Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die bekannten Universen haben längst nicht mehr die Größe, welche sie einst hatten. Tina und Tommy werden zusammen mit ihrer Familie einige Überraschungen erleben, welche selbst die Großen Alten an die Grenzen ihres Wissens bringen. Das alles vor dem Hintergrund einer immer bedrohlicheren Gefahr … Ein Buch, das Grenzen überschreitet. Nachfolgeband zu "Der Untergang des Blauen Planeten" und "Die Neue Erde"
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 708
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ein Sturm zieht auf
von: Klaus Jürgen Meyer
Umschlagbild: Michael Hesse † 2022
Für Michael
Ich werde unsere Unterhaltungen
schmerzhaft vermissen!
„Vati, von wo genau in den Universen kommen Mutti und du eigentlich her? Ich meine, aus welchem Sonnensystem?“
Tommy hatte es seinem Sohn auf einer Sternkarte gezeigt, aber die Frage ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Als er auf der >PHYLL< die Bilder des explodierenden Planeten gesehen hatte, war ihm das natürlich extrem nahe gegangen. Aber er hatte sich damit abgefunden. Was war ihm und den anderen denn auch übrig geblieben? Außerdem hatten sie durch die Ausbildung und die täglich neuen Eindrücke eigentlich nie wirklich Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
Jetzt stellte Sean diese Frage und riss damit, ohne es zu wollen, eine kaum richtig verheilte Wunde wieder auf.
Anfangs hatte er sich immer mal wieder die Frage gestellt, was von dem Sonnensystem eigentlich noch übrig geblieben war, war aber im Laufe der Zeit mehr und mehr davon abgekommen.
Jetzt war er sechsunddreißig und Sean vierzehn. Eigentlich hatte er geglaubt, dass ihn diese Frage, welche sein Sohn ihm im Rahmen einer Hausaufgabe gestellt hatte, nicht weiter beschäftigen würde. Doch er wurde eines Besseren belehrt.
„Was ist los, Liebling? Du siehst nachdenklich aus. Ich dachte, ihr hättet im Rat alles geklärt, was es zu klären gab?“
„Haben wir auch! Aber mich beschäftigt eine ganz andere Sache.“ Er erzählte Tina von Seans Frage und den für ihn aus ihr entstandenen Gedanken und Gefühlen.
Die beiden lagen bequem in Liegestühlen auf der Dachterrasse ihres Hauses und genossen die Nachmittagssonne dieses herrlichen Julitages. Die Kinder, die noch zuhause wohnten, waren mit Freunden im Bad, Mo und Ree waren mit Jelina, Milani und Olg mit der >SINDUR< und der >GOLEB< für einen Auftrag unterwegs und würden in zwei Tagen zurück sein. Auch sie lebten inzwischen mit ihren Partnern allein.
„Wann tritt der Rat wieder zusammen?“
„Wenn nichts dazwischen kommt, im Oktober. Warum fragst du?“
„Lass uns hinfliegen! Ich weiß nicht warum, aber auch ich will sehen, was dort geschehen ist. Und nicht nur ich, sondern viele von uns. Vielleicht ist das der Grund, dass wir endlich wirklich mit diesem Kapitel abschließen können. Ich möchte es jedenfalls!“
Er sah seine Frau an. „Wie meinst du das: Viele von uns?“
„Biene, Moni, Peter, Ralf und noch einige mehr haben mich schon darauf angesprochen. Fragen wir einfach die Zwillinge, ob uns der >Große Rat der Kinder< die >GOL 2< zur Verfügung stellt. Sie haben gerade ihre letzte Sitzung vor den Ferien. Würdest du mit ihnen sprechen?“
Tommy lachte auf. „Oh Mann, Liebling! Mit welcher Selbstverständlichkeit du inzwischen mit diesem Thema umgehst, ist immer wieder faszinierend! Aber du hast Recht: Genau so könnten wir es machen. In fünf Tagen sind auch die letzten Kinder der Großen Alten im Rat, für welche ich die Schilde stelle, abgeholt, und dann bin ich quasi frei für Aktivitäten. Warte einen Moment!“
Aus dem Moment wurden zwar fast fünf Minuten, aber dann hatten sie das Okay der Kinder.
„Dann nehme ich Urlaub. Im Krankenhaus ist zum Glück kaum etwas los, und die paar kleinen Verletzungen können auch Kim und Josi problemlos verarzten. Aber jetzt werde ich mich um das Abendessen kümmern. Christa, Loisa und Swini wollen helfen und dürften jeden Moment auftauchen.“
„So viel Hilfe? Das klingt wieder nach besonderen Köstlichkeiten!“ Tommy streichelte seinen Bauch, während Tina lachte.
„Mache dir keine Sorgen, mein Schatz! Du bekommst nichts, was deinem Aussehen schaden könnte. Inklusive deiner Bauchmuskeln.“
Lachend küssten sie sich, und Tina ging nach unten.
Tommy sah sich um. >Hoffnung< war inzwischen eine kleine Stadt mit 7500 Einwohnern geworden, von denen viele von den Planeten der >Union Freier Planeten< stammten. Die meisten von ihnen waren die Familien oder Partner der Studenten, die sich auf der Neuen Erde ausbilden ließen.
Das riesige Universitätsgebäude war auf einer 20 Meter höheren Plattform gebaut worden, so dass die Sonne weiterhin vom Schatten des Gebäudes ungestört auf das Meer aus Gras darunter scheinen konnte. Rund 5 Kilometer weiter stand eine weitere Plattform in der gleichen Höhe wie die des Universitätsgebäudes. Diese beiden Plattformen waren sowohl untereinander als auch mit >Hoffnung< selbst durch Fußgängerbrücken verbunden, auf denen Fließbänder zur Personenbeförderung liefen. Man stellte sich einfach darauf und war 15 Minuten später entweder auf der Hauptplattform oder eben auf der Nebenplattform, auf die man wollte. Auf der zweiten Plattform befand sich das riesige Gebäude des >Großen Rates der Kinder< sowie einige hundert Gästehäuser, in welchen die Kinder der Ratsdelegationen lebten. Sie hatten pro Delegation jeweils einen weiblichen und einen männlichen Betreuer dabei und gingen zusammen mit den Kindern von >Hoffnung< in die Schule.
Viel hatte sich während der letzten 10 Jahre auf der Neuen Erde verändert. Und das Schönste davon war, dass Tina wieder schwanger war. Bis zur Geburt der Zwillinge waren zwar noch acht Monate Zeit, aber er freute sich bereits jetzt schon wahnsinnig auf die beiden, und Tina ging es genau so. Wenn er an ihre Kinder dachte, erfüllte sich sein Herz mit Liebe und Stolz. Neunzehn Kinder hatten sie inzwischen, denn vor sechs Jahren waren Sarah und Jasmin geboren worden, die morgen ihren Geburtstag hatten. Jedes der Kinder machte ihn stolz, und er liebte sie alle, obwohl nur Sean, Tobias, Christa, Sarah und Jasmin seine leiblichen Kinder waren. Aber Tina und er hatten es keine Sekunde bereut, die anderen angenommen zu haben. Ihr Haus war seit dreizehn Jahren angefüllt mit dem fröhlichen Lachen von Kindern, mit einer unfassbaren Liebe und Hilfsbereitschaft, aber eben auch mit den kleinen Alltagsproblemen, Neckereien und kleinen Streitigkeiten, welche unter Kindern normal waren. Und mit Fragen! Er lachte auf, als er daran dachte. Es war, als hätte sich jedes seiner Kinder Kil als Vorbild genommen.
Und so, wie das Leben in seinem Haus verlief, verlief es überall auf der Neuen Erde.
Vertrauen, Hilfe und Freundschaft waren auch nach fast 21 Jahren seit ihrer Ankunft auf diesem Planeten die Eigenschaften, welche die Bevölkerung dieses Planeten auszeichnete, und für die sie in den bekannten Universen bekannt waren.
„Vati, kommst du zum Essen?“ Vor ihm stand Jasmin.
„Schon? Wart ihr so schnell? Und wieso seid ihr schon aus dem Bad zurück?“ Er sah verwundert auf.
„Wieso schnell? Du hast gesagt, wir sollen um sechs zuhause sein. Jetzt ist es schon sechs Uhr fünfzehn. Mutti hat gesagt, das Abendessen wird kalt, wenn du nicht bald kommst!“
Verwundert sah er sie an. Als Tina runtergegangen war, war es 16 Uhr gewesen. Lange war er nicht mehr so in Erinnerungen versunken gewesen.
„Dann sollte ich mich wohl beeilen, denn kaltes Essen ist nicht so lecker.“
„Und die Köchinnen werden sauer.“ Jasmin brachte das mit einem total ernsten Ton raus, so dass er sie verblüfft ansah, bevor er zu lachen begann.
„Das wollen wir doch auf gar keinen Fall!“ Er nahm sie auf den Arm und ging mit ihr runter.
„Was hast du die ganze Zeit da oben gemacht?“
„Mich erinnert, Schatz! Und geträumt. Was gibt es?“
„Nudeln mit Tomatensoße und gebratenen Wurststücken.“
Obwohl es eins seiner erklärten Leibgerichte war, sah er Tina doch verwundert an. Diese begann zu lachen. „Keine Angst! Es gibt noch eine Überraschung danach.“
Sie begannen zu essen.
„Vati, wir fliegen wirklich in das Sonnensystem, aus dem Mutti und du kommen?“
„Mutti und ich hatten das geplant, Swini. Aber ihr wollt doch bestimmt viel lieber eure Ferien hier auf der Neuen Erde oder vielleicht auf Orn oder Krl verbringen?“
Tommy versuchte ernst zu bleiben. Aber er hatte nicht mit den enttäuschten Gesichtern gerechnet, und schon gar nicht mit den Tränen, die bei Sarah und Jasmin in den Augenwinkeln blinkten.
„Unsinn! Natürlich kommt ihr mit, wenn ihr wollt. Ich weiß zwar nicht, ob es für euch wirklich so interessant wird. Mutti und ich kommen von dort. Für uns bedeutet diese Reise, dass wir mit einem Kapitel unserer Vergangenheit abschließen können. Wir werden die Trümmer des Planeten sehen, auf dem wir gelebt haben. Auf dem unsere Eltern, also eure Großeltern, umgebracht wurden, und auf dem auch Mutti und ich fast gestorben wären. Für uns ist es wichtig, denn wir wollen Abschied von diesem Planeten nehmen. Aber ihr werdet vermutlich nur die Trümmer sehen. Und ob das wirklich so toll ist, dass ihr diese Reise mitmacht und deshalb auf den Spaß verzichtet, den ihr während der Ferien haben könntet, kann ich mir nicht vorstellen.“
Tobias sah ihn an. „Weißt du, Vati, manchmal glaube ich, du warst nie wirklich ein Kind. Das meine ich ganz bestimmt nicht böse, und ich will dir damit auch nicht weh tun. Aber versuche doch mal, dich in unsere Lage zu versetzen. Wir lernen in der Schule, dass es einen Planeten gab, der Erde hieß, und >Blauer Planet< wegen des vielen Wassers genannt wurde. Wir sehen Filme von diesem Planeten und davon, wie er Stück für Stück zerstört wurde und schließlich explodierte. Mutti und du haben auf diesem Planeten gelebt, und Biene, Dirk, René und all die Anderen. Man nennt euch hier liebevoll >Erdlinge<. Aber man nennt auch Christa, Jasmin, Sarah, Sean und mich so, obwohl wir hier geboren wurden und die Erde nur von Filmen kennen. Ich will wenigstens die Sonne sehen, die ihr gesehen habt. Und ich will die Trümmer sehen, damit ich mich bei jeder meiner Handlungen und Entscheidungen daran erinnern kann, was passieren kann, wenn sie in die falsche Richtung gehen. Damit ich später meinen Kindern diese Erfahrung weitergeben kann. Und du hast uns immer gesagt, wir sollen Erfahrungen sammeln, weil sie mit zu den wertvollsten Schätzen zusammen mit der Liebe, dem Leben, der Freundschaft und dem Vertrauen gehören ...“ Er wollte noch etwas sagen, brach aber ab, als er sah, dass sein Vater weinte.
Völlig entsetzt lief er zu ihm und umarmte ihn.
„Entschuldige, Vati, ich wollte dir wirklich nicht ...“
Weiter kam er nicht, denn plötzlich fühlte er sich fest umarmt. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, mein Sohn! Nicht dafür, dass du mir die Wahrheit gesagt, und gleichzeitig noch etwas beigebracht hast. Danke dafür von ganzem Herzen!“ Noch einmal drückte er Tobias an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er ihn los ließ.
„Was Tobi gesagt hat, stimmt! Eure Mutti und ich waren wahrscheinlich nie wirklich richtige Kinder. Aber wir durften und konnten es auch nie sein, denn die Umstände, in denen wir auf der Erde gelebt hatten, haben das einfach nicht zugelassen. Und später auf der >PHYLL<? Wir waren zwölf und dreizehn Jahre und bekamen eine Ausbildung, welche mancher Professor nicht hat. Wir hatten zwar Zeit zum Spielen, aber die haben wir sehr oft mit Träumen verbracht, die hier auf der Neuen Erde spielten. Uns fehlte einfach die Zeit, um Kind zu sein. Und als wir hier auf der Neuen Erde waren, haben wir gearbeitet. Das, was ihr heute spielend erforschen und entdecken könnt, war für uns wirklich Arbeit, denn unser Überleben hing davon ab. Wir, also Mutti und ich, waren da fünfzehn und sechzehn. Ich erzähle euch das nicht, weil ich euer Mitleid will, sondern deshalb, weil ich hoffe, dass ihr es versteht, wenn ich manchmal so einen Blödsinn rede. Ja, es fällt mir manchmal schwer, mich in eure Lage zu versetzen! Und ich bitte euch deshalb, mir dann offen zu sagen, was ihr denkt. Genau so, wie es eben Tobias gemacht hat, denn ich wäre ehrlich gesagt im Leben nicht auf diese Gründe gekommen.“
„Und ich bitte euch ebenfalls darum!“, schloss sich ihm Tina an.
Die Stimmung am Tisch war außergewöhnlich emotional. Sarah löste die Spannung mit einem einzigen Satz auf. „Zeit für Familien-Kuscheln!“
Und genau das wurde ausgiebig gemacht, bevor es wieder ans Essen ging.
„Nun bin ich aber auf die Überraschung gespannt! Es war wieder richtig lecker. Danke an die Köchinnen!“
„Das Lob gehört Mutti ganz allein!“ Hoffentlich schmeckt dir unsere Sache auch!“ Loisa und Swini flitzten in die Küche, aus der sie wenig später mit zwei großen Glasschüsseln zurück kamen.
„Fruchtgelee!“ Tommys Augen begannen zu leuchten.
„Mila und Jel haben es den Mädchen beigebracht, und heute haben sie sich zum ersten Mal an das Rezept gewagt.“ Tina sah die drei Mädchen voller Stolz an.
Er nahm den ersten Löffel und vergaß die Welt um sich. Erst nach dem dritten Löffel voll sah er auf. „Es ist ein Traum! Habt von ganzem Herzen Dank für diese köstliche Überraschung!“
Dann aß er weiter, während sich Christa, Loisa und Swin stolz und glücklich zulächelten.
Am Mittag des folgenden Tages stand Telin vor der Tür. „Unsere ganze Gruppe von damals will mit. Inklusive der Elmeraner, der alten Crew der >PHYLL<, Mir, Tip und Mykbar mit seiner Familie. Lediglich Korin wird bleiben, da sie ja die Stellvertreterin von René ist. Und der fliegt auf jeden Fall mit als Erdling. Und natürlich auch die Familien von allen“
„Und Jos und Min haben auch gefragt, ob sie mit dürfen.“, schloss sich Tobias Telin an.
„So viele? Warum?“
„Vati, ich habe es doch schon versucht, dir zu erklären. Für die meisten dient es einfach dazu, das Ganze zu verstehen.“
„Ist ja gut,Tobi! Ich habe es ja auch verstanden. Trotzdem verwundert es mich. Aber gut, wer mitfliegen will, fliegt mit! Ich werde Isi bitten, die >GOL 2< mit Vorräten zu versorgen, und mit Daul sprechen. In fünf Tagen geht es los!“
„Vati, können Jos und Min solange bei uns wohnen? Die Delegation von Jaro fliegt doch schon morgen.“
„Na klar! Holt sie rüber.“
Tobias rannte los.
„Liebling, wir haben zwei Gäste.“ Tommy klärte seine Frau auf. Diese war überhaupt nicht überrascht.
„Ich hatte dir ja gesagt, dass es viele sind.“
„Ich sehe es. Aber ich hatte nicht damit gerechnet. Aber jetzt rede ich kurz mit Daul.“
Rund 10 Minuten später war er wieder ansprechbar.
„Scheinbar wusste es außer mir jeder, wie viele mit wollen. Aber egal, unsere Quartiere werden vorbereitet sein. Isi weiß ebenfalls Bescheid und wird Vorräte für zwei Monate an Bord bringen. Außerdem wird noch der komplette Wasservorrat ausgetauscht. Und dort kommt Tobi mit Jos und Min.“
„Guten Tag, Christine! Guten Tag, Thomas!“
„Auch euch einen guten Tag und willkommen in unserem Haus!“
„Danke, Christine. Wir freuen uns riesig, dass wir bei euch wohnen und auch mitfliegen dürfen.“ Aus dem Jos von damals war ein stattlicher 17-Jähriger geworden, der am Nachmittag seine letzte Sitzung im >Großen Rat der Kinder< gehabt hatte. Aber er würde bereits im September wieder auf der Neuen Erde sein, um sein Studium als Neurochirurg zu beginnen.
„Es freut uns, dass ihr bei uns wohnen wollt!“ Tina lächelte.
„Und für meine Schwester und mich ist es eine Ehre.“ Jos lächelte zurück.
Damit war der traditionellen Höflichkeit von Jaro Genüge getan, und die nächsten Unterhaltungen verliefen zwanglos.
***
Der Flug zur Raumschiffwerft lag hinter ihnen und die Gruppe betrat die >GOL 2< und ihre Quartiere.
Tommy wollte es zwar nicht wahrhaben, aber er war auf jeden Fall ein wenig nervös. In 17 Tagen würden sie in dem Sonnensystem ankommen, aus welchen er stammte. Er wusste, dass ihn dort nur noch Trümmer des einstigen Planeten Erde erwarten würden, aber er wollte sie mit eigenen Augen sehen. Hätte ihn jemand gefragt, warum genau er sie sehen wollte, hätte er diese Frage nicht wirklich beantworten können. Er wusste es selbst nicht so genau. Aber es fragte keiner.
Die Quartiere waren luxuriös und zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten an Bord würden ihn ablenken. Außerdem waren da auch seine Kinder. Und, worüber er sich fast noch mehr freute, sein Enkel Mikel zusammen mit Olg und Silen. Olg hatte vor 4 Jahren seine Freundin Silen geheiratet, und Mikel war vor 2 Jahren geboren worden.
Tina und er waren damit auch die ersten Großeltern auf der Neuen Erde, und sie waren unheimlich stolz und glücklich.
Leider sahen die fünf sich viel zu wenig, denn auch Silen arbeitete auf der >GOLEB<.
Kaum war die >GOL 2< gesprungen, verschwanden die Kinder zum Spielen. 17 Tage lagen vor ihnen, doch an Langeweile war auf diesem Schiff nicht zu denken. Im Laufe der letzten Jahre waren immer mehr Bereiche für Spiel und Sport installiert worden, so dass das Schiff jetzt seinen Besitzern, nämlich dem >Großen Rat der Kinder<, und damit den Kindern, voll und ganz Rechnung tragen konnte.
Mit Stolz erinnerte sich Tommy an den Tag, als dieser Rat seinen Sohn Tobias zu seinem Vorsitzenden und Sean zu seinem Stellvertreter gewählt hatte. Christa war die Vorsitzende der Delegation und Swin war die Sonderbotschafterin der Delegation der Neuen Erde.
Die Arbeitsliste des Rates war mindestens genau so lang wie die vom >Rat der Großen Alten<, und viele Punkte bearbeiteten die beiden Räte gemeinsam. So saßen Tobias, Sean, Swin und ihr Vater oft gemeinsam irgendwo gemütlich beisammen, um über diese Punkte zu sprechen.
Und die Arbeit war erfolgreich! Auf über 200 Planeten hatten die Kinder inzwischen die gleichen Rechte wie auf der Neuen Erde. Die Ausbildung zur Verteidigung lief hervorragend und auch das Bildungsniveau war in den 10 Jahren seit Bestehen des Rates auf fast allen Planeten deutlich gestiegen. Auf Planeten wie Gelan und Kesir hatten die Kinder in der Zeit, als diese Planeten noch Kolonien der Url waren, noch nicht einmal eine Schule gekannt. Das, was sie zur Arbeit auf den Feldern und in den Ställen brauchten, hatten sie von ihren Eltern beigebracht bekommen. Für die Url waren diese Menschen Sklaven, und Sklaven brauchten keine Bildung.
Vermutlich war es für die Menschen auf Gelan, Kesir, Jaro und Kar die mit Abstand größte Veränderung gewesen, die sie seit ihrem Beitritt in die >Union Freier Planeten< erlebt hatten, obwohl es auch auf vielen anderen Planeten in den bekannten Universen große Veränderungen gegeben hatte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es gab keine Kolonien mehr. Alle ehemaligen Kolonien waren, ähnlich der Mitglieder der >Union Freier Planeten<, gleichberechtigte Partner der Hauptplaneten.
Das Türsignal riss ihn aus seinen Gedanken, und Yso betrat mit Mykbar und Tommy Junior den Raum. Letzterer war inzwischen 20 Jahre alt und ein stattlicher junger Mann geworden, der seit einem Jahr mit Mbora verheiratet war. Auf Url wäre er noch ein unmündiger Jugendlicher gewesen. Als seine Mutter ihn im Spaß kurz vor seiner Hochzeit darauf ansprach, hatte er lachend geantwortet: „Ich habe schon immer gewusst, was gut für mich ist. Deshalb bin ich jetzt ein Bürger der Neuen Erde. Aber um ehrlich zu sein: Ich muss auch den Url Danke sagen, denn die wollten mich ja nicht mehr!“
Das Gelächter der beiden, in welches gleich darauf auch Mykbar, dem Yso mental diese Antwort erzählt hatte, mit einstimmte, war noch hunderte Meter weiter zu hören.
„Hallo, ihr drei! Wo ist Mbora?“
„Christine – Dewna ist heute ziemlich mobil und sorgt dafür, dass ihre Mutti lieber sitzt als steht oder geht.“ gab Tommy Junior zur Antwort.
„Das hat sie dann schon mal von ihrem Papa. Wenn sie später dann auch seine Fähigkeiten zu schlafen erbt, wird Mbora in spätestens zwei Wochen Ruhe haben.“ schaltete sich Yso in die Unterhaltung ein.
„Hoffentlich! Ich gönne ihr die Ruhe von ganzem Herzen.“
„Wir wollten euch fragen, ob ihr Lust habt, mit uns was zu essen.“ Mykbar sah Tina und Tommy fragend an.
„Gern! Kommt rein.“
„Eigentlich wollten wir euch einladen. Tip deckt bereits den Tisch.“
„Ist er denn nicht bei den anderen Kindern?“
„Ist er nicht. Kommt ihr nun?“
Erstaunt sah Thomas Mykbar an. „Was ist denn mit dir los? So ungeduldig habe ich dich nur vor der Geburt von Tommy und Tip erlebt. Wir kommen ja schon!“
„Verzeiht, aber ich bin heute wirklich nervös, denn meine Familie und ich stehen vor einer Premiere.“
„Dann wollen wir euch auch nicht lange warten lassen.“ Tina sah Tommy fragend an, der auch nur leicht mit den Schultern zucken konnte.
Yso sah es und lachte auf. „Ihr habt wirklich keine Ahnung, um was es geht?“
Beide schüttelten mit dem Kopf.
„Dann will ich euch einen Hinweis geben. Welches Datum haben wir heute?“
„Den fünfzehnten Juli. Warum?“ Tommy war ratlos, während bei Tina plötzlich ein Lächeln des Verstehens über ihr Gesicht zog.
„Heute vor dreiundzwanzig Jahren habt ihr uns auf der Erde gefunden!“
„Richtig, Tina! Und für uns ist dieser Tag seit zehn Jahren ein Feiertag, den wir heute zum ersten Mal mit euch beiden verbringen möchten. Es ist das erste Mal, dass wir überhaupt Gäste zu einer privaten Feier einladen, und deshalb sind wir auch ziemlich nervös. Beginnen wollen wir mit einem Essen.“
„Worauf warten wir denn noch? Kommst du, Liebling?“
Tommy war sehr still auf dem Weg zum Quartier von Yso und Mykbar. Bei der Erwähnung des Tages und seiner Bedeutung waren die Erinnerungen an diesen Tag mit voller Wucht über ihn herein gebrochen. Es war, als hätte dieser Tag gerade erst begonnen, denn er fühlte das flaue Gefühl im Magen, das er gehabt hatte, als er die leichten Filter aus den Nachtschränken seiner Bettnachbarn genommen und bei sich versteckt hatte.
Der Weg zum Quartier war irgendwie wie der Weg zum Speisesaal im Dorf, als er dort zum letzten Mal zum Mittagessen ging.
Gleich würden Tina und er aufbrechen in eine völlig ungewisse Zukunft, die für sie Leben oder Tod bringen würde.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass er stehen geblieben war. Er zitterte am ganzen Körper und sein Magen krampfte sich vor Angst zusammen.
Jetzt ging es los! Raus aus dem Dorf und rein in eine Umgebung, in welcher es keinen Schutz gab.
Aber es war nicht so sehr die Angst um ihn selbst, sondern um Tina. Was, wenn sie ums Leben kam? Er konnte ihr keinen Schutz bieten. Er würde ihr nicht helfen können, wenn sie sich verletzte oder hinfiel und dabei die Sauerstoffflasche beschädigt wurde. Er wusste nur eins: Wenn das passieren würde, würde er sich die Maske vom Gesicht reißen, um mit ihr zusammen zu sterben. Ohne Tina wollte er nicht mehr leben. Sie war nicht nur seine Freundin, sondern inzwischen auch der einzige Grund dafür geworden, überhaupt noch am Leben zu sein. Er fühlte, wie die Luft knapp wurde, denn er begann zu keuchen.
„Tommy, was ist los?“
„Ich brauche Luft,Tina. Mein Filter ist zu und muss gewechselt werden! Gib mir deine Maske.“
„Tommy, Liebling, komm zu dir! Wir sind in Sicherheit! Atme einfach ganz normal!“
Er hörte Tina zwar reden, aber ihre Worte ergaben einfach keinen Sinn. Normal atmen? Wie?
Durch den Filter kam immer weniger Luft und mit jedem Atemzug, den er immer angestrengter zu machen versuchte, merkte er, dass es zu Ende ging. Tina würde allein weitergehen müssen.
„Vati! Was ist los?“
„Vati, wir kommen!“
Vati? Wer konnte damit gemeint sein? Sein Vati war schon lange tot. Er hatte vor vier Jahren gesehen, wie er zusammen mit seiner Mutti erstickt war. Und nun würde auch er ersticken, denn seine Hände konnten die Filter nicht finden, und Tina war mit der Sauerstoffflasche fast unerreichbar. Blieb nur noch seine eigene, aber er konnte in seiner Panik das Ventil nicht finden.
„Tina, hilf mir! Ich ersticke!“
„Liebling! Atme!“
„Vati! Wir sind gleich da!“
„Thomas!“ ….
Er fühlte, wie seine Knie nachgaben und er auf der Erde lag während die Atmung aufhörte. Ihm wurde schwarz vor Augen So fühlte es sich also an, wenn man starb. Es wollte noch nicht sterben. Er war doch erst zwölf Jahre alt! Und was sollte Tina ohne ihn machen?
Aber sein Opa hatte immer gesagt: „Wenn der Tod kommt, fragt er nicht danach, was du willst. Er nimmt dich mit und es hat keinen Sinn, sich gegen ihn zu wehren. Gehe mit ihm, als würdest du mit einem Freund zu einem schönen Ort gehen.“
„Opa, ich komme zu dir!“
Plötzlich wurde es hell! Er saß im Liegestuhl auf der Dachterrasse seines Hauses auf der Neuen Erde. Tina war bei ihm und lächelte ihn an, während Jasmin und Sarah mit dem kleinen Mikel spielten.
Erstaunt sah er sich um. Hinter ihm saßen Tobias und Sean mit Loisa, Swin und Gab und machten Hausaufgaben.
„Brauchst du etwas, Vati?“
Die Frage kam von Tobi.
„Ist alles in Ordnung, Liebling? Du siehst aus, als hättest du Gespenster gesehen. Sieh dich um! Du bist an einem sicheren und schönen Ort. Lass einfach mal alles los, was dich bedrückt.“
Eine tiefe Ruhe überkam ihn und er konnte fühlen, wie das eben Erlebte von ihm abfiel. So fühlte es sich also an, wenn man gestorben war. Friede! Tiefer innerer Frieden, den ihm seine Lieben und das Bild vom Meer aus Gras vermittelten.
„Vati, du bist nicht gestorben! Du bist bei uns an Bord der >GOL<.“ Das war ganz klar Sarah.
Aber wie konnte das sein? Sie spielte doch vor ihm mit Mikel und sah ihn gar nicht an.
„Vati! Mach die Augen auf. Bitte!“
Er tat ihr den Gefallen und sah sich verwundert um. Tatsächlich sah er den Gang auf der >GOL<, den er vorhin betreten hatte. Was war los?
„Liebling! Endlich bist du wach! Hörst du mich?“
Verwundert sah er Tina an. „Natürlich höre ich dich! Aber, was ist passiert? Wieso sagst du, ich sei endlich wach? Und warum liege ich auf dem Boden?“
„Das können dir Tobi und Sean besser erklären. Aber sei ihnen bitte nicht böse!“
„Du warst ein Junge in unserem Alter. Mutti war bei dir...“ Sean erzählte ihm, was er gesehen hatte.
„Wir mussten Kopfgucken machen, denn du warst ganz plötzlich nicht mehr bei uns. Aber wir haben gespürt, dass du furchtbare Angst vor etwas hattest. Und wir wussten doch nicht, wovor. Mykbar hat uns den Rat gegeben, Kopfgucken zu machen, und auch, dir dann einen schönen, sicheren und friedlichen Ort zu zeigen. Bitte sei Tobi und mir nicht böse wegen dem Kopfgucken.“
Tommy stand auf. Ein wenig schwindelig war ihm noch, aber das legte sich schnell.
„Euch böse sein, weil ihr mir geholfen habt? Ganz im Gegenteil! Ich bin euch unglaublich dankbar. Es tut mir nur leid, dass ihr diese Bilder sehen musstet. So langsam beginne ich mich an sie wieder zu erinnern. Aber was heißt: Ich war plötzlich nicht mehr bei euch?“
„Unsere Schilde, Vati! Sie sind ganz plötzlich weg gewesen. Und jetzt sind sie auch noch nicht wieder da. Aber wir haben für Christa, Jasmin, Sarah und uns schnell welche gemacht, sodass die Mädchen keine Angst zu haben brauchen.“, berichtete Tobi stolz.
„Aber sie sind nur ganz einfach. Du musst uns zeigen, wie man so gute macht wie deine.“
Erst jetzt bemerkte Tommy, dass auch sein Schild nicht hochgezogen war.
„Ihr macht die Schilde für die Mädchen?“ Er umarmte seine Söhne.
„Ich bin euch so dankbar und ich bin so stolz auf euch! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr! Aber nun lasst die Schilde fallen, damit ich übernehmen kann.“
Keine Minute später fühlten die Kinder wieder die schützende Umarmung ihres Vaters.
„Wo sind die Mädchen eigentlich?“
„Jasmin und Sarah halten dort den Gang frei und Christine. Wir haben ganz schnell gemerkt, dass die Gedanken der Leute in unseren Köpfen immer lauter wurden, wenn sie näher kamen. Deshalb halten die Mädchen den Gang frei.
Tommy hat Kara gerufen, die gleich mit Sanitätern hier sein müsste. Dort kommt sie schon.
Und Yso und Mykbar haben uns gesagt, was wir machen sollen.“
„Und Mutti hat dich immer wieder gerufen und gestreichelt.“, beendete Sean den Bericht seines Bruders, während Tommy Tina umarmte und zärtlich küsste.
„Thomas, mein Junge, was machst du für Sachen?“ Kara war völlig außer sich.
„Es ist alles gut, Kara. Ich wurde nur ganz massiv von meinen Erinnerungen übermannt. Und die Angst von damals hat sie wohl noch ein wenig drastischer werden lassen.“
Tommy versuchte es mit einem beruhigenden Lächeln.
„Alles gut? Mein lieber Junge – gar nichts ist gut! So, wie Tommy mir die Sache beschrieben hat, klingt das eher nach posttraumatischer Belastungsstörung. Aber gut! Ich werde mich mit deiner Aussage zufrieden geben, wenn du mich jetzt direkt auf der Krankenstation ein paar Untersuchungen machen lässt.“
„Aber...“
„Kein >Aber<, Liebling! Ich bin der gleichen Meinung.“ Tina sah ihn an.
„Und das Essen?“
„Kann mit Sicherheit so lange warten, bis wir sicher sind, dass wirklich alles gut ist!“ Das kam von Yso.
„Es dauert auch nur ein paar Minuten.“
„Also gut, ich komme mit.“ Thomas fügte sich in das Unvermeidliche.
20 Minuten später entließ ihn Kara mit den Worten: „Es scheint wirklich alles in Ordnung zu sein. Aber versprich mir, dass du dich sofort bei mir meldest, wenn so was wieder passiert! Auch dann, wenn es vielleicht nicht ganz so heftig wie heute war.“
„Versprochen, Kara! Ich kann es mir nicht erlauben, meinen Kindern ihren Schutz nicht geben zu können. Schon allein deswegen kannst du dich darauf verlassen.“
„Es tut mir so leid! Wenn ich auch nur geahnt hätte, was ich...“
„Mykbar, du brauchst dich nicht zu entschuldigen! Glaubst du wirklich, diese Erinnerungen wären nicht irgendwann über mich herein gebrochen? Es ist meine Kindheit. Es sind meine Erlebnisse. Und Kara hat Recht, wenn sie sagt, dass ich sie eben noch nicht ganz verarbeitet habe. Hätte ich geahnt, wie sehr sie mich noch immer belasten, hätte ich mich ihnen schon viel früher gestellt. Aber jetzt weiß ich es, und ich werde es tun. Egal, wie schmerzhaft das sein wird. Wir sollten uns jedenfalls nicht deshalb dieses köstliche Essen vermiesen lassen.“
„Darf ich dir wenigstens einen Rat geben?“
„Sehr gerne sogar!“
„Deine Söhne sind sehr stark! Und sie haben die Bilder gesehen, die du gesehen hast. Teile deine Erinnerungen mit ihnen, auch du, Christine. Verschweigt ihnen so wenig wie möglich. So können sie ein Auge im übertragenen Sinn auf euch haben, und zur Not mental eingreifen. Das würde allerdings bedeuten, dass du, Christine, den beiden Zugang zumindest zu deinen Gefühlen, noch besser aber zu deinen Gedanken geben müsstest. Sie würden dann quasi ab und zu bei euch vorbei schauen und nach dem Rechten sehen. So könnten sie rechtzeitig einen Puffer aufstellen, der die Wucht der Erinnerungen abfedert. Da gehört allerdings unglaublich viel Vertrauen zu, das ihr gegenüber euren Söhnen haben müsstet.“
„Ich vertraue den beiden mein Leben an. Und nicht nur den beiden, sondern jedem unserer Kinder. Egal, ob leiblich oder nicht!“
„Und das gilt auch für mich!“, schloss sich Tina ihm an.
„Ich werde mit Thomas darüber sprechen, wenn wir alleine sind. Aber dein Rat klingt gut!“
„Das finde ich auch, zumindest ich werde ihn befolgen, denn wenn so etwas einmal wieder passiert, und Tobi und Sean sind nicht in der Nähe, wären die Folgen für Jasmin, Sarah und später auch für die beiden Mäuse unvorstellbar!“ Er deutete auf Tinas Bauch.
„Aber nun mal was ganz anderes: Wieso ist dieses Essen für dich eine Premiere?“
„Genauer gesagt: Für uns! Auf Url gibt es überhaupt keine Feiern, zu denen Gäste eingeladen werden. Höchstens Empfänge, und die sind ziemlich steif. Yso und ich haben diesen Brauch bis heute beibehalten. Erinnerst du dich an einen Geburtstag von uns beiden, den ihr mit uns gefeiert habt?“
„Nein. Wir hatten uns bereits gewundert, aber Tommy hat uns dann aufgeklärt.“
„Nun, dieser Tag hat seit zehn Jahren den gleichen Stellenwert wie ein Geburtstag für uns. Und wir verdanken ihn euch. Genau deshalb wollten wir heute mit diesem Brauch endlich brechen und haben euch eingeladen. Dieses Essen ist eigentlich der Auftakt für ein kleines Fest, welches nachher im Speisesaal und später auf dem Holo - Deck stattfinden wird.“
Tina sah ihn einen Moment lang an und begann dann, schallend zu lachen.
„Ihr verdankt uns diesen Tag? Wenn, dann doch wohl eher anders herum! Es würde ihn gar nicht geben, wenn ihr uns nicht gefunden und >Ja< zu uns gesagt hättet. Wer weiß, ob wir eine Stadt erreicht hätten, oder bloß noch als Staub oder Asche zwischen den Trümmern des Planeten treiben würden. Wir müssten diesen Tag als Geburtstag feiern! Und mit uns Alle, die auf der Neuen Erde leben.“
„Das wissen wir, Tina. Aber selbst wenn wir euch gefunden hätten und ihr dann nicht genau diese Tina und dieser Tommy gewesen wärt, die ihr nun einmal seid, würde es diesen Tag so nicht geben. Wir feiern den Tag, an dem wir euch Beide, so wie ihr seid, kennengelernt haben.“
Sowohl Tina als auch Tommy ließen das im Raum stehen.
Allerdings erlebten sie dann eine wirkliche Überraschung, denn das kleine Fest, welches Yso und Mykbar angekündigt hatten, war in Wirklichkeit eine riesige Party, die sich bis in den nächsten Tag hinein zog.
***
„Sean, Tobi! Mutti und ich würden gern mit euch etwas besprechen.“
Verwundert sahen die beiden ihren Vater an.
„Gern! Was denn?“
„Nach dem Frühstück. Wir gehen dafür auf das kleine Holo - Deck auf der vierten Ebene. Aber es kann etwas länger dauern. Und deshalb esst ihr Mädchen heute bei Olg zu Mittag.“
Die vier betraten das Holo - Deck mit einer Decke und einem gut gefüllten Picknick-Korb.
Sie kamen direkt auf eine kleine Wiese, die an einen See grenzte.
Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, begann Thomas.
„Ihr habt mir gestern unglaublich geholfen. Ich war von dieser Situation völlig überrascht worden und weiß, ehrlich gesagt, nicht, was passiert wäre, wenn ihr nicht gewesen wärt. Ihr habt Bilder gesehen, die ihr eigentlich nie hättet sehen sollen. Aber nur so habt ihr mir helfen können. Und wir wollen ehrlich zu euch sein: Genau so eine Situation kann es auch für Mutti geben. Auch sie hat unglaublich schlimme Dinge erleben müssen, und mindestens genau so viel und oft Angst gehabt wie ich. Und weil das so ist, möchten Mutti und ich euch um eure Hilfe bitten.“ Ruhig erklärte er den beiden ihr Anliegen und schloss mit den Worten: „Die Bilder, die ihr gesehen habt, entsprechen nicht ganz der Realität, die ich erlebt habe. Sie sind geprägt von der Angst, welche ich damals empfunden habe. Also waren sie so etwas wie ein Albtraum, der immer schlimmer wird. Aber die Kindheit von eurer Mutti und mir war ein Albtraum. Und wir haben lange überlegt, ob wir sie euch zeigen. Eure Mutti hat am Ende das ausschlaggebende Argument gehabt. Sie hat gesagt: Wenn die beiden diese Bilder gesehen und verkraftet haben, kommen sie damit klar. Aber ich habe eine Bitte: Wenn ihr merkt, dass ihr nicht mehr könnt, wenn es zu viel für euch wird, gebt Bescheid. Wenn ihr meine Erinnerungen erforscht, wird Mutti bei euch sein. Und wenn ihr ihre erforscht, gehe ich mit. Es werden ein paar Stellen kommen, die ich ganz bewusst vor euch verbergen werde. Nicht, weil Mutti oder ich euch nicht vertrauen, sondern weil sie einfach viel zu grausam sind, als dass ihr sie sehen könnt. Und nun lassen wir euch für eine halbe Stunde allein, damit ihr darüber nachdenken könnt, ob ihr denkt, dass ihr das wollt und könnt.
Ich muss euch noch ein mal sagen: Es sind harte und brutale Bilder, die ihr sehen werdet. Sie übertreffen alles, was ihr bisher gesehen habt. Überlegt es euch also wirklich. Mutti und ich werden euch mit Sicherheit nicht böse sein, wenn ihr ablehnt. Und auch nicht enttäuscht. Das verspreche ich euch!“
Sean und Tobias sahen sich an. Ihre Eltern hatten das Holo - Deck verlassen.
„Weißt du, um was Mutti und Vati uns da gebeten haben? Ich habe mit dir gestern die Bilder gesehen. Ich habe keine Angst davor, die Erinnerung zu sehen. Aber ich habe Angst davor, wie verzweifelt die beiden sein müssen, wenn sie uns um so eine Sache bitten.“
„Und ich habe Angst davor, Vati noch ein Mal so zu sehen! Oder Mutti!“
„Davor habe ich auch Angst, Tobi. Sogar unheimlich große! Und deshalb will ich ihnen helfen.“
„Das will ich auch! Aber noch etwas beschäftigt mich. Weißt du eigentlich, wie sehr sie uns vertrauen müssen, wenn sie uns in ihre Köpfe lassen, damit wir nachsehen können, wie es ihnen geht?“
„O ja! Vati würde es sofort merken, wenn wir mehr machen würden. Aber Mutti?“
„Ich glaube, wir sollten uns einfach vorstellen, Mutti würde es auch merken. Aber das brauche ich nicht, denn ich werde sie nie enttäuschen. Völlig egal, ob sie es merken würde oder nicht!“
„Ich auch nicht! Aber deine Idee ist gut. Ich sage Vati, dass sie wiederkommen können.“
„Wir danken euch!“ Tommy und Tina umarmten ihre Söhne.
„Mutti und ich haben entschieden, dass wir mit meinen Erinnerungen beginnen wollen. Wir werden jede halbe Stunde eine Pause machen. Einverstanden?“ Die beiden Jungs nickten.
„Dann macht es euch bequem. Schatz, bist du soweit?“
„Ja, Liebling.“
„Dann los.“
Die Welt veränderte sich für Tobias und Sean. Sie sahen durch die Augen eines fünfjährigen Jungen der eine Straße, die eigentlich gar keine war, entlang ging.
„Das, was ihr seht, ist eine Straße. Nur eben eine, wie ihr sie nicht kennt.“, hörten sie plötzlich ihre Mutter.
„Und der kleine Junge ist euer Vati, als er fünf war.“
Der Junge bog in eine Seitenstraße ein und betrat ein Hochhaus. Vor einer Tür blieb er stehen und drückte einen Knopf.
„Opa, ich bin´s!“
Die Tür ging auf und ein alter Mann nahm den Kleinen in die Arme.
So lernten Tobias und Sean ihren Urgroßvater kennen.
Sie durchstreiften mit dem Jungen die Stadt. Lernten, was es hieß, sich vor der Polizei zu verstecken, und wie man Geheimpolizisten erkannte. Sie sahen ihre Großeltern und mussten erleben, dass sie den Jungen aus der Wohnung schickten, weil wieder ein wichtiges Treffen anstand. Sie standen vor den Auslagen in Schaufenstern von Geschäften und träumten davon, sich dies oder das kaufen zu können. Und sie spürten förmlich, wie weh es dem Jungen tat, dass er nicht das nötige Geld dafür hatte. Auch wenn sie nicht hätten sagen können, was Geld eigentlich genau war.
Der Junge sah nach oben, und nun erst sahen die beiden die Kuppel aus Plexiglas, welche die Stadt überdeckte. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass die Luft, die sich wie ein leichter Wind anfühlte, aus großen Ventilatoren geblasen wurde, die auf halber Höhe an den Hochhäusern angebracht waren, und dass das Licht in dieser Stadt von riesigen Scheinwerfern, die unter dem Kuppeldach an Stahlträgern befestigt waren, stammte. Als wäre der Zeitplan perfekt gewählt, kam nun eine Lautsprecherdurchsage:
„ An alle Bewohner von Leipzig: Das Licht wird in einer halben Stunde ausgeschaltet. Bitte denken Sie an die Ausgangssperre! Außerdem kommt aus dem Rathaus kurzfristig die Mitteilung, dass wegen Wartungsarbeiten des Belüftungssystems die Straßenbelüftung in den Außenbezirken drei, vier und fünf ganz ausgestellt und die Hausbelüftung um die Hälfte gedrosselt werden. Das gilt von heute einundzwanzig bis morgen neun Uhr. Die Arbeitszeiten der Bewohner dieser Bezirke beginnen morgen um zehn Uhr, die Schulen beginnen ebenfalls um diese Zeit mit ihrem Unterricht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!“
> Mist! So spät ist es schon? Ich muss von der Straße runter! <
Es war das erste Mal, dass Sean und Tobi ihren Vati reden hörten in dieser Erinnerung. Sie konnten die Angst in der Stimme hören.
Der Junge lief auf ein Hochhaus zu und betrat es. Aber anstatt die Treppe hoch zu gehen, lief er nach unten in den Keller. Hier war es fast vollkommen dunkel, aber er rannte den Kellergang mit traumwandlerischer Sicherheit bis zum anderen Ende durch. Hier ging er leise die Treppe hoch und verließ das Haus, nachdem er nachgesehen hatte, ob die Straße frei war. Das Stück bis zum nächsten Haus versuchte er sich so klein wie möglich zu machen, indem er tief nach vorne gebeugt lief. Wieder ein Kellergang. Dieses Mal hörten Tobias und Sean: > Bitte lasse alle Türen auf sein! Das wird ganz schön knapp! Aber ich muss es schaffen. Ohne die Belüftung wird die Luft auf der Straße ganz schnell giftig, hat Vati gesagt. Und Opa hat gesagt, dass die Türen der Häuser nicht mehr aufgehen, wenn die Luft abgestellt ist. Noch zwei Häuser, dann bin ich zuhause! <
Wenig später rannte er in die letzte Haustür. Keuchend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und sah, wie aus dem grünen ein rotes Lämpchen wurde. > Buh, das war wirklich knapp! <
Er lief die Treppe hoch und blieb im 9. Stock vor einer Tür stehen. Seinen Schlüssel hatte er an einem Band um den Hals, aber so richtig traute er sich nicht, die Tür aufzuschließen. Vati hatte gesagt, er solle nicht vor 21 Uhr zuhause sein. Jetzt war es 20 Uhr 30. Aber was hätte er machen sollen? Wenn er noch länger gebraucht hätte, wäre er gar nicht mehr ins Haus gekommen. Und auf der Straße wäre er erstickt, oder die Polizei hätte ihn gefunden.
Er entschloss sich, die Tür zu öffnen. Da die Hausbelüftung auch gedrosselt werden würden, war er auch im Treppenhaus in Gefahr. Lediglich in den Wohnungen gab es eine Luftzufuhr, die nur dann zu Wartungszwecken abgestellt wurde, wenn die Bewohner der Wohnung auf Arbeit, in der Schule oder der Kita waren. Die Handwerker der Stadtwerke hatten, genau wie die Geheimpolizei, einen Generalschlüssel. Vati hatte gesagt, dass man eigentlich keinerlei Privatsphäre mehr hätte. Was immer das auch war.
Kaum betrat er die Wohnung, kam ihm seine Mutti entgegen und umarmte ihn.
„Gott sei Dank! Du hast es geschafft! Wir hatten vergessen, dass heute die Luftzufuhr abgestellt wird. Es ist uns erst wieder eingefallen, als unser Besuch sagte, dass er früher weg muss. Aber da war es natürlich schon zu spät, um es dir zu sagen. Es tut mir so leid!“
Na toll! Sie hatten also vergessen, ihn zu warnen. Aber das wäre wirklich wichtig gewesen. Aber wehe, er vergaß mal was! Dann war das Geschimpfe groß und es wurde von Verantwortung und so gesprochen. Nun, er würde sie beim nächsten Mal an diesen Tag erinnern.
Es setzte sich an den Tisch und bekam seinen Brei zum Abendessen. Heute schmeckte er irgendwie nach Banane. Das stimmte zwar nicht, denn der Brei schmeckte eher nach nichts, aber er bildete sich den Geschmack einfach ein. Er hatte zwar auch keine Ahnung, wie eine Banane schmeckte, denn es gab sie schon lange nicht mehr, aber sein Opa hatte versucht, es ihm zu erklären, als er ihm mal wieder Bilder aus einem Buch gezeigt hatte. Also so versuchte er, sich die einzelnen Geschmäcker vorzustellen und in den Brei zu fantasieren.
Kaum hatte er aufgegessen und einen Schluck Tee getrunken, stand er auf und ging ins Schlafzimmer. Seine Mutti musste wirklich ein schlechtes Gewissen haben, denn Tee war unglaublich kostbar. Und weil für seine Zubereitung Wasser gebraucht wurde, gab es ihn nur selten.
Er zog sich aus und nahm ein Feucht - Tuch aus der Box, welches die doppelte Größe eines A4 – Schreibblattes hatte.
Von oben nach unten wischte er sich damit ab, warf es in den Mülleimer und legte sich in sein Bett.
Tobias und Sean konnten noch sehen, dass wohl auch seine Eltern in diesem Zimmer schliefen.
Die Erinnerung erlosch, und die Zwillinge und Tina brauchten einen Moment, um zu registrieren, dass sie sich in Wirklichkeit auf dem Holo - Deck der > GOL 2 < befanden.
In den nächsten Minuten beantwortete Thomas seinen Söhnen eine ganze Menge Fragen, um sie dann für eine Weile allein zu lassen.
Zusammen mit Tina verließ er das Holo – Deck. Die Jungen würden Bescheid sagen, wenn sie so weit waren.
„So sehr unterscheiden sich unsere Kindheitserlebnisse also. Ich brauchte zum Glück die Wohnung nie zu verlassen, musste aber im Schlafzimmer bleiben. Entsetzlich fand ich, dass deine Eltern echt vergessen hatten, dich zu warnen.“
„Ich glaube, meine Eltern hatten in den letzten Jahren immer mehr den Bezug zum Alltag, und damit auch zu mir, verloren. Es gab im letzten Jahr ihres Lebens sogar Tage, an denen sie einfach vergaßen, für mich das Essen mit zu machen. Ich war so oft außerhalb der Wohnung wegen irgendwelcher Treffen, dass es ihnen wohl gar nicht wirklich auffiel, wenn ich doch durch Zufall da war.“
„Und was hast du gegessen?“
„Ich habe gelernt, mir mein Essen selber zu machen. Klar gab es immer wieder Probleme, weil ich die Flüssigkeitsmenge noch nicht richtig berechnen konnte, aber so konnte ich sogar mal etwas mehr trinken.“ Er grinste schief. „Verstehe mich nicht falsch! Ich bin mir hundert Prozent sicher, dass meine Eltern mich geliebt hatten. Aber sie haben die Probleme der Umwelt gesehen, und die haben sie einfach erdrückt. Vielleicht haben sie auch gedacht, dass sie sich mehr um mich kümmern könnten, wenn sie die Umweltprobleme gelöst hätten, und deshalb ihre Prioritäten zuerst auf diese gelegt. Ich weiß es nicht, und habe sie nie danach gefragt. Aber ich kann es mir sonst nicht erklären.“
„Es tut mir leid, Liebling! Und jetzt verstehe ich auch viele deiner Handlungsweisen gegenüber unseren Kindern.“
„Wie meinst du das?“
„Ganz einfach: Wenn eins deiner Kinder zu dir kam, weil es dir etwas erzählen oder zeigen wollte, ein Problem oder eine Frage hatte, dann hast du meistens alles stehen und liegen lassen und hast zugehört. Selten hast du gesagt: Gib mir noch zehn Minuten! Und das ist noch heute so.“
„Wirklich? Das ist mir nie besonders aufgefallen, sondern ich fand es einfach selbstverständlich. Aber vielleicht hast du Recht, und es liegt wirklich an der Kindheit.“
„Ist ja auch egal! Unsere Kinder lieben dich schon allein wegen dieser Sache über alles.“
„Und ich sie auch ohne diese Tatsache!“ Beide lachten und küssten sich.
„Lass uns wieder reingehen. Tobi meint, es kann weitergehen.“
„Willst du ihnen wirklich das Sterben unserer Eltern zeigen?“
„Liebling, bist du wahnsinnig geworden? Weder das Sterben unserer Eltern noch den Tod von Gerd!Ich werde es in Erzählform erwähnen. Aber sehen werden sie davon kein einziges Bild. Und ich werde auch dafür sorgen, dass sie es in deinen Erinnerungen nicht sehen werden.“
„Danke! Ich hatte mir wirklich Sorgen gemacht. Es ist ja sogar für mich ziemlich belastend, durch deine Erinnerungen zu gehen. Davon, dass es eine Erfahrung ist, die so unglaublich ungewöhnlich ist, ganz abgesehen.“
Die nächsten Erinnerungen, welche die Zwillinge zu sehen bekamen, war die Zeit bis zur Verhaftung ihrer Großeltern und der Gerichtsverhandlung. Also als ihr Vati 8 Jahre alt war. Sie erlebten mit, wie die Geheimpolizei in die Wohnung stürmte. Sie konnten sehen, wie die Schläge auf seine Eltern einprasselten. Sahen, wie er aus seinem Bett gerissen und quer durch das Zimmer geschleudert wurde. Wie sich eine harte Hand in seinem Genick schloss und ihn vor sich her die Treppe runter schob und in einen Gleiter stieß.
Sie sahen, wie er in einen vollkommen leeren Raum gestoßen wurde, in dem lediglich ein kleines Mädchen an der Wand auf dem Boden saß und weinte, und auf der anderen Wandseite ein älterer Junge von vielleicht 12 Jahren. Blut lief aus seiner Nase und ein Auge begann zu zu schwellen. Er verkroch sich in eine Ecke und machte sich so klein wie möglich. Erst nach einer ganzen Weile kam er zu ihnen und sie stellten sich gegenseitig vor.
„Wie heißt ihr?“
„Ich heiße Christine.“
„Und ich Thomas. Aber alle nennen mich Tommy.“
Er setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Und sie umarmte ihn einfach, während nun auch er zu weinen begann.
„Und ich heiße Gerd!“
Wie lange sie in dem Raum ohne Essen und Trinken gewesen waren, konnten sie nicht sagen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, ein Uniformierter kam rein und brachte Christine aus dem Raum.
Nach kurzer Zeit wurde sie wieder rein gestoßen. Sie war blass und zitterte am ganzen Körper. Tommy hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern, denn der Polizist griff nach seinen Arm und zog ihn hinter sich her aus dem Raum. Nach einigen Metern auf dem langen Gang öffnete der Polizist eine Tür und schob Tommy in einen großen Raum. Hier sah er auch endlich seine Eltern wieder, die mit Hand- und Fußfesseln vor einer Barriere aus Holz standen. Allerdings konnten sie sich kaum aufrecht halten, denn sie schienen furchtbar verprügelt geworden zu sein. Er erkannte kaum ihre Gesichter. Aber er sah den Blick ihrer Augen, mit welchen sie ihn um Verzeihung baten und ihm sagten, dass sie ihn lieb hatten. Diese Blicke brannten sich in seinem Hirn ein, und er sah sie in vielen Nächten in seinen Träumen wieder vor sich.
Vorn saß ein gelangweilt aussehender Mann im Alter seiner Eltern. Auf der rechten Seite ein etwas älterer und auf der linken ein wesentlich jüngerer, der ebenfalls vollkommen gelangweilt wirkte.
Der in der Mitte begann zu sprechen: „Jetzt, wo das Kind endlich da ist, können wir wohl beginnen, Herr Staatsanwalt!“
Tommy war neben seinen Eltern gestellt worden und hörte zu, war der Staatsanwalt zu sagen hatte.
„Den hier anwesenden Tobias und Jasmin Krause wird vorgeworfen, sich durch staatsfeindliche Propaganda und konspirative Treffen auf eine Rebellion vorbereitet zu haben. Gleichzeitig wirkten sie durch ihre Handlungen zerstörerisch auf das Denken anderer und insbesondere auf ihr Kind ein. Das Gesetz sieht für diese Handlung nur eine Strafe vor: den Tod. Dank der gründlichen Arbeit der Geheimpolizei gibt es genügend Beweise, so dass kein Zweifel an den Vorwürfen besteht. Ein umfassendes Geständnis ist deshalb nicht erforderlich. Aus diesem Grund beantrage ich für die Angeklagten die Todesstrafe, und für das Kind Thomas Krause entsprechende erzieherische Maßnahmen. Danke!“
„Herr Verteidiger, Sie haben das Wort!“
„Danke! Da die Gesetzeslage eindeutig ist, kann ich lediglich um Gnade für das Kind Thomas Krause bitten, da es ganz offensichtlich nie bei den Treffen anwesend war und auch nirgendwo durch aufrührerische Äußerungen oder Aufsässigkeit aufgefallen ist. Ich möchte deshalb darum bitten, dem Kind erzieherische Maßnahmen zu ersparen und es auf direktem Weg in ein Umerziehungsdorf zu verbringen. Danke!“
Der Mann in der Mitte hatte sich in der Zwischenzeit eine Zigarette angezündet und schien nun nachzudenken. Allerdings begann er nach wenigen Augenblicken wieder zu reden: „Das Gericht verkündet folgendes Urteil: Die Angeklagten Tobias und Jasmin Krause werden wegen Vorbereitung einer Rebellion zum Tod verurteilt. Das Kind Thomas Krause hat bei der Hinrichtung anwesend zu sein und wird anschließend zum Zweck der Umerziehung in ein dafür vorgesehenes Dorf verbracht! Zur Begründung: Die Beweise gegen die Angeklagten liegen vor, und die Beweislast ist erdrückend, somit bedarf es keinerlei Begründung. Bei dem Kind Thomas Krause ist das Gericht dem Antrag des Staatsanwaltes gefolgt, weil nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass es nicht schon von klein auf dazu erzogen wurde, seine wahren Gedanken und Gefühle zu verbergen. Deshalb wird es zum Zwecke der Abschreckung bei der Hinrichtung seiner Eltern anwesend sein. Das Urteil ist innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu vollstrecken!“
Tommy wurde wieder am Arm gegriffen und zurück in den Raum geschoben, aus welchen jetzt Gerd geholt wurde.
Kaum war die Tür wieder zu, rannte Tina auf ihn zu und umarmte ihn.
„Was bedeutet das alles? Ich verstehe es nicht!“
„So richtig verstehe ich es auch nicht. Aber ich glaube, unser Leben wird jetzt ganz anders. Und ganz bestimmt nicht besser.“
„Das glaube ich auch! Aber ich hoffe, wir Beide können zusammen bleiben!“
„Das wäre wirklich schön! Zusammen wird es vielleicht einfacher.“
Wenig später ging die Tür wieder auf und die beiden Kinder wurden zu einem Gleiter gebracht, in welchem Gerd bereits saß. Wenige Augenblicke später wurden auch ihre und die Eltern von Gerd gebracht. Kaum waren sie eingestiegen, hob der Gleiter ab und flog in Richtung der Eingangsschleuse zur Stadt, um sie kurz darauf zu verlassen.
Tommy war noch nie außerhalb der Stadt gewesen und war zutiefst erschrocken über das, was er sah.
Die Landschaft war eine einzige Wüste. Ab und an konnte man die Ruinen einzelner Häuser oder ganzer Dörfer sehen. Aus einem schwefelgelben Himmel drang zwar Licht, aber keine Sonne durch. Ganze Flächen der Erde waren rostrot und nicht eine Pflanze oder ein Tier waren zu sehen.
Sie flogen über einen Fluss, dessen Wasser in allen Farben schimmerte und an den Ufern riesige Schaumteppiche hatte.
Jetzt verstand Tommy, was seine Eltern damit gemeint hatten, als sie gesagt hatten, dass die Menschen die Umwelt zerstört hatten. Das, was er bisher gehört hatte, war für ihn nie wirklich greifbar gewesen. Jetzt bekamen seine Bilder plötzlich reale Farben und Formen, und er wünschte sich, sie nie gesehen zu haben.
***
Plötzlich stoppte der Gleiter, und die Polizisten nahmen den Erwachsenen die Fußfesseln ab und die Luftfilter weg.
An dieser Stelle endete die Erinnerung. Tommy ließ seinen Söhnen ein paar Minuten, musste aber feststellen, dass sowohl er als auch Tina diese Zeit brauchten.
„Vati, was ist passiert?“
„Ich habe euch gesagt, dass ich euch einige Stellen nicht zeigen werde. Genau das ist so eine Stelle. Unsere Eltern wurden aus dem Gleiter gestoßen und sind in der giftigen Luft erstickt. Und Gerd wurde von den Polizisten erschlagen.“
Seine Stimme bebte und er fühlte, wie Tränen über sein Gesicht liefen. Und er sah, dass auch Tina weinte.
Dann fühlte er sich umarmt. Tobias hatte seine Arme um ihn gelegt. Und zwar nicht nur körperlich, sondern auch mental. Obwohl er fühlen konnte, dass sein Sohn ebenfalls ziemlich aufgewühlt war, bekam er doch von diesem tiefe innere Ruhe und Frieden geschickt. Und er sah, dass Sean das gleiche bei seiner Mutti machte. Das gab ihm noch zusätzlich Ruhe.
„Wollen wir an dieser Stelle eine Pause machen?“
„Gern, Vati! Ich glaube, ihr braucht sie auch.“
„Da hast du wirklich Recht, Sean! Auch wenn es die Erinnerungen von Vati sind, gehen sie mir unglaublich nah, denn wir haben nie über sie gesprochen. Warum eigentlich nicht, Liebling?“
„Ich glaube, weil wir Beide Angst vor ihnen hatten. Es ist mit ihnen so wie mit dem, was wir Beide in dem Raum gefühlt haben. Wir wissen, welche Gefühle jeder für sich hatte. Also ich, was ich, und du, was du gefühlt hast. Und wir glauben zu wissen, was wir Beide gefühlt haben. Aber wir haben nie darüber gesprochen. Wir haben auch nie darüber gesprochen, was es für uns bedeutet hat, was Jok und Korin damals für uns gemacht haben. Ich habe immer gedacht, dass es keinen etwas angeht und wir beide genau wissen, was im anderen vor sich ging. Aber stimmt das wirklich? Wenn wir unseren Kindern auch mal gezeigt hätten, dass es uns schlecht geht, und ihnen auch erklärt, warum, hätte mein Zusammenbruch gestern vielleicht sogar vermieden werden können. Gerade Tobi und Sean haben bereits damals auf der Plattform gezeigt, wie gut sie mit solchen Situationen umgehen können. Und ich bin mir ganz sicher, dass es auch unsere anderen Kinder können. Ich jedenfalls werde das in Zukunft ganz sicher berücksichtigen!“
„Du hast Recht! Sie kommen sowieso. Und meistens dann, wenn man sie absolut nicht gebrauchen kann. Bei dir war es einfach nur die Erwähnung des Tages und des mit ihm verbundenen Ereignisses. Und was für katastrophale Auswirkungen diese Erinnerungen hatten, haben wir alle gesehen. Du wärst fast erstickt!“
„Das wäre noch das kleinste Problem gewesen. Weißt du, was vielleicht passiert wäre, wenn diese Erinnerung die an genau diesen Punkt im Gleiter gewesen wäre? Keiner von euch wäre auch nur im Ansatz darauf vorbereitet gewesen, wenn ich, um die Polizisten los zu werden, mental zugestoßen hätte. Als Kind wusste ich nicht, dass ich das kann. Vielleicht war meine Fähigkeit auch noch nicht entwickelt. Keine Ahnung! Aber wenn die Kindheitserinnerung sich irgendwie mit dem Wissen von heute vermischt hätte? Ich will gar nicht darüber nachdenken!“
Tobias wurde blass. „Dann hätten wir wohl nicht so schnell eine Mauer wie damals aufbauen können.“
„Das ganz bestimmt nicht, Tobi. Jedenfalls nicht für alle! Aber sage mal, Vati: Geht es nicht auch, dass wir eine Mauer nur um dich hochziehen, so dass du quasi nicht raus kommst?“
Sean sah ihn an und grinste verlegen. „Das klang jetzt vielleicht blöd. Stimmt´s? Aber ich weiß auch nicht, wie ich es besser ausdrücken kann.“
„Ich weiß auf jeden Fall, was du meinst. Aber ich weiß nicht, ob das überhaupt geht.“ Tommy sah seinen Sohn an.
„Na ja, im Grunde genommen ist es doch auch nur ein Schild. Nur dass es viel, viel stärker ist und von uns für dich gemacht wird, wenn wir merken, dass du deines wie vorhin verlierst. Und das können wir! Und wenn uns die Mädchen zusätzlich Kraft schicken, sind wir sogar noch stärker, und der Schild somit auch! Ich weiß nur nicht, wie das auf dich wirkt. Wenn der Stoß raus kann, trifft er vielleicht dich selber. Und dann?“
„Wie schon gesagt: Ich weiß es nicht! Aber ich werde mit Mykbar darüber reden.“
Tina sah die drei verständnislos an und schüttelte schließlich den Kopf. „Meine Familie denkt über Verteidigungsstrategien nach, um sie vor einem Familienmitglied zu schützen. Bin ich in einem Tollhaus?“
„Nein, Liebling, bist du nicht! Wenn ich zugestoßen hätte, wäre dieser Stoß durch das ganze Schiff gegangen. Ich hätte zwar nur die Polizisten gesehen. Aber wer wären die in der Realität gewesen? Verstehst du jetzt, warum wir diese Überlegungen machen?“ Jetzt wurde Tina blass. „Daran habe ich gar nicht gedacht! Bei den Sternen! Das hätte den Tod aller hier an Bord bedeuten können.“
„Ganz genau! Und ich bin so stolz auf die beiden, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Und nur deshalb, weil sie daran gedacht haben!“
Er nahm die beiden in die Arme und drückte sie an sich. „Wenn ich mit Mykbar gesprochen habe, reden wir weiter.“
„Vielleicht sollten wir das dann alle üben, denn so etwas kann schließlich jedem von uns passieren. Und wir sind viel zu stark, als dass wir so ein Risiko für die anderen eingehen können.“
„Jetzt übertreibst du aber, Sean!“
„Sie übertreiben ganz bestimmt nicht! Die beiden haben bereits jetzt schon rund achtzig Prozent meiner Stärke. Christa siebzig und Jasmin und Sarah rund fünfzig. Das heißt, dass die beiden Kleinen bereits jetzt schon rund vier Mal so stark wie Yso, Mykbar und Tommy zusammen sind. Und zwar jede der beiden!“
Fassungslos blickte sie erst ihn und dann ihre Söhne an. „Und wo endet das?“
„Auf jeden Fall in einem noch besseren Schild für dich und unsere Geschwister, Mutti! Und sonst?
Keine Ahnung! Aber schaden kann es bestimmt nicht.“ Sean grinste verschmitzt und nahm sie in den Arm. „Aber jetzt im Ernst: Es schützt uns. Und es hilft Vati, wenn er mal Kraft braucht. Also ist das auf jeden Fall gut!“
„Ich beschwere mich ja auch nicht!“ Tina lachte. „Ich frage mich nur, woher das kommt.“
„Da musst du schon Vati fragen. Ich glaube, er hat sich immer ganz besonders angestrengt, wenn er uns Kinder gemacht hat.“
Das darauf folgende Gelächter hatte etwas Befreiendes.
„Ich habe Hunger! Und wenn wir gegessen haben, machen wir weiter. Einverstanden, Vati!“
„Eine sehr gute Idee, Tobi. Aber nur, wenn ihr noch in der Lage dazu seid.“
Tina packte den Korb aus, und es wurde kräftig zugelangt.
„Weißt du, Vati, ich habe immer gewusst, dass eure Kindheit sehr schlimm war. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie schlimm! Und schon gar nicht konnte ich mir vorstellen, was du und Mutti in dieser Zeit gefühlt habt. Ich habe einiges gehört gehabt und versucht, mir das so vorzustellen, als würde es mir passieren. Aber ich habe es nicht gekonnt! Ich habe bei deinen Erinnerungen Gefühle gefühlt, die ich noch nie hatte. Die Angst, die du gehabt hast, als du es gerade noch so ins Haus geschafft hast. In dem Alter überlegen zu müssen, ob man in die eigene Wohnung geht oder versucht, noch eine halbe Stunde im Treppenhaus zu bleiben, wo die Luft giftig wird. Ich kann mir so etwas kaum vorstellen! Das, was dieser Mann als Gerichtsverhandlung bezeichnet hat. Die Festnahme von Oma und Opa und die Behandlung von euch. Ich bin so froh, dass ich auf der Neuen Erde lebe und ihr Erwachsenen dafür sorgt, dass wir Kinder so etwas nie zu erleben oder fühlen brauchen! Wenn ich mir überlege, dass ich Angst hatte, als das schlimme Gewitter war, könnte ich jetzt über mich selber lachen, wenn ich mich nicht so schämen müsste deswegen.“
Sean stand auf und umarmte seine Eltern. „Danke, dass ihr Erwachsenen euch so um uns Kinder sorgt und kümmert! Ich verspreche euch, dass ich später, wenn ich erwachsen bin, genau wie ihr handeln werde!“
„Und ich auch!“, schloss sich ihm Tobias an.
„Schon wieder so ein Gesindel! Wann kommt unsere Regierung endlich auf den Gedanken, dass dieses Pack nur überflüssige Atmer sind?“
„Keine Ahnung! Wir tun nur unsere Pflicht und liefern sie ab, was hiermit geschehen ist. Allerdings hatten wir unterwegs einen Verlust. Der Balg hatte wohl den Verstand verloren, und sein Geschrei wollten wir weder uns noch Ihnen antun.“
„Kein Problem! Wenn ihr die auch entsorgt hättet, hätte ich in Ruhe mein Abendessen zu mir nehmen können. Aber gut, nun sind sie eben hier!“
Der Mann, der die beiden Kinder in Empfang genommen hatte, unterschrieb irgend ein Papier, und die Polizisten flogen ab.