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Eine in der Stadt Braunschweig angesiedelte historische Erzählung aus dem vierzehnten Jahrhundert.
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Ein Stadtjunker in Braunschweig
Egbert Carlssen
Inhalt:
Ein Stadtjunker in Braunschweig
Erstes Buch. Die beiden Bürgermeister
Erstes Kapitel. Im Gewitter
Zweites Kapitel. Der Schuster von Lübeck
Drittes Kapitel. Freund oder Feind?
Viertes Kapitel. Allerhand Feste und allerhand Gäste
Fünftes Kapitel. Die Erbhuldigung
Sechstes Kapitel. Der Pickelhering.
Siebentes Kapitel. Die Sternbrüder.
Achtes Kapitel. Am Fürstenhofe.
Neuntes Kapitel. Thränen am Christfeste
Zehntes Kapitel. Ein Frühlingstag
Elftes Kapitel. Der Auszug aus dem Vaterhause und der Auszug nach dem Elmewalde
Zwölftes Kapitel. Jagdgeschichten
Dreizehntes Kapitel. Grollende Donner
Vierzehntes Kapitel. Zündende Blitze.
Fünfzehntes Kapitel. Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!
Zweites Buch. Der Kampf ums Erbe.
Erstes Kapitel. Walpurgisnacht
Zweites Kapitel. Ersehnte Spuren.
Drittes Kapitel. Irmgarde.
Viertes Kapitel. Die Schnapphähne.
Fünftes Kapitel. Am Fürstenhofe.
Sechstes Kapitel. Klaus Lodewiges
Siebentes Kapitel. Vor und in Twieflingen
Achtes Kapitel. Herz und Gewissen
Neuntes Kapitel. Des Kampfes Ende
Ein Stadtjunker in Braunschweig, E. Carlssen
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Germany
ISBN: 9783849623623
www.jazzybee-verlag.de
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Die Sonne neigte sich dem Untergange zu, der kurze Herbsttag ging zu Ende, Aber es war kein Herbsttag gewesen, wie sie sonst der September bringt, voll sonnigen Glanzes, doch auch voll köstlich erfrischender Luft; man hätte sich im Juli wähnen können, eine solch' drückende Schwüle herrschte. Im Westen stand eine düstere Wolkenwand, welcher die Sonne entgegensank, glühende Pfeile versendend, wie bestrebt, die kurze Zeit ihrer Herrschaft noch recht auszunützen. Und als hätten diese glühenden Pfeile gezündet, so strahlten in feurigem Glanze die Turmkreuze der Stadt Braunschweig und auch wohl hie und da ein Fenster in den Türmen, welche in gleichmäßigen Abständen die Stadtmauer krönten. Am östlichen Horizont aber erschienen in wunderbarer Klarheit die Hügelketten des Elme-Waldes in sanften Wellenlinien, so nahe dem Auge gerückt, daß man glauben mochte, in einer halben Stunde sie zu erreichen.
Zwischen den Stoppelfeldern schritt langsam der Stadt zu ein jugendliches Paar, er im enganliegenden hellblauen Scheckenrock, am lose über die Lenden herabhängenden Gürtel den kurzen Dolch, auf der Schulter die Armbrust – sie im braunroten, den Oberkörper nicht minder eng umschließenden Gewande, einen leichten Mantel mit roter Gugel über den Arm tragend. Sie hielt den Kopf etwas vornübergeneigt, während er eifrig auf sie hineinsprach, um ihren Mund lag ein stilles Lächeln, und als sie ihn jetzt ansah und mit einem freundlichen, ja herzlichen Blick bestätigend sagte: »Gewiß waren es schöne Zeiten« – da war ihr Antlitz rosig überglänzt, als wie vom Widerschein der alten schönen Zeiten.
»Und dann, Ilse«, fuhr er lebhaft fort, »wißt Ihr wohl noch, als Ihr auf dem Birnbaume saßet, auf dem großen, hinten im Garten? Ihr waret immer höher und immer höher hinauf geklettert, eine Birne hoch oben lockte Euch gar so sehr – und als Ihr sie gepflückt und verzehrt hattet, nun, da wußtet Ihr nicht, wie wieder herunter kommen, denn hinaufsteigen ist schon leichter, als herunterklettern; da fingt Ihr an zu schreien –«
»Zu schreien, Rolef? Geschrieen habe ich nicht.«
»Nun, nun, sagen wir also rufen. Ihr rieft: Rolef –«
»Ich fragte nur: wie komme ich wohl wieder herunter?« Das rosige Antlitz senkte sich tief herab, war die Rosenfarbe doch zu glühendem Purpur geworden.
»Nun also, Ihr fragtet«, wiederholte Rolef, »wie komme ich wohl wieder herunter. Und zur Antwort kletterte ich Euch nach und brachte Euch glücklich auf festen Grund und Boden.«
Ilse erwiderte nichts; erst nachdem sie eine Zeit lang schweigend neben ihm gegangen, hob sie den Kopf und ihn ruhig ansehend sagte sie: »Das geht allen Leuten so, daß sie sich gern ihrer Kinderjahre erinnern.«
Es lag etwas Abweisendes in den Worten, aber Rolef bemerkte das nicht oder wollte es nicht bemerken, denn er erwiderte: »Nur dann, wenn sie sich auch gern derjenigen erinnern, mit denen sie diese verlebt haben.«
Aber die Bemerkung hatte Jungfrau Ilse nun eben gar nicht hören wollen. Das Glück ihrer Kinderjahre sollte nichts Besonderes sein, weil Rolef teil daran gehabt. Und nun stellte er seinen Anteil daran gar als dasjenige hin, um dessentwillen sie gern an jene Zeit zurückdachte. Die Anmaßung mußte bestraft werden.
»Weiß nicht, ob Ihr recht habt, Rolef Doring«, sagte sie mit kühlem Achselzucken und hochmütigem Lächeln, »aber ich meine, dann könnte Euch die Erinnerung eben nicht angenehm sein. Oder denkt Ihr gern zurück an meinen Vetter, den Junker Vörsfelde? Wißt Ihr noch, wie oft Ihr seine schwere Hand habt fühlen müssen?«
Rolef biß sich auf die Lippen. Der Junker Vörsfelde war freilich keine angenehme Erinnerung. Um einige Jahre älter als Rolef und daher demselben an körperlichen Kräften überlegen, aber beschränkten Geistes, streitsüchtig und übelwollend, hatte der Junker den jüngeren Spielgenossen oft genug seine schwere Hand fühlen lassen. Und wäre es die schwere Hand noch allein gewesen! Aber wie viel höhnische Bemerkungen, wie viel Spott und Stichelreden hatte Rolef in Ilses Gegenwart von dem Übermütigen hinnehmen müssen. Und Ilse hatte ihn dann nicht einmal bedauert, sondern wohl gar noch dazu gelacht. Nein, der Junker Vörsfelde war keine angenehme Erinnerung.
Und eben dessen Gestalt jetzt herauf zu beschwören! Aber so ging es immer, wenn er mit Ilse zusammen war. Erst war sie freundlich, ja herzlich, aber ging er dann darauf ein und schlug auch einen vertraulicheren Ton an, so ward sie plötzlich eine andere und aus der Jugendfreundin ward die stolze Bürgermeisterstochter. Warum er nur immer von neuem so mit sich spielen ließ? Er warf einen prüfenden Blick auf die schlanke Gestalt, welche an seiner Seite dahin schritt. Wie sie so anmutig den Kopf trug! Und wie anmutig war dieser Kopf selbst, war die ganze holde Erscheinung. Ach, er wußte wohl, warum er des Spiels nicht überdrüssig wurde!
Die Sonne sank tiefer, und höher stieg die schwarze Wolkenwand. Ein Luftzug erhob sich und schwoll allmählich zu einem starken Winde an. Aber derselbe hatte nichts Erfrischendes, er war heiß wie die übrige Luft und wühlte am Wege Staubwolken auf. Doch unser Paar verschmähte es, seine Schritte zu beschleunigen, vor ihnen lag noch glänzender Sonnenschein, die verderbendrohenden Wolken waren in ihrem Rücken.
»Wollten der Junker Vörsfelde und ich uns jetzt mit einander messen«, erwiderte Rolef auf Ilses letzte Worte, »so möchte der Ausgang vielleicht ein anderer sein als damals, wo er den Vorteil älterer Jahre für sich hatte.« »Er sich mit Euch messen«, meinte Ilse achselzuckend, »er ist zum Schilde geboren.«
»Oho und wir Dorings nicht? Wir sind freie Leute von Alters her, so gut als die Vörsfeldes. Wir sitzen auf freiem Eigen seit Menschengedenken, ehe noch die Herzoge hier ihre Burg bauten. Die Vörsfeldes aber sind Dienstmannen geworden und haben ihr Eigen den Herzogen zu Lehen aufgetragen.«
Ilse lächelte überlegen, »Aber beim Turnier in Göttingen«, spottete sie, »seid Ihr Stadtjunker doch nicht zugelassen.«
Das Blut stieg Rolef zu Kopf. »Weil sie uns fürchten«, rief er, »und weil sie uns hassen. Ja zuckt nur hochmütig mit den Schultern. Sie fürchten die Städte und hassen sie deshalb. Uns Stadtjunker, wie Ihr höhnend sagt, aber am meisten, weil sie uns beneiden, die wir frei geblieben und reich geworden sind, während sie im Gefolge eines Herrn reiten oder als Wegelagerer auf der Straße liegen müssen.«
»Warum sprecht Ihr so laut?« fragte Ilse gelassen. »Meinetwegen braucht Ihr die Stimme nicht zu erheben, ich höre ganz gut.«
Immer stärker war der Wind geworden und immer größere Staubwolken hatte er aufgewirbelt. Nun schwand auch der Sonnenschein vor ihnen; denn die schwarzen Wolken hatten die Sonne erreicht und mit ihrem trüben Schleier verhüllt. Ein Tropfen fiel auf Ilses Hand. »Was ist das?« rief sie, sich umwendend. »Regen?«
Auch Rolef wandte sich. »Nun, das kann gut werden«, meinte er, die gewaltigen Wolken betrachtend, welche sich heranwälzten. Der Wind fuhr heulend über das Feld und jagte ihnen Staubmassen untermischt mit einzelnen Regentropfen ins Gesicht.
Aller Spott war von Ilses Antlitz verschwunden. »O weh«, klagte sie, schnell ihren Weg fortsetzend, »wir haben noch wenigstens eine Stunde; wie werde ich nach Hause kommen?«
»Naß«, meinte Rolef lakonisch.
»Das ist Euch freilich gleichgiltig. Aber so beeilt Euch doch. Warum bleibt Ihr denn stehen?«
»Ich sehe mir den Wagen drüben an.«
»Dazu ist's jetzt die Zeit.«
»Wenn Ihr darin säßet, könntet Ihr trocken nach Hause kommen.«
»Ihr verspottet mich, das ist nicht ritterlich.«
Rolef war an einer Biegung des Weges stehen geblieben, zu welcher derselbe durch eine sumpfige Wiese gezwungen wurde, die sich zur Oker hinabsenkte. Jenseit des Flusses stand der Wagen, dem Rolef seine Aufmerksamkeit widmete, ein hoher, vierräderiger Karren, mit einem leinenen Plan überspannt. Er stand in der That noch, der Fuhrmann mochte wohl im Schatten der hohen Buchen, welche drüben emporragten, und nahe dem kühlenden Wasser eine Rast gehalten haben. Jetzt durch das nahende Unwetter aufgeschreckt, spannte er seine Gäule wieder ein.
»Ich denke nicht an Spott«, versetzte der junge Mann. »Wenn Ihr den Wagen erreichtet, wäre Euch in der That am besten geholfen.«
»Das können wir auch im Gehen besprechen.«
»Doch nicht. Wenn wir diesen Weg weiter verfolgen, ist es unmöglich, den Wagen zu erreichen. Ihr müßt hier hinüber.«
Ein Blick genügte, um die Richtigkeit von Rolefs Behauptung zu erkennen. Jenseit des Flusses, wo der Karren hielt, führte die alte Landstraße von Goslar her, die Oker abwärts, auf Braunschweig zu. Der Weg aber, auf dem sich unser Paar befand, lief den Fluß aufwärts, um erst eine ziemliche Strecke weiter oberhalb auf einem Steg die Oker zu überschreiten und sich mit der Landstraße zu verbinden. Bis man auf diesem Umweg die Stelle erreichte, wo sich jetzt der Wagen befand, war derselbe ohne Zweifel längst fortgefahren.
Dies sah auch Ilse ein. Sie hemmte ihren Schritt und fragte: »Wie soll ich hier hinüber kommen? Kann ich fliegen?«
»Ich will Euch tragen.«
»Durch den Fluß?«
»Er ist hier nicht tief und wird mir kaum über die Kniee gehen. Auf Ehre und Gewissen bringe ich Euch gut hinüber.«
Immer dichter fielen die schweren Regentropfen, Blitze zuckten durch das Gewölk und der Donner rollte lang hin über den Himmel. Anno Domini 1373, in welchem unsere Erzählung beginnt, sagt man, seien Frauen und Mädchen weniger zart gewesen als heutzutage und weniger empfindlich gegen des Wetters Unbill. Mag sein, aber sonderlich erbaut wird auch keine gewesen sein von der Aussicht, noch fast eine Stunde wandern zu müssen unter strömendem Regen, bei Donner und Blitz. Daher war Ilse auch schnell entschlossen.
»Kommt«, sagte sie kurz und schritt unverzagt in die sumpfige Wiese hinein, rüstig vorwärts, ob ihr auch Wasser und Schlamm manchmal bis über den Knöchel gingen. Am Ufer der Oker angekommen hob Rolef die schlanke Gestalt leicht empor und hielt sie fest in seinen kräftigen Armen. Dann stieg er hinein in den Fluß, welcher bald durchwatet war, in der That ging ihm das Wasser nicht weit über die Kniee. Als sie drüben angelangt waren, hatte der Fuhrmann das Anschirren seiner Pferde beendet und war im Begriff auf den Wagen zu klettern.
»Nach Braunschweig?« fragte ihn Rolef, welcher Ilse sanft hatte zur Erde gleiten lassen.
Der Fuhrmann nickte und faßte nach Zügel und Peitsche.
»Nehmt die Jungfrau mit, damit sie dem Unwetter entgeht.«
Der Fuhrmann ließ prüfend seine Blicke über Ilses Gestalt gleiten. Auch noch ein anderes Gesicht schaute bei dem Klang der fremden Stimme unter dem Plan hervor, ein rotbärtiges Gesicht mit zwei funkelnden graublauen Augen.
»Mein Vater wird's Euch Dank wissen«, sagte Ilse vortretend, »er ist der Altstadt Bürgermeister.«
»Für einen Menschen ist noch Platz«, meinte das bärtige Gesicht mit den funkelnden Augen.
Der Fuhrmann rückte zur Seite und Rolef half Ilse auf den Wagen. Ein Händedruck und ein freundlicher Blick belohnte ihn für seine Dienste. Dann zogen die Pferde an, der Fuhrmann schnalzte mit der Zunge und knallte mit der Peitsche, die Gäule fielen in einen schwerfälligen Trab und langsam entschwand das Gefährt Rolefs Blicken.
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Es war nicht nur Zufall gewesen, daß Rolef Doring heute Ilse vam Damme begegnet war.
Rolef, welcher Ilses Thun und Treiben immer sehr viel Aufmerksamkeit schenkte, hatte in Erfahrung gebracht, daß dieselbe im Laufe des Nachmittages zu dem Meierhofe ihres Vaters hinausgehen würde. Da hatte es ihn auch aus den Mauern der Stadt getrieben, er hatte die Armbrust genommen und war über die Stoppelfelder gestreift. Doch wurde er dem Wilde heute nicht gefährlich, seine Aufmerksamkeit blieb lediglich durch die Beobachtung des Weges in Anspruch genommen, auf welchem Ilse vom Hofe zurückkommen mußte. Erst als er sie auf demselben erblickte, legte er einen Pfeil auf die Armbrust und sandte ihn aufs Geratewohl dem Himmel zu, um sich doch den Anschein zu geben, als sei er ganz vertieft ins edle Weidwerk. Dann trat er wie von ungefähr auf die Jungfrau zu, klagte über das Mißgeschick, welches ihn auf seiner heutigen Jagd verfolge, und den Faden der Unterhaltung weiterspinnend, schloß er sich ihr an, ohne daß irgend etwas Auffallendes dabei gewesen wäre. Das hatte sich alles ganz natürlich gemacht.
Rolef lächelte still vor sich hin, daß ihm dies so gut gelungen. Aber dann wurde er wieder ernst. Wie lange sollte das noch so fortgehen mit ihnen Beiden? Er konnte sich kein Leben denken ohne Ilse, wie sie ja auch dagewesen war und seine Sorge um sie und seine Liebe zu ihr, so weit seine Erinnerung reichte. Die vam Dammes und die Dorings gehörten beide zu den ältesten Geschlechtern der Stadt, zu jenen uralten Freien, deren Höfe neben und vor dem herrschaftlichen Dorfe Brunswick bestanden hatten und mit ihm zur Stadt Braunschweig zusammengeschmolzen waren, als, begünstigt durch die Kreuzung der großen Handelswege von Süd nach Nord, von Magdeburg nach Bardewik, und von West nach Ost, vom Rhein zur Elbe, Handel und Wandel dem bäuerlichen Leben ein Ende machten. Aber inmitten des wachsenden Handelgetriebes und des steigenden Reichtums bewahrten sie sich ihre Eigenart als Freisassen, sie saßen auf eigenem Erbe, nicht auf herrschaftlichem Boden, wie die Umwohnenden, und niemals war von ihnen Zins oder Bede gezahlt. Ohne die Vorteile zu verschmähen, welche der Handel ihnen bot, ja mit Geschick und Umsicht durch ihn die ererbte Wohlhabenheit zum Reichtum steigernd, blieben sie daneben Landwirte, und als ritterbürtig geachtet, nahmen sie als etwas Selbstverständliches das Regiment der Stadt in Anspruch. Nicht viele solcher Familien gab es noch in Braunschweig, wie die Dorings und vam Dammes.
Häufig im Laufe der Zeiten mit einander verschwägert, hatten sie fest zusammengestanden gegen oben und unten, sowohl gegen Eingriffe des Landesherrn, wie gegen die begehrlichen Gelüste der Gilden und gemeinen Leute, welche schon seit langem Teil am Regiment zu gewinnen trachteten. Als Bürgermeister der Altstadt hielten die zeitigen Häupter beider Familien die Zügel der Herrschaft in Händen – auch Rolefs Vater war Bürgermeister; wie wir wissen, waren die Kinder mit einander groß geworden und viele Augen in Braunschweig betrachteten sie schon als ein Paar. Wer hätte dem freudiger zugestimmt, als Rolef, aber niemand wußte auch besser als er, wie weit er noch von diesem Ziele entfernt war. Nicht nur das machte ihm Sorge, daß die frühere Einigkeit zwischen den Vätern in den letzten Jahren bedeutend abgenommen hatte, ja fast ins Gegenteil umgeschlagen war, das hätte seine Gedanken weniger in Anspruch genommen, wäre er nur Ilses sicher gewesen. Aber er hatte ja heute wieder erleben müssen, wie Ilse unvermutet den vertraulichen Ton mit einem hochmütig abweisenden wechselte, als erschrecke sie wie vor einem plötzlich auftauchenden Gespenst vor dem Gedanken, daß er ihr mehr sei oder jemals mehr werden könne, als ein anderer, ein Fremder. Oder war das nun einmal so ihre Art; war sie so kraus und launisch wie das wilde Harzwasser, die Prinzessin Ilse, welche schäumend und brausend ihren Weg sucht, vom Brocken hinab, hinunter zur Oker? –
Das Gewitter war jetzt ganz zum Ausbruch gekommen, in Strömen rauschte der Regen hernieder, Blitz und Donner folgten sich fast unmittelbar. Aber eben dies war geeignet, Rolef heiterer zu stimmen. Je ärger das Unwetter tobte, desto mehr freute er sich, daß er Ilse seiner Unbill noch rechtzeitig entzogen. Jetzt mußte der Wagen schon vor dem vam Dammeschen Hause halten, ja Ilse mußte schon ausgestiegen sein und konnte sich im schützenden Zimmer Glück wünschen zu ihrer schnellen Heimkehr. Da durchzuckte Rolef plötzlich ein Gedanke, welcher ihn unwillkürlich einen Augenblick still stehen lieh. Der Fuhrmann würde doch auch Ilse richtig vor ihrem elterlichen Hause absetzen? Die Männer im Wagen waren Fremde gewesen, Rolef hatte ihre Gesichter nie vorher gesehen. Sie hatten angegeben, sie führen nach Braunschweig, aber es war eine unsichere Zeit, viel Gesindel war unterwegs, Ilse war in ihrer Gewalt, wer stand ihm dafür, daß sie nicht am Stadtthore vorbei fuhren und einer der vielen Raubburgen in der Umgegend zueilten oder einem Schlupfwinkel diebischen Gesindels?
Die Jungfrau vam Damme war ein guter Fang, Ilse selbst hatte sich als Tochter des Bürgermeisters zu erkennen gegeben, also mochten die Schnapphähne hohes Lösegeld zu erpressen hoffen. Rolef wurde es siedend heiß bei dem Gedanken und dann lief es ihm wieder eiskalt über den Rücken. Er ging nicht mehr, er lief so schnell ihn seine Beine tragen mochten. Am Thore mußte er Gewißheit erhalten, ob der Wagen wenigstens in die Stadt eingebogen sei. Die Dunkelheit der Nacht brach schon herein, als er dasselbe erreichte, doch war die über den Stadtgraben führende Zugbrücke noch nicht aufgezogen. Auch die Thorflügel waren noch weit geöffnet und in der quer unter dem Walle sich durchziehenden Thorwölbung herrschte ungewöhnliches Leben. Da brannten rotglühende Pechfackeln, da glänzten blinkende Waffen, ja Rolef gewahrte sogar die stattliche Gestalt seines Vaters und daneben die kurze, dicke Figur des alten vam Damme, umgeben von Ratmannen, alle in festlichen Gewändern und geschmückt mit ihren goldenen Ketten. Die beiden Bürgermeister waren augenblicklich diejenigen, denen der Jüngling am wenigsten zu begegnen wünschte. Er hielt sich daher möglichst verborgen und spähte nach dem Thorwärter. Endlich ward er desselben habhaft. Aber als er ihm den fraglichen Wagen beschrieb und fragte, ob ein solcher hier durchs Thor gefahren sei, zuckte der Mann mit den Achseln und meinte, er könne sich dessen nicht erinnern.
Als Ilse das Gefährt bestiegen hatte, war ihr der hinterste Teil des Wagens angewiesen worden, wo sie vor dem Regen am geschütztesten sei. Den beiden Männern schenkte sie nach einer kurzen Musterung wenig Beachtung, dieselben saßen auf der vorderen Bank, der Jungfrau den Rücken zuwendend, sprachen leise mit einander und lachten auch wohl dazwischen. Monoton rauschte der Regen hernieder, tiefe Dämmerung herrschte unter dem dichten Plan des Wagens, es war ein Platz wie gemacht zum Denken und Träumen. Dem überließ sich denn auch Ilse und wir wollen nicht verschweigen, daß in diesen Träumen Rolef Doring eine große Rolle spielte, ja auch das wollen wir hinzusetzen, daß von den fürsprechenden und abweisenden Gedanken, welche in Ilse für und gegen den Jüngling stritten, die ersteren heute entschieden das Übergewicht hatten, so sehr, daß sie leise vor sich hinflüsterte: »Er ist doch ein herzensguter Mensch.« Und dabei errötete sie, trotzdem niemand die Worte gehört hatte.
Die Feuchtigkeit, welche allmählich auch durch die dichte Leinwand des Plans drang, störte Ilse aus ihrem Sinnen auf und ließ sie den Wunsch empfinden, bald aus ihrer immerhin noch recht unbehaglichen Lage befreit und unter dem schützenden Dache des elterlichen Hauses zu sein. »Sind wir noch nicht am Thor?« fragte sie die Männer, aber sie erhielt keine Antwort. Noch einmal fragte sie – lauter – wieder keine Antwort! Da beugte sie sich vor und berührte mit der Hand die Schulter des Rotbärtigen, indem sie zum dritten Male wiederholte:
»Sind wir noch nicht am Thor?«
Der Mann drehte sich um: »An welchem Thor?« fragte er.
»Nun, am Ludgeri-Thor, das ist das nächste.«
»Durch das fahren wir nicht.«
»So laßt mich dort aussteigen, wenn wir vorbei kommen.«
»Das geht nicht an, wir sind schon daran vorbei.«
»Schon daran vorbei?« wiederholte Ilse fragend und sah dabei forschend in das Gesicht des Rotbärtigen. Da durchzuckte sie ebenso plötzlich wie Rolef der Gedanke, daß die Männer falsches Spiel mit ihr spielten. Hastig warf sie sich zurück und riß am hinteren Ende des Plans. Das Leinen gab nach und ehe noch einer der Männer sie daran hindern konnte, war sie vom Wagen gesprungen. Zwar stürzte sie zu Boden, doch schnell wieder auf den Füßen, floh sie davon. Sie hörte, wie einer der Männer, der ebenfalls vom Wagen gesprungen, ihr etwas nachrief. Aber sie achtete nicht darauf, nur die Schritte des nacheilenden Verfolgers klangen ihr in die Ohren. Es war eine wilde Jagd, Ilses Vorsprung nur gering, ihre Kräfte denen des Rotbärtigen nicht gewachsen. Aber als sie nahe daran war zu verzweifeln, erreichten noch andere Töne Ilses Ohr und zwar von der entgegengesetzten Seite, Pferdegetrappel, Waffenklirren, Menschenstimmen, Da setzte sie die letzten Kräfte daran, und einen scheuen Blick zurückwerfend, gewahrte sie, daß ihr Verfolger stehen geblieben war, drohend die Hand nach ihr ausstreckte, dann Kehrt machte und hastigen Schrittes seinem Wagen zueilte. Sobald er denselben erreicht hatte, hieb der Fuhrmann auf die Pferde und das Gefährt verschwand in der Dämmerung des hereinbrechenden Abends.
Ilse blieb stehen und schöpfte tief Athem. Dann suchte sie sich zu orientieren. Das war nicht leicht bei den dunkelnden Abendschatten. Aber sie fand sich doch zurecht. Der Wagen war in der That, ohne daß Ilse es bemerkt, am Ludgeri-Thor vorbeigefahren, indem er, statt links in die Stadt einzulenken, zunächst die Straße nach Magdeburg eingeschlagen hatte, dann aber rechts von derselben auf einen Feldweg abgebogen war.
Auf diesem befand sich Ilse jetzt, jedoch nur in geringer Entfernung von der Landstraße. Die Jungfrau eilte mit rüstigen Schritten derselben zu. Auf ihr mochte sie trotz des hereinbrechenden Abends immerhin noch das Stadtthor erreichen, ehe dasselbe geschlossen und die Zugbrücke aufgezogen wurde. Aber kaum war sie am Kreuzweg angelangt, da wurde sie durch einen neuen Anblick aufgehalten.
Um eine vorspringende Waldecke kam auf der Landstraße ein Trupp gewappneter Ritter in langsamem Schritt. Es waren dieselben, welche sich schon von Weitem durch den Hufschlag ihrer Pferde und das Klirren ihrer Waffen verraten hatten. Zwar hatten sie eben dadurch Ilses Rettung bewirkt, aber trotzdem waren sie für die Jungfrau eine neue Gefahr. Sie eilte deshalb, sich hinter einem an der Landstraße stehenden Busche zu verbergen, bis die Reiter vorüber seien.
Langsam kamen dieselben näher, jetzt ritt die Spitze des Zuges an ihr vorüber. Aber sei es nun, daß der Jungfrau, Kleid durch die Büsche schimmerte, sei es, daß sie bemerkt war, ehe sie sich hatte verbergen können, unbeachtet blieb sie nicht. Einer der Reiter lenkte vom Zuge ab, auf den Busch zu und schaute neugierig über denselben hinüber in Ilses angsterfülltes Antlitz.
Es war ein dickes rotes Gesicht, was unter dem offenen Eisenhelm hervorsah. Auf dem Helm spreizte sich ein silberner Greif, das Wappentier der Vörsfeldes. Für Ilse hätte es des Zeichens nicht bedurft, um in dem Neugierigen ihren Vetter, den Junker Vörsfelde zu erkennen.
»Um, des Himmels willen, Vetter, verratet mich nicht«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.
»Vetter?« lachte der Geharnischte. »Ich weiß nur Eine in Braunschweig, die mich so nennen darf. Und die wird nicht abends – und doch – bei Sankt Magnus! – Ihr seid es, Base!«
Es kamen noch andere Reiter auf die Gruppe zu, Ilse blieb nichts übrig, als hinter dem Busch hervorzutreten, indem sie zu dem Junker sagte: »Ich vertraue auf Euren ritterlichen Schutz, Vetter.«
Auch der Reiter an der Spitze des Zuges hielt jetzt sein Pferd an und sah zu ihnen hinüber. »Den sichersten Schutz findet Ihr beim Herzog«, lachte Vörsfelde, und indem er sie bei der Hand faßte, führte er die halb Widerstrebende auf den vorderen Reiter zu. »Meine Base, des Bürgermeisters vam Damme Tochter«, sagte er, vor demselben anhaltend.
Ilse hatte in die Erde sinken mögen vor Scham, wie sie so dastand, den gaffenden Blicken der Ritter ausgesetzt, durchnäßt, mit Kot bespritzt. Aus der Schar der Gewappneten wurde manch spöttisches Wort laut, aber der, den Vörsfelde als den Herzog bezeichnet hatte, sah mit einem ernsten Blick im Kreise umher und sagte: »Der Bürgermeister vam Damme ist mir ein lieber Freund.« Da schwiegen die Spötter.
»Das Unwetter hat mich überrascht auf dem Rückwege von unserm Hofe«, stammelte Ilse.
»Wollt Ihr unser Geleit annehmen, Jungfrau«, sagte der Herzog, »so soll es mich freuen, Euch Eurem Vater zuzuführen.« Und auf einen Wink des hohen Herrn stieg der Junker Vörsfelde von seinem Gaul und hob die zitternde Ilse hinauf.
»Es ist der Herzog Ernst von Braunschweig«, raunte er ihr dabei zu.
Der Herzog ließ Ilses Pferd neben dem seinen führen. Er mochte wohl die Art seines Gefolges kennen und meinen, daß die Jungfrau vor spöttischen Reden am sichersten sei an seiner Seite. Und mit Wohlgefallen Ilses liebliches Antlitz betrachtend, sagte er:
»Wir wollen Eure Stadt besuchen und vor allem Euren Vater. Unseres Bruders Liebden, Herzog Magni fürstliche Gnaden, haben, wie Euch wohl nicht unbekannt, nach des Himmels Ratschluß den Tod gefunden auf dem Felde der Ehre. Und es sind manche unterwegs, welche mir rauben möchten, was mir von seinem Erbe gebühret von Gott und Rechts wegen. Da will ich mein Recht wahren, so weit meine Kräfte vermögen.«
Und der Herzog sprach noch mancherlei von seinem Recht und welche Hilfe er von ihrem Vater erhoffe und wo er ihn zuletzt gesehen und wie er vor langen Jahren bei ihm gewohnt in dem stattlichen Hause mit den sieben Türmen gegenüber dem Schuhhofe am Altstadt-Markte.
So näherten sie sich dem Stadtthor. Da faßte sich Ilse ein Herz und sagte: »Fürstliche Gnaden, so mein Vater Euer Freund ist, so solltet Ihr ihn nicht dadurch erschrecken, daß er mich plötzlich an Eurer Seite erblicke, und zwar in diesem Aufzuge. Seht, dort beginnen schon der Stadt Außenhäuser. Laßt mich hier absteigen, daß ich mich in einem derselben verberge, bis man Euch feierlich eingeholt hat; hinterher mag es mir dann gelingen, unbemerkt durchs Thor zu schlüpfen und meines Vaters Haus zu erreichen.«
Der Herzog lachte: »Wohl hätten wir Euch gern selbst Eurem Vater übergeben, aber Ihr habt recht, er möchte sich erschrecken und man hat uns gesagt, er sei stark beleibt geworden. Für beleibte Leute taugt aber der Schrecken nichts, er treibt ihnen das Blut zu Kopf. Thut deshalb, wie es Euch beliebt.«
Da dankte Ilse dem hohen Herrn mit freundlichen Worten und glitt schnell vom Pferde. Ihrem Vetter nickte sie nur flüchtig zu, dann verschwand sie in einem der niedrigen Häuser, welche zur Seite der Landstraße außerhalb des Thores standen. Dort mochte sie um so eher Unterkommen zu finden hoffen, als dasselbe einer früheren Magd des vam Dammeschen Hauses gehörte.
Voll Ungeduld hatten indessen Bürgermeister und Ratmannen in der Thorwölbung der Ankunft des Herzogs geharrt. Doch was war diese Ungeduld gegen die peinigende Unruhe, welche Rolef Doring quälte? Was sollte er thun, was beginnen? Wo sollte er anfangen zu suchen, wenn der Wagen mit Ilse wirklich nicht in die Stadt hineingefahren war? Aber der Thorwärter konnte ihn übersehen haben, zumal in der Unruhe, welche die Vorbereitungen zum Empfange des Herzogs verursacht hatten. An die Hoffnung klammerte er sich an und es war ein Glück für ihn, daß es ihm unmöglich wurde, durch die Menge, welche das Thor füllte, sich hindurch zu drängen und das vam Dammesche Haus aufzusuchen. Denn hätte er dort erfahren, daß Ilse immer noch nicht zurückgekehrt, so wäre auch diese letzte Hoffnung, an welche er sich so ängstlich klammerte, zerstört worden.
Das Unwetter war vorübergezogen, nun trug man auch Pechpfannen auf die Zugbrücke hinaus und zündete sie an, daß ihre rote Glut sich in dem ruhigen Wasser des Grabens spiegelte. Ja, es schritten noch Fackelträger über die Brücke hinaus und stellten sich vor derselben in weitem Umkreise auf. Und da klangen, als ob das Licht der Fackeln sie hervorgerufen, helle Trompetentöne aus der Dämmerung des Herbstabends heraus und ihnen antworteten vom Thore her die Stadtzinkenisten mit Zinken, Schalmeien, Posaunen und Zimbeln, wählend alle Glocken der Stadt in prachtvollem Chore zu läuten begannen. Von denen im Thore aber löste sich eine Gruppe ab, voran die beiden Bürgermeister der Altstadt, Tile vam Damme und Kort Doring, dann die Bürgermeister der anderen städtischen Gemeinden, der Altewik, des Hagens, des Sacks und der Neustadt, auch manche Ratsmannen und Ratsverwandte. Als dieselben die Brücke überschritten hatten, ritt ihnen gegenüber der Herzog mit seinem Gefolge in den von den Fackeln erhellten Lichtkreis. Voran vier Trompeter, von deren Instrumenten Wimpeln herabhingen mit den Leoparden des Herzogs, dem Lüneburger Löwen und dem silbernen sächsischen Pferde, hinter ihnen der Herzog, und ihm zur Linken, aber etwas zurück, sein Bannerträger, der graubärtige Ritter van Walmede, dann das übrige Gefolge, Ritter und Knappen.
An der Brücke aber schwenkten die Trompeter ab und der Herzog gab seinem Pferde die Sporen und sprengte auf die Gruppe der Bürgermeister und des Rats zu, während sein Gefolge sich zurückhielt. Da ergriff Tile vam Damme das Wort – war er doch nach seinem Amte derjenige, ›der des rades wort sprikt‹ – und begrüßte den Herzog in wohlgesetzter Rede. Der Letztere aber dankte leutselig, zog den Panzerhandschuh von der Rechten und reichte dem Bürgermeister die Hand. Auch den anderen, die da mit Tile vam Damme standen, nickte er freundlich zu und dann ritt er über die Brücke in das Thor hinein. Ihm folgten unmittelbar Bürgermeister und Ratmannen, dann erst Trompeter und Gefolge des Herzogs. Jenseit des Thores aber waren in den mit Fackeln erleuchteten Straßen die Gilden in unabsehbaren Reihen aufgestellt mit ihren Fahnenschwenkern. Und jedesmal, wenn der hohe Herr an einer Fahne vorbei kam, that der Fahnenschwenker sein Möglichstes, das ihm anvertraute schwere Banner hin und her zu schwingen, wie es die Regeln seiner Kunst erheischten. Und jedesmal bliesen dazu die Trompeter des Herzogs ein lustiges Stücklein.
So kam man auf den Altstadtmarkt, wo das Wohnhaus der vam Dammes, »das Haus mit den sieben Türmen« stand. Denn Herzog Ernst hatte das Anerbieten des Bürgermeisters angenommen, bei ihm zu wohnen. Konnte auch im alten Schlosse Heinrichs des Löwen nicht wohl prächtiger und bequemer untergebracht sein, als in diesem stolzen Gebäude. Hieß es doch nicht bloß »zu den sieben Türmen«, sondern es ragten in der That sieben Türme über dasselbe empor und dazwischen prangten hohe Giebel. Wie eine Burg stand es da inmitten der Stadt, und von der Pracht seiner inneren Einrichtung erzählten sich die Bürger Braunschweigs wundersame Dinge.
Wir lassen Tile vam Damme seinen erlauchten Gast in sein Haus geleiten und wenden uns zu einem anderen unweit stehenden Gebäude. Dasselbe konnte sich zwar an Pracht nicht mit dem Palaste des Bürgermeisters messen, doch konnte man es auch neben diesem nicht übersehen, man sah ihm an, daß es ein Haus von Bedeutung war. Und das war es auch in der That, der sogenannte »Schuhhof«, wo zwei der bedeutendsten Gilden Braunschweigs, die Schuster und die Gerber, ihren Mittelpunkt hatten. Hier wurden die sogenannten ›Morgensprachen‹ derselben gehalten, Versammlungen, in denen die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gilden verhandelt wurden, hier kehrten die fremden Gewerksgenossen ein, hier war der Stapelplatz für fremde und einheimische Erzeugnisse des Handwerks, und in der geräumigen Schenkstube fand sich bei jeder Gelegenheit zusammen, was sich zum Verband der beiden Gilden rechnen durfte.
Darum waren auch heute Abend, nach dem Einzuge des Herzogs, die Gerber und Schuster mit ihren Fahnen hierher gezogen und Meister Jürgens, der Wirt, hatte alle Hände voll zu thun, um genug des vaterstädtischen Getränkes, der süßen dickflüssigen Mumme oder auch eines dünneren, bitteren Bieres herbei zu schaffen, wie man es nach der Einbecker Art braute. Es war ein lebhaftes Hin- und Herreden in der Schenkstube, denn die Gemüter waren erregt ob der plötzlichen Ankunft Herzogs Ernst. Und war auch jeder dessen gewiß, daß dieselbe etwas zu bedeuten habe, so gingen doch die Meinungen darüber weit aus einander, was dem Besuche des Herzogs zu Grunde liege.
»Ich bleibe dabei«, rief ein breitschulteriger Gerber, »der Bürgermeister hat ihn eingeladen.«
»Ihr irrt Euch, Meister Kamla«, erwiderte ein anderer, ein bedächtig dreinschauender Schuster, »denn wißt Ihr, ich war im Hause wegen der Wildledernen Seiner Gestrengen, da kam erst die Botschaft, der Knappe Isenbüttel brachte sie, ich kannte ihn wohl wieder, denn er war mit dabei, wißt Ihr, als wir nach Einbeck zogen, mit Geleit vom Göttinger Herzog; aber der Herzog steckte mit den Schnapphähnen unter einer Decke und als sie uns angriffen, ritt unser Geleit davon, doch wir wehrten uns unserer Haut –«
»Es ist richtig«, warf ein Dritter ein, dem die Einleitung zu der Geschichte Meister Pechdrahts zu lang wurde, »es ist richtig, der Rat hat nichts davon gewußt. Hals über Kopf kamen sie zusammen und berieten, wie sie den Herzog empfangen sollten. »Und dann wurde fortgeschickt zu den Gildemeistern.«
Der Gerber schüttelte ingrimmig den Kopf, indem er den zinnernen Bierkrug heftig auf den Tisch stieß. »Natürlich«, sagte er höhnend, »dann wurde zu den Gildemeistern geschickt, als der Beschluß über den Empfang des Herzogs bereits feststand; da waren wir gut genug, in den Straßen herumzustehen zu Ehren des Herzogs, zwei Stunden, drei Stunden; hätte man uns darum gefragt, so wäre keiner gekommen. Hat ein Meister denn nichts Besseres zu thun?«
»Das meine ich auch«, stimmten Andere bei. »Wir sind nicht dazu da, zum Schaugepränge zu dienen!«
»Und wär's noch das allein«, rief ein Vierter dazwischen, »aber einen ›Willkommen‹ werden sie dem Herzoge auch geben wollen, und wer wird den anders bezahlen müssen als wir?«
»Es ist geschehen, was Rechtens ist«, meinte der Schuster.
»Das sagt Ihr, weil Ihr die Schuhe Seiner Gestrengen besohlt.«
»Es ist immer dasselbe«, schrie der Gerber Kamla, »der Rat schaltet mit uns, wie es ihm beliebt, mit unserer Zeit, mit unserem Gut und Blut!«
Dem Gildemeister am oberen Ende der langen Tafel wurde die Unterhaltung bedenklich. Er suchte ihr eine andere Richtung zu geben. »Es heißt«, sagte er mit wichtiger Miene, »der Herzog sei gekommen, um sich huldigen zu lassen.«
Die Männer horchten auf. »Ist er der Erbe?« klang es vom unteren Tischende her.
Die Augen wandten sich dem Fragenden zu. Er war ein untersetzter, rotbärtiger Mann, mit grauen, funkelnden Augen. Niemand in der Gesellschaft kannte ihn. Der Gildemeister hielt Jürgens, den Wirt, zurück, welcher soeben den Zinnkrug frisch gefüllt vor ihn hingestellt hatte, und fragte leise: »Wer ist der Mann?«
»Ein Schuster aus Lübeck.«
»Hat er das Handwerk gegrüßt?«
»Wie's der Brauch ist.«
Die Frage des Fremden fand keine Beachtung, aber derselbe ließ sich nicht irre machen. »Hat Herzog Magnus keine Söhne hinterlassen?« fragte er zum zweiten Male.
»Wohl hat er Söhne hinterlassen«, erwiderte der Gildemeister jetzt. »Sie stehen aber unter der Vormundschaft des Göttinger Herzogs.«
»Des Quaden«,Herzog Otto von Göttingen fühlte in der That den Beinamen »der Quade«, das heißt »der Schlechte«. setzte Asche Kamla hinzu.
»Er wird's Euch bald vertreiben, ihn so zu nennen«, lachte der Rotbärtige.
»Meint Ihr? Wir wollen nichts von ihm, der Rat nicht und wir auch nicht. Er ist noch ärger als der verstorbene Magnus.«
»Und der war arg genug«, sagte der Leibschuster Seiner Gestrengen. »Wißt Ihr, warum er stets die silberne Kette trug, daher sie ihn Torquatus nannten? Weil er's in seiner Jugend so arg getrieben, daß ihn sein Vater hängen lassen wollte. Da lachte er und hing sich eine silberne Kette um, daran möge ihn hängen, wer ihn fangen könne.«
»Uns war er stets ein guter Herr«, warf der Gildemeister ein.
»Aber zuletzt hat ihn doch der Teufel geholt!« schrie Asche Kamla.
»Waret Ihr dabei?« fragte der Rotbärtige.
»Seid Ihr gekommen, um Händel zu suchen?« rief Asche Kamla.
»Was denkt Ihr?« erwiderte der Rotbärtige ruhig. »Ich frage nur, weil ich den Hergang weiß von Einem, der dabei war.«
»Als ihn der Teufel holte?«
»Nein, aber als Herzog Magnus der Andere seinen Tod fand. Bei Leveste war's, am Deister. Herzog Magnus war gegen den Grafen v. Schaumburg gezogen, denn er zürnte ihm, weil der Graf, da er doch seines Bruders, Herzog Ludwigs, Witwe geheiratet, dennoch in der lüneburgischen Fehde es mit den Widersachern der Welfen, den Sachsen, gehalten. Und als Magnus mit dem Gegner zusammentraf, gelobte er mit einem Eid, daß er die Nacht im schaumburgischen Lande zubringen wolle. Im Kampfgewühle aber spähte er nach dem Grafen, legte, als er ihn endlich erkannte, die Lanze auf ihn ein, hob ihn aus dem Sattel, sprang dann vom Roß, um sich seiner zu bemächtigen. Beugte sich auch über ihn, um auf das Atmen zu horchen und zu erkunden, ob der Graf noch lebe. Da sprang ein schaumburger Ritter hinzu und durchstach den Herzog hinterrücks mit dem Schwerte, daß er tot zusammenstürzte. Der Graf aber erhob sich unverletzt, und die führerlos gewordenen herzoglichen Scharen vollends zu zersprengen, ward ihm nicht schwer. Als man ihm jedoch von dem Eide des Herzogs erzählte, sprach er: ›So soll mein Schwager darum nicht meineidig werden!‹ ließ die Leiche in sein Land führen und behielt sie dort eine Nacht, ehe er sie zurücksandte.«
Der Bericht ward mit Aufmerksamkeit angehört und hatte dem Erzähler die allgemeine Beachtung zugewandt. Auch wußte sich derselbe diese Aufmerksamkeit noch ferner zu bewahren. Er war ein weit gereister Mann, hatte viel gesehen und viel gehört. Zumal nachdem der Gildemeister gegangen, wurde er zum Mittelpunkt der Gesellschaft. War er doch auch über braunschweigsche Verhältnisse für einen Fremden gut unterrichtet, besonders darüber, wie die stolzen Geschlechter die niederen Leute drückten und wie unrecht es sei, daß die Gilden nicht auch im Rat vertreten wären. Das hörten die Meister gern, und es war spät in der Nacht, als man endlich aufbrach.
Aber wie spät es auch war, das Haus mit den sieben Türmen glänzte noch immer in voller Lichterpracht. Das sah der Fremde, als er von Meister Jürgens, dem Wirt, in sein Gemach geleitet, ans Fenster trat. Er drohte mit der Faust hinüber. »Eure Herrschaft soll ein Ende mit Schrecken nehmen«, murmelte er. »Euer Gestrengen Haus gefällt mir gar wohl, und es wird eine Zeit kommen, wo ich darin Feste geben werde.«
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Wir haben Rolef Doring verlassen, als er voll banger Sorge um Ilses Schicksal inmitten der festlichen Versammlung im Thore stand, die der Ankunft des Herzogs Ernst harrte.
Endlos deuchte es ihm, bis die Empfangsfeierlichkeiten vorüber und das Thor wieder frei geworden war. Dann eilte er durch dasselbe hindurch und auf Umwegen dem Festzuge voran nach dem Hause mit den sieben Türmen. Er betrat dasselbe durch eine Nebenthür und der Zufall führte ihm Ilses Zofe in den Weg.
»Deine Herrin wird sich rüsten zum Empfange des hohen Gastes«, redete er dieselbe an.
»Ach, sie ist nirgends zu finden«, antwortete das Mädchen. »Seine Gestrengen sind außer sich, das Gewitter muß sie auf dem Meierhofe zurückgehalten haben.«
Rolef wußte nur zu gut, daß dies nicht der Fall war.
Aber was nun? Zunächst zurück zum Thore, vielleicht war der bewußte Wagen inzwischen zur Stadt hineingefahren. Wurde auch diese Hoffnung getäuscht, blieb ihm nichts anderes übrig, als – so schwer ihm das auch werden mußte – Ilses Vater zu benachrichtigen, damit derselbe sofort alle Mittel, welche ihm persönlich und kraft seines Amtes zu Gebote standen, zur Rettung der Tochter aufbieten konnte.
Unter diesen Gedanken erreichte er das Thor. Im Begriff, dasselbe zu betreten, sah er ein weibliches Wesen an sich vorbeihuschen, welche die Gugel tief ins Gesicht gezogen hatte. Trotzdem erkannte er Ilse, ein Alp fiel ihm vom Herzen und unwillkürlich rief er laut und freudig: »Ilse!«
Sie eilte weiter, ohne sich umzusehen, aber er war mit wenigen Schritten neben ihr. »Gott sei gelobt, daß ich Euch wiederfinde«, sagte er, »ich habe namenlose Sorge um Euch ausgestanden.«
»Bitte, haltet mich nicht auf«, erwiderte Ilse kurz, »ich muß eilen, nach Hause zu kommen.«
»Aber Ihr werdet mir erlauben, Euch zu begleiten.«
»Ich will Euch nicht bemühen.«
Wie kalt das klang, wie abweisend! Aber Rolef ließ sich nicht irre machen. »Wie mögt Ihr nur von Mühe reden«, sagte er, »es macht mir ja die größte Freude.«
»Aber mir nicht. Euch verdanke ich die qualvollste Stunde meines Lebens. Und wäre nicht mein Vetter Vörsfelde dazwischen gekommen, würde ich wohl überhaupt nicht mehr leben.«
»Ilse«, flehte Rolef, aber sie zog statt aller Antwort die Gugel noch tiefer ins Gesicht und beschleunigte ihren Schritt noch mehr. Da blieb er zurück. Was konnte es nützen, jetzt auf sie einzusprechen? Augenblicklich war doch keine Verständigung möglich und ein Wortwechsel konnte die Kluft zwischen ihnen nur erweitern.
Das war eine böse Nacht für Rolef Doring. Hätte er sich nur selbst von aller Schuld frei sprechen können! Aber seine Unbesonnenheit, Ilse fremden Leuten anzuvertrauen, war ja an allem Unglück schuld. Und nun hatte auch noch Junker Vörsfelde ihr Retter sein müssen. Das war gar ein unerträglicher Gedanke.
Ohne Schlaf gefunden zu haben, erhob sich Rolef am anderen Morgen von seinem Lager. Sein Vater, mehr und mehr durch die Geschäfte des Amtes in Anspruch genommen, hatte ihm allmählich die ausschließliche Verwaltung des großen Grundbesitzes übertragen, welchen die Familie in der Braunschweiger Feldmark inne hatte. Rolef ließ satteln und ritt zur Stadt hinaus, um sich durch die Besichtigung der Arbeiten auf den verschiedenen Meierhöfen zu zerstreuen. Aber so eingehend er auch alles musterte, seine Gedanken kehrten immer wieder zu den Vorfällen des gestrigen Abends zurück. Erst als die tiefen Glocken von St. Michaelis Mittag läuteten, kehrte er heim, körperlich ermüdet, aber voll innerer Unruhe. Im Begriff, sein Pferd dem Diener zu übergeben, sah er einen Mann in einem weiten grünen Kittel, unter dem eine rote Jacke hervorleuchtete, und eng anliegenden roten Beinkleidern aus dem Hause treten. Das Gesicht fiel ihm auf, wo hatte er es doch schon gesehen? Diese funkelnden, grauen Augen? Und dieser struppige rote Bart? War das nicht einer der Fremden, denen er Ilse anvertraut? Gewiß, ohne Zweifel! Er wollte ihm nachstürmen, da trat sein Vater in die Thüre und rief ihn an.
Rolef kehrte sich kurz um. »Verzeihung, Vater, ich bin gleich zurück. Ich habe jetzt keine Zeit.«
Die Augen des Alten blitzten. »Keine Zeit? Welch' eine Antwort!«
Mißmutig trat Rolef dem Vater einen Schritt näher. »Ein sehr gefährlicher Mensch«, sagte er leise, »hat soeben unser Haus verlassen. Ich muß ihm nach, ihn zur Rede stellen –«
»Du wirst hier bleiben«, unterbrach ihn der Vater. »Eben wegen dieses Mannes habe ich mit Dir zu sprechen. Komm herein.«
Rolef mußte gehorchen. Er kannte seinen Vater genug, um zu wissen, daß derselbe in solchen Augenblicken keinen Widerspruch duldete.
Das Haus der Dorings am Steinmarkte war älter als das Haus mit den sieben Türmen, auch nicht so prächtig anzuschauen als wie dies. Über einem gemauerten Erdgeschoß stieg es bis zu dem steilen Dach im Fachwerk empor; man erkannte das deutlich an den farbig ausgezeichneten und kunstreich sich kreuzenden Balken der oberen Stockwerke, welche Stock für Stock weiter in die Straße hineinragten, mit einer umgekehrten Treppe zu vergleichen. Niedrige Fenster mit kleinen, in Blei gefaßten Scheiben waren die Augen dieses Hauses, aber so ungleich verteilt, auch so verschiedener Größe, daß man wohl sah, wie nicht Rücksicht auf den äußeren Anblick, sondern nur auf die innere Bequemlichkeit, den Erbauer bei ihrer Anordnung bestimmt hatte.
Der Bürgermeister schritt über die geräumige Hausflur, die knarrende Stiege hinauf in sein Wohngemach. Das war ein großes, wenn auch niederes Eckzimmer mit einem weit in die Straße vorspringenden Erker. In diesen setzte sich der Bürgermeister, seinem Sohne aber winkte er, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Wo warst Du gestern Abend, als Herzog Ernst in die Stadt einritt?« fragte er.
»Am Ludgeri-Thore.«
»Ich habe Dich nicht unter Deinen Genossen bemerkt.«
»Unbekannt mit des Herzogs Ankunft, kam ich erst spät vom Felde zurück und traf bereits alle im Thore versammelt. Da war keine Zeit mehr, ein Festgewand anzulegen.«
»Mir war es lieb, daß Du nicht unter denen warst, die den Herzog begrüßten. Ich mußte dabei sein, mein Amt zwang mich dazu, nachdem Tile vam Damme mit seinem Anhange einmal den festlichen Empfang durchgesetzt hatte. Sie überraschten uns, so mochte es ihnen gelingen.«
Rolef sah seinen Vater mit großen Augen an.
»Du wunderst Dich«, fuhr dieser fort, »daß ich also vom Herzog Ernst spreche, der uns doch früher ein gnädiger Herr war. Aber seine jetzige Anwesenheit bedeutet nichts Gutes. Vam Damme will ihn für seine Pläne benutzen – Du weißt ja, welche hohen Ideeen er im Kopfe hat. Die hofft er mit des Herzogs Hilfe auszuführen und unterstützt deshalb dessen Ansprüche. Ich aber mag davon nichts wissen. Daher halte Dich fern von dem Hause mit den sieben Türmen und vom Herzog und seinem Gefolge. Doch jenem Manne, der vorhin unser Haus verließ, begegne, wo Du ihn findest, mit Ehrfurcht, und spricht er Dich an, sei ihm zu Diensten und handle nach seinen Wünschen. Er ist mehr, als er scheint.«
»Schilt mich nicht, Vater«, sagte Rolef bescheiden, aber bestimmt, »wenn ich Dir nicht gehorche. Ich habe von jenem Manne Rechenschaft zu fordern. Ihm vertraute ich gestern Abend Ilse vam Damme an, damit er sie in seinem Wagen vor dem Unwetter in die Stadt flüchte. Er aber ist der Jungfrau nahe getreten und nur die Dazwischenkunft des Junkers Vörsfelde hat sie vor dem Schlimmsten bewahrt.«
Da flog ein Lächeln über Kort Dorings strenges Antlitz. »Ich weiß schon davon«, sagte er, »und kann Dir an seiner Statt Rechenschaft geben. Jener, von dem ich sprach, will unerkannt bleiben in Braunschweig und wollte daher ohne Aufsehen zur Stadt hineinfahren. Das war gestern Abend am Ludgeri-Thor nicht möglich, darum fuhr er daran vorbei, doch als Jungfrau Ilse dies gewahr wurde, schöpfte sie Verdacht, sprang unversehens vom Wagen und eilte davon. Er ihr nach, um sie aufzuklären. Aber so schnell war die hurtige Ilse, daß er sie nicht einzuholen vermochte, zumal da er des Herzogs Reisige heranreiten hörte, welche er guten Grund hat, zu vermeiden. So überließ er sie ihrem Schicksale und fuhr davon. Die Gefahr also, von der Jungfrau Ilse Dir erzählt zu haben scheint, hat nur in ihrer Einbildung bestanden, und magst Du schwerlich einen darob zur Rechenschaft ziehen.«
Nachdenklich sah Rolef zu Boden. War diese Darstellung des Vorfalles die richtige? Offenbar war die Quelle, aus welcher sein Vater schöpfte, der Rotbärtige selbst. Das beeinträchtigte die Glaubwürdigkeit. Aber was konnte er dagegen sagen? Hatte Ilse ihn denn überhaupt gewürdigt, ihm die Gefahr näher zu bezeichnen, in der sie geschwebt? Und war es nicht vielleicht Scham gewesen ob ihrer Übereilung, welche sie bestimmt, so schroff ihn abzuweisen, wie sie gestern Abend gethan?
Der Bürgermeister betrachtete ihn aufmerksam, dann sagte er sanfter, als ihm sonst eigen war: »Ich habe wohl manchmal in früheren Jahren gedacht – und auch Deine verstorbene Mutter sprach gern davon – Ihr solltet ein Paar werden, Ilse vam Damme und Du. Hab' Dich deshalb auch gehen lassen, wenn Du dem Mädchen nachliefst und minniglich um sie warbst. Aber jetzt frage ich Dich und erwarte von meinem Sohne eine offene und bestimmte Antwort: Wie stehst Du mit der Jungfrau?«
Rolef zögerte mit der Antwort und eine hohe Röte färbte sein Antlitz. Es war das erste Mal, daß sein Vater mit ihm über seine Liebe sprach. Er rang nach Worten, aber er konnte keine finden. Aber sein Vater schien nicht geneigt, zu warten. »Nun?« fragte Kort Doring, und seine Stimme klang schon minder weich, »nun, seid Ihr einig?«
»Nein«, klang es zaghaft zurück.
»Oder kannst Du der Hoffnung leben, Dir in Bälde die Jungfrau zu gewinnen?«
»Nein.« Das Wort wollte kaum über Rolefs Lippen.
Der Bürgermeister erhob sich. »Gott sei gedankt«, sprach er, und man hörte es den Worten an, wie sie aus tiefster Brust kamen. »Hast Du Dich der Jungfrau vam Damme nicht versprochen und kannst sie mit gutem Gewissen verlassen, so mag sie sich anderswo einen Freier suchen, nur nicht im Hause Doring. Fort mit den Grillen, mein Sohn! Sei ein Mann und härme Dich nicht ob eines Mägdleins, das nichts wissen will von Deiner Liebe.«
»Vater«, begann Rolef, gleichfalls aufstehend, aber der Bürgermeister ließ ihn nicht weiter sprechen. »Kann mir schon denken, was Du für Einreden hast!« rief er, »doch ich mag nichts davon hören. Denk' daran, daß ein Doring zu gut dazu ist, lange einer vam Damme nachzulaufen. Sind Jungfrau'n genug in der Stadt, denen das Herz klopft, wenn sie Dich schmucken Burschen sehen. Die vam Dammes aber sind ein falsches und hochmütiges Geschlecht, des sei versichert. Meide also das Haus mit den sieben Türmen und vergiß nicht, was ich Dir wegen des Fremden gesagt. Er ist mehr, als er scheint. Aber ich habe es nur Dir gesagt, das merke wohl, und hüte Dich, daß Du nicht ihn verrätst und uns.«
Es war am anderen Tage um dieselbe Stunde, da ließ ein im Hause Doring gar seltener Gast den Thürklopfer an der eichenen Hausthüre dröhnend niederfallen. Das war aber niemand anders als der erste Bürgermeister der Altstadt, Tile vam Damme, in eigener Person.
Seine Gestrengen hatte sich schon eine Stunde vorher ansagen lassen, und so wurde ihm die gewichtige Hausthüre beim ersten Ton geöffnet und er von zwei Dienern über die Stiege in das obere Erkergemach geführt, das gestern die Besprechung zwischen Sohn und Vater gehört hatte. In der Thür stand Kort Doring, die lange sehnige Gestalt hoch aufgerichtet, und nötigte Seine Gestrengen herein mit kalter Höflichkeit, welche nicht die geringste Freude blicken ließ über den seltenen Besuch des Jugendfreundes.
Sie standen sich gegenüber, die beiden Ersten der Stadt, und schauten sich prüfend in die Augen. Hatten ein gar verschiedenes Aussehen. Kort Dorings lange, magere Gestalt umschloß ein enganliegendes Gewand von gleichmäßiger rotbrauner Farbe, die sich selbst auf die Schuhe erstreckte, welche von gleichem Stoff wie die Beinkleider mit denselben in eins geschnitten waren. Um die Lenden trug er einen weiten, herabhängenden, silbernen Gürtel von viereckigen, beweglich an einander gefügten Gliedern und an diesem, in schwarzer Lederscheide, einen kleinen Dolch mit silbernem Griff. Dies knappe, einfache Gewand ließ ihn noch größer erscheinen, als er war, und fast jugendlich nahm sich darin der Sechzigjährige aus. Einen anderen Anblick gewährte Tile vam Damme. Von mittelgroßer Figur, war er stark beleibt, und während Kort Dorings scharf geschnittenes Antlitz mit der vorspringenden Nase und den blitzenden, braunen Augen etwas Adlerartiges an sich hatte, zeigte sein Gesicht verschwommene Züge; man mußte förmlich erst nach den beiden wasserblauen Äuglein suchen, welche zu beiden Seiten der flachen Nase schimmerten. Auch er trug den kurzen und engen Scheckenrock, aber von hellblauer Farbe, mit goldenen Knöpfen, der Gürtel war von blankem Stahl mit Gold eingelegt, und die knapp anliegenden Beinkleider hochrot. Darüber hing ihm der »Trappert«, der schimmerte violett und die herabhängenden Ärmel zeigten blaugraues Futter. Vorn am Halse aber hing ihm die gleich den Beinkleidern rote Gugel, welche er beim Eintritt ins Haus vom Haupt gezogen hatte.
Wie gesagt, die Männer hatten sich einen Moment prüfend in die Augen geschaut, dann veranlaßte Kort Doring seinen Gast, an einem in der Mitte des Gemaches stehenden Tische Platz zu nehmen, auf welchem eine prächtige silberne Kanne mit zwei Bechern von demselben Metall und gleich edler Arbeit stand. Darauf setzte er sich ihm gegenüber, füllte aus der Kanne die Becher mit süßem Malvasier und brachte seinem Gast den Willkomm.
»Möge es Deinem Hause wohlgehn«, erwiderte Tile vam Damme und leerte den Becher, während Kort Doring nur an seinem genippt.
»Die Worte sind lange nicht über Euer Gestrengen Lippen gegangen«, meinte Kort Doring.
»Habe ich deshalb weniger an Dein Haus gedacht, Kort? Gewiß nicht.«
»Auch als ich mit unserer Stadt Reisigen zu Felde lag mit Herzog Magnus in der lüneburgischen Fehde und Bodo van Saldern von der Bienenburg aus über meinen Hof zu Halchter herfiel, ihn niederbrannte und fünfhundert Schafe forttrieb? Wüßte nicht, daß sich damals einer von Euch, meinen Freunden, geregt hätte, dem Schnapphahn das geraubte Gut abzujagen.«
Tile vam Damme schüttelte mißmutig mit dem Kopfe, während Doring fortfuhr:
»Und als die Sternbrüder vor Goslar meine Wagen überfielen, die Knechte niederwarfen und die Waren plünderten, fand ich damals Hilfe bei denen, so sich meine Freunde nannten?«
Der fette Mann atmete tief auf, ehe er erwiderte: »Laß die Vergangenheit ruhen, Kort, ich bitte Dich darum, und laß uns ohne Bitterkeit ob der Zukunft verhandeln. Ich bin auch nicht gekommen, von uns zu reden, sondern von der Stadt, deren Regiment uns anvertraut ist. Wir sind an einem Kreuzwege angelangt und mögen wohl bedenken, welchen Weg wir jetzo die Stadt führen sollen.«
»Du überraschest mich«, entgegnete Doring fast spöttisch. »Ich bin es wenig gewohnt, daß Du nach meiner Ansicht fragst, ehe Du der Stadt Wege bestimmst. Wenn Du anderen gestattest, ihre Meinung kund zu geben, pflegt Deine Hand schon alles geordnet zu haben, so daß nur ein Weg offen bleibt und das ist eben der, von dem Du wünschest, daß wir ihn gehen.«
Tile vam Damme richtete sich halb in die Höhe. »Wann ist das geschehen?« fragte er heftig.
»Nun, zum Beispiel erst vorgestern Abend, bei der Ankunft Deines hohen Gastes. Hättest Du früher den Rat zusammengerufen, als wie im letzten Augenblick, wäre wohl schwerlich beschlossen, Herzog Ernst gleich dem Landesherrn zu empfangen.«
Vam Damme hatte sich schon wieder in den Stuhl zurücksinken lassen. Und so schnell und heftig er vorhin die Frage herausgestoßen, so langsam und bedächtig sagte er jetzt: »Ich konnte den Rat nicht eher zusammenrufen, ehe ich nicht selbst des Herzogs bevorstehende Ankunft erfahren. Sobald mir der Junker Isenbüttel des Herzogs Nahen verkündet, ließ ich die Wohlweisen fordern.«
»Was Du sagst«, lächelte Doring. »Wer hätte das geglaubt. Auch Du überrascht durch des Herzogs Ankunft?«
»Wenigstens dadurch, daß er so bald gekommen. Freilich ist er ein Herr von schnellem Entschluß. Darum müssen auch wir jetzt zum Schluß kommen. Welchen Weg soll die Stadt gehen?«
»Du kennst meine Ansicht.«
»Beim Alten zu beharren?«
»Braunschweig ist groß geworden unter dem Schutz seiner Herzoge.«
»Es wäre größer geworden ohne sie, jedenfalls kann es jetzt ihres Schutzes entbehren. Braucht Lübeck eines Schirmherrn oder Hamburg?«
»Die Hamburger streiten noch mit den Holsteiner Grafen ob ihrer Selbständigkeit. Und Lübeck wird schon in den alten Registern der Kaiser allein mit Rom und Pisa, Venedig und Florenz als freie Stadt und Herrschaft genannt. Wir sind nicht Lübeck.«
»Aber wir können werden wie Lübeck. Und welch' ein Schutz ist es denn, unter den Du uns stellen willst. Können unmündige Kinder Schutz gewähren?«
»Aus den Unmündigen werden Erwachsene. Und die Stadt müßte die Unhuld der Erwachsenen tragen.«
»Was brauchen wir dann noch danach zu fragen. Wisse, wozu Herzog Ernst sich erboten hat. Unterstützen wir seine Ansprüche – vom ganzen Erbe Herzog Magni verlangt er nichts als Schloß und Amt Wolfenbüttel, welches ja ein Pfandbesitz unserer Stadt ist – so will er bei Kaiser Carolo, dessen Gunst ihm in hohem Grade zugewandt, ein Wort für uns einlegen, daß Kaiserliche Majestät Braunschweig zur freien unmittelbaren Reichsstadt erklären.«
»Immer derselbe Gedanke! In Deinem Haupte hat nichts Anderes Raum.«
»Ist der Gedanke nicht wert, daß man ihn festhält Tag und Nacht?«
Kort Doring antwortete mit einer anderen Frage. »Wie kann Kaiserliche Majestät verschenken, was nicht sein ist? Braunschweig gehört den Nachkommen Heinrich des Löwen, wie mag er die Stadt ihnen nehmen und sich selbst geben?«
Da zog ein verschmitztes Lächeln über das breite Gesicht vam Dammes und die kleinen wasserblauen Äuglein leuchteten hell auf. »Glaubst Du, daran hätt' ich nicht gedacht? Hältst Du mich für so unerfahren in Staatsgeschäften? Wohl kann der Kaiser keinem Fürsten eine Stadt nehmen und sie zur Reichsstadt machen, es sei denn, dieser habe sie verwirkt durch Felonie. Wie aber, wenn ein Fürst selbst für seine Stadt solches vom Kaiser erbittet?«
»Was? Die Söhne Herzog Magni wollten ihre Rechte auf Braunschweig aufgeben und ihm reichsstädtische Freiheiten erwirken? Da müßte nicht der ›Quade‹ ihr Vormund sein.«
»Wer spricht von den Söhnen Herzog Magni und vom Quaden? Auch Herzog Ernst erhebt Ansprüche an unsere Stadt.«
»Die Söhne sind die nächsten Erben.«
»Die Erbverhältnisse sind verworren, wer mag entscheiden, wessen Recht das beste. Die Stadt wählt sich den Herrn, welcher ihr am meisten bietet. Und das ist Herzog Ernst. Wenn wir ihm huldigen, so geschieht das nur, damit er beim Kaiser für seine Stadt Braunschweig reichsstädtische Freiheiten erwirken kann.«
Jetzt lächelte auch Kort Doring, aber es war ein bitteres Lächeln. »Fürwahr«, sagte er, »Du bist ein gewiegter Staatsmann, das muß ich loben. Nur eins hast Du vergessen, daß die beste Staatskunst immer die redlichste ist. Redlich aber ist es nicht, wenn Du Herzog Magni unmündigen Söhnen ihr Recht verkümmerst. Und darum kann ich Dich nicht auf dem Wege begleiten, den Du gehen willst.«
Tile vam Damme schüttelte mißmutig den Kopf. »Wer hat uns bestellt, über die Rechte der jungen Herzoge zu wachen? Aber ich mag nicht länger streiten. Kann ich Dich nicht bereden, mit mir zu gehen, so versprich wenigstens, mir keine Steine in den Weg zu werfen.«
»Wie kann ich das versprechen? Ist es nicht meine Pflicht, wie die Deine, über das Wohl der Stadt zu wachen? Thust Du nun etwas, so der Stadt Wohl beeinträchtigt, muß ich Dich daran hindern und werde Dich daran hindern, so viel in meinen Kräften steht.«
Vam Damme erhob sich aus seinem Sessel. »Das klingt, als sagtest Du mir die Fehde an.«
»Es klingt, wie ich's gesprochen habe«, erwiderte Doring ebenfalls aufstehend.
»Ist das Dein letztes Wort?«
»Hast Du je gehört, daß mein letztes Wort ein anderes war, als mein erstes?«
Da stampfte der fette Mann heftig mit dem Fuße auf den Boden und sein Antlitz ward rot vor Zorn. »Das eben ist das Unglück«, rief er; »daß Du eigensinnig bei einem Worte stehen bleibst. Dich zu überzeugen, ist unmöglich. Wohlan, so gehe denn Deinen Weg, ich werde den meinen gehen nach wie vor. Der Hindernisse aber, die Du mir zu bereiten gedenkst, werde ich mich zu erwehren wissen.«