Ein Tag, eine Nacht - Jennifer Kitses - E-Book
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Jennifer Kitses

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Beschreibung

»Man hört förmlich das Ticken der Zeitbombe.« Hot Summer Reads, New York Post Schwarzer Freitag für Helen und Tom: Binnen vierundzwanzig Stunden gerät das Fundament, auf das die beiden ihr Familienleben mit zwei quirligen Zwillingsmädchen gestellt haben, gefährlich ins Wanken. Nicht nur Schulden, Schlafmangel und Zeitnot fordern die beiden. Tom trägt zudem ein Geheimnis mit sich herum. Mit seiner früheren Chefin Donna hat er ein weiteres Kind. Als Donna einen Neuanfang in Europa wagen möchte, spitzen sich die Ereignisse Stunde um Stunde zu und Tom steht vor der schwersten Entscheidung seines Lebens: Soll er seine Tochter aufgeben oder Helen von ihr erzählen und damit vielleicht alles verlieren, was ihm wichtig ist?

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Jennifer Kitses

Ein Tag, eine Nacht

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für John

1

Tom, 6.20 Uhr

Sie wollten auf den Spielplatz. Nein, erklärte Tom ihnen, dafür sei es viel zu früh, und außerdem wolle er ihnen etwas Schönes zeigen. Etwas, das sie noch nie gesehen hätten.

Sie standen auf der Veranda. Seine Töchter blickten ihn skeptisch an.

Sophie war seit fünf Uhr auf den Beinen. Sie hatte ihn auf der Couch entdeckt, er hatte die ganze Nacht auf den Fernseher gestarrt, bis er schließlich – gefühlt vor gerade mal einigen Sekunden – eingedöst war. Tom war mit einem Ruck wach geworden und hatte die Augen geöffnet, als ihre weiche, schwitzige Hand in seinem Gesicht gelandet war.

»Daddy«, hatte sie gesagt. »Aufwachen und spielen.«

Dann kam Ilona die Treppe heruntergelaufen, wollte Malpapier und kippte einen Korb mit Buntstiften aus. Die Mädchen waren drei Jahre alt und schon die ganze Woche vor Tagesanbruch aufgewacht. Heute, beschloss Tom, würde er das Beste draus machen. Helen sollte sich mal erholen von ihren Abendschichten und Deadlines. Er würde seinen Töchtern ein kleines Abenteuer bieten. Also machte er rasch Frühstück, zog die Mädchen an und ging in die Hocke, um vier Füßchen in Miniatursneaker zu schieben. Dann packte er die Mädchen extra warm ein für den Fall, dass vom Wasser eine frische Brise herüberwehte. Ehe er sie aus der Tür bugsierte, legte er einen Zettel auf den Küchentisch: Bin mit den Mädchen draußen! Sind bald zurück!

Und weg waren sie. Bei Karl und Jackie nebenan brannte lila Licht im Keller, wahrscheinlich hörte Jackies Sohn Nick wieder vollgekifft Musik. (Der Glückspilz.) In der Auffahrt, die von einer Außenleuchte erhellt wurde, stand der alte Chevy Nova von Nicks Freundin. Auf dem Beifahrersitz lag eine zerknüllte Fast-Food-Tüte, auf dem Armaturenbrett eine Packung Zigaretten.

Tom hatte auch mal einen Nova gehabt, Baujahr 73. Er hatte den Wagen geliebt.

Ewigkeiten her, klar. Er entriegelte den Ford Taurus Kombi, den er gebraucht gekauft hatte, als sie hierhergezogen waren. Die Mädchen kletterten auf die Rückbank. Mit seinem strahlendsten Begeisterungslächeln schnallte er sie in ihren Kindersitzen an.

»Kann’s losgehen?«, fragte er. »Wir müssen uns beeilen! Wir wollen doch nichts verpassen!«

Seine Töchter schwiegen und starrten nach draußen in den dunklen Himmel.

 

Die Zeit würde gerade so reichen, um zum Flüsschen zu kommen, ehe sie auch schon wieder umkehren müssten, damit Tom die Mädchen zu Hause absetzen und den Zug um 7.13 Uhr in die Stadt erwischen konnte. Punkt neun musste er in der Redaktion sein.

Aber damit wollte er sich jetzt nicht belasten. Er war froh, dass er sich dazu aufgerafft hatte, etwas mit den Mädchen zu unternehmen. Als Helen und er von New York nach Devon gezogen waren, hatten sie von der Möglichkeit geschwärmt, solche spontanen Ausflüge zu machen. Aber die wurden regelmäßig vertagt, und die Stunden rauschten an ihnen vorüber. Heute nicht. Heute würde er all den tickenden Uhren ein wenig Freiheit abluchsen. Ehe er sich in den Zug setzte – sich mit den Sorgen befasste, die ihn spätabends beschlichen, und sie im Kopf wälzte, bis er zu erschöpft war, um nach oben ins Schlafzimmer zu gehen –, würde er diese Zeit mit seinen Töchtern genießen.

Als er losfuhr, plapperten Sophie und Ilona aufgeregt, sie merkten endlich, wie ungewöhnlich es war, so früh schon unterwegs zu sein. In der Ferne waren die Autoscheinwerfer der Pendler auf dem Weg zum Bahnhof zu sehen. Nach dem morgendlichen Andrang würde die Straße nahezu verwaist sein.

Als er die Crescent Street entlangkurvte, spähte er aus Gewohnheit in den Garten einer weitläufigen alten Villa. Die frühere Eigentümerin, eine Filmemacherin, die unbedingt zurück nach Brooklyn wollte, hatte verzweifelt einen Käufer gesucht, bis sie das Haus schließlich im Mai »mit einem Riesenverlust« verkauft hatte. Vier Monate später waren die neuen Besitzer, ein Ehepaar, noch immer nicht eingezogen, und es wurde gemunkelt, dass sie ihre Meinung geändert hatten. Nach dem heißen Sommer mit reichlich Regen war der einst gepflegte Garten zugewuchert und voller Unkraut. Einige Nachbarn fanden das schade, aber Tom konnte sich begeistern für die vier Meter hohen Sonnenblumen mit ihren schwankenden Blütenköpfen und die Rosenbüsche, die inzwischen so groß waren wie kleine Bäume.

Im Chaos des Umzugs war die kleine weiße Hündin der Filmemacherin weggelaufen. Sie hieß Cotton Ball, und Tom hatte angeboten, nach ihr Ausschau zu halten. Selbst nach so vielen Monaten weigerte er sich zu glauben, dass es aussichtslos war.

Ilona kreischte auf. Eine streunende Katze war aus dem hohen Gras aufgetaucht.

»Daddy!«, rief sie. »Die Katze hat vier Beine!«

Sie hatte bestimmt schon andere vierbeinige Katzen gesehen, aber jetzt war ihr zum ersten Mal der Unterschied zu ihrer eigenen aufgefallen, die Pussyface hieß und ihnen von einem Tierarzt in Queens vermittelt worden war.

»Das ist ganz normal«, sagte Tom. »Die meisten Katzen haben vier Beine.« Pussyface hatte auch vier gehabt, bis sie einige Tage nach dem Einzug aus dem Badezimmerfenster gefallen war. An dem Wochenende hatte Helen sämtliche Fliegengitter ausgetauscht, selbst diejenigen, die nicht alt und verzogen waren.

Die Straße zum Fluss war gesäumt von Bungalows und schlichten zweigeschossigen Häusern, bis sie in die Main Street überging, wo sich über eine Strecke von einer Meile Ladenfassaden aus dem neunzehnten Jahrhundert aneinanderreihten. Anfangs hatte sich Toms Begeisterung für Devon in Grenzen gehalten. Helen hingegen war in nostalgischer Erinnerung an die Alleen und ruhigen Straßen ihres Heimatortes in der Nähe von Boston Feuer und Flamme gewesen. Im Westen der Fluss, im Osten das Flüsschen. »Man kann die Berge sehen«, hatte sie gesagt. Und obwohl einigen Teilen des Ortes etwas Marodes, Postindustrielles anhaftete, hatte sie ihn angeregt, die Schönheit der alten Bauten wahrzunehmen, zum Beispiel die des eleganten, aber verfallenen gelben Backsteingebäudes, an dem sie gerade vorbeikamen.

Er hielt an einer Ampel. Von der Rückbank ertönte aufgeregtes Gekreische. Auf der anderen Seite der Main Street, zwischen einer Tankstelle und der Key-Food-Filiale, umschloss ein Maschendrahtzaun einen kleinen, halb fertigen Spielplatz.

»Da!« Ilona drehte sich in ihrem Sitz, um einen besseren Blick zu haben. »Auf den Spielplatz!«

Sophie war sich da anscheinend nicht so sicher. »Gehen wir spielen?«

Sie waren mit den Mädchen noch nie auf diesem Spielplatz gewesen. Helen bevorzugte den hinter der Mittelschule, wo es Bäume und Sprinkler gab. Doch wohin sie mit den Mädchen auch gingen, sie fühlten sich oft wie Exoten, obwohl sie schon zwei Jahre hier lebten. Er war zweiundvierzig, und Helen hatte gerade ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert. Anders als in Queens, wo sie vorher gewohnt hatten, sah er in Devon nur selten Männer mittleren Alters mit Babytrage vor dem Bauch oder ältere Mütter, die hinter Kleinkindern herliefen und Namen riefen wie Caspar und Django, Theo und Cleo, Eero und Oona und Esmé. Hier in Devon hörte man noch die Namen aus Toms Kindheit. In der Kita seiner Töchter gab es einen Mike, einen Dave und zwei Jessicas. Er hatte sogar schon einen kleinen Tom und eine kleine Helen kennengelernt.

Ilona versetzte der Rückenlehne seines Sitzes einen leichten Tritt.

»Spielplatz, los!«

Er sah sich den Spielplatz näher an: nicht mehr als eine kleine eingezäunte Fläche mit einem Klettergerüst und zwei Bänken, dazwischen ein hagerer Baum. Eigentlich nicht übel, aber der Ort wirkte so verlassen, dass es schwer war, sich dort spielende Kinder vorzustellen.

Eine Frau kam aus der Tankstelle. Sie fing an, den Bürgersteig zu fegen, obwohl der Wind gegen sie arbeitete. Ihr Besen kratzte leise über den Asphalt. Um diese Uhrzeit, auf diesem dunklen Abschnitt der Main Street, waren keine anderen Geräusche zu vernehmen.

 

Selbst an einem Nachmittag mitten in der Woche konnte es vorkommen, dass man eine Straße entlangging und nur seine eigenen Schritte hörte. Helen erzählte ihm, dass sie manchmal den ganzen Tag über dieselben Gesichter sah, in der Bäckerei, auf dem Markt, in der Kita. Sie fand es nicht schlimm. Aber Tom, der in einem Arbeiterviertel in Philadelphia aufgewachsen war, hatte nichts auf Straßen vorbereitet, die so quälend still waren, dass er stets angespannt darauf wartete, ein schlurfender Fußgänger oder quietschende Reifen würde die Stille durchbrechen.

Vor zwei Jahren hatten sie gejubelt vor Glück. Devon war ein Ort mit Potenzial, wo sie sich ein Haus leisten konnten. »Das hätte uns stutzig machen müssen«, sagte Helen später. Im Hudson Valley gelegen, allerdings weiter weg von New York, als die meisten Leute zu pendeln bereit waren – neunzig Minuten bis zum Grand Central. Eine ehemalige Industriestadt, jetzt Speckgürtel, so ihr Makler. Es gab Pläne für die leer stehenden Lagerhäuser. Manch ein Gebäude war bloß noch ein Backsteingerippe mit kaputten Fensterscheiben und ohne Dach, Bäumchen lugten heraus. Aber die Bauunternehmer hatten etwas mit ihnen vor.

Als sie zum ersten Mal hierhergefahren waren, hatte er im Antiquariat gestöbert; Helen war durch die kleine Straße mit Kunstgalerien geschlendert. Es gab einen Pub, eine schicke Bar und ein vegetarisches Restaurant. Selbst die Läden, die maßgeschneiderte Jeans und selbst gemachte Fenchelprodukte verkauften, hatten ihnen als gutes Omen gegolten. »Hier gibt’s Sachen zu kaufen«, hatte Helen gewitzelt. »Das lockt Leute an!« Viele dieser Geschäfte waren inzwischen verschwunden. »Aber uns bleibt immer noch der Pub«, sagte Tom oft zu Helen und grinste.

Meistens konnte er daran glauben, dass ihr Einsatz sich lohnen würde, dass Helen und er keinen Riesenfehler gemacht hatten. Er hoffte, dass er sich nicht täuschte, weil sie sich nicht leisten konnten, wieder wegzuziehen. Jedenfalls nicht gleich. Sie hatten sich für die Anzahlung finanziell übernommen und zu einem Zeitpunkt gekauft, als der Immobilienmarkt boomte, kurz bevor die Preise in den Keller gingen. Und dann verlor er seinen Job und suchte monatelang verzweifelt einen neuen. Selbst jetzt konnten sie sich keinen unbedachten Schritt erlauben, obwohl er bei einer Nachrichtenagentur angeheuert hatte und Helen für ihren ehemaligen Chef von zu Hause aus arbeitete. Eine unerwartete Rechnung oder ein einziges fehlendes Monatsgehalt würde sie ins Schleudern bringen.

Helen machte sich Vorwürfe, das wusste er. Sie war diejenige gewesen, die sich in das Haus und in den Ort verguckt hatte. Aber mit ihrem Gerede – wie Devon schon in wenigen Jahren aussehen würde, wenn es weiter bergauf ging, wie jeder ihnen gern erzählte – hatte sie ihn schließlich angesteckt.

Wenigstens das war er ihr schuldig gewesen. Und deshalb beruhigte er sie: »Wir hatten große Pläne und schlechtes Timing. Mehr nicht.«

 

Eine Hupe gellte. Zweimal kurz, gefolgt von einem wütenden lang gezogenen Hupton, der Tom in seinem Sitz zusammenzucken ließ.

»Fahr, Daddy!«, riefen die Mädchen. »Fahr!«

Wieder ertönte die Hupe hinter ihm. Er blinzelte die grüne Ampel an.

»Daddy!«

Er fuhr an. Nachdem er einem auf der Straße vergessenen Mülleimer ausgewichen war, warf er einen Blick in den Rückspiegel auf die Fahrerin hinter ihm: eine Blondine mit einem kantigen Kinn und drei Kindern, die auf der Rückbank rangelten. An der nächsten Ampel hielt sie neben ihm und funkelte ihn böse an, ehe sie Richtung Commercial Street davonbrauste.

Tom rieb sich die Augen.

»Daddy schläft«, sagte Sophie.

»Nein, Schätzchen. Ich bin wach.« Er lächelte ihr über die Schulter zu. »Wir sind gleich da.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, jetzt konzentriert und entschlossen, es für die Dauer ihres frühmorgendlichen Ausflugs auch zu bleiben.

 

In letzter Zeit war das zum Problem geworden.

Genau genommen nicht erst in letzter Zeit – eigentlich schon seit der Geburt der Mädchen. Und allmählich fiel es anderen auf. Gerade noch war er voll und ganz bei der Sache, erledigte seine Aufgaben mit klarem Kopf, zu Hause oder im Büro, und im nächsten Moment wurde er von den belanglosesten Dingen abgelenkt. Das konnte alles Mögliche sein: ein alter Mann, der ein Rubbellos frei schabte. Ein Fahrgast im Zug, der leise und schief vor sich hin pfiff. Eine Frau, die gegen den Wind fegte.

Ehe er sich’s versah, war er mit den Gedanken woanders. Hypnotisiert. Weggedriftet. Nichts, keines seiner Probleme – nicht einmal seine Misserfolge – konnte ihn erreichen.

Es dauerte nie lange, bis schlagartig alles wieder auf ihn einstürzte. Und dann merkte er, dass er eigentlich nicht wegdriftete. Er sank. Doch für diese paar Augenblicke war er außerhalb der Zeit, außerhalb von sich selbst. So hatte er sich seit vielen Jahren nicht mehr gefühlt. Zuletzt als Kind vielleicht.

Und wie ein Kind verlor er Sachen. Den Zwanzig-Dollar-Schein, den Helens Mutter ihm bei ihrem letzten Besuch zugesteckt hatte, um davon Malpapier für die Mädchen zu kaufen. Seine Kreditkarte. Seinen Ehering. (Er hatte es Helen nicht erzählt, und sie hatte es noch nicht bemerkt.) Und dann waren da noch die kleinen Versehen. Wie der Strafzettel, den er Anfang der Woche bekommen hatte, weil er zu nah an einem Hydranten geparkt hatte. Den Strafzettel hatte er später auf dem Nachhauseweg verloren.

Er machte also Fehler, die er sich nicht leisten konnte. Wenn er in den letzten paar Jahren überhaupt irgendetwas gelernt hatte, dann, dass der kleinste Ausrutscher alles vermasseln konnte. Doch je mehr er versuchte, sich zu konzentrieren, desto mehr sehnte er sich danach, wegzudriften.

Wie gestern Abend, als er eigentlich die Kaffeemaschine für den nächsten Morgen hätte vorbereiten sollen, doch stattdessen aus dem Fenster in die Nachbargärten geschaut hatte. Butch, der zwei Häuser weiter wohnte, kam eben aus seiner Garage. Er verbrachte die meiste Zeit darin, wenn er nicht gerade in seinem penibel gepflegten Garten arbeitete.

Butch, in Achselhemd und Basketball-Shorts, blickte mit finsterer Miene zum Himmel. Doch irgendetwas an der Haltung seiner Schultern, dem fast stolzen Ausdruck in seinem Gesicht ließ Tom vermuten, dass es ein guter Tag gewesen war. Dass Butch etwas hinbekommen hatte, was immer das auch sein mochte.

Jedenfalls wollte Tom das glauben. Er drückte ihm die Daumen, seinem unterschwellig feindseligen, nahezu unhöflichen Nachbarn.

»Alles in Ordnung?«, fragte Helen. »Was beobachtest du da?«

Er hatte nicht gemerkt, dass sie in die Küche gekommen war. Es musste so ausgesehen haben, als würde er sein Spiegelbild in der Fensterscheibe anstarren.

»Nichts«, sagte er. »Mir geht’s gut. Vielleicht brauch ich ein bisschen mehr Schlaf. Aber mir geht’s gut.«

 

Ein Stück weiter die Main Street hinunter kamen sie an Minimärkten, einem Esoterik-Shop und einem ehemaligen Lagerhaus vorbei, das in kleine Verkaufsflächen unterteilt worden war, mit Schildern für Weinbars und Designerklamottenläden, die erst noch einziehen mussten. Bislang waren nur zwei Ladenlokale vermietet: an ein Geschäft für Tierbedarf und einen Waschsalon, die beide In Kürze! eröffnen würden.

Hinter den letzten Gebäuden lag der alte Bahnhof, der schon seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt wurde. Tom hielt an. Einen Gehweg gab es hier nicht, bloß einen Grasstreifen am Straßenrand. Nur wenige Meter weiter, hinter den verrosteten Gleisen, führte der mit Büschen und Bäumen bestandene Hang hinunter zum Ufer.

»Da wären wir«, sagte Tom. Er konnte das Wasser rauschen hören. »Und gerade noch rechtzeitig.«

Er stieg aus und befreite die Mädchen aus ihren Kindersitzen, wollte unbedingt noch vor Sonnenaufgang mit ihnen am Wasser sein. Aber Sophie bückte sich, um die Hände auf eine Schiene zu pressen. Ilona stapfte in das Unkraut zwischen den Schienen und hatte sich im Nu die Schuhe verdreckt. Während Tom auf die beiden wartete, stellte er verblüfft fest, wie grün alles war, selbst so spät im Jahr – die Ranken und das Gras und sogar das Wasser. Obwohl morgen Herbstanfang war, hatte das Laub sich noch kein bisschen verfärbt. Die Luft war mild und feucht. Etwa sechs Meter von ihnen entfernt stürzte das Wasser jäh und tosend über die Felsen.

»Das ist ein Wasserfall«, sagte Tom. »So etwas habt ihr noch nie gesehen. Wollt ihr mal näher ran?«

Als Helen und er nach Devon gekommen waren, um den Hauskauf perfekt zu machen, waren sie die drei maroden Stufen hinabgestiegen und hatten sich auf die Betonplattform am Rande des Wasserfalls gesetzt, umgeben von dem vielen Grün. Sie hatten die Lagerhäuser, die mit Graffiti beschmierte Fassade der Gießerei auf dem gegenüberliegenden Ufer und den Gipfel des Mount Cavan in der Ferne betrachtet. In letzter Zeit kam Helen öfter allein hierher. Am Wochenende verbrachte sie manchmal einen ganzen Nachmittag damit, zwischen den leeren Gebäuden herumzustreifen. Machte Fotos, malte Aquarelle. »Keine Bange«, sagte sie zu ihm. »Ich mach schon nichts Verrücktes.«

Sie waren seitdem nie wieder gemeinsam oder mit den Mädchen am Flüsschen gewesen. Doch falls Sophie und Ilona fanden, dass das hier etwas Besonderes war, ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Erste Lichtstrahlen fielen aufs Wasser, färbten die glatte Oberfläche vor dem Wasserfall in ein tiefes Flaschengrün.

»Guckt mal, der Himmel«, sagte Tom. »Seht ihr, wie rosa und gelb der ist? Das ist der Sonnenaufgang.«

Er hatte sich den ganzen Sommer über vorgestellt, das zu machen – mit seinen Töchtern hierherzufahren, um zuzusehen, wie die Sonne über dem Wasser aufging. Als er sie näher an den Wasserfall führte, zeigte er auf die lila und gelben Wildblumen und den mit winzigen lindgrünen Blättern bedeckten seichten Tümpel am Ufer. Aber sie wollten bloß stehen bleiben und Unkraut ausrupfen. Er suchte sich eine ebene Grasfläche und fegte Steine und Zweige beiseite, damit die Mädchen sich rechts und links von ihm hinsetzen konnten. Er streckte sich, seine Gelenke knackten, während sie in der perfekten Haltung kleiner Kinder dasaßen. Sophie hatte seine blauen Augen und das rotblonde Haar; Ilona war zart und geschmeidig, mit dunklen Augen und Haaren, wie ihre Mutter. Sie blickten auf die Ziegelmauern und Schieferplatten, die beide Ufer säumten. Sie könnten da runtergehen, wenn sie wollten, sich einen Weg durch das nasse Schilf und die Schlammpfützen zu den Felsen am Ufer bahnen.

Und wäre er allein gewesen, hätte er das vielleicht auch gemacht.

Der Himmel wurde heller. Während sich das Grün des Wassers golden färbte, rief Tom sich ins Gedächtnis, wie viel Glück er hatte, und er sagte sich, dass es schon werden würde. Er malte sich aus, wie es sein würde, wenn sein Leben ein wenig einfacher wäre, wenn er nicht mehr das Gefühl hätte, in so viele Richtungen gleichzeitig gezerrt zu werden. Er musste nur noch herausfinden, wie sich das bewerkstelligen ließe.

Sein Handy summte. Sophie und Ilona kletterten auf seinen Schoß, wollten mit Mommy reden.

»Ist nur eine SMS.« Er griff in seine Tasche. »Kein Anruf.«

Sie ließen sich wieder ins Gras fallen, enttäuscht. Mit ihren drei Jahren kannten sie schon den Unterschied.

Kommst du in der Mittagspause kurz vorbei? Wichtig.

Seine Töchter beobachteten ihn. Bis das Handy wieder verschwand, würden sie sich für nichts anderes interessieren.

Klar, simste er zurück. Einen Moment später fügte er hinzu: Alles OK?

Alles bestens.

»Was sagt Mommy?«, fragte Sophie.

»Nicht Mommy.« Er legte ihr eine Hand auf den Rücken, »Bloß die Arbeit.«

Tom löschte die Nachricht. Die Mädchen starrten ihn an, beiden stand die Neugierde ins Gesicht geschrieben. Er spürte, wie sein Puls sich unter ihren Blicken beschleunigte. Er musste sie ablenken.

»Guckt mal da.« Er zeigte dahin, wo das Flüsschen unter der East Street hindurchströmte. »Die Brücke führt übers Wasser.«

»Brücke gucken!«

Eigentlich wurde es allmählich Zeit für die Rückfahrt. Aber erst jetzt schienen seine Töchter sich zu freuen, dass sie hier waren. Tom wollte unbedingt, dass sie diesen Ausflug in guter Erinnerung behielten.

»Na schön.« Er stemmte sich hoch. Sie würden sich beeilen müssen. »Wir gehen ganz kurz gucken. Gebt mir die Hand.«

Er lotste sie zurück über die Gleise und dann den Grasstreifen entlang zur Brücke. Von oben sahen sie zu, wie das Wasser über die Felsen strudelte. Sie gingen auf die andere Seite und blickten nach Süden, wo das Flüsschen zwischen baumbestandenen Ufern hindurchrauschte und zu den alten Fabriken hin breiter wurde.

Jetzt begannen Sophie und Ilona zu ziehen, wollten näher ans Geländer. Ilona, die zu jähen Bewegungen neigte, versuchte mit ganzer Kraft, sich loszureißen.

»Wir müssen nach Hause«, sagte er mit wachsender Unruhe.

Prompt drehte Sophie sich um und zerrte ihn Richtung Auto. Ilona jedoch leistete Widerstand, hechtete regelrecht an das Geländer, und Tom stockte der Atem. Sie schaffte es, sich zwischen zwei Querstangen zu bugsieren, hing mit Kopf und Schultern über dem Wasser. Tom hielt sie fest und zog sie wieder neben sich, sein Herz raste.

Ilona ließ keine Gelegenheit aus, sich Gefahren auszusetzen, und das machte ihm Angst. Ähnliches hatte er in letzter Zeit auch an Helen beobachtet, man denke an ihre einsamen Malausflüge in verlassene Gegenden. Im Sommer hatte sie außerdem angefangen, abends joggen zu gehen, und das von Mal zu Mal ein wenig später. Anders als er las sie die Verbrechensmeldungen in der Lokalzeitung nicht. »Ich laufe nun mal gern nach Sonnenuntergang«, sagte sie. »Mir passiert schon nichts.« Sie war schon immer relativ furchtlos gewesen, aber jetzt schien sie geradezu immun gegen Angst zu sein. Mitunter fragte er sich, ob sie ihre eigenen Grenzen austestete oder seine.

Tom führte seine Kinder die East Street entlang zurück zum Auto, als Ilona stehen blieb.

»Pipi!«, sagte sie.

Ehe Tom ihre Hand fester packen konnte, hüpfte sie davon und lief durch ein offenes Tor auf ein leeres Grundstück hinter einem Lagerhaus. Sie blieb auf einer Schotterfläche stehen, die als Parkplatz diente, und zappelte hin und her, schob ihre Hose runter auf die Knöchel.

Zum Glück war niemand zu sehen. Hinter dem Schotterplatz war das Grundstück mit Unkraut und Sträuchern überwuchert. Tom hastete mit Sophie im Schlepptau hinter ihr her.

»Okay«, sagte er. Aufhalten konnte er sie nicht mehr. »Aber mach schnell.«

Er sah auf die Uhr. Wenn das noch länger dauerte, würde er den Zug verpassen. Im Lagerhaus ging Licht an. Auf der anderen Seite des Grundstücks stand eine baufällige alte Hütte, die jeden Moment zusammenbrechen konnte. In der Nähe bemerkte Tom einen Haufen Altmetall und Gerümpel, einen wackeligen Stapel kaputter Stühle, eine alte Plastikwanne und etwas, das aussah wie ein Dreirad. Wieso war er mit den Mädchen hierhergekommen? Fast hätte er über sich selbst gelacht, weil er seine Töchter an diesen Ort gebracht hatte, aber er war zu beschäftigt damit, die Sekunden zu zählen, bis Ilona die Hose wieder hochzog, und zu bemüht, sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen.

Während er wieder einen Blick auf sein Handy warf, flitzte Sophie auf und davon. Sie wollte zu den Glasscherben – es sah aus, als hätte jemand einen großen Spiegel zertrümmert –, die nicht weit entfernt auf dem Schotter herumlagen. So laut, dass er seine Stimme kaum als die seine erkannte, schrie Tom:

»Nein! Nicht anfassen!«

Er holte sie ein und packte sie am Arm. Sophie brach in Tränen aus und wirbelte zu ihm herum. Hatte sie je schon mal Angst vor ihm gehabt? Aber darüber konnte er nicht weiter nachdenken, denn jetzt hatte Ilona den Haufen Gerümpel entdeckt. Zwischen zersplittertem Holz und schartigem Metall lag ein alter Puppenwagen. Sie lief darauf zu.

Sophie mit sich zerrend rannte er hinter Ilona her. Sein Handy summte erneut. Der Zug!, dachte er. Ich werde den Zug verpassen. Inzwischen flossen Tränen: ängstliche bei Sophie, heiße und wütende bei Ilona, während er sie von dem Puppenwagen wegbugsierte. Tom blickte auf. Ein Mann in Arbeitsschuhen und einer eingestaubten Jeans war draußen vor dem Tor stehen geblieben und beobachtete ihn. Beobachtete, wie Tom versuchte, seine weinenden Töchter auf einem Grundstück hinter einem Lagerhaus unter Kontrolle zu bringen. Mit einem strengen, abschätzigen Blick, der verriet, dass er Tom als den erkannte, der er war – ein Eindringling aus der Stadt, der seine eigenen Kinder nicht im Griff hatte –, schüttelte der Mann den Kopf und ging weiter.

Tom brachte seine Töchter zum Wagen. Falls sie irgendetwas von diesem Morgen in Erinnerung behalten würden, so wurde ihm klar, dann nicht den Sonnenaufgang oder den Wasserfall. Sondern diese Augenblicke: dass er ihnen Angst gemacht hatte, dass sie geweint hatten, während er sie zur Straße schleifte. Und obwohl er sich einredete, dass es eine Bagatelle war, dass er noch viele Gelegenheiten haben würde, das wiedergutzumachen, wurde ihm schwer ums Herz.

Sophies Tränenfluss nahm kein Ende. Ilona gelang es, zwischen wütenden Schluchzern ein paar Worte hervorzustoßen.

»Will nicht hier sein!«, heulte sie. »Will nach Hause!«

Er sank eigentlich schon seit Jahren. Und irgendwann würde er untergehen.

2

Helen, 8.30 Uhr

Jab, Hook, Kick.

Das war der beste Moment beim Training, wenn ihre Muskeln schon zwickten, aber noch nicht brannten, wenn ein Energiestrom durch sie hindurchströmte – förmlich aus ihr heraus –, sobald ihre Fäuste und Füße mit dem schweren Sandsack in Kontakt kamen. Helen atmete schwer, aber nicht wegen der Woge aus Schweiß und Desinfektionsmittel, die ihr jedes Mal beim Betreten von Joes Fitnessstudio entgegenschlug.

Side Kick. Knie in den Schritt.

Weiter hinten in der Halle trainierte Joe die echten Kämpfer: den jungen Mann mit Cornrows, den älteren voller Tattoos und die junge Südasiatin mit den muskelbepackten Schultern, die ihr Haar an den Seiten kurz geschoren trug und den Rest zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammenband. Wie sie hießen oder was sie machten, wenn sie nicht trainierten, wusste Helen nicht. Außerhalb des Fitnessstudios hatte sie nur die junge Frau ein einziges Mal gesehen – im Key Food, da hatte sie in ihr Handy gesprochen, mit einer sanften, hauchigen Stimme, die klang wie aus irgendeinem früheren Leben übrig geblieben. Helen hatte sich in den Obst- und Gemüsegang geflüchtet, ehe sie von ihr gesehen werden konnte.

Sie trainierte einen Bewegungsablauf, den Joe ihr letzte Woche beigebracht hatte – Kopf des Angreifers nach unten reißen, dann das Knie zum Kick heben –, bis ihre Arme brannten und die Knie wehtaten. Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und wiederholte die Übung.

Letzten Winter hatte sie in der Main Street ein Plakat entdeckt: INTENSIVES CARDIO-TRAINING, 5.30 UHR, TURNHALLE ROOSEVELT-HIGHSCHOOL. Am nächsten Morgen quälte sie sich aus dem Bett. »Wer weiß?«, sagte sie zu Tom. »Vielleicht lerne ich ein paar Leute kennen.« In der Schule dann musste sie feststellen, dass in dem Kurs Leute waren, die sie – zumindest vom Sehen – bereits kannte: vom Spielplatz, aus der Kita oder der Bio-Bäckerei, wo alle ihren Kaffee zum Mitnehmen holten. Da war zum Beispiel die Mutter mit den stubenreinen Hühnern, die ihre Eier auf der Couch oder im Wäschekorb legten. Oder der Mann, der mit seiner zweijährigen Tochter nur Französisch und mit allen anderen in einem europäisch klingenden Akzent sprach, obwohl er, wie sich herausstellte, in Michigan geboren und aufgewachsen war. Und dann waren da noch die jungen Hörfunkjournalisten, die jeden Tag eine weite Strecke mit dem Auto zu ihrem Sender auf sich nahmen und ihr mehr als einmal als das »Radio-Power-Paar« der Stadt vorgestellt worden waren.

Eigentlich hatte Helen nichts gegen diese Leute; das Radio-Paar mochte sie sogar. Aber sie alle und noch etliche andere brachten gern ihre Kinder mit zu dem Kurs, trotz der frühen Morgenstunde. Die Babys schliefen in den Babyschalen, aber die älteren Kinder tobten in der Turnhalle herum, bis sie kurz vor einem Kollaps standen. Während der Bodengymnastik musste sie sich vor dem Vierjährigen hüten, der mit Vorliebe seinem Vater die Gewichte klaute und sie neben den Matten anderer Leute fallen ließ. Sie verbrachte fast den ganzen Tag mit ihren eigenen Kindern. Sie brauchte Zeit für sich selbst – Zeit, in der sie sich auspowern konnte.

Nach ein paar Wochen sagte sie Joe, sie würde aufhören. »Ich bin immer gern gejoggt«, sagte sie. »Vielleicht bin ich nicht so der Typ für Gruppenkurse.« Er hatte sie nachdenklich angesehen und ihr dann die Adresse seines Fitnessstudios gegeben.

Jetzt ging sie, so oft sie konnte, nachdem sie die Mädchen zur Kita gebracht hatte, zu seinem Studio, einer Halle, die über eine Außentreppe hinter einem Laden in der Main Street zu erreichen war. In dem Gruppenkurs hatte Joe Herzlichkeit ausgestrahlt, verbunden mit einem Optimismus, der gut gemeint war, aber aufgesetzt wirkte. In seinem Fitnessstudio war er wie ausgewechselt. Er ging ruhig und ernsthaft auf die Leute ein, doch seine Art – seine bedächtige Sprache, die langen Pausen – kam ihr nicht weniger gespielt vor. Obwohl sie in den letzten Monaten viel Zeit in seinem Studio verbracht hatte, wusste sie fast nichts über ihn, und er wusste fast nichts über sie. Aber an manchen Tagen, so wie heute, hatte sie das Gefühl, dass sie einander verstanden.

Auf dem Rückweg vom Trinkwasserspender blieb Joe neben ihr stehen.

»Du machst das falsch«, sagte er.

Sie sah ihn im Spiegel an. Er trug eine dicke Trainingshose und die Strickmütze, die er schon den ganzen Sommer über aufgehabt hatte. Er hob ihren rechten Arm.

»Sieh mal«, sagte er. »Du hast dir die Haut aufgeschürft.«

Sie hatte an einer linken Geraden, gefolgt von einem rechten Ellbogenstoß, gearbeitet. Er zeigte ihr, wie sie den Sandsack treffen musste, ohne dass ihre Haut darunter litt, dann ging er weiter zu dem Typen mit den Cornrows.

Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit. Sie machte Liegestütze und Stretching und ging dann noch einmal zum Sandsack, um ein letztes Mal Punches und Kicks zu üben, obwohl sie wusste, dass sie es später bereuen würde. Sie spürte es jetzt schon in Knien und Schienbeinen. Aber es tat so gut, sich mehr und mehr abzuverlangen, herauszufinden, wie weit sie gehen konnte. Entschlossene Gewalt auszuüben.

Joe beobachtete sie. Sein Gesicht verzog sich zu etwas, das bei ihm als Lächeln durchgehen mochte.

»Besser«, sagte er. »Atmen nicht vergessen.«

Helen sah ihr Gesicht flüchtig im Spiegel und musste daran denken, was die junge Kassiererin in der Bio-Bäckerei im letzten Jahr zu ihr gesagt hatte.

»Alles in Ordnung?«, hatte sie gefragt. Ihr Lächeln war zu fürsorglich gewesen, um echt sein zu können. »Tut mir leid, aber Sie sehen so wütend aus. Als würden Sie am liebsten jemandem eine reinhauen.«

Helen hatte den Laden wortlos verlassen und war nie wieder hingegangen. Sie hatte nicht immer wütend ausgesehen, dachte sie, während sie auf den Sandsack eindrosch.

 

Ihr Handy klingelte, als sie gerade vor ihrem Haus hielt.

»Ich tu dir das wirklich nur ungern an«, sagte Ryan mit gedämpfter Stimme. »Aber Lou sitzt mir im Nacken. Es geht um die Präsentation für Mega Crux.«

Helen sah auf die Uhr. Um diese Tageszeit saß sie normalerweise längst in ihrem Arbeitszimmer und machte Entwürfe für Marketingkampagnen, um Produkte mit Namen wie Iron Fuel, Molten Rage und Jacked ’n’ Loaded zu verkaufen.

Sie hatte gestern Abend an dem Mega-Crux-Auftrag gearbeitet, hatte sich, sobald die Mädchen im Bett waren, wieder an den Computer gesetzt, aber gegen Mitternacht beschlossen, ihren Augen eine Pause zu gönnen, weil sie wusste, dass sie am Morgen schneller – und besser – arbeiten würde. Sie spürte noch immer die Nachwirkungen von der Nachtschicht am Mittwoch, als sie einen anderen Auftrag überarbeitet hatte. Am nächsten Morgen dann hatte sie erfahren, dass das Projekt geplatzt war. (Es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Sie wusste schon nicht mehr, wie oft sie bis spät in die Nacht und übers Wochenende an Projekten gearbeitet hatte, nur um am nächsten Tag eine E-Mail zu erhalten: Sorry. Haben total vergessen, dich zu informieren.) Sie hatte sich nicht beschwert. Wie denn auch? So viele Grafikdesigner bangten um ihre Jobs.

»Ich bin fast fertig«, sagte sie. »Ehrlich. Ihr kriegt es in einer Stunde.«

»Mist«, sagte Ryan. »Das ist jetzt echt übel.« Er senkte die Stimme. »Lou hat gerade einen Anruf von dem Kunden bekommen, und die ändern alles. Es gibt ein neues Design, neue Folien, und jetzt schicken sie uns ein Video. Und Lou muss es sehen, bevor er heute Abend abreist, weil er es morgen früh auf dem Meeting in Pittsburgh zeigen will.«

»Morgen?« Sie konnte nicht mal mehr sagen, wie viele Aufträge sie nach hinten verschoben, wie vielen Leuten sie versprochen hatte, sich heute, Ehrenwort, an deren Projekte zu setzen, und zwar nur, um gestern an der Präsentation für Lou arbeiten zu können. »Morgen ist Samstag. Er hat gesagt, er bräuchte es Montag.«

»Er trifft sich mit dem Kunden. Die haben eine neue Kampagne.« Ryan seufzte. »Tut mir echt leid. Für uns beide! Ich arbeite an elf Modellen. Ich komm hier nie wieder raus.«

Im Hintergrund hörte sie Radio Jello, Ryans Lieblings-Internet-Sender, wegen der Musik aus den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren. Früher hatten sie sich ein Büro geteilt, und an besonders stressigen Tagen hatten sie die Tür zugemacht und die Lautstärke aufgedreht.

Ihr Handy summte. Eine Nachricht von der Kita. Erinnerung: Heute kein Tanzunterricht. Bitte die Kinder pünktlich um 12 abholen.

Sie umklammerte die Schlüssel in ihrer Hand, um nicht laut zu fluchen. Der Tanzunterricht dauerte nur fünfundvierzig Minuten, aber die hatte sie fest einkalkuliert. In letzter Zeit machten ihr sogar die Terminänderungen der Kita oft einen Strich durch die Rechnung.

»In Ordnung«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Wann muss Lou Mega Crux spätestens haben?«

»Ich würde ihm gern um vier was zeigen.« Ryan atmete aus. »Wenn es früher nicht geht! Check deine E-Mails. Da findest du alles.«

 

Helen stieg aus dem Wagen und wollte sich rasch an den Schreibtisch setzen, um Pixel zu schieben. Doch da stürmte Jackie aus dem Haus, Kaffee und Zigarettenschachtel in der Hand, und setzte ein strahlendes Lächeln auf, als sie Helen entdeckte.

»Karl ist in seinem Studio«, rief Jackie ihr zu. »Er hat gesagt, du würdest auf einen Sprung bei ihm vorbeischauen.« Sie hastete zu ihrem Wagen in der gemeinsamen Auffahrt zwischen den Häusern, öffnete den Kofferraum und stellte eine Einkaufstasche voller Bücher hinein. Jackie arbeitete stundenweise als Hilfslehrerin an der Mittelschule und nahm gern Spenden entgegen. Sie pustete ihren angegrauten braunen Pony aus der Stirn und ging um den Wagen herum auf die Fahrerseite. Ehe sie einstieg, warf sie Helen einen prüfenden Blick zu. »Du wirst doch hoffentlich nicht krank? Du bist knallrot im Gesicht.«

Helen legte eine Hand an die Wange. Die Haut war heiß.

»Mir geht’s gut«, sagte sie. »Komm nur gerade aus dem Fitnessstudio.«

Jackie lachte, doch mit einer Heftigkeit, die Helen überraschte.

»Ja, klar. Jedenfalls, er ist oben. Erinnere ihn dran, dass er dich bezahlt!«

Sie fuhr los, ehe Helen reagieren konnte, und hupte, als sie rückwärts aus der Auffahrt setzte.

Dich bezahlt. Helen war nicht wohl bei dem Gedanken, seit sie Karl angeboten hatte, das Cover für sein Album zu gestalten. Er war seit Jahren arbeitslos. Sie wollte ablehnen, doch Karl hatte gelacht. »Unser Haus ist abbezahlt. Die Kinder sind erwachsen. Du tust mir einen Gefallen.«

Helen betrat Karls und Jackies Haus. Sie konnte ein paar Minuten erübrigen – fünf Minuten höchstens –, ehe sie sich an den Schreibtisch setzte und die neusten Änderungen in Angriff nahm. Sie stieg über Berge von Schuhen und Flipflops hinter der Tür und gelangte in das chaotische Wohnzimmer. Das Haus war eine kleinere, gemütlichere Version des Hauses, in dem sie aufgewachsen war: wellige Fensterscheiben, Dielenböden, die bei jedem Schritt knarrten, Möbel, geerbt von sparsamen Vorfahren, die nie das Vergnügen gekannt hatten, sich auf eine Couch oder in ein Bett plumpsen zu lassen. Doch im Vergleich zu Helens geräumigem und spartanisch eingerichtetem Elternhaus in Massachusetts war das Haus von Karl und Jackie geradezu vollgestopft mit Krimskrams und Fotos; so hing zum Beispiel über dem Kaminsims ein gerahmtes Titelblatt des Time Magazine mit dem rußgeschwärzten Gesicht eines amerikanischen Soldaten, der über einen irakischen Kriegsschauplatz blickt. Helen und Jackie sprachen nicht über Politik. Als das Thema ein einziges Mal aufkam, hatte Jackie gesagt: »Hör mal, ich glaube ja, dass Obama in Hawaii geboren wurde. Ich glaube bloß nicht, dass Hawaii wirklich zu den USA gehört.«

Helens Handy summte, und bevor sie zu Karl hinaufging, checkte sie die E-Mails, die bereits eingegangen waren. Laut Vertrag konnte sie arbeiten, wann sie wollte – das interessierte niemanden, solange sie ihre Deadlines einhielt. Auf dem Papier arbeitete sie jetzt drei Viertel der Zeit, die sie früher im Büro gesessen hatte, für das halbe Gehalt. Die Überstunden, die sie leistete, wurden nicht bezahlt. Dennoch, sie konnte froh sein, den Job zu haben, und er war gar nicht mal so übel. Sie hatte als freiberufliche Illustratorin für Zeitungen angefangen und Buchumschläge für kleinere Verlage gestaltet. Aber diese Jobs wurden schlecht bezahlt, deshalb hatte sie zusätzlich Aufträge als Webdesignerin und für Videoprojekte angenommen. Nachdem sie sich über Jahre von einem Auftrag zum nächsten gehangelt hatte, erhielt sie ein Angebot für eine Vollzeitstelle, das sie sich nicht entgehen ließ: Marketing und Werbung für einen Medienkonzern, der vor allem für seine Männermagazine bekannt war.

Sie nannte sich nun Art Director, und sie machte alles: Videoanimationen, Online-Gewinnspiele, Printanzeigen. Sie kaschierte Brustwarzen und retuschierte Hautfalten an den Unterarmen von Models – die Hautfalten, die es im wahren Leben erst ermöglichten, die Arme zu bewegen. In den letzten Jahren hatte das Unternehmen mehr Geld in seine Fitnesssparte investiert, Training-DVDs, Vitamin-Ergänzungsmittel und Protein-Shakes verkauft. Der Geschäftsführer von Jacked ’n’ Loaded war mit ihrer Arbeit so zufrieden, dass er ihr ein Jahr lang eine Fitnesszeitschrift frei Haus liefern ließ.

Sie gab bei jedem Auftrag vollen Einsatz. Sie wurde befördert und arbeitete noch mehr. Als sie schwanger wurde und ihre Ärztin ihr Ruhe verordnete, nahm sie sich zum ersten Mal seit Jahren ein paar Wochen frei. Sie nutzte die Zeit, um zu Hause alles für die Mädchen vorzubereiten – und Tom half ihr, bestellte und baute zusammen, was sie brauchten. Er arbeitete ständig, zu Hause und im Büro, und wenn er nicht arbeitete, war er oft mit den Gedanken woanders. Das war verständlich, dachte sie, bei den vielen Veränderungen, die damals auf sie zukamen, obwohl es nicht erklärte, wieso er jetzt noch immer so fahrig war.

Nicht lange nach der Geburt ihrer Töchter, als ihr Mutterschutz sich dem Ende zuneigte und sie Vorbereitungen für ihre Rückkehr ins Büro traf – verzweifelt nach einer Nanny suchte, sich fragte, ob sie bei der Geschäftsleitung flexiblere Arbeitszeiten durchsetzen könnte oder zumindest weniger Überstunden –, erhielt sie einen Anruf von Lou, ihrem Chef.

»Moment … Moment … ich muss kurz auf Senden klicken.« Lou ließ seinen Finger auf die Tastatur fallen. »Helen! Komm doch morgen mal vorbei. Ich habe mir eine Lösung für dich einfallen lassen.«

Am nächsten Tag nahm sie die U-Bahn zum Büro, ganz glücklich, wieder hektisches Menschengewusel zu erleben, voller Vorfreude auf Lous Angebot. Er wusste, wie viele Überstunden sie gemacht hatte und dass sie ihre Arbeit stets zuverlässig erledigte. Dann saß sie in seinem Büro und ließ ihre Tasse Kaffee kalt werden, während er ihr die Neuigkeiten eröffnete.

»Ende dieser Woche wird die Hälfte der Belegschaft vor die Tür gesetzt«, sagte er. »Aber ich hab einen Job für dich gerettet.«

Er schlug ihr vor, freiberuflich und von zu Hause aus zu arbeiten, für deutlich weniger Geld, und beschwor sie, das Angebot anzunehmen. Zunächst nahm sie nicht einmal wahr, wie schockiert und enttäuscht sie war. Sie konnte ihn nur anblicken, ruhig, ganz Profi, ohne einen Ton zu sagen.

»Es tut mir leid, Helen«, sagte Lou. »Ich weiß, es ist zum Kotzen.«

Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Es ist total zum Kotzen«, sagte sie. »Aber danke. Ich bin sicher, es war nicht einfach.«

»Ich kenne dich, Helen. Du bist wie ich – du musst arbeiten. Du würdest verrückt werden, wenn du nichts mehr zu tun hättest.«

»Tja. Ich bin froh, dass ich diese Erfahrung nicht machen muss.«

Sie stand auf, zog ihren Mantel an und sagte, dass es so vielleicht sogar besser wäre. Schließlich habe sie gehofft, mehr Zeit für ihre Töchter zu haben.

»Na bitte«, sagte Lou. »Genau das mag ich an dir.« Er klopfte ihr auf den Rücken, als er sie zur Tür brachte. »Du lässt dich nicht unterkriegen.«

Nach dem Gespräch wanderte sie ziellos durch das Gedränge in den Straßen von Midtown Manhattan. Als sie am Grand Central auf eine Treppe zuging, die hinunter zur U-Bahn führte, drängte sich ein massiger Typ an ihr vorbei. Sein Bizeps rammte ihre Schulter, brachte sie beinahe zu Fall.

Helen starrte ihm nach, wie gelähmt durch eine jäh aufwallende Wut. Das war neu für sie. Als hätte die Wut jahrelang in ihr geköchelt. Der Typ, der sie angerempelt hatte, kam nur wenige Stufen weiter. Dann blieb er stecken – zu viele Menschen schoben sich Schulter an Schulter die Treppe hinunter. Wie eine Massenflucht in Zeitlupe. Helen betrachtete ihn und überlegte, wie viel Schaden sie ihm zufügen könnte, wenn sie ihm einen Stoß verpasste. Sie stellte sich vor, wie er die Treppe hinunterfiel. Wie die Leute über ihn hinwegtrampelten, ihn verletzten. Vielleicht schwer verletzten. Sie malte sich aus, wie sie ihn stieß, gerade so fest, dass er fiel, und wie sie dann in der Menge verschwand. Wie sie die Rufe und Schreie und Flüche hörte, aber nicht stehen blieb, um sich die Folgen anzusehen.

Das war nun drei Jahre her. Sie hatte Tom nie von diesem Vorfall erzählt. Oder von den vielen danach. Sie reihten sich ein in den immer größer werdenden Bereich von Dingen, die Helen für sich behielt.

Genau wie ihre kleinen Akte der Rebellion. Sich ein paar Minuten vom Schreibtisch wegzustehlen, um Karl einen kurzen Besuch abzustatten. Durch die Tür zum Keller konnte sie Nick, Jackies Sohn aus ihrer ersten Ehe, und seine Freundin Monica lachen hören. Patschuli-Geruch wehte herauf.

Helen steckte ihr Handy ein. Sie sollte lieber nach Hause gehen – sie hatte absolut keine Zeit zu verlieren –, aber die Morgensonne fiel durch die welligen Fensterscheiben, und das Patschuli erinnerte sie an die Highschool. Sie konnte förmlich die Kids sehen, die auf dem Weg zum Wald hinter dem Parkplatz eine Rauchfahne hinter sich herzogen.

 

Die Tür zu Karls Studio stand offen. Er saß am Computer, Kopfhörer auf, Augen geschlossen, nickte zu einem langsamen Beat.

Sie musste drei Mal klopfen, ehe er sie hörte.

»Hallo, Helen.« Er schob den Kopfhörer auf die Schultern. »Herein mit dir.«

Der Raum war klein, gerade groß genug für den alten Küchentisch, den er als Schreibtisch benutzte, und eine ausgeleierte Couch, die bis vor Kurzem im Keller gestanden hatte. An den Wänden hingen lediglich ein paar Schnappschüsse, darunter ein Foto von Karls erwachsenen Kindern (wie Jackie hatte er eine Ehe hinter sich) und eins von ihm als Teenager, als Sänger in einer Jugendband, schulterlange, zottelige Haare, eine schlankere, schmalere Version seiner selbst. Helen nahm wie üblich auf der Couch Platz, unter dem Poster seiner jetzigen Band, einer Gruppe von Männern mittleren Alters, die zweimal monatlich im Trax Coverversionen von Classic-Rock-Stücken spielten, mit einigen Grunge-Einlagen, den etwas jüngeren Bandmitgliedern zuliebe.

Letzten Sonntag waren Helen und Tom von Jackie zu Burgern und Bier eingeladen worden, und Karl hatte ihnen erzählt, dass er an einem neuen Album mit seiner eigenen Musik arbeite. Er spielte ihnen ein paar Titel vor, während Sophie und Ilona im Keller über Nicks alte Spielsachen herfielen. Helen war überrascht – die Stücke erinnerten sie an die elektronische Downtempo-Musik, die sie gern bei der Arbeit hörte. Zu den sphärischen Rhythmen konnte sie sich besser konzentrieren. »Das klingt toll«, sagte sie zu ihm und fügte dann hinzu: »Brauchst du jemanden für das Cover-Design?«

Er hatte sie am Vorabend angerufen und gefragt, ob sie Lust hätte, kurz vorbeizukommen und eine Kopie abzuholen. Jetzt drehte er sich mit seinem Stuhl zu ihr um und gab ihr eine CD.

»Sag mir, was du davon hältst«, sagte er. »Beim fünften Titel bin ich mir unsicher. Du wirst schon sehen, was ich meine.« Er sah sie freundlich an. »Hast du auch wirklich Zeit, daran zu arbeiten?«

»Klar«, sagte Helen. »Sofern du es nicht eilig hast.«

»Überhaupt nicht.« Er breitete die Arme aus. »Ich hab Zeit ohne Ende.«

Bis vor einigen Jahren hatte Karl in der EDV-Abteilung einer Telefongesellschaft auf der anderen Seite des Flusses gearbeitet. Abgesehen von einer kurzfristigen Anstellung als Verkäufer in einem Plattenladen und den paar Stunden, die er in einem Secondhandshop für Gitarren in der Main Street jobbte, war er seitdem arbeitslos.

»Bist du noch auf der Suche?«, fragte Helen. »Nach einem neuen Job, meine ich.«

Normalerweise würde sie nie eine so direkte persönliche Frage stellen, aber in Karls Gegenwart fühlte sie sich locker und ungezwungen. Im Laufe der letzten zwei Jahre war sein Studio für sie zu einem zweiten Zuhause geworden, ein Ort, an dem sie sich von dem Druck und dem Frust an ihrem eigenen Schreibtisch erholen konnte.

»Noch auf der Suche?«, sagte Karl. »Ich kann nicht behaupten, je auf der Suche gewesen zu sein.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich kriege drei Viertel meiner Rente und bin krankenversichert. Was ich in dem Gitarrenladen verdiene, ist ein hübsches Taschengeld.«

»Kein schlechter Tausch«, sagte sie. »Dafür, dass du entlassen wurdest.«

»Oh, ich wurde nicht nur entlassen. Ich wurde fristlos gefeuert. Hat Jackie dir das nicht erzählt?«

In der ganzen Zeit, die sie einander kannten, war das Thema nie zur Sprache gekommen.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

Er lachte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Ich hab meinen Chef im Materialraum eingeschlossen. Nicht besonders lang. Der Hausmeister hat ihn schon nach einer Dreiviertelstunde befreit.«

Sie blickte ihn forschend an.

»Nicht dein Ernst.«

»Doch«, sagte Karl. »Der Typ war verrückt, ein furchtbarer Arbeitgeber. Nach oben buckeln, nach unten treten – das war seine Geschäftsphilosophie. Er hat uns gern das Gefühl gegeben, dass jeder Tag unser letzter sein könnte. Jedenfalls, er hatte mich schon den ganzen Tag gepiesackt, über geringe Produktivität und zu hohe Kosten gemeckert. Er ist regelrecht ausgerastet, als ich ihn um eine Packung Heftklammern gebeten habe. Meinte, das wäre die allerletzte Packung, die ich kriegen würde, und wenn ich noch irgendwas anderes haben wollte, sollte ich es mir gefälligst selbst kaufen. Schließlich ist er in den Materialraum gegangen, um die blöden Heftklammern zu holen, und ich hab die Tür hinter ihm zugeknallt und den Schlüssel abgezogen.« Er zuckte leicht bedauernd mit den Schultern. »Sobald mir der Gedanke kam, konnte ich nicht mehr widerstehen.«

Helen wusste, was er meinte. Wie oft war sie seit dem Vorfall in der U-Bahn-Station nicht an einen ähnlichen Punkt gekommen? Falls sie jemals irgendwem davon erzählen würde, dann Karl. Er würde sie nicht verurteilen und sie vielleicht sogar verstehen.

»Was hast du dann gemacht?«, fragte sie. »Nachdem du die Tür abgeschlossen hattest?«

»Na ja, ich hatte Hunger. Ich hatte den ganzen Tag durchgearbeitet. Also bin ich zu den Verkaufsautomaten. Hab mir einen Snack und eine Fanta gegönnt.«

Helen lächelte. Sie stellte sich Karls Chef vor, wie er in der jähen Dunkelheit herumfuhr und am Türgriff rüttelte.

»Hat er versucht rauszukommen?«

»Er hat eine Weile gegen die Tür gehämmert«, sagte Karl. »Hat mich wüst beschimpft. Er wusste, dass ich ihn hören konnte. Und du würdest dich wundern, wie viele Leute vorbeimarschiert sind. Manche sogar mehr als einmal. Ich hatte den Schlüssel auf einen Schreibtisch neben der Tür geworfen, er war nicht zu übersehen. Und es ging auf den Feierabend zu, die ganze Belegschaft verließ das Büro, einer nach dem anderen. Keiner hat was unternommen.« Karl grinste. »Schon allein dafür hat es sich gelohnt. Ihre Gesichter zu sehen, als sie einfach weitergingen und so taten, als würden sie nicht hören, wie er tobte und gegen die Tür hämmerte. Ich glaube, der Hausmeister hätte ihn auch noch länger drin schmoren lassen, wenn ich nicht da gewesen wäre.«