die Vierzig fügten sich der Wucht dieses Hiebes und dem Biergesetz, und Immergrün fuhr fort: »Ihr seid eine possierliche Gesellschaft! Ihr kommt euch unbändig gescheidt vor, aber ich wette, es wird auch nicht einer von euch je einen eigenen Gedanken in die Welt sprechen. Ihr seid jetzt Idealisten oder meint es zu sein, aber in zehn Jahren werdet ihr euch soviel Philistertum angemästet oder angeheiratet haben, daß man mit euch die größte Lederhandlung errichten könnte. Nur still gehalten! Ihr seid jetzt Individualisten oder gar Persönlichkeiten! hm, hm! In zehn Jahren werdet ihr aussehen, als hätte euch der Spengler aus dem ihm eigenen Edelmetall herausgestanzt.«

Entrüstungsrufe und Beifallsgelächter wogten durcheinander. Immergrün schwamm nun in seinem Wortstrom: »Versteht mich recht! Ein paar Schablonen müßte der wackere Klempner schon aufbringen. Ich will euch einteilen! Ihr wißt oder wißt es auch nicht, wie es in einem Weinfaß aussieht. Zu oberst liegt eine ganz dünne Decke oder Schicht, ich glaube, man nennt sie Blume, Vortrefflich! Ha! Sieht man näher zu, so sind es Pilze, Schmarotzer, die natürlich nur deshalb zuoberst schwimmen, weil sie – so gewichtig sind. Darunter liegt die Hauptmasse, das wirklich Brauchbare und Geschätzte, das, was einen Preis hat, aber es soll, wie böse Zungen behaupten, gepanscht sein und zuweilen sogar faulig werden. Zu unterst endlich liegt die Hefe, ein ganz unedler, gemeiner Bodensatz. Doch halt! Man treibt daraus einen Geist, der feuert, wo er hinkommt, wird der Bodensatz aufgewühlt oder wühlt er sich selber auf, was vorkommen soll, so geht alles, was darüber ist, in die Wirrnis und Trübe. Und nun die Anwendung! Die Oberschicht wird unter euch am blauesten und blumigsten durch Georg von Homberg dargestellt. Seine Vorfahren waren wahrscheinlich Besitzer von niedlichen Raubritterburgen oder haben bei irgendeiner Gelegenheit dem Vaterland einen Strick gedreht und dafür von einem Krönchen den Freibrief erhalten ...«

In das Gelächter, das losbrach, knirschte das Wort »Schuft!« Immergrün achtete nicht darauf und näselte vergnüglich weiter: »was haben wir von unserem Ritter Georg zu erhoffen? Der Höhepunkt seiner Entwicklung – dieses Wort in Anführungszeichen – wird sein, daß er eine reiche und wenn möglich auch eine vornehme Heirat macht, vorher wird er ein wenig auf den Universitäten herumlottern und im Winter in Pontresina einen englischen Sportanzug an seinem höchstpersönlichen Kleiderständer zur Schau tragen. Ihr liebt diesen Ton nicht? wohlan, so lassen wir unsere Weinblume und wenden wir uns der Mittelschicht zu. Da ist noch größere Vorsicht geboten! Denn bei ihr thrönelt die Macht und das Ansehen, sie verleiht unserem Landesfaß wert und Gewicht. Fabrikanten, Kaufleute, Professoren, Ärzte, Juristen, Juristen schockweise, schwimmen darin, wahre Idealgestalten gibt's in dieser Flüssigkeit. Ich kenne ein echt schweizerisches Exemplar dieser Art, der Mann ist von Beruf Fabrikant, daneben Stadtrat, Kantonsrat, Nationalrat, eidgenössischer Oberst, sitzt im Verwaltungsrat von soundso viel Bahnen und Banken, könnte jeden Augenblick Regierungsrat werden, wenn er nur wollte, er ist eine Zierde der Klopffechterzunft zum ›Weberbaum‹, Ehrenmitglied des kantonalen Turnvereins, des städtischen Leierbundes, vielleicht auch Ehrenpräsident des Hebammenvereins ...«

Während Immergrün so sprach, wendeten sich alle Blicke auf einen dunkelhaarigen Jüngling, dessen etwas blasses Gesicht immer röter wurde, bis es ganz mit Purpur übergossen war. Der Primus Karl Simmler, der froh war, daß sich die freche Zunge Immergrüns an einem andern wetzte, rief, was durchaus überflüssig war: »Das geht auf dich, Reinhart Stapfer!«

Der Angeredete erhob sich langsam und stemmte die vor Erregung leicht zitternden Hände auf den Tisch: »Der Mond wird nicht kleiner und bleicher, wenn ihn ein gewisses Tier ankläfft.«

Immergrün war nicht empfindlich. »So tragisch nimmst du den Scherz?« lachte er zu Reinhart hinüber. »Ich schone mich selber ja auch nicht. Ich versetze mich in die Hefe. Mein Vater ist Schulabwart, ihr wißt's! Damit kann man sich keinen Pfauenschwanz anhängen. Er gehört zum arbeitenden Volk, zu denen, die das Joch auf dem Nacken tragen. Aber ich geb' euch mein Ehrenwort, daß ich, sein Sohn, nicht in der Hefe verfaulen werde! Ihr habt mich sieben Jahre lang über die Achsel angesehen, hättet ihr meine Zunge nicht wie ein Schwert gefürchtet, ihr hättet mir die Haut über die Ohren gezogen. Einmal wird die Stunde schlagen, da ich euch aufs Haupt spucke. Ich bin fürs alte Testament!« Er stieß das drohend durch die Nase und reckte seine kleine Gestalt, als gelte es jetzt schon den Kameraden den versprochenen Segen zu spenden. Man fühlte, daß er seinen geheimsten Gedanken ausgesprochen hatte. Gleich besann er sich und fuhr lachend fort: »Fast hätte ich mich vermessen, mich als vornehmste Karte auszuspielen. Ich übersah aber unsere beiden Bauernsprossen. Sie würde ich heute auf den Ehrenplatz verweisen, wenn sie in ihren verfluchten Holzpfeifen etwas besseren Knaster verbrennten und nicht dasäßen, als wären sie aus Holz geschnitzt. Aber das ist es gerade. Die Bauern sind die Dauben an unserem Landesfaß, sie sind zu unterst und zu oberst und man muß sie gelten lassen, wie sie sind. Und nun will ich zum Schluß meine Gedanken etwas in die Höhe richten. Unser lieber Primus wollte vom Wert des Lebens reden. Wollte! Man merkte, wo er mit seinen ureigensten Gedanken – hm! hm! – hinauswollte. Das Leben sollte um irgendeines Götzen willen heruntergezerrt werden. Ich aber sage: das ist entweder Unverstand oder Heuchelei. Wer nicht auf beiden Augen blind ist, sieht ein, daß das Leben der Güter höchstes ist, fraglos. Es erhält freilich seinen Preis erst durch den Zweck, und dieser Zweck ist die Herrschaft. Ja, ja, glotzt nur! Zum Herrschen ist der Mensch in die Natur, in die Welt gestellt. Überlegt's euch. Andere Gedanken werden euch ja in nächster Zeit, der schönen Mauleselzeit, nicht quälen. Damit habe ich mein Programm aufgedeckt. Wir wollen in zwanzig Jahren wieder darüber reden. Jetzt aber soll uns Stapfer enthüllen, was er vom Leben hält, Stapfer, unser Philoso–o–oph!«

Er setzte sich und sah herausfordernd zu Reinhart Stapfer hinüber. Der regte sich aber nicht. »Wollt ihr ihm die Rede erlassen?« fragte Immergrün in die Runde.

»Natürlich nicht!« rief der Chor der vom Alkohol leicht umnebelten Zecher. Man drängte Reinhart, bis er sich erhob.

»Ich wollte, ich wäre meiner Sache so sicher wie Oswald Wäspi,« begann er. »Vor fünf, sechs Jahren war ich es vielleicht, da war mir das Leben eine Selbstverständlichkeit wie Sonnenschein und Nachtdunkel. Jetzt kommt es mir wie ein Geheimnis, ein Mysterium vor. Ich habe es in den letzten Jahren immer weniger begriffen. Meine Hoffnung ist jetzt die Hochschule. Soll ich euch meinen jetzigen Zustand schildern? Mir ist zumute wie einem Blinden vor der Operation, die ihm das Augenlicht geben soll. Er sitzt im Dunkeln, aber er fühlt, daß sich etwas Bedeutsames um ihn vorbereitet. Er weiß es: ihn überflutet das, was man Licht nennt, und Farbe und Glanz und Heiterkeit. Es muß etwas Hohes, Herrliches, Freudvolles sein, eine Speise der Seele und ein Trunk des Verlangens. Ein Riß durch einen Vorhang, ein Blick in alle Weiten und Tiefen, in die Sterne, den Mond und die Sonne. Jedes Rätsel wird gelöst, hinter jeder Frage steht die Antwort, hinter jedem ›Warum‹ das ›Deshalb‹. Er ahnt es: im ganzen und im einzelnen wird alles anders ausfallen, als er es sich vorstellte, aber herrlich, herrlich wird es immer sein.«

Reinhart setzte sich, sichtlich verlegen, er schämte sich, ein Stück seines Innern, seiner Geistesform verraten zu haben. Immergrün rief ihm zu: »Wünsch' Glück zu der Operation! Ich suchte mir eine Ärztin!« Man lachte. Immergrün ließ wieder seinen Schläger dröhnen: »Nun wollen wir noch hören, was unsere Weinblume vom Leben denkt. Georg von Homberg soll reden!«

Georg hatte, seit er von Immergrün angegriffen worden war, häufiger das Glas angesetzt, als er es vertrug, und stotterte nun mit seiner trunkenen Zunge kläglich und ohne sich zu erheben: »Es ist mir jetzt nicht ums – – Reden, es ist mir eher ums – – Speien. Kommen Sie nur in meine Nähe, Herr Wäspi.«

Unbändiges Gegröhle löste die kurze Rede ab. Immergrün suchte sich nochmals Gehör zu verschaffen: »Sagt da ein angehender Student noch ›speien‹ wie in der Kinderstube!« Niemand hörte auf ihn. Georg von Homberg lallte über den Tisch Reinhart zu: »Bring' mich nach Hause!« Reinhart schob ihn unbemerkt aus dem Saal.

Die beiden schritten langsam die einsame Straße hinab, dem untern Teil der Stadt zu. Herbstnebel strich kühl vom See herauf und spann sein Netz um die Straßenlaternen, die in ihrem Dunstkreis zu frösteln schienen. Georg war nun zum Singen aufgelegt und gab seinen Gedanken in allen ihm möglichen Höhenlagen Ausdruck: »Er ist ein Saukerl, er ist ein Saukerl!« Reinhart hatte den Arm um ihn gelegt und brachte ihn mit Anstrengung vorwärts. Auf der Brücke, die die Flußmündung überspannte, drängte sich Georg zum Geländer und neigte sich hinaus. Dabei fiel ihm der Hut ins Wasser und wurde rasch unter der Brücke weggeschwemmt. »Spring ihm nach,« bat Georg Reinhart, und als dieser für das Ansinnen nur ein lustiges Lachen hatte, wurde er unsagbar traurig und klagte: »Er ist nagelneu, Pariser Fabrikat, was wird der Vater sagen?«

In diesem Augenblicke erschallte hinter ihnen Immergrüns spöttische Stimme: »Will das Rößlein nicht mehr, Ritter Georg? A propos! Vorhin hörte ich ein seltsames Schluchzen. Solltest du vielleicht ge–spie–en haben? Nimm dich in acht! Siehst du dort drüben nichts im Nebel? Ein Polizist ist's! Und nun gute Heimfahrt dem Ritter Georg und seinem Roßknecht!« Georg fing wieder zu singen an: »Er ist ein Saukerl.« Immergrün schritt eilig weiter, und seine gedrungene Spatzengestalt schien im Nebel unheimlich zu wachsen. Reinhart hörte, wie er dem Polizisten zurief: »Dort drüben stehen zwei Trunkenbolde, nehmen Sie sich ihrer gütigst an!«

Reinhart umfaßte Georgs Arm und zog den Widerstrebenden mit sich.

Georg von Homberg wohnte in einem alten, einfachen Patrizierhause, an einer stillen, vom Verkehr fast unberührten Gasse. Durch ein kunstvoll geschmiedetes Tor trat man in einen Garten von mäßigem Umfang, unter die Kronen einer Blutbuche und einiger Weimutskiefern, hinter denen sich das Haus vornehm versteckt hielt. An der Haustüre angelangt, stand Georg still und stöberte in seinen Taschen. »Der Teufel hat die Hand im Spiel! Ich habe den Hausschlüssel vergessen,« klagte er, »ich muß läuten, und dann wird der Alte' erwachen. Da ist er schon!« Man hörte einen Schlüssel sich im Schloß schüchtern drehen, und dann öffnete sich die Türe mit einem ächzenden Knarren, das in der stillen Nacht wie ein Kelterbaum dröhnte. Georg, den bei dem Hall die Kraft vollständig verließ, sank auf den obersten Tritt der Vortreppe nieder, entschlossen, das Ungemach über sich ergehen zu lassen. Eine Kerze wurde von einer schlanken Hand durch die Türöffnung geschoben und darüber guckte ein Mädchenkopf behutsam ins Freie, vom Lichtglanz übersprüht. Das blonde Haar glänzte wie eine Krone aus schwerem Gold.

»Was ist dir, Georg?« rief das Mädchen mit gedämpfter Stimme, und als es Reinhart erblickte: »Was ist ihm? Sind Sie ein Arzt?«

Reinhart lächelte nicht einmal über den Irrtum, er schaute nach den hellen Augen des Mädchens, die in großer Angst zitterten, und sagte halblaut: »Ich bin Georgs Kamerad, Reinhart Stapfer. Es fehlt ihm weiter nichts.«

»Ist er betrunken? Du mein Gott! Wenn's nur der Vater und die Tante nicht merken!« Sie stand in einem gelben Gummimantel auf dem Treppenabsatz und beugte sich überschlank wie ein Schilfrohr über Georg. »Steh auf und komm ins Haus, Brüderlein! Zum Glück sah ich, daß du den Schlüssel vergessen hattest und habe gewartet.«

Reinhart versuchte, seinem Kameraden auf die Füße zu helfen. Umsonst. Da brach aus dem Mädchen ein helles, schelmisches Lachen hervor. Georg nahm es krumm und begann zu schimpfen.

»Red' nicht so laut,« flüsterte die Schwester, obgleich sie selber ein schlechtes Beispiel gegeben hatte, »der Vater hört's!« Georg raffte seine Stimme zusammen: »Das ist mir egal. Ich hab' heute die Ehre des Hauses verteidigt. Gelt, Stapfer? Aber der Immergrün ist ein Saukerl! Der hat keine Ehre!« Er stand jetzt auf den Füßen und wies auf die Schwester: »Das da ist die Jutta, ein Nichtsnutz! Sie hat mir neulich Zigaretten stibitzt.«

»Glauben Sie's nicht, Herr Stapfer!« rief das Mädchen, ganz rot geworden.

Im Hausflur vernahm man schlürfende Schritte. Das Mädchen erbleichte: »Der Vater!« Georg versuchte sich mannhaft zu stellen.

Ein hagerer Herr mit weißem Backenbart und sonst glattrasiertem Gesicht stelzte auf die Schwelle, band sich die Schnur des Schlafrockes fester und musterte Georg, der sich gleich keck zu verteidigen begann: »Da bin ich, Vater. Ich habe die Ehre unseres Hauses verteidigt, der Immergrün, du weißt, der Schweinekerl, hat sie versauen wollen.«

»Drück' dich anständig aus!« tadelte der Vater, ohne die Stimme zu erheben.

»Ich habe den Stapfer da mitgenommen, damit er dir sagen kann, wie ich die Ehre...«

»Schon gut,« unterbrach ihn der Vater mit vollkommener Ruhe und Würde. »Geh zu Bett, wir reden morgen wieder.«

»Sind sie der Sohn des Obersten Stapfer?« Reinhart bejahte es. Über das Gesicht des Alten ging ein seltsames, nervöses Zucken. »Sie haben Georg nach Hause gebracht. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Schlafen Sie wohl!«

»Bin ich auch berauscht?« fragte sich Reinhart, als er davonschritt. »Ich habe vier Glas getrunken in der langen Zeit, soviel erträgt ein Mensch doch?« Er näherte sich einer Laterne und unternahm es, hart an der Kante des Randsteines zu gehen. Trat er über den Rand hinaus, so wollte er das als Beweis seiner Trunkenheit ansehen. Aber die Füße gingen sicher, ihm war, er hätte auf einer Säbelschneide gehen können. Nur die Brust war trunken.

»Wie sie gewachsen ist,« lachte er nach langem brütendem Schreiten seltsam vor sich hin. »Wie lange ist's nun her? Im Frühling waren es drei Jahre.« Daß sie so gewachsen war, schien ihm ein ungeheures Glück und Wunder.

Es war auf einem Kinderball gewesen, beim Frühlingsfest. Sie war als kleine Rokokodame verkleidet gewesen. Wie aus Porzellan gekünstelt sah sie aus, alle bewunderten sie. Sie zum Tanz zu bitten, hatte Reinhart nicht gewagt, sie hielt sich immer an ihren Bruder Georg und ihre vornehmen Vettern Konrad und Hans Eschenbach. Seither war sie sein Traum. Er hatte sie nie mehr gesehen, er wußte aber von Georg, den er manchmal unauffällig ausforschte, daß sie vor kurzem aus dem Welschland heimgekehrt war. »Wer hat so lange Wimpern?« fuhr er in seinem Sinnen fort, »dunkel, und doch ist sie blond.« Und wieder mußte er lachen. Lange und planlos trug er sein Erstaunen durch die leeren Gassen. Fern, wie ein gedämpfter Ruf aus dem Nebel, schlug eine Turmuhr an und gleich dröhnten über Reinhart zwei wuchtige Schläge, als hätte die Glocke oben nur auf das Zeichen aus dem Nebel gewartet. »Zwei Uhr!« sagte er sich, »so spät bin ich noch nie nach Hause gegangen, wir sind eben jetzt frei, frei, frei!« Er dehnte die Brust. Aber gleich wurde er nachdenklich: »Frei, und der erste Gebrauch, den wir von unserer Freiheit machten, war, uns zu betrinken. Aber sonst hätte ich sie ja nicht gesehen!« Er hätte tanzen mögen und schritt rasch seinem Vaterhause zu, das in einem großen Garten am See lag. In einem Fenster war noch Licht. »Die Mutter ist noch wach,« dachte er, halb erfreut, halb mißmutig. Er trat in ihr Zimmer. Sie warf einen raschen Blick auf ihn und schien mit seiner Haltung nicht unzufrieden zu sein. »Wir sind beide spät,« versuchte Reinhart zu scherzen, »du hast doch nicht auf mich gewartet?«

»Doch, aber das hat nichts zu sagen, wir können ja einmal lang genug schlafen.« Dann rasch den Ton wechselnd: »Es ist ein Brief vom Vater da, er kommt erst morgen abend. Er läßt dir sagen, du sollest nach dem Golsterhof gehen und nach dem Großvater sehen. Setz' dich doch, es ist mir ums Plaudern. Ich habe es wie die Katzen: je später die Nacht, desto wacher werde ich.« Sie legte die Brille, die sie trug, weg.

»Es ist heut ein Einschnitt,« begann sie, »ich werde hier auf meinem Stuhl sitzen bleiben, du wirst deinen Weg gehen und, wer weiß, wie weit wir schon in ein paar Jahren auseinander sind. Auch Küngold wird mich bald verlassen, ist ein Mädchen achtzehn, so beginnen ihm Flügel zu wachsen. Dann werde ich ganz einsam sein.« »Sprich nicht so!« rief Reinhart beklommen.

»Ich klage natürlich nicht,« fuhr sie weiter, »mein Los ist das aller Mütter, wir haben's wie die Bäume, wir treiben Laub, aber eines Tages weht es uns der Wind weg. Doch ich wollte nicht von mir, sondern von dir reden, wohin wird dich der Wind treiben? Du wirst es nicht leicht haben. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Du hast ein Vorbild in unserem Hause, wie bequem wäre es für uns alle, wenn du ihm einfach nachwachsen könntest. Aber das darfst du und kannst du nicht! Du bist kein Stapfer, du bist ein Landert, wie ich eine Landert bin. Bei ihm siehst du nie einen Schritt oder einen Blick ins Leere, da ist immer ein Ziel und ein Zweck, bei uns geht mancher Blick nebenaus ins Blaue oder Ziellose. Er hat das Auge nach außen, wir nach innen. Er besitzt die Kraft, nach allen Seiten richtig auszugreifen, und überall stellt er seinen Mann. So weit reicht deine Spanne nicht. Beschränke dich auf eins und, wenn ich dir raten darf, laß dieses eine nicht die Politik sein.«

Sie hielt inne, sie war wie verlegen geworden, als hätte sie zuviel oder etwas Unrechtes gesagt. Reinhart entgegnete rasch: »Aber es muß sie doch jemand machen, die verfluchte Politik!« Er sprach das nicht, weil ihn eine innere Neigung zur Politik gestoßen hätte, sondern weil er meinte, einen Schild über den Vater halten zu müssen, wie schon einmal in dieser Nacht.

»Du verstehst mich falsch,« entgegnete die Mutter. »wenn dein Vater Politik treibt, so tut er es, weil er nicht anders kann, weil die Politik sein Fahrwasser, sein Strom ist. Aber du! Wie unglücklich würdest du in diesem Wasser herumpatschen! Wie ärgerst du dich, wenn er in den Zeitungen verunglimpft wird! Was tut er? Er lacht darüber und bleibt aufrecht und gesund.«

Reinhart schwieg. Sie fuhr nach einer Weile weiter: »Das ganze Leben hängt von dem weg ab, auf den wir im entscheidenden Augenblick den Fuß setzen.« Und dann fast wie aus einem Traum gesprochen: »Die Söhne müssen von den Vätern weg. Nun geh und schlaf über dem, was ich dir gesagt habe.«

Reinhart küßte sie und ging. Als er die Türe hinter sich zuzog, sah er, wie sie ihm vorgebeugt nachschaute und, als sie bei ihrer Kurzsichtigkeit meinte, er sei verschwunden, wie gebrochen in sich zusammensank. »Warum muß das so sein?« stöhnte er in sich hinein. Aber bald wurde das Bild der Mutter durch das Juttas auf die Seite geschoben. Die ganze Nacht wurde Reinhart durchwühlt wie ein Brachfeld, das von der Pflugschar aufgerissen und unter Schmerzen für ein neues Leben und eine künftige Ernte bereitet wird.

Zweites Kapitel

Auf dem Golsterhof

Die Sonne hatte den Nebel schon fast aus der Luft gewischt, als Reinhart aus einem unruhigen, von endlosen Träumen gerüttelten Schlaf aufwachte. Er hörte seine Schwester im Garten hantieren und trat zu ihr hinaus. Sie scheuerte mit einem Rechen welkes Laub aus den Wegen und sah ihn erst nicht. Ihm fuhr das Gespräch der Mutter durch den Sinn und er fragte sich: »Ist sie eine Stapfer oder eine Landert? Außen eine Stapfer, innen eine Landert,« gab er sich zur Antwort. Sie war fast so hoch gewachsen wie er, hatte blühende Wangen und Lippen, und auf den ersten Blick schien die Seele ihres Wesens Heiterkeit zu sein. Aber ihre dunkeln, fast schwarzen Augen waren ernst und versonnen. Sie hörte Reinharts Schritt. »Da bist du, du Nachtschwärmer!« scherzte sie. »Ich habe bis Mitternacht auf dich gewartet, ich wollte sehen, ob dir die Treppe breit genug sei.«

»Ich kenne eine Schwester, die hat länger ausgeharrt.«

»Ei, wer ist denn noch musterhafter als ich?«

Er zögerte einen Augenblick und rückte dann heraus: »Ich habe Georg Homberg nach Hause begleitet, da hat uns eine seiner Schwestern aufgeschlossen.«

»Minna?«

»Nein, Jutta. Kennst du sie?«

»Wie man den Mond kennt. Sie ging nicht in die Stadtschulen, die waren doch für sie nicht vornehm genug. In Lausanne geruhte sie, ein paarmal das Wort an mich zu richten.«

»Sei nicht so boshaft!«

»Aha!« lachte sie, »du willst dir einen Nasenstüber holen.«

»Keine Sorge! Übrigens soll die Ältere mit dem Pfarrer Schalcher verlobt sein. Der ist auch keine Weinblume, wie sich Oswald Wäspi gestern ausdrückte.«

»Oh, der ist viel mehr, der ist der Abgott aller vornehmen Jungfern, der heiratsfähigen und überständigen!«

Beide lachten. Reinhart schüttelte der Schwester die Hand und machte sich davon.

Es war ein traumhafter Herbsttag, die Luft voll blauen Dunstes, der den grellen Glanz der Sonne band und Himmel und Erde durch einen Seidenschleier schauen ließ. An Gras und Blatt hatten sich über Nacht schwere Tropfen gehängt, und das Spinnweb an den Sträuchern sah aus wie aus Perlenschnüren geflochten. Die letzten Schwalben schaukelten lautlos dahin, auf den Äckern gruben Bauern die Kartoffeln aus und Knaben verbrannten unter Jauchzen die Stauden. Die rauchenden Feuer glichen aus der Ferne heidnischen Dankopfern.

Reinhart verließ die Landstraße, die an der Berglehne langsam der Höhe zustrebte, und schlug einen steilen Pfad ein, der zuerst durch Buchen, dann durch niedere Föhren und Eiben zum Kamm führte. Er stieg bald rasch, bald langsam, wie ihn die Gedanken an Jutta jagten oder anhielten. Zuweilen seufzten die Worte der Mutter in sein Glückssinnen, und ihr still getragenes Leiden ging wie ein Schatten neben ihm her. »Genügt es denn nicht, gut zu sein, um auf dieser Erde glücklich zu werden? Oder gibt es nur deshalb Gute, damit jemand da sei, der saumtiergeduldig das Schwere für andere schleppe?«

Oben, auf dem Grat, wandte sich Reinhart zurück und schaute hinab auf die Stadt und den See, die, aus der Höhe betrachtet, immer noch in einem leichten Nebel schwammen; er schaute hinaus auf das herbstliche Land voll glühender Kirsch- und schwer behangener Apfelbäume, hinüber nach den Schneebergen, die sich in der allgemeinen Bläue fast verloren und unwirkliche Phantasiegebilde zu sein schienen. Eine Sehnsucht erfaßte ihn, all das, was vor ihm und unter ihm lag, zu durchstreifen, zu berühren, zu umfassen, ihm ›du‹ zu sagen. »Ich stehe an der Schwelle des Wunders, ihr seid es selber und in eurer Heiterkeit das dunkle Geheimnis, hinter das man kommen muß. Man kann doch nicht leben, wie das Tier im Wald oder auf der Weide. Irgendwie müssen mir die Schuppen von den Augen fallen. Wie wäre es sonst auszuhalten?« Er schritt weiter. »Ich will den Rätseln nachjagen wie ein Hund dem Wild, in das letzte Nest seiner Höhle will ich den Fuchs verfolgen und ihn herauszerren.«

Er beabsichtigte Geschichte und Philosophie zu studieren, da mußte er doch dem Weltwesen und dem Leben auf die Schliche kommen, da mußten doch dichter aufgehen, wenn auch nicht das große, letzte, von dem man behauptet, daß unser Auge es nicht ertragen würde. Er hatte ein grenzenloses Vertrauen in die menschliche Vernunft und in die Wissenschaft.

Jutta schritt durch seine Gedanken, das Weib, wie eine Lichtgestalt, und hinterher ein langer Zug Ahnungen und Wünsche und Gaukelbilder einer unerfahrenen, unwissenden, neugierigen jungen Seele.

Er war mehr als eine halbe Stunde auf dem Grat gewandert, als er angerufen wurde: »Ist's erlaubt mitzugehen, junger Herr? Wir scheinen den gleichen Weg zu haben.« Der so fragte, lag bäuchlings im Gras, stützte den Kopf auf die aufgestemmten Arme, wie man etwa tut, wenn man liegend die Weite wie einen Quell in sich aufsaugen will. Er erhob sich langsam und trat auf Reinhart zu. Er stak in ziemlich mißlichen Kleidern und machte durchaus den Eindruck eines Landstreichers, bis auf den schwarzen, sorgsam gepflegten Bart.

Die beiden gingen eine Strecke wortlos nebeneinander, Reinhart etwas ärgerlich, weil er in seiner köstlichen Feststimmung gestört worden war.

»Wohin des Wegs?« fragte endlich der Schönbärtige.

»Nach dem Golsterhof,« erwiderte Reinhart zerstreut.

»Kenne ich, den Golsterhof, s' ist der schönste Sitz im ganzen Amt.«

Da Reinhart nicht weiter auf den Gegenstand einging, stockte das Gespräch wieder, bis der Landstreicher, der unterdessen wohl seine Überlegungen gemacht hatte, die Frage aufwarf: »Sind Sie etwa der Sohn Ferdinands, ich meine, des Obersten oder des Nationalrats, ich weiß nicht, wie man schicklicher sagt?«

»Kennen Sie ihn?« forschte Reinhart, etwas überrascht.

Der andere stand still, umfaßte mit einer fürstlichen Gebärde seines rechten Armes das Land, das an den Berg angelehnt gegen Süden in langen Wellen hinflutete, und behauptete mit dem Tonfall eines Herrschers: »Das kenne ich alles wie meine Hand, und alles kennt mich im ganzen Amt, will sagen, man meint mich zu kennen, ... ha! Ich bin nämlich der Mauderli, das heißt, man nennt mich so, aber vom Vater hab' ich einen andern Namen geerbt, per se.«

»Was sind Sie, was treiben Sie?« fragte Reinhart, um die Prahlerei etwas hinabzuschrauben.

»Die einen sagen, ich sei ein Tagedieb, die andern, ich sei ein Landstreicher und die wohlgesinnten, ich sei ein verbummelter Student. Sie haben alle in ihrer Weise recht. Ihnen, dem Sohn Ferdinands, will ich richtig sagen, was ich tue. Ich suche nämlich Ihn.« Er deutete nach oben.

Reinhart stand still. Er verspürte Lust, dem Großsprecher ins Gesicht zu lachen.

Mauderli ließ sich nicht beirren. »Das tönt vielleicht wie eine Lästerung, aber es ist nicht mehr gelogen, als wenn ein Bauer sagt, er pflanze Brot, und doch nur Kartoffeln steckt. Immer hab' ich auf eine Art Gott gesucht, drei Semester auf der Hochschule, dort war er gar nicht zu Hause, dann im Wein, da meinte ich manchmal, ich hätte ihn am Zipfel, ach, man weiß ja, wie es sich damit verhält. Dann an einem Bach, im Buchenwald, im Gras unter Blumen, im warmen Sonnenschein, und dann wieder im Wein oder Most. Und einmal bei der Heilsarmee. Und wissen Sie, wo ich ihn in den letzten vierzehn Tagen suchte? Im Gefängnis, meiner Seel', dort unten im Bezirksgefängnis. Sie haben einen neuen Landjäger bekommen, der kennt den Mauderli nicht. Und weil der Mauderli in seiner Schwäche eben seinen Gott im Most gesucht hatte, gab es einen übeln Auftritt und vierzehn Tage Gewahrsam, per se. Das war heilsam, und hätte es nach etwas länger gedauert, wer weiß, ob ich Ihn nicht aufgespürt hätte.«

»Sie sind ein seltsamer Kauz,« lachte Reinhart.

»Nicht so seltsam. Jeder sucht etwas, und von tausend stellen es neunhundertneunundneunzig oder auch einer mehr töricht an. Zu den vielen gehöre auch ich. was suchen denn Sie? Und auf welchem Wege?«

Reinhart war etwas überrumpelt. »Ich fange da an, wo auch Sie einst angefangen haben, ich beziehe nächstens die Fakultät.«

»Die theologische?«

»Nein, die philosophische.«

»Nun, Gott sei Dank, da kann es noch erträglich werden. Aber ohne Enttäuschung wird es auch dort nicht ablaufen. Es kommt nur ein Schulmeister aus des Herrgotts Hand, und der heißt ›Leben‹. Alle andern sind Stümper.«

»Aber man studiert doch gerade um des Lebens willen.«

»Man würde richtiger sagen: um des Sterbens willen. Aber wir wollen hier abbrechen, sonst könnte ich traurig werden. Es muß jeder sein eigenes Garn abhaspeln. Per se.«

Die beiden setzten sich wieder in Bewegung. Mauderli hatte zuerst wieder das Bedürfnis zu reden. »Also nach dem Golsterhof gehen Sie? Es ist dort nicht alles, wie es früher war. Die Alten werden bald scheiden, verzeihen Sie, daß ich so unbekümmert davon rede, aber ich bin gar nicht unbekümmert. Sind das zwei Leute! Der Abraham ist wie aus dem Testament geholt, und die Annabab wie aus dem Himmel. Haben Sie ihr schon bei der Arbeit zugesehen? Mir ist immer, sie arbeite, wie man beten soll. So möchte auch ich arbeiten können, aber ich bin ja nur ein Lumpenhund. Wären doch die Jungen wie die Alten! Wie heißt es: Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.«

»War man hart mit Ihnen?«

»Ich klage nie. Ein Mauderli soll nie klagen. Doch da geht mein Weg rechter Hand. Ich habe mein Mittagessen beim Schuppisser im Tannhof bestellt, sechs Gänge, Nachtisch und Champagner. Grüßen Sie mir den Abraham und die Annabab. Und nichts für ungut, unsereiner schwatzt eben, wenn er dazu kommt.«

Er schwenkte ab und Reinhart sah ihm im Weitergehen verwundert nach. Der hatte also auch einmal an der Schwelle gestanden, voller Neugier und Wissensdrang, von den großen Geheimnissen und Rätseln gelockt, ratlos, voll innerer Unruhe und doch wieder voll Zuversicht und Hoffnung. Und nun? Eine heimliche Angst erfaßte Reinhart. Wenn auch er einmal so strandete und von allen seinen Zukunftsträumen nichts sichtbar bliebe als ein glänzender Bart?

Eine Stunde später stieg er zum Golsterhof hinab, der sich geruhsam und herbstgesegnet in der Sonne dehnte: das hochgieblige Dach des Wohnhauses, die breite Scheune voller Behäbigkeit, die Kirschbäume feurig rot, die Wipfel der Birnbäume wie Wein, die Apfelbäume unter der Last der Früchte purpurn oder gelb. Es war ein festlicher Empfang. Die Großmutter Annabab sah Reinhart von weitem kommen, trat vors Haus und faßte seine Rechte in ihre alten abgearbeiteten Hände, und in ihrem »Gottwillkommen« klang ihr Herz. Bei ihr stand schon Reinharts Bäschen Estherlein. Sie glänzte ihn mit ihren dunkeln, leuchtenden Augen an und harrte auf den Augenblick, da auch sie ihre Hand in die seine schmiegen konnte. Sie versteckte sich halb hinter der Großmutter, denn sie schämte sich immer ihrer verwachsenen Gestalt, sie hatte ein Höckerchen, das sie fast zur Zwergin machte, und sich, wie sie meinte, immer zwischen sie und die andern Menschen einschob. Als sich Reinhart zu ihr wandte und sein Blick ihre Mißform umfaßte, glänzte ihm ein anderes Mädchenbild durch den Sinn, und er empfand ein brennendes Mitleid mit ihr. Sie fühlte es gar wohl, und wenn Reinhart für sie den rechten Menschenblick gehabt hätte, würde ihm nicht entgangen sein, wie der freudig warme Glanz ihrer Augen sich plötzlich kühlte. Aus dem Garten kam Adelheid, Estherleins ältere Schwester, herbei, gemessen, selbstsicher, aber mit natürlicher Freundlichkeit. Sie ging, im Gegensatz zu Estherlein, in einem wohlgeratenen, starken Leib umher und erweckte den Eindruck, man könnte auf ihre Schultern ein ganzes Bauernhaus stellen.

Reinhart erkundigte sich nach dem Großvater. »Da steht er am Fenster,« entgegnete Annabab gedämpft.

Reinhart blickte zu der langen Fensterreihe empor und schaute in das große, glattrasierte Gesicht seines Großvaters, der ihm zunickte.

»Gehen wir zu ihm hinauf,« flüsterte die Großmutter, »es geht ihm nicht zum Besten.« Adelheid schob die Türe mit dem schweren Klopfer auf, Annabab führte Reinhart, als wäre er immer noch ein Knäblein, an der Hand ins Haus, Estherlein folgte ein paar Schritte hinterdrein, zaudernd, wie müde, den Blick vorwurfsvoll auf den schlank gewachsenen Stadtvetter gerichtet.

Der Großvater empfing Reinhart oben an der Treppe in dem breiten Gang und übernahm nun die Führung in die Stube. Er wies ihm den Ehrensitz neben sich am obern Tischende an, und nun begann zwischen Großvater und Enkel das Fragen und Auskunftgeben, her und hin, während Annabab und Adelheid in der Küche verschwanden und Estherlein den Tisch deckte und auf einen guten Blick hoffte.

»Wo ist der Oheim Hans Rudolf?« fragte Reinhart. Über das Gesicht des Großvaters glitt es dunkel. »Er ist in Geschäften in die Stadt gefahren, ich weiß nicht, ob er vor Abend nach Hause kommt. Bist du seinem Gefährt nicht begegnet?«

»Ich kam nicht auf der Landstraße.«

»Ja, es ist kurzweiliger über den Berggrat. Der weitere Weg ist nicht immer der längere.«

Ein Knabe von etwa vierzehn Jahren trat ein, warf den Schultornister geräuschvoll auf den Tisch und begrüßte Reinhart. »Haben Sie die Maturität bestanden, Herr Vetter?« war sein zweites Wort.

»Was fällt dir ein, mich zu siezen, Walter?« lachte ihm Reinhart ins Gesicht.

»Ja, ja, wenn man jetzt vierzehn Jahre alt ist, weiß man nicht mehr, wie man sich stellen soll,« meinte der Großvater tonlos. »Er hat es nun richtig durchgesetzt, daß er studieren darf.«

»Und der Hof?« fuhr Reinhart besorgt drein.

»Das ist es eben,« seufzte der Alte.

»Hat Onkel Ferdinand nicht auch studiert?« fragte Walter mit triumphierender Miene. »Hätte er jetzt eine große Fabrik und wäre er Oberst und Nationalrat, wenn er jung seinen Kopf nicht durch die Wand gestoßen hätte?«

»Der eine kommt auf den Bock und der andere unter die Felgen,« tönte es ihm eindringlich von den Lippen des Großvaters entgegen. Walter wollte die Mahnung nicht verstehen und ließ sich von Reinhart erklären, was er studieren wolle.

»Kann man damit Geld machen?« fragte er mit gekrausten Lippen.

Der Großvater und Reinhart zwinkerten sich zu, und beide mußten lächeln, der eine traurig, der andere belustigt. Der Alte sagte: »Ich glaube, die Buben lernen heutzutage kein anderes Wort mehr als ›Geld‹. Man fragt nicht mehr: Kann mir die Arbeit ein Stück Herz werden, sondern: macht man Geld damit? ›macht‹ man!«

»Natürlich,« rief Walter selbstbewußt, »man ist nicht mehr so dumm.« Er merkte, daß sein Wort unschicklich war und steckte das Gesicht in ein Buch.

Adelheid brachte die Suppe herein und hinter ihr erschien eine halb städtisch gekleidete Frau. Sie begrüßte Reinhart mit überschwenglicher Freundlichkeit, so daß er gar nicht zum Worte kam. Es war Hans Rudolfs zweite Frau, von ihm Aga, von den andern aber nach dem Kalender Agathe genannt. Früher hatte sie ihr hübsches Frätzchen in eine Spinnerei getragen, jetzt spielte sie sich als Herrin auf. Reinhart hatte sie erst ein paarmal gesehen, denn sie war kaum drei Jahre auf dem Hofe. Sie fragte ihn, ob man in der Stadt schon die Wintermode trage, und war fast beleidigt, daß er darüber keine Auskunft geben konnte. Sie hätte ihn am Ohrläppchen gezupft, wenn er sich ihrer Hand nicht rasch entzogen hätte.

Nach dem Essen streckte sich der Großvater auf dem Ruhebett zum Mittagsschlaf aus. Die andern verließen die Stube. Die Großmutter ging mit Reinhart in den Baumgarten, wo Obst aufzulesen war. »Wie findest du ihn?« fragte sie besorgt. Reinhart konnte nicht antworten, er hatte auf den ersten Blick gesehen, daß der Großvater dem Tod verfallen war. »Es ist nicht nur das Alter,« fuhr Annabab fort, »es drückt ihn anderes noch mehr. Es ist traurig, wenn einem das Leben die größten Sorgen auf das Ende aufspart. Höre ihm geduldig zu, wenn er davon anfängt, es tut ihm wohl, wieder einmal abzuladen.« Sie machte sich an ihre Arbeit und Reinhart sah ihr nachdenklich zu. Ihr Anblick war ihm eine Erbauung, und die Worte Mauderlis fielen ihm ein. »Er hat recht, es ist eine seltsame Andacht in ihrer Arbeit, es ist wirklich ein Gebet, wenn sie sich bückt, gerade als würde sie dem Baum oder der Erde oder sonst wem für jeden Apfel und jede Birne Dank sagen.«

Adelheid und Estherlein gesellten sich zu ihr. Estherlein arbeitete fast wie die Großmutter, nur daß sie bei ihrer Behindertheit etwas rührend Unbeholfenes an sich hatte, während das Tun der Großmutter schlicht und selbstverständlich war. Adelheid stieg beherzt auf die Leiter, schüttelte die Äste mit kräftigem Arm, so daß die Mostbirnen mit Getöse herabprasselten. wie ein Mann stand sie in der Baumkrone. »Die ist eine Stapfer,« dachte Reinhart und stieg, um nicht hinter ihr zurückzubleiben, auch auf den Baum. Auch Agathe schwänzelte heran. Sie hielt eine Häkelarbeit in der Hand und setzte sich vornehm auf einen mit Birnen gefüllten Sack.

Nach einer Weile humpelte der Großvater aus dem Haus, warf einen Blick auf seine Leute und setzte sich auf die Bank neben dem Bienenhäuschen. Reinhart stieg vom Baum herab und trat zu ihm hin. Der Großvater rückte ein bißchen auf die Seite und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Es wollte sich nicht gleich ein Gesprächsstoff finden. Der Alte sann unschlüssig in die Weite. Reinharts Blick fiel auf das leere Hundehäuschen, und er fragte: »Wo ist der Hund, der Bello?«

Der Großvater machte mit der Hand eine Gebärde ins Leere: »Die Alten verlassen den Golsterhof.« Und dann wie mit einem Ruck: »Was hältst du von unserem Walter? Studierst du auch nur, um Geld zu machen?«

»Ich weiß, daß ich mit meinem Studium kein Vermögen ergattern werde,« gestand Reinhart lachend.

»Ich bin ein alter ungeschulter Mann und sollte in diesen Dingen nicht mitreden. Aber wie du's auffassest, freut mich. Ich weiß nicht, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren in die Menschen gefahren ist. Mein Sohn Hans Rudolf war früher ein Bauer, wie eine Axt in einer rechten Hand eine Axt ist, von früh bis spät am Hieb. Und jetzt? Er wägelt jede Woche ein- oder zweimal in die Stadt, er besitzt dort drei Mietshäuser, er spekuliere, sagt er, und könne damit an einem guten Tag mehr Geld verdienen als auf der Scholle in einem Jahr. Immer das Geld! Das verstehe ich nicht, aber da drin höre ich etwas, das sagt: Dergleichen kann kein Segen sein. Es zieht Hans Rudolf nach der Stadt, und seine Frau hetzt ihn dazu. Was ist ihr der Hof? Ich glaube, wenn ich gegangen bin, verkauft man ihn den Juden. Ich habe noch auf Walter gehofft...«

Er hüstelte trocken und setzte dann wieder an: »Die Annabab und ich, wir haben auch zu unserer Sache gesehen und den Rappen geachtet, aber wir ließen den Rappen nicht zu unserm Herrgott werden, und wenn ein Bettler kam und in Herrgottsnamen anhielt oder auch sonst, so haben wir ihm nicht den Handrücken gezeigt, weil wir fürchten mußten, mit einem Stückchen Geld oder einer Schüssel Suppe unsern Herrgott aus dem Hause zu geben. Oh, ich' habe eine Freude gehabt an diesem Hof! Wie ein König kam ich mir manchmal vor. Ich glaube, dafür werde ich jetzt in meinen letzten Tagen gebüßt. Mach' ein paar Schritte mit mir!«

Er erhob sich und führte Reinhart um das Bienenhaus herum auf einen freien Wiesplatz. Er wollte stramm ausschreiten wie in den guten Jahren, er wehrte sich mannhaft gegen Schwäche und Tod. »Sieh dir das alles an! Die alten Bäume rühren von meinem Vater und Großvater her, die mittleren, die sich jetzt fast zu Tode tragen, pflanzte ich, als ich etwa war wie du, die jungen setzte ich in späteren Jahren allein oder mit Hans Rudolf. Sie werden noch ein paar Menschenalter lang tragen, wenn ich schon drunten bin, und mir ist, so lange noch einer von ihnen treibt und blüht, sei auch ich nicht ganz vom Hof abgelöst. Und weiter die Wiesen! Sahst du je saftigere? Freilich muß man sie im Frühjahr sehen, wenn sie blühen, oder im Brachmonat, wenn sie zum Schnitt reif sind. Und dann die Äcker! Die neue Saat liegt schon in ihnen, das ist etwas für sich, darüber soll man nicht viel reden. Und dort unten der Wald; drin stehen Tannen, zwei Männer müssen die Finger an den Armen strecken, wenn sie sie umfassen wollen, und dazwischen stehen ein paar Eichen, die haben schon zugeschaut, als Zwingli an ihnen vorbei in den Tod ging.« Er schwieg und sann und schaute. Sein Blick schweifte gegen die Schneeberge. Der Föhn hatte seit dem Morgen den Dunst von ihnen weggehaucht und sie standen nun herrlich, zum Greifen nahe da, Spitze an Spitze, Firn an Firn, Hang an Hang.

»Die dort gehören auch dazu,« fuhr der Großvater fort, »mir ist, auch sie seien mein. Wenn es sich manchmal über mir zusammenzog, hab' ich zu ihnen hinübergeschaut und gedacht: wie oft hat es schon um sie gestürmt und geblitzt und gewettert, und sie halten immer noch den Kopf hoch wie am sechsten Tag. Das hat mir wieder Mut gemacht. Es geht Kraft von ihnen aus, und es freut mich, daß sie mir einst auch auf mein Grab scheinen werden.«

Er drehte sich zu Reinhart: »Und das alles soll uns verloren gehen? Die Stapfer sollen wegwandern, heimatlos werden, ja, ich sag' es, heimatlos! Fremde sollen sich ins Nest setzen, die nichts von denen wissen, die die Bäume gepflanzt und die Scheune gebaut haben! Das macht mir das Letzte schwer. Hör', du hast auch noch ein Bauernherz, wenn du auch in der Stadt aufgewachsen bist, verlaß du den Golsterhof nicht, übernimm ihn einmal, tu's mir zulieb.« Seine Stimme zitterte, seine Augen leuchteten. Reinhart stand ratlos vor ihm. wie ihm antworten, wie ihn nicht kränken? »Ich verstehe nichts von der Landwirtschaft,« stammelte er.

»Du wirst sie lernen, wenn nur das Herz will, das Herz lernt leichter als der Kopf, es lernt alles, wenn es will.« Er sah Reinhart in die Augen und las die Antwort drinnen. Er seufzte und sank noch mehr in sich zusammen. »Du hast recht, ich kann von dir dein Leben nicht verlangen. Komm in die Stube, es wird kühl.« Traurig stiegen der Absterbende und der Werdende miteinander ins Haus und stießen mit fünfjährigem Birnensaft miteinander an.

Beim Aufbruch sah der Großvater Reinhart in die Augen und sagte bedeutsam: »Behüt dich Gott treulich.« Reinhart eilte in den Baumgarten und verabschiedete sich hastig von den andern. Das Herz saß ihm wie Blei in der Brust. Als er Estherchen die Hand drückte, fiel ihm ihr fragender, vorwurfsvoller Blick auf, aber die Trennung vom Großvater hatte ihn so tief gepackt, daß er den andern nichts mehr abzugeben hatte. Das arme Mädchen schlich ganz klein und bucklig davon. Der gleichaltrige Stadtvetter, der so oft die Ferientage im Golsterhof verlebt hatte, war ihr das Ideal der Gradgewachsenheit geworden, und sie hatte, ohne selbstsüchtige Pläne, ohne Hoffnung, nur mit dem Anspruch auf einen freundlichen Blick, ihr gutes Herz an ihn gehängt. Heute hatte er sie verletzt und sie ihr Höckerelend doppelt häßlich empfinden lassen.

Die Annabab hatte die Schürze abgelegt und ließ es sich nicht nehmen, Reinhart eine Strecke zu begleiten. »Sag' doch deinem Vater, er solle bald herüber kommen. Der Großvater klagt ihn zwar an, daß er das Beispiel zum Abzug vom Golsterhof gegeben habe, aber er ist doch sein Stolz. Und dann könnte Ferdinand mit Hans Rudolf reden, er ist noch der einzige, auf den er hört.«

Nach einer Pause fragte sie: »weißt du etwas von Melchior?«

»Er kommt nie zu uns, er weicht uns aus, ich weiß nicht einmal, wo er haust.«

Sie seufzte: »Seit fünfundzwanzig Jahren haben wir ihn nicht mehr gesehen, den eigenen Sohn, und er wohnt kaum drei Stunden weit. Muß das so sein?«

Die alte Frau wischte sich die Augen und ließ Reinhart allein ziehen. Er schlug die Landstraße ein und schritt wie gehetzt bergan. Traurige Gedanken jagten hinter ihm her. Er hatte bis zu diesem Tag den Golsterhof als eine Glücksstätte angesehen, als seine eigentliche, sonnige Heimat. Und nun? welcher Wandel! Und er selber hatte den Kummer vermehrt, zwei Menschen weh getan, die ihm nie etwas anderes als Liebe erwiesen hatten.

Oben vor dem Bergwirtshaus stand Hans Rudolfs Gefährt. Reinhart überlegte, ob er eintreten und den Oheim begrüßen sollte. Er schritt vorüber.

Es hatte schon eingedunkelt, als er daheim ankam. Es herrschte eine stürmische Stimmung im Haus, die Mutter hatte sich sorgfältig angezogen und legte frische Herrenwasche und Kleider zurecht, Küngold sah bald im Eßzimmer, bald in der Küche nach, die beiden Dienstmädchen schossen aufgeregt her und hin, irgendwo klirrten Scherben. Die Haustüre ging auf. Sporenklirren blitzte die Treppe herauf, Ferdinand stand in der Stube, grüßte Frau, Tochter und Sohn rasch der Reihe nach, warf Säbel und Käppi auf das Sofa und entledigte sich der Handschuhe. Eine unbändige Kraft, die sich nach allem ausstreckte, schien ins Zimmer gerollt zu sein. »Ich komme nur schnell, um das Militärgewand abzustrupfen,« sagte er, »ich muß in eine Sitzung des Parteivorstands und esse im Wirtshaus. Morgen ist Sonntag, da holen wir's nach. Seid ihr alle wohl? Nun, gottlob, das ist die Hauptsache! Warst du auf dem Golsterhof? Wie geht es dort? Armer Vater! Gib mir doch die Zivilkleider heraus, Ulrike! Es eilt! Du hast das schon besorgt? Immer getan, ehe gewünscht. A propos, ist die Matura gut abgelaufen, Reinhart? Nun, ich hab's nicht anders erwartet! Wir müssen morgen miteinander plaudern. Sagen wir um elf oder halb zwölf, und zwar im Bureau. Ich habe auch Herrn Geierling dorthin bestellt. Also abgemacht!«

Er stieg in sein Schlafzimmer hinauf und verließ eine Viertelstunde nachher das Haus so ungestüm, wie er es betreten hatte.

Drittes Kapitel

Der Wegweiser

Am Sonntag morgen wälzte sich der Herbstnebel ruhig und schwer über See und Stadt. Reinhart machte ein paar unruhige Gänge durch den Garten und stand dann am See still, der ihm seine Wellen müde und kaum hörbar gegen die Füße trieb. Er war gequält. Die Unterredung mit dem Vater ängstigte ihn zum voraus. Er kam sich ihm gegenüber ganz unbewehrt vor. ›Reifezeugnis,‹ fuhr es ihm durch den Sinn, und er mußte lachen. Mit einem dunkeln Entschluß ging er dem Innern der Stadt zu. Er hoffte auf eine Begegnung. Als er von einer Hauptstraße in eine Gasse einbog, die stracks in eine Kirche hineinführte, sah er eine gedrungene Spatzengestalt im Nebel auftauchen. Er wollte ihr ausweichen, aber Immergrün hatte ihn schon bemerkt und rief ihn an: »Hast du Ritter Georglein glücklich zur Bettstatt gebracht?«

Reinhart suchte ihn abzuschütteln, aber Oswald Wäspi gehörte nicht zu denen, die man mit einem kühlen Hauch von sich bläst. Er faßte Reinhart unter den Arm und zog ihn plaudernd mit sich fort. Auf dem nahen Kirchturm begannen die Glocken zu werben. »Aha, wir sind in die Kirchgänger geraten,« näselte Immergrün, »die laufen alle dem Modepfarrer zu. Der versteht es, den Mäusen zu pfeifen! Er muß ein seltsames Gefühl haben, wenn er allen Zentnergeldsäcken der Stadt die Leviten lesen darf. Man sagt, er habe jeden Sonntag dreihundert Millionen unter seiner Kanzel.«

»Er soll es auf Georgs Schwester abgesehen haben?« forschte Reinhart den Alleswisser aus.

»Stadtgespräch! Er scheint sich etwas Vornehmheit antrauen zu wollen, sein Vater ist nämlich Schirmhändler an der Nelkengasse.«

Eine hagere, leicht vornübergebeugte Gestalt in langem Gehrock und mit hohem Zylinderhut kam etwas steif daher. Reinhart zog den Hut. Der Alte erwiderte den Gruß mit äußerlicher Freundlichkeit und ging in andächtiger Sammlung vorüber, als hätte ihn der Gottesdienst schon ganz gefangen genommen.

»Aha, der alte Homberg läuft dem Rattenfänger in die Falle,« lachte Immergrün. »Ich komme mit dir da hinein, du wolltest doch auch ... du Marder, oder wie soll ich dich im Tierbuch einreihen?«

Sie traten in die Kirche und nahmen auf der Empore Platz. Das Schiff war ganz gefüllt, Frauen und Fräulein wogen vor. Reinhart ließ seine Blicke forschend durch die Reihen gehen, ohne zu finden, was er suchte. Die Orgel sang etwas Feierliches durch die hohen Gewölbe und schloß mit einer jauchzenden Folge von Akkorden. Sie schien die Generalfreude in die Welt posaunen zu wollen. Der Gemeindegesang begann. Immergrün, der hinter Reinhart stand, fand sich darin nicht zurecht, er ging bald einen Takt mit dem Tenor, bald ein paar Noten mit dem Baß und sang zuletzt den Sopran eine Oktave zu tief mit. Bei den obern Tönen quiekte seine Stimme, denn sie hatte die Vermännlichung seltsamerweise noch nicht ganz vollzogen. Der Modepfarrer war unterdessen auf die Kanzel gestiegen und stand wie eine schwarze Bildsäule unbeweglich über seiner Gemeinde, den Blick leicht nach oben gewandt. Reinharts Auge wurde weniger von seinem Blick als von seinem Bart angezogen, der in blonder Fülle wie ein wohlgepflegter Garten sein Gesicht umfaßte. Er erinnerte Reinhart an Mauderli. Der Pfarrer begann zu reden, zuerst ganz leis, um jedes Geräusch in dem weiten Raume zu bannen, dann lauter und voller, bis er einen ganzen Strom von Wohllaut über die Gemeinde ausgoß. Aller Augen hingen an ihm, aller Ohren fingen wie Trichter seinen Redestrom auf. Er hatte als Text das Wort gewählt: »Über des Himmels Gestalt könnet ihr urteilen, könnet ihr denn nicht auch über die Zeichen dieser Zeit urteilen?« Reinhart horchte auf. Hatte nicht oft schon sein eigenes Suchen den Zeichen dieser Zeit gegolten? Er glaubte in der Geschichte den Geist früherer Zeitalter etwas betastet zu haben, der Gegenwart aber stand er kindlich ratlos gegenüber wie dem Leben überhaupt. Was bewegte jetzt die Menschheit? Unter welchen Mächten oder Herrschaften stand und diente oder fronte sie? Er hatte, in einem politischen Haus aufgewachsen, schon vieles darüber gehört, aber nichts so tief begriffen, daß es in ihm zu einer starken Überzeugung geworden wäre. Sollte ihm nun das Licht von der Kanzel kommen? Zu seiner Enttäuschung lenkte der Pfarrer nach einer kurzen Einleitung, die der Fahrt auf einem weiten Strome glich, sein Schifflein in einen engen Kanal, in dem er mit jedem Ruderschlag das flache Ufer oder den Boden berührte. Das Hauptzeichen der Zeit war ihm die Mißachtung, in der die Kirche nicht nur bei der arbeitenden Klasse, sondern sogar bei denen stand, die Kraft ihrer Stellung »Vorbild und Fackel« sein sollten. Reinhart folgte ihm bald nur noch mit halbem Ohr. Soviel wußte er: jede Zeit hatte ihre Not und ihren echten und unechten Glanz, und darnach mußte sie beurteilt werden. Sah nicht der Großvater im Golsterhof all das deutlicher als der gelehrte Pfarrer?

Reinhart ließ den Blick wieder über die gedrängt besetzten Bankreihen gleiten. Da entdeckte er sie endlich. Sie saß zwischen ihrer Schwester Minna und einer älteren Dame, in der er die Tante vermutete. Sie war in bescheidenes Schwarz gekleidet und trug ein herrenhuterisch strenges, geschmackloses Hütlein. Darum hatte er sie nicht gleich entdeckt. Er hatte sich etwas Leuchtendes, Strahlendes gedacht Während die Schwester und die Tante keinen Blick von dem Pfarrer wendeten, schien Jutta lächelnd vor sich hin oder in sich hineinzuschauen. Nach dem Schlußgesang jonglierte Immergrün Reinhart rasch auf die Gasse hinaus und hielt ihn dort mit der Kunst eines Diplomaten fest, um so unauffälliger die jungen Kirchgängerinnen mustern zu können, die mit gemessenem Anstand heraustraten.

»Er war heut etwas steifleinen,« näselte er Reinhart zu. »Vor vierzehn Tagen hat er das Wort verzupft: ›Wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.‹ Das war possierlich, der alte Homberg wird ihn schon verstanden haben.«

»Ei, du warst vor vierzehn Tagen auch hier?« spöttelte Reinhart, der plötzlich begriff, daß ihr Zusammentreffen vor der Kirche kein zufälliges gewesen war.

»Warum nicht?« lachte Immergrün, »ich gehe angeln, wo ein Teich ist, grad wie du«.

Reinhart errötete. War es, weil Wäspis Bemerkung ihn getroffen hatte, oder weil eben drei Damen, zwei junge und eine ältere, aus dem Portal der Kirche hervortraten? Er machte sich von Immergrün los, er wollte Jutta in seiner Gegenwart nicht grüßen und so dem Spötter sein tiefstes Geheimnis an die boshafte Zunge liefern. An der Straßenecke wandte er sich flüchtig zurück und meinte, Jutta habe ihn angesehen und gelächelt, wie während der Predigt. Er zog verwirrt seinen Hut und trollte davon. Er war noch ein großer Junge.

Als er ins Bureau seines Vaters eintrat, fand er ihn in Gesellschaft eines geschniegelten Herrn von kaum dreißig Jahren. Ferdinand erhob sich: »Die Herren kennen sich wohl noch nicht? Herr Helmut Geierling, unser kaufmännischer Direktor; mein Sohn Reinhart«.

Man verbeugte sich, auf der einen Seite geschmeidig, weltmännisch, auf der andern linkisch und befangen. Reinhart merkte, daß von dem blonden, kaiserlich nach oben gesträubten Schnurrbärtchen des Fremden ein feiner Duft ausging. Nachdem man sich gesetzt hatte, nahm das Gespräch zwischen den Herren Stapfer und Geierling seinen Fortgang. Reinhart blieb unbeteiligt.

»Ihre Befürchtung ist durchaus begründet, Herr Oberst, die kleinen Betriebe werden einen immer schwereren Stand haben. Ja, ich gehe noch weiter: sie werden bald die Beine strecken müssen, mit Notwendigkeit. Der Kapitalismus, das allmächtige Tier, umfaßt alles, erstickt alles, was rückständig ist, die rückständige Gesellschaft, den rückständigen Arbeitsbetrieb. Es gibt also nur ein Mittel der Rettung: Mächtig zu sein, alles zu zermalmen, was sich einem in den Weg stellt. Das hat man zuerst jenseits des Ozeans begriffen, aber wir im Reich haben die drüben ins zweite Treffen gestellt, ganz einfach, weil wir methodischer sind. Wer das Musterland kapitalistischer Entwicklung kennen lernen will, der braucht nicht mehr nach Amerika oder England zu reisen, er findet es zwischen Rhein und Elbe«.

Es entstand eine kleine Pause. Reinhart benutzte sie: »Es scheint, daß ich etwas zu früh eingetreten bin, Vater, ich komme später.« Er erhob sich. Die beiden andern maßen ihn etwas erstaunt, und Ferdinand ging ihn hart an: »Wir beraten uns über die Geschäftslage unseres Hauses, das sollte dir nicht langweilig sein«.

»Ich verstehe doch nichts davon«.

»Umso schlimmer«, wies ihn der Vater zurecht. Dann zu Herrn Geierling: »Also um halb eins in der ›Seewarte‹«.

»Es wird mir eine sehr große Ehre sein«, erwiderte Geierling. Er verneigte sich tief gegen Ferdinand, kühl und mehr beiläufig gegen Reinhart und schwebte elastisch hinaus.

Ferdinand ging mit zusammengepreßten Lippen ein paarmal im Bureau auf und ab und lud dann Reinhart mit sichtlich erzwungener Feierlichkeit ein, sich wieder zu setzen. Er hielt ihm eine Zigarrenschachtel hin. Reinhart lehnte ab: »Danke, ich rauche Zigaretten.«

Der Vater verzog den Mund: »Zigaretten? Das ist für das junge Weibsvolk oder weibische Männer. Da, greif zu!« Reinhart gehorchte. Dem Vater gegenüber gab es nichts anderes als Gehorsam, und gar, wenn er in Donnerlaune war. Ferdinand warf das brennende Streichhölzchen in eine rotfleckige Muschel und ging entschlossen, wie es seine Gewohnheit war, auf sein Ziel los. »Du hast jetzt die Mittelschule hinter dir, und vor dir das Leben, denjenigen Teil des Lebens, meine ich, in dem man sich ›machen‹ muß, den Menschen, den Charakter, die Stellung. Vielleicht ist es dir nicht unerwünscht, von mir ein paar Ratschläge zu hören. Du willst Geschichte und Philosophie studieren, das heißt, Stubenstaub. Diese Fächer entsprechen vielleicht deinen Neigungen, die dich am Eingreifen in die Wirklichkeit vorbeiführen möchten. Aber es gibt Menschen, die nur im Kampf gegen ihre Neigungen und ihre Natur etwas Tüchtiges werden. Wer schwach ist, muß anrennen, immer wieder anrennen. Ich habe absichtlich noch nicht mit dir über diese Dinge gesprochen, ich wollte dich in deinem Schulgange nicht stören. Jetzt aber ist die Sache nicht mehr aufzuschieben. Der junge Mensch von heute wird in ein ungeheures, grausames Getriebe hineingestoßen, und wer sich nicht wehren kann, wird zerquetscht, einfach! Geschichte! Halb Dichtung, halb Wahrheit, und Philosophie, ganz Dichtung! Sag doch, du wollest Dichter werden!«

»Aber es gibt doch Lehren der Geschichte,« warf Reinhart ein.

»Vergangenes wiederholt sich nicht, drum sind die sogenannten Lehren der Geschichte hohler Schall. Man betrachtet die Geschichte nur als Lebensaufgabe, wenn man die Kraft nicht besitzt, an der Gegenwart zu bauen. Und erst die Philosophie! Ich habe diese Jugendkrankheit auch durchgemacht. Gib einem Kind einen Anker-Baukasten und du hast einen Philosophen vor dir.«

»Vater!«

»Ach ja, ich weiß, in deinem Alter will man den Dingen in die Eingeweide gucken, das rätselhafte Etwas ergründen, das die große Maschinerie in Schwung hält, dem Leben, das einen zugleich lockt und ängstigt, auf den Rücken springen. Man setzt seine Hoffnung auf die Theorie und merkt erst, wenn man seine beste Zeit damit vertrödelt hat, daß sie der größte Hanswurst und Taschenspieler der Welt ist. Glaube mir, um die Welt, das Leben und sich selber zu begreifen, gibt es nur ein erprobtes Mittel: die Tätigkeit, was, nebenbei bemerkt, nichts Neues ist.«

Reinhart war ganz überrannt. Etwas in ihm erhob sich jäh gegen die vorgetragenen Äußerungen, aber er patschte noch zu tief im Trüben und seine Achtung vor der Überlegenheit des Vaters bildete einen so mächtigen Baustein seines Gewissens, daß er nicht gleich den Gegenhieb fand. Er schaute mit krampfhaft verzerrtem Gesicht in die bläulichen Bänder, die die eben durchbrechende Sonne in den Tabakrauch des Zimmers wob, und seine Hand zupfte am Hemdkragen. Er war wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Der Vater schien auf Einwände zu warten und suchte mit seinem dunkeln, sprühenden Auge des Sohnes zaghaften Blick an sich zu zwingen. Reinhart fühlte, daß ihm die Antwort nicht erlassen würde und stieß endlich hervor: »Man muß das werden, wozu man berufen ist, man hat ein Recht auf sein eigenes Leben.«

Ferdinand Stapfers Gesicht war vom Militärdienst tief gebräunt, bis auf den oberen Teil der Stirne, der vom Käppi geschützt gewesen war. Reinhart sah, wie sich dieser Streifen rasch rötete, und erwartete einen heftigen Ausbruch. Aber der Vater machte einen Ruck, wie einer der sein Pferd mitten im Lauf anhält, und versuchte es nochmals mit Vernunftgründen: »Man ist ein Kind seiner Zeit, und wer es nicht ist, muß es werden, sonst bleibt am Ende nichts als eine große Null. Die Welt ist seit einem Menschenalter praktisch geworden. Leider! Ich gebe es zu. Wo sind die großen Philosophen und Dichter geblieben? Die Zukunft gehört der Technik, der Physik, der Chemie. Um es kurz zu machen: du gehst einstweilen nicht auf die Hochschule, sondern in unser Geschäft, studierst alle Teile des Betriebes so gründlich, daß dir später kein Angestellter oder Kunde ein X für ein U machen kann. In einem Jahr wirst du bei deiner Begabung und Schulung durch sein, und nachher studierst du ... Chemie.«