Ein Tiefes Geheimnis (Mystery-Krimi) - Wilkie Collins - E-Book

Ein Tiefes Geheimnis (Mystery-Krimi) E-Book

Wilkie Collins

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  • Herausgeber: e-artnow
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Dieses eBook: "Ein Tiefes Geheimnis (Mystery-Krimi)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Nach Empfang dieser Mitteilung zog der Baumeister sich und seine Leute, sobald die westliche Treppe und das Geländer in Stand gesetzt waren, zurück und Porthgenna Tower blieb abermals der Obhut der Haushälterin und des Kastellans überlassen, ohne daß Herr oder Herrin, Freunde oder Fremdlinge die einsamen Gänge durchwandelt oder die leeren Zimmer belebt hätten." Wilkie Collins (1824-1889) war ein britischer Schriftsteller und Verfasser der ersten Mystery Thriller.

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Seitenzahl: 713

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Wilkie Collins

Ein Tiefes Geheimnis (Mystery-Krimi)

Übersetzer: August Kretzschmar
e-artnow, 2016 Kontakt [email protected]
ISBN 978-80-268-7225-2
Inhaltsverzeichnis
Erster Band
Erstes Kapitel Der 23. August 1829
Zweites Kapitel Das Verbergen des Geheimnisses
Drittes Kapitel Fünfzehn Jahre später
Viertes Kapitel Der Verkauf von Porthgenna Tower
Fünftes Kapitel Die Neuvermählten
Sechstes Kapitel Timon von London
Siebentes Kapitel Werden sie kommen ?
Achtes Kapitel Mistreß Jazeph
Neuntes Kapitel Die neue Wärterin
Zweiter Band
Erstes Kapitel Eine Beratung
Zweites Kapitel Eine abermalige Überraschung
Drittes Kapitel Ein Komplott gegen das Geheimnis
Viertes Kapitel Im Freien
Fünftes Kapitel Im Hause
Sechstes Kapitel Mr. Munder auf dem Richterstuhle
Siebentes Kapitel Mozart spielt den Abschiedsgruß
Achtes Kapitel Ein alter Freund und ein neues Projekt
Neuntes Kapitel Der Anfang des Endes
Dritter Band
Erstes Kapitel Man nähert sich dem Abgrunde
Zweites Kapitel Dicht am Rande
Drittes Kapitel Das Myrtenzimmer
Viertes Kapitel Die Enthüllung des Geheimnisses
Fünftes Kapitel Onkel Joseph
Sechstes Kapitel Warten und Hoffen
Siebentes Kapitel Die Geschichte der Vergangenheit
Achtes Kapitel Das Ende des Tages
Neuntes Kapitel Vierzigtausend Pfund
Zehntes Kapitel Die Morgenröte eines neuen Lebens

Erster Band

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel Der 23. August 1829

Inhaltsverzeichnis

„Ich bin neugierig, ob sie den heutigen Tag überlebt.“

„Sieh einmal an die Uhr, Joseph.“

„Zehn Minuten über Zwölf. Dann hat sie ja den Tag schon überlebt, Robert, denn es sind bereits zehn Minuten des neuen vorüber.“

Diese Worte wurde in der Küche eines großen Landhauses gesprochen, welches an der Westküste von Cornwall lag. Die Sprechenden waren zwei der Diener, welche das Hauspersonal des Kapitän Treverton ausmachten, eines Marineoffiziers und des ältesten männlichen Repräsentanten einer alten Familie dieser Provinz.

Beide Diener unterhielten sich zurückhaltend und flüsternd, während sie dicht beisammen saßen und sich, so oft ihr Gespräch ins Stocken kam, erwartungsvoll nach der Tür umblickten.

„Es ist etwas Schauerliches,“ sagte der ältere beiden Männer, „daß wir zwei so allein hier in dieser unheimlichen Stube und die Minuten zählen, welche unsere Herrin noch zu leben hat.“

„Robert,“ sagte der andere, indem er seine Stimme so tief senkte, daß sie kaum zu hören war, „du bist von deinen Knabenjahren an hier im Dienste gewesen – hast du jemals gehört, daß unsere Herrin Schauspielerin war, als unser Herr sie heiratete ?“

„Woher weißt du denn das ?“ fragte der ältere Diener stutzend.

„Still, still !“ rief der andere, indem er sich hastig von seinem Stuhl erhob.

Eine Klingel läutete draußen auf dem Gange.

„Gilt das einem von uns ?“ fragte Joseph.

„Kannst du denn immer noch nicht unsere Klingeln schon am Klange unterscheiden ?“ rief Robert verächtlich. „Diese gilt Sara Leeson. Geh hinaus und sieh nach.“

Der jüngere Diener nahm ein Licht und gehorchte. Als er die Küchentür öffnete, fiel sein Auge auf eine lange Reihe gegenüber an der Wand angebrachter Klingeln. Über jeder derselben stand in saubern schwarzen Buchstaben das unterscheidende Prädikat des Dieners, den sie zu rufen bestimmt war. Die Reihe dieser Überschriften begann mit „Haushälterin“ und endete mit „Küchenmagd“ und „Laufbursche“.

Die Klingeln entlang schauend, bemerkte Joseph mit leichter Mühe, daß eine derselben in Bewegung war. Über derselben stand das Wort „Kammermädchen“.

Nachdem er dies bemerkt, ging er rasch den Gang entlang und pochte am Ende desselben an eine große altväterische Tür von Eichenholz.

Da keine Antwort erfolgte, so öffnete er die Tür und schaute in das Zimmer hinein. Es war finster und leer.

„Sara ist nicht in dem Zimmer der Haushälterin“, sagte Joseph, nachdem er zu seinem Kameraden in die Küche zurückgekehrt war.

„Dann ist sie in ihr Schlafzimmer gegangen“, entgegnete der ältere Diener. „Geh hinauf und sage ihr, daß ihre Herrin sie verlangt.“

Als Joseph hinausging, läutete die Klingel wieder.

„Rasch ! – rasch !“ rief Robert. „Sage ihr, die Herrin verlange sie sofort. Vielleicht“, fuhr er leiser mit sich selbst sprechend fort, „vielleicht zum letzten Mal.“

Joseph stieg drei Treppen hinauf, ging die Hälfte eines langen gewölbten Korridors entlang und pochte an eine zweite altväterische Tür von Eichenholz.

Diesmal ward der Ruf beantwortet. Eine tiefe, aber klare, sanfte Stimme im Zimmer fragte, wer da sei.

Joseph richtete in wenigen Worten seinen Auftrag aus. Ehe er noch ausgeredet hatte, öffnete sich die Tür ruhig und schnell und Sara Leeson trat ihm mit ihrem Lichte in der Hand auf der Schwelle gegenüber.

Nicht groß, nicht schön, nicht in ihrer ersten Jugend, schüchtern und unentschlossen in ihrem Wesen, äußerst schlicht und einfach in ihrer Kleidung, war die Zofe, trotz aller dieser Nachteile, eine Person, die man nicht ohne ein Gefühl von Neugier, ja sogar von Interesse betrachten konnte.

Wenig Männer würden bei ihrem ersten Anblick nicht den Wunsch empfunden haben, zu erfahren, wer sie sei, und wenige würden sich befriedigt gefühlt haben, wenn sie zur Antwort erhalten: „Es ist Mistreß Trevertons Zofe.“ Wenige hätten sich des Versuchs enthalten, aus ihrem Gesicht und ihrem Benehmen irgend einen geheimen Ausschluß zu erlauschen, aber keinem, selbst nicht dem geduldigsten und geübtesten Beobachter, wäre es gelungen, mehr zu entdecken, als daß sie in einer frühern Zeit ihres Lebens die Feuerprobe großer Leiden und Anfechtungen bestanden haben müsse.

Es lag in ihrem Wesen und noch mehr in ihrem Gesicht etwas, was deutlich und wehmütig sagte: „Ich bin das Wrack von etwas, dessen Anblick dir früher zur Freude gereicht haben würde, ein Wrack, welches niemals wieder in Stand gesetzt werden kann – welches unbeachtet, ohne Führer, ohne Mitleid durchs Leben weitertreiben muß, bis es den verhängnisvollen Strand berührt und die Wogen der Zeit diese kümmerlichen Überreste meines Ich für immer verschlungen haben.“

Dies war die Geschichte, die in Sara Leesons Zügen geschrieben stand – dies und nichts weiter.

Von allen, welche diese Geschichte sich selbst zu deuten versucht, würden wahrscheinlich auch nicht zwei eine und dieselbe Ansicht über die Beschaffenheit des Leidens gehabt haben, welches diese Person durchzumachen gehabt.

Erstens war es schwierig zu sagen, ob der Schmerz, welcher ihr sein unauslöschliches Gepräge aufgedrückt, Schmerz des Körpers oder Schmerz der Seele gewesen sei. Von welcher Beschaffenheit aber auch die Heimsuchung, von der sie betroffen worden, gewesen sein mochte, so waren die Spuren, welche dieselbe zurückgelassen, in jedem Teile ihres Gesichts tief und auffallend sichtbar. Ihre Wangen hatten ihre Rundung und natürliche Farbe verloren, ihre in Bezug auf Bewegung eigentümlich biegsamen, zartgeformten Lippen hatten eine ungesunde, blasse Farbe angenommen, ihre großen, schwarzen, von ungewöhnlich dichten Wimpern überschatteten Augen hatten einen seltsamen ängstlichen, scheuen Blick, der sie niemals verließ und die schmerzliche Empfindsamkeit und angeborne Schüchternheit ihrer Gemütsart auf mitleiderregende Weise verriet.

Insoweit waren die Spuren, welche Kummer oder Krankheit an ihr zurückgelassen, ganz dieselben, welche den meisten Opfern geistiger oder physischer Leiden gemeinsam sind.

Eine ganz außerordentliche Veränderung aber, die mit ihr vorgegangen war, bestand in dem unnatürlichen Wechsel, der die Farbe ihres Haars betroffen hatte. Es war so dicht und weich und noch ebenso schön und üppig wie das Haar eines jungen Mädchens, aber grau wie das Haar einer Matrone. Es schien in der auffälligsten Weise jeder Spur von Jugend, die sich noch in den Gesichtszügen vorfand, zu widersprechen.

Trotz der Magerkeit und Blässe des Gesichts hätte man dieses nämlich, sobald man es richtig angesehen, keinen Augenblick für das einer bejahrten Frau halten können. So abgezehrt die Wangen auch waren, so hatten dieselben doch nicht eine einzige Runzel. Ihre Augen besaßen, abgesehen von dem darin vorherrschenden Ausdruck von Unruhe und Schüchternheit, noch jenen feuchtschimmernden Glanz, der an den Augen alter Leute niemals wahrzunehmen ist. Die Haut um die Schläfe herum war zart und glatt wie die eines Kindes.

Diese und noch einige andere nie trügende Anzeichen bewiesen, daß sie in Bezug auf die Jahre noch in der Blüte des Lebens stand. So kränklich und bekümmert sie auch aussah, so hatte sie doch von den Augen abwärts ganz das Ansehen eines Frauenzimmers, welches höchstens dreißig Jahre zählte.

Von den Augen an aufwärts aber war der Eindruck ihres üppigen grauen Haares, in Verbindung mit ihrem Gesicht betrachtet, nicht bloß ein unvereinbarer, sondern auch geradezu befremdender, so befremdend, daß es kein Widerspruch ist, wenn man sagt, daß sie natürlicher ausgesehen haben würde, wenn ihr Haar gefärbt gewesen wäre. Die Kunst hätte in diesem Falle die Wahrheit zu sein geschienen, weil die Natur wie Lüge aussah.

Welche Zauberkraft hatte ihrem Haar in seiner üppigsten Reife die Farbe eines unnatürlichen Greisenalters mitgeteilt ? War es schwere Krankheit, oder furchtbarer Kummer gewesen, der sie in der Blüte ihrer Jahre grau gemacht ?

Diese Frage hatte ihre Dienstgenossen oft beschäftigt, denn alle waren, als sie sie zum ersten Mal gesehen, von der Eigentümlichkeit ihrer persönlichen Erscheinung betroffen und überdies durch ihre eingewurzelte Gewohnheit mit sich selbst zu sprechen, ein wenig argwöhnisch gemacht worden.

Mochten sie sie jedoch fragen, wie sie wollten, so ward ihre Neugier dennoch niemals befriedigt. Man konnte weiter nichts ermitteln, als daß Sara Leeson in Bezug auf ihr graues Haar und ihre Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, sehr empfindlich war und daß ihre Herrin schon seit langer Zeit jedem im Hause von ihrem Gemahl an verboten hatte, ihre Zofe durch neugierige Fragen zu belästigen.

Schweigend stand sie an jenem verhängnisvollen Morgen des dreiundzwanzigsten August einen Augenblick vor dem Diener, der sie an das Sterbebett ihrer Herrin rief, während die Flamme des Lichts flackernd ihre großen, fragenden, schwarzen Augen und das üppige, unnatürlich graue Haar über denselben beleuchtete. Schweigend stand sie einen Augenblick da, die Hand, welche den Leuchter hielt, zitterte, sodaß das auf dem breiten Fuße desselben liegende Löschhütchen unaufhörlich klapperte; dann dankte sie dem Diener, daß er sie gerufen. Die Unruhe und Furcht, die, während sie sprach, in ihrer Stimme lag, schien den gewohnten Wohlklang derselben noch zu erhöhen, und die Aufgeregtheit ihres Wesens tat ihrer gewöhnlichen Sanftheit und ihrer zarten, einnehmenden weiblichen Zurückhaltung keinerlei Eitnrag.

Joseph, der wie die andern Diener ihr im Stillen mißtraute und abgeneigt war, weil sie von dem gewöhnlichen Kammermädchentypus so gewaltig abwich, ward bei dieser Gelegenheit durch ihr Wesen und durch ihren Ton, indem sie ihm dankte, so seltsam berührt, daß er sich erbot, ihr das Licht bis an die Tür des Schlafzimmers ihrer Herrin zu tragen.

Sie schüttelte jedoch den Kopf und dankte ihm nochmals; dann ging sie rasch an ihm vorüber und aus dem Korridor hinaus.

Das Zimmer, in welchem Mistreß Treverton im Sterben lag, war eine Etage tiefer. Sara zögerte zwei Mal, ehe sie an die Tür pochte. Dieselbe ard von Kapitän Treverton selbst geöffnet.

In dem Augenblick, wo sie ihren Herrn sah, fuhr sie vor ihm zurück. Wenn sie einen Schlag zu bekommen gefürchtet hätte, so hätte sie sich kaum plötzlicher mit dem Ausdruck größeren Schreckens zurückziehen können.

Dennoch lag in Kapitän Trevertons Gesicht durchaus nichts, was die Befürchtung einer übeln Begegnung oder auch nur unfreundlicher Worte hätte rechtfertigen können. Sein Gesicht war gütig, herzlich und offen und es rieselten noch an demselben die Tränen herab, die er an dem Bett seines Weibes vergossen.

„Geht hinein,“ sagte er, das Gesicht abwendend. „Sie will nicht, daß die Wärterin komme; sie wünscht bloß Euch. Ruft mich, wenn der Doktor –“

Die Stimme versagte ihm und er eilte fort, ohne den Redesatz zu vollenden.

Sara Leeson blieb, anstatt in das Zimmer ihrer Herrin zu treten, stehen und sah ihrem Herrn aufmerksam nach solange er sichtbar war. Ihre bleichen Wangen nahmen geradezu die Blässe des Todes an und aus ihren Augen sprach zweifelnde, forschende Unruhe und Angst.

Als er um die Ecke des Korridors verschwunden war, horchte sie einen Augenblick an der Tür des Krankenzimmers und flüsterte furchtsam bei sich selbst:

„Ob sie es ihm wohl gesagt hat ?“

Dann öffnete sie die Tür mit sichtbarer Anstrengung, ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen, und nachdem sie argwöhnisch noch einen Augenblick an der Schwelle gezögert, ging sie hinein.

Mistreß Trevertons Schlafzimmer war ein großes, hohes Gemach in dem westlichen Teile des Hauses, sodaß es die Aussicht auf das Meer hatte. Das neben dem Bett brennende Nachtlicht machte die Finsternis in den Ecken des Zimmers eher sichtbar, als daß es dieselbe zerstreut hätte.

Das Bett hatte eine altväterische Form und war mit schweren, dicken, rings herum zugezogenen Vorhängen versehen.

Von den andern Gegenständen im Zimmer ragten bloß die von der größten und massivsten Art genugsam hervor, um in dem düstern Lichte leidlich sichtbar zu sein. Die Schränke, der lange Spiegel, der Armstuhl mit der hohen Lehne und die große, unförmliche Masse des Bettes selbst stellten sich dem Blicke schwerfällig und unheimlich dar.

Die übrigen Gegenstände flossen in der allgemeinen Dunkelheit alle durcheinander. Durch das geöffnete Fenster, welches die frische Lufz des neuangebrochenen Morgens nach der Schwüle der Augustnacht hereinlassen sollte, klang das gleichförmige, dumpfe, ferne Brausen der Brandung an der sandigen Küste in das Zimmer. Jedes andere Geräusch war in dieser ersten unheimlichen Stunde des nahen Tages verstummt.

Innerhalb dieses Zimmers bestand das einzige hörbare Geräusch in dem langsamen, mühevollen Atmen der Sterbenden, welches sich matt, aber dennoch deutlich und grauenerregend, selbst durch den fernen Donner, der aus dem Schoße des ewigen Meeres grollte, hindurch hören ließ.

„Mistreß“, sagte Sara Leeson, als sie dicht an den Vorhängen des Bettes stand, aber ohne dieselben zurückzuziehen, „der Herr hat das Zimmer verlassen und mich an seiner Statt hergeschickt.“

„Licht ! – Gebt mir mehr Licht !“

Die Mattigkeit tödlicher Krankheit lag in der Stimme, aber der Ton der Sprechenden klang dennoch entschlossen – doppelt entschlossen durch den Gegensatz zu dem zögernden Ausdruck, in welchem Sara gesprochen. Das starke Gemüt der Herrin und die Schwäche der Dienerin beurkundeten sich schon bei diesem kurzen Austausch von durch die Vorhänge eines Sterbebettes hindurchgesprochenen Worten.

Sara zündete mit zitternder Hand zwei Kerzen an, stellte sie zögernd auf einen Tisch am Bett, wartete einen Augenblick, während sie sich mit einer gewissen argwöhnischen Schüchternheit ringsum schaute, und zog dann die Vorhänge auf die Seite.

Die Krankheit, durch welche Mistreß Treverton dem Tode entgegengeführt ward, war eines der furchtbarsten aller Übel, welche den Menschen heimsuchen – ein Übel, welchem besonders Frauen unterworfen sind und welches das Leben unterminiert – in den meisten Fällen ohne bemerkenswerte Spuren seines nagenden Fortschritts in dem Gesicht zu zeigen. Kein Uneingeweihter, welcher Mistreß Treverton, als ihre Dienerin den Bettvorhang auf die Seite zog, gesehen hätte, würde geglaubt haben, daß bei ihr alle Hilfe, die durch menschliche Geschicklichkeit gebracht werden könne, vergeblich sei.

Die geringfügigen Spuren von Krankheit in ihrem Gesicht, die unvermeidlichen Veränderungen in Bezug auf die Anmut und Rundung der Umrisse wurden durch die wunderbare Erhaltung ihrer Gesichtsfarbe, welche noch den ganzen zarten Glanz der ersten jungfräulichen Schönheit besaß, fast unbemerkbar gemacht. Ihr Gesicht war, während es so auf dem Pfühle dalag – zart umrahmt von den kostbaren Spitzen ihrer Haube und gekrönt von dem glänzenden braunen Haar – allem äußern Anscheine nach das Gesicht einer schönen Frau, die von einer leichten Krankheit genas oder nach einer ungewohnten Anstrengung ausruhte.

Selbst Sara Leeson, die sie doch während ihrer ganzen Krankheit beobachtet hatte, konnte, während sie jetzt ihre Herrin ansah, kaum glauben, daß die Pforten des Lebens sich hinter ihr geschlossen und daß die Hand des Todes ihr schon von den Pforten des Grabes her zuwinkte.

Einige Bücher mit eingezeichneten Stellen, in Papierumschlägen, lagen auf der Bettdecke. Sobald der Vorhang auf die Seite gezogen war, forderte Mistreß Treverton ihre Dienerin durch eine Gebärde auf, die Bücher wegzunehmen. Es waren Theaterstücke, an gewissen Stellen mit Tinte unterstrichen und an den Rändern mit Anmerkungen versehen, welche Auftreten, Abtreten und Stellungen auf der Bühne andeuteten.

Die Diener, welche unten von der Beschäftigung ihrer Herrin vor ihrer Vermählung gesprochen, waren nicht durch falsche Gerüchte irregeleitet worden. Ihre Herr hatte, nachdem er selbst über die Blüte des Lebens hinaus war, wirklich seine Frau von der obskuren Bühne eines Provinzialtheaters hinweggenommen, während seit ihrem ersten öffentlichen Auftreten kaum zwei Jahre verflossen waren.

Die alten Theaterstücke mit den eingezeichneten Stellen waren einmal ihre wertgehaltene dramatische Bibliothek gewesen; sie hatte um alter Erinnerung willen stets eine große Liebe zu ihnen bewahrt und sie während der letzten Zeit ihrer Krankheit Tage lang hintereinander auf ihrem Bett liegen gehabt.

Nachdem Sara die Bücher weggenommen, kehrte sie zu ihrer Herrin zurück und öffnete, mehr mit dem Ausdruck der Furcht und Verlegenheit als des Kummers, ihre Lippen, um zu sprechen.

Mistreß Treverton hielt aber die Hand empor und deutete dadurch an, daß sie noch einen anderweiten Befehl zu erteilen hatte.

„Verriegele die Tür“, sagte sie mit derselben matten Stimme, aber in demselben entschlossenen Tone, der ihr erstes Begehren, mehr Licht im Zimmer zu haben, so auffällig gemacht hatte. „Verriegele die Tür. Laß niemanden herein, bis ich es erlaube.“

„Niemand ?“ wiederholte Sara schüchtern, „auch nicht den Doktor ? Auch nicht den Herrn ?“

„Auch nicht den Doktor – auch nicht den Herrn !“ sagte Mistreß Treverton und zeigte auf die Tür. Die Hand war schwach, aber selbst in dieser augenblicklichen Bewegung derselben war die befehlende Gebärde nicht zu verkennen.

Sara verriegelte die Tür, kehrte unentschlossen an das Bett zurück, heftete ihre großen, forschenden, unruhigen Augen fragend auf das Gesicht ihrer Herrin, neigte sich plötzlich über sie und sagte flüsternd:

„Haben Sie es dem Herrn gesagt ?“

„Nein“, war die Antwort. „Ich ließ ihn rufen, um es ihm zu sagen – ich bemühte mich, die Worte auszusprechen – schon der Gedanke aber, wie ich es ihm am besten beibringen könnte, erschütterte mich bis in die innerste Seele, Sara – ach, ich habe ihn so lieb ! Trotzdem aber würde ich es ihm gesagt haben, wenn er nicht von dem Kinde gesprochen hätte. Sara, er sprach von weiter nichts als dem Kind und das verschloß mir den Mund.“

Sara warf sich, ihre dienstliche Stellung auf eine Weise vergessend, die selbst der nachsichtigsten Herrin außerordentlich erscheinen würde, bei dem ersten Wort, welches Mistreß Treverton entgegnete, auf einen Stuhl, bedeckte sich das Gesicht mit den zitternden Händen und stöhnte bei sich selbst:

„O, was wird geschehen ! Was wird nun geschehen !“

Mistreß Trevertons Augen waren feucht geworden und hatten einen mildern Ausdruck angenommen, als sie von ihrer Liebe zu ihrem Gatten sprach. Schweigend lag sie einige Minuten da. Das Arbeiten einer starken Gemütsbewegung verriet sich durch das rasche, angestrengte, mühsame Atmen und durch das schmerzliche Zusammenziehen der Augenbrauen.

Es dauerte jedoch nicht lange, so wendete sie ihr Gesicht unruhig nach dem Stuhl, auf welchem ihre Dienerin saß, und sprach wieder, diesmal aber in einem Tone, der nur ein Flüstern zu nennen war.

„Gib mir meine Medizin“, sagte sie. „Ich brauche sie.“

Sara fuhr empor und wischte mit dem raschen Instinkt des Gehorsams die Tränen hinweg, welche ihr immer schneller über die Wangen herabrannen.

„Der Doktor“, sagte sie. „Lassen Sie mich den Doktor rufen.“

„Nein – die Medizin – gib mir die Medizin !“

„Welche Flasche ? Das Opiat, oder –“

„Nein. Nicht das Opiat, die andere Flasche.“

Sara nahm eine Flasche von dem Tisch, sah aufmerksam, was auf dem angehängten Zettel geschrieben stand, und sagte, es sei noch nicht Zeit, diese Medizin wieder einzunehmen.

„Gib mir die Flasche.“

„O, bitte, verlangen Sie dies nicht von mir ! Warten Sie doch ! Der Doktor sagte, es sei so verderblich, als wenn Sie Spiritus tränken, im Fall Sie zu viel davon nähmen.“

Mistreß Trevertons helle graue Augen begannen zu funkeln, die rosige Röte ihrer Wangen ward dunkler; die befehlende Hand ward wieder mit Anstrengung von der Bettdecke emporgehoben, auf welcher sie lag.

„Ziehe den Pfropfen aus der Flasche“, sagte sie, „und gib sie mir. Ich brauche Kräfte. Gleichviel ob ich in einer Stunde oder in einer Woche sterbe. Gib mir die Flasche.“

„Nicht die Flasche,“ sagte Sara, während sie dieselbe doch, von dem Blicke ihrer Herrin bezwungen, hingab. „Es ist bloß noch zu zwei Mal einzunehmen darin. Ich bitte, warten Sie – ich will ein Glas holen !“

Sie wendete sich nach dem Tische. In demselben Augenblick aber hob Mistreß Treverton die Flasche an die Lippen, trank den Inhalt derselben aus und warf sie dann von sich auf das Bett.

„Sie hat sich den Tod gegeben !“ rief Sara, indem sie erschrocken nach der Tür lief.

„Bleib !“ rief die Stimme aus dem Bett schon entschlossener als je. „Bleib ! Komm her und lege meine Kissen höher.“

Sara legte die Hand an den Riegel.

„Komm her“, wiederholte Mistreß Treverton. „So lange als noch ein Funken Leben in mir ist, verlange ich Gehorsam. Komm her !“

Die Farbe begann auf ihrem ganzen Gesicht unverkennbar dunkler und das Licht in ihren weitgeöffneten Augen heller zu werden.

Sara kam an das Bett zurück und fügte mit zitternden Händen den Kissen, welche den Kopf und die Schultern der Sterbenden stützten, noch eins hinzu. Während dies geschah, kam die Bettdecke ein wenig in Unordnung. Mistreß Treverton zog dieselbe schaudernd wieder herauf bis dicht um den Hals herum.

„Hast du die Türe aufgeriegelt ?“ fragte sie.

„Nein.“

„Ich verbiete dir, dich derselben wieder zu nähern. Hole mir aus dem Schranke neben dem Fenster meine Schreibmappe, Feder und Tinte.“

Sara ging an den Schrank und öffnete ihn, hielt aber plötzlich inne, als ob ein plötzlicher Argwohn sie durchzuckte, und fragte, wozu die Schreibmaterialien gebraucht werden sollten.

„Bring sie nur, dann wirst du es sehen.“

Die Schreibmappe ward mit einem Bogen Briefpapier darauf auf Mistreß Trevertons Knie gelegt, die Feder in die Tinte getaucht und ihr in die Hand gegeben.

Die Kranke schloß die Augen eine Minute lang und seufzte tief. Dann begann sie zu schreiben und sagte zu ihrer Zofe, als die Feder das Papier berührte:

„Schau her !“

Sara lugte ihr unruhig über die Schultern und sah die Feder langsam und matt die drei Worte formen:

„An meinen Gatten.“

„O, nein, nein ! Um Gotteswillen, schreiben Sie es nicht !“ rief Sara, indem sie ihre Herrin bei der Hand faßte. In dem Augenblick aber, wo Mistreß Treverton sie ansah, ließ sie die Hand wieder los.

Die Feder schrieb weiter und bildete langsam und immer matter soviel Worte, daß dadurch eine Zeile gefüllt ward – dann machte sie Halt. Die Buchstaben der letzten Silbe waren ganz durcheinander gelaufen.

„Tun Sie es nicht !“ rief Sara wieder, indem sie vor dem Bett auf die Knie niederfiel. „Schreiben Sie es ihm nicht, wenn Sie es ihm nicht sagen können. Lassen Sie mich das, was ich so lange getragen, auch noch ferner tragen. Lassen Sie das Geheimnis mit Ihnen und mit mir sterben und in dieser Welt niemals offenbar werden – niemals ! niemals ! niemals !“

„Das Geheimnis muß offenbar werden“, antwortete Mistreß Treverton. „Mein Gatte muß es wissen und soll es wissen. Ich versuchte, es ihm zu sagen, aber der Mut entsank mir. Daß du es ihm sagen werdest, nachdem ich nicht mehr bin, darauf kann ich mich nicht verlassen. Es muß niedergeschrieben werden. Nimm du die Feder; meine Augen sehen kaum noch, meine Finger fühlen nicht mehr. Nimm die Feder und schreibe, was ich dir sage.“

Sara verbarg, anstatt zu gehorchen, ihr Gesicht in der Bettdecke und weinte bitterlich.

„Du bist seit meiner Vermählung bei mir“, fuhr Mistreß Treverton fort. „Du bist mehr meine Freundin als meine Dienerin gewesen. Willst du mir meine letzte Bitte abschlagen ? Du willst ! Törin, blicke auf und höre mich an. Es geschieht auf deine eigene Gefahr, wenn du dich weigerst, die Feder zu ergreifen. Schreib oder ich habe keine Ruhe im Grabe. Schreib oder, so wahr der Himmel über uns ist, ich suche aus der andern Welt dich heim !“

Mit einem unterdrückten Schrei richtete Sara sich empor.

„Ihre Worte erfüllen mich mit Schaudern“, flüsterte sie, indem sie ihre Augen mit abergläubisch entsetztem Blick auf das Gesicht ihrer Herrin heftete.

In demselben Augenblicke begann die in allzureichlicher Dosis genommene aufregende Medizin ihre Wirkung auf Mistreß Trevertons Gehirn zu äußern. Sie warf ihren Kopf unruhig von einer Seite des Pfühls auf die andere, sprach gedankenlos einige Zeilen aus einem der alten Theaterstücke, die sie von ihrem Bett hatte hinwegnehmen lassen, und hielt der Dienerin plötzlich die Feder hin, indem sie theatralisch die Hand bewegte und einen Blick nach einer eingebildeten Galerie von Zuschauern emporwarf.

„Schreib !“ rief sie mit dem hohlen, schauerlichen Pathos ihrer frühern Bühnenstimme, „schreib !“

Und die schwache Hand bewegte sich wieder mit einer matten, unsichern Nachahmung der alten Theatergebärde. Mechanisch die Finger um die Feder schließend, welche hineingesteckt ward, wartete Sara, deren Augen immer noch die abergläubische Furcht verrieten, welche die Worte ihrer Herrin erweckt hatten, auf den nächsten Befehl.

Es vergingen einige Minuten ehe Mistreß Treverton wieder sprach. Sie war noch hinreichend bei Besinnung, um sich, wenn auch unklar, der Wirkung bewußt zu sein, welche die Medizin auf sie äußerte, und die ferneren Fortschritte zu bekämpfen, ehe sie ihre Ideen gänzlich verwirrte.

Sie verlangte daher zuerst ihr Riechfläschchen und dann Eau de Cologne. Dieses letztere, welches sie sich auf ihr Taschentuch gießen und dann auf die Stirn legen ließ, schien ihre Geisteskräfte zum Teil wieder herzustellen. Ihre Augen gewannen wieder den intelligenten, ruhigen Blick und als sie ihre Zofe wieder anredete und zu ihr nochmals sagte: „Schreib !“ war sie im Stande, dem Befehle dadurch Nachdruck zu geben, daß sie sofort in ruhigem, besonnenem und entschlossenem Tone zu diktieren begann.

Saras Tränen rannen; ihre Lippen murmelten abgebrochene Worte, in welche Bitte und Ausdruck von Reue und Furcht sich auf seltsame Weise mischten, aber sie schrieb gehorsam weiter in schwankenden Zeilen, bis sie beinahe die ersten beiden Seiten des Briefbogens vollgeschrieben hatte.

Dann hielt Mistreß Treverton inne, sah das Geschrieben durch, ergriff die Feder und unterzeichnete es mit ihrem Namen.

Bei dieser Anstrengung schien ihre Macht des Widerstands gegen die aufregende Wirkung der Medizin ihr wieder untreu zu werden. Die tiefe Röte begann wieder ihre Wangen zu färben und sie sprach hastig und unsicher, als sie die Feder wieder ihrer Dienerin einhändigte.

„Unterschreibe !“ rief sie, indem sie mit der Hand matt auf die Bettdecke schlug. „Unterschreibe: ‚Sara Leeson als Zeugin.’ Don nein; schreib: ‚als Mitschuldige.’ Nimm deinen Anteil auf dich; ich will nicht, daß auch dieser mir zugewälzt werde. Unterschreibe ! Ich bestehe darauf; unterschreibe, wie ich dir sage !“

Sara gehorchte und Mistreß Treverton nahm ihr das Papier aus der Hand und zeigte mit derselben wehmütigen theatralischen Geste darauf, die ihr vorhin entschlüpft war. „Dies wirst du deinem Herrn geben, wenn ich tot bin“, sagte sie, „und jede Frage, die er dir vorlegt, so wahrheitsgetreu beantworten, als ob du vor dem Richterstuhl des Höchsten stündest.“

Die Hände faltend, sah Sara ihre Herrin zum ersten Male mit ruhigen Augen an und sprach zum ersten Male in ruhigem Tone mit ihr.

„Wenn ich wüßte, daß ich zum Sterben geschickt wäre“, sagte sie „o wie gern wollte ich mit Ihnen tauschen.“

„Versprich mir, daß du das Papier deinem Herrn geben willst“, wiederholte Mistreß Treverton. „Versprich – doch nein ! Deinem Versprechen traue ich nicht – schwören sollst du es mir. Hole die Bibel – die Bibel, deren sich der Geistliche bediente, als er diesen Morgen hier war. Hole sie oder ich habe keine Ruhe im Grabe. Hole sie oder ich komme aus der andern Welt zu dir.“

Die Herrin lachte, während sie diese Drohung wiederholte. Die Dienerin schauderte, während sie dem Befehl gehorchte, dem diese Drohung Nachdruck geben sollte.

„Ja, ja – die Bibel, deren sich der Geistliche bediente“, fuhr Mistreß Treverton halb gedankenlos fort, als das Buch zur Stelle gebracht war. „Der Geistliche – ein guter schwacher Mann – ich erschreckte ihn, Sara. Er sagte: ‚Sind Sie mir allen Menschen in Frieden ?’ und ich antwortete: ‚Mit allen bis auf einen.’ Du weißt, wen.“

„Des Kapitäns Bruder. O, sterben Sie nicht in Feindschaft mit irgend jemandem. Sterben Sie auch mit ihm in Freundschaft !“ bat Sara.

„Das sagte der Geistliche auch“, entgegnete Mistreß Treverton, indem ihre Augen kindisch im Zimmer herumzuschweifen begannen, während ihr Ton plötzlich leiser und verworrener ward. „ ‚Sie müssen ihm vergebn’, sagte der Geistliche. Und ich sagte: ‚Nein. Ich verzeihe allen Menschen, aber dem Bruder meines Gatten nicht.’ Der Geistliche stand ganz erschrocken von seinem Stuhle auf, Sara. Er sagte, er wolle für mich beten und wiederkommen. Wird er wiederkommen ?“

„Ja, ja“, antwortete Sara, „er ist ein guter Mann – er wird wiederkommen – und o, sagen Sie ihm, daß Sie dem Bruder des Kapitäns verzeihen. Jene schändlichen Worte, die er, als Sie vermählt wurden, von Ihnen sprach, wird er schon einmal entgelten müssen. Vergeben Sie ihm – vergeben Sie ihm, ehe Sie sterben.“

Indem Sara diese Worte sagte, versuchte sie zugleich die Bibel behutsam aus den Augen ihrer Herrin zu entfernen. Diese Bewegung entging aber Mistreß Trevertons Aufmerksamkeit nicht und erweckte ihre sinkenden Kräfte zur Beobachtung der sie umgebenden Dinge.

„Halt !“ rief sie, während wieder ein Schimmer der alten Entschlossenheit aus ihren shcon vom Tode umflorten Augen leuchtete. Sie packte Sara krampfhaft bei der Hand, legte dieselbe auf die Bibel und hielt sie darauf fest. Ihre andere Hand tastete eine Weile auf der Bettdecke umher, bis sie endlich dem an ihren Gatten gerichteten beschriebenen Papier begegnete. Ihre Finger erfaßten es und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich ihren Lippen.

„Ha“, rief sie, „jetzt weiß ich, wozu ich die Bibel haben wollte. Ich sterbe bei vollem Verstande, Sara; du kannst mich auch jetzt noch nicht täuschen.“

Sie hielt wieder inne, lächelte ein wenig und flüsterte dann hastig bei sich selbst: „Warte, warte, warte !“

Dann setzte sie laut mit der alten theatralischen Stimme und Gebärde wieder hinzu:

„Nein, auf dein Versprechen hin traue ich dir nicht. Ich will deinen Schwur haben. Knie nieder. Dies sind meine letzten Worte in dieser Welt – sei ihnen ungehorsam, wenn du es wagst !“

Sara sank an dem Bett auf die Knie nieder. Der leichte Wind draußen, der gerade jetzt bei dem langsamen Empordämmern des Morgens stärker ward, teilte die Fenstervorhänge ein wenig und blies einen Hauch seines würzigen Duftes freudig in das Krankenzimmer. Das schwere Dröhnen der fernen Brandung ließ sich ebenfalls vernehmen und seine nimmer ruhende Musik in lautern Tönen erklingen. Dann fielen die Fenstervorhänge schwerfällig wieder zu, die flackernde Flamme des Lichts ward wieder ruhig und stet und das unheimliche Schweigen im Zimmer tiefer als je.

„Schwöre ! Schwöre !“ sagte Mistreß Treverton.

„Die Stimme versagte ihr, als sie dieses Wort ausgesprochen hatte. Sie mühte sich ein wenig, erlangte die Sprache wieder und fuhr fort:

„Schwöre, daß du dieses Papier nicht vernichten willst, wenn ich tot bin.“

Selbst während sie diese feierlichen Worte sprach, selbst bei diesem letzten Kampfe um Leben und Kraft bewies der unausrottbare theatralische Instinkt mit furchtbarer Hartnäckigkeit, wie fest derselbe in ihrem Gemüt wurzelte. Sara fühlte die kalte Hand, die noch auf der ihrigen lag, einen Augenblick sich heben – sie sah wie dieselbe ihr graziös winkte – fühlte, wie sie sich wieder herabsenkte und die ihrige mit zitterndem, ungeduldigem Druck umschloß. Bei dieser letzten Aufforderung antwortete sie mit schwacher Stimme:

„Ich schwöre es !“

„Schwöre auch, daß du dieses Papier nicht mit fortnehmen willst, wenn du, nachdem ich tot bin, dieses Haus verlässest.“

Wieder zögerte Sara, ehe sie antwortete – wieder machte sich der zitternde Druck auf ihrer Hand fühlbar, obschon diesmal schwächer – und wieder stammelten ihre Lippen die Worte:

„Ich schwöre es !“

„Schwöre“, begann Mistreß Treverton zum dritten Male. Die Sprache versagte ihr aber wieder und sie bemühte sich jetzt vergebens, die Herrschaft über dieselbe wiederzuerlangen.

Sara blickte auf und sah, wie Vorläufer von Konvulsionen das schöne Gesicht zu entstellen begannen. Sie sah wie die Finger der weißen, zartgeformten Hand sich krümmten, während sie nach dem Tische hinüberlangten, auf welchem die Medizinflaschen standen.

„Sie haben es ausgetrunken“, rief Sara aufspringend, als sie die Bedeutung dieser Gebärde erriet. „Herrin, liebe Herrin, Sie haben es ausgetrunken, es ist bloß noch das Opiat da. Lassen Sie mich gehen – ich will –“

Ein Blick von Mistreß Treverton tat ihr Einhalt, ehe sie weiter ein Wort sprechen konnte. Die Lippen der Sterbenden bewegten sich rasch.

Sara hielt ihr Ohr dicht an dieselben. Anfangs hörte sie nichts als keuchende, schnell aufeinander folgende Atemzüge, dann einige gebrochene, verworrene, damit gemischte Worte:

„Ich bin noch nicht fertig – du mußt schwören – komm näher heran, näher, näher – noch ein Drittes – dein Herr – schwöre, daß du ihm das Papier geben –“

Die letzten Worte starben leise hinweg. Die Lippen, welche sie so mühsam geformt, teilten sich plötzlich, schlossen sich aber nicht wieder. Sara sprang nach der Tür und rief in den Korridor hinaus nach Hilfe – dann eilte sie an das Bett zurück, ergriff den Bogen Briefpapier, auf welchen sie nach dem Diktat ihrer Herrin geschrieben, und verbarg ihn in ihrem Busen.

Der letzte Blick aus Mistreß Trevertons Augen heftete sich streng und vorwurfsvoll auf sie, indem sie dies tat, und bewahrte während der augenblicklichen Verzerrung der übrigen Züge diesen Ausdruck einen einzigen atemlosen Augenblick lang unverändert.

Dieser Augenblick ging vorüber und mit dem nächsten stahl der Schatten, welcher dem Eintritt des Todes vorangeht, sich herauf und drängte in einer einzigen ruhigen Sekunde das Licht des Lebens von dem ganzen Gesichte hinweg.

Der Arzt trat in Begleitung der Wärterin und eines der Diener in das Zimmer, eilte an das Bett, sah aber auf den ersten Blick, daß die Zeit seiner Dienste hier für immer vorüber war. Er wendete sich zuerst zu dem Diener, der ihm gefolgt war.

„Geht zu Eurem Herrn“ sagte er, „und bittet ihn, in seinem Zimmer zu warten, bis ich zu ihm kommen und mit ihm sprechen kann.“

Sara stand noch, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen, oder auf jemand zu achten – am Bett.

Die Wärterin, welche sich näherte, um die Vorhänge zusammenzuziehen, stutzte beim Anblick ihres Gesichts und wendete sich dann zu dem Arzt.

„Ich glaube, es wird gut sein, wenn diese Person das Zimmer verläßt; meinen Sie nicht auch, Herr Doktor ?“ sagte die Wärterin mit einem gewissen Ausdruck von Verächtlichkeit in ihrem Ton und Blick. „Sie scheint durch das, was geschehen ist, über alle Maßen angegriffen und erschreckt zu sein.“

„Jawohl“, sagte der Doktor, „es ist am besten, wenn sie sich entfernt. Ich gebe Euch den Rat, uns auf einige Zeit zu verlassen“, setzte er hinzu, indem er Sara am Arme berührte.

Sie fuhr argwöhnisch zusammen, hob eine ihrer Hände zu der Stelle empor, wo die Schrift verborgen an ihrem Busen lag, und drückte sie fest darauf, während sie die andere Hand nach einem Licht ausstreckte.

„Ihr werdet wohltun, wenn Ihr eine Weile in Eurem Zimmer ausruht“, sagte der Arzt, indem er ihr ein Licht gab. „Doch, wartet“, setzte er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht, hinzu: „Ich stehe im Begriff, die traurige Neuigkeit Eurem Herrn mitzuteilen. Vielleicht wünscht er die letzten Worte zu hören, welche Mistreß Treverton in Eurer Gegenwart gesprochen hat. Deshalb ist es vielleicht am besten, wenn Ihr mitkommt und wartet, während ich zu dem Kapitän hineingehe.“

„Nein ! Nein ! – jetzt nicht, jetzt nicht, um des Himmels willen !“

Indem Sara diese Worte in leisem, raschem, bittendem Tone sprach und sich dabei wie erschrocken nach der Tür zurückzog, verschwand sie, ohne einen Augenblick zu warten, was man weiter zu ihr sagen würde.

„Eine sonderbare Person“, sagte der Arzt zu der Wärterin gewendet. „Geht ihr nach und sehr, wohin sie geht, im Fall sie gebraucht wird und wir nach ihr schicken müssen. Ich will hier warten, bis Ihr zurückkommt.“

Als die Wärterin zurückkam, hatte sie weiter nichts zu berichten, als daß sie Sara Leeson bis an ihr Schlafzimmer gefolgt sei – sie in dasselbe habe hineingehen sehen – daß sie an der Tür gehorcht und gehört habe, wie dieselbe von innen verschlossen worden.

„Eine sonderbare Person“, wiederholte der Arzt, „eine von der schweigsamen, geheimnisvollen Sorte.“

„Eine von der nicht guten Sorte“, bemerkte die Wärterin. „Sie spricht immer mit sich selbst und das ist meiner Ansicht ein schlimmes Zeichen. Ihr ganzes Aussehen gefällt mir nicht und ich habe ihr gleich von dem ersten Tage an, wo ich dieses Haus betreten, nicht getrauet.“

Zweites Kapitel Das Verbergen des Geheimnisses

Inhaltsverzeichnis

In dem Augenblick, nachdem Sara Leeson den Schlüssel in der Tür ihres Schlafzimmers herumgedreht hatte, nahm sie den Bogen Briefpapier aus dem Versteck ihres Busens. Sie schauderte, indem sie ihn herauszog, als ob schon seine Berührung sie verwundete, legte ihn offen auf ihren kleinen Ankleidetisch und heftete ihre Augen neugierig auf die Zeilen, welche der Brief enthielt.

Anfangs schwammen und verschmolzen sich dieselben vor ihren Augen durcheinander. Sie drückte ihre Hände einige Minuten lang auf die Augen und betrachtete dann die Schrift wieder. Die Buchstaben waren jetzt klar – deutlich und klar und, wie ihr vorkam, unnatürlich groß.

Da stand die Überschrift: „An meinen Gatten“ – dann folgten die von ihrer Feder geschriebenen Zeilen mit den Unterschriften am Ende, erst Mistreß Trevertons und dann ihre eigene.

Das Ganze belief sich auf nur sehr wenige Sätze auf einen einzigen vergänglichen Bogen Papier geschrieben, den die Flamme eines Lichts in einem Augenblick verzehrt haben würde.

Und dennoch saß Sara da und las und las immer und immer wieder und rührte das Papier nicht an, ausgenommen wenn es unbedingt notwendig war, um die erste Seite umzuwenden. Sie regte sich nicht, sie sprach nicht, sie hob ihre Augen nicht von dem Papier empor. Wie ein verurteilter Gefangener sein Todesurteil lesen würde, so las jetzt Sara Leeson die wenigen Zeilen, welche sie und ihre Herrin vor kaum einer halben Stunde geschrieben hatten.

Das Geheimnis der lähmenden Wirkung dieser Schrift auf ihr Gemüt lag nicht bloß in dieser selbst, sondern auch in den Umständen, von welchen ihr Zustandekommen begleitet gewesen war.

Der Schwur, welcher von Mistreß Treverton unter keinem ernstern Einfluß als der letzten Laune der zerrütteten, durch verworrene Erinnerungen an Bühnenworte und Bühnensituationen aufgestachelten Geisteskräfte verlangt worden, ward von Sara Leeson als das heiligste und unverletzlichste Gelübde betrachtet, durch welches sie sich jemals hätte binden können.

Die Drohung, Gehorsam gegen ihre letzten Befehle noch vom Jenseits aus zu erzwingen, welche Drohung die sterbende Herrin ausgesprochen, um damit zugleich ein spöttisches Experiment mit der abergläubischen Furcht der leichtgläubigen Zofe anzustellen, schwebte jetzt unheimlich über dem schwachen Gemüte Saras, wie ein Urteilsspruch, der sie sichtbar und unerbittlich in jedem Augenblick ihres künftigen Lebens ereilen könnte.

Als sie sich endlich aufrüttelte, das Papier von sich schob und sich von ihrem Stuhle erhob, blieb sie einen Augenblick ganz still stehen, ehe sie wagte, hinter sich zu schauen. Als sie dies endlich tat, geschah es mit Anstrengung und indem sie einen forschenden, mißtrauischen Blick in das leere Dunkel der entfernteren Winkel des Zimmers warf.

Ihre alte Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, begann wieder ihren Einfluß zu behaupten, während sie jetzt rasch hin und her ging und das Zimmer zuweilen der Länge, zuweilen der Breite nach durchmaß. Sie wiederholte unaufhörlich gebrochene Redensarten, wie zum Beispiel: „Wie kann ich ihm den Brief geben ? – Einem so guten Herrn, der so freundlich ist gegen uns alle ! – Warum starb sie und überließ alles mir ? – Ich kann es nicht alleine tragen,- es ist zuviel für mich !“

Während sie diese Redesätze wiederholte, beschäftigte sie sich träumerisch damit, daß sie die Sachen im Zimmer aufräumte und in Ordnung brachte, obschon dieselben sich bereits in vollkommener Ordnung befanden. Alle ihre Blicke, alle ihre Bewegungen verrieten den vergeblichen Kampf eines schwachen Gemüts, sich unter der Wucht einer schweren Verantwortlichkeit aufrecht zu erhalten. Sie ordnete und ordnete immer wieder die Porzellanschälchen auf ihrem Kaminsims – setzte ihr Nadelkissen erst auf den Spiegel, dann auf den Tisch vor demselben – veränderte die Stellung des kleinen Porzellanbeckens auf ihrem Waschtische, indem sie es bald rechts bald links schob.

Während aller dieser geringfügigen Verrichtungen waren selbst die nutz- und zwecklosesten derselben stets von einer unverkennbaren Anmut und Zartheit begleitet. Sie warf nichts herunter, sie stellte nichts schief, ihre Tritte machten selbst bei der raschesten Bewegung kein Geräusch – der Saum ihres Kleides war so sauber und fleckenlos, als ob heller Tag und die Augen aller ihrer Nachbarn auf sie geheftet gewesen wären.

Von Zeit zu Zeit änderte sie den Sinn der Worte, welche sie verworren vor sich hin murmelte. Zuweilen gaben sie kühnere und zuversichtliche Gedanken, wenn auch zusammenhangslos, zu erkennen.

Einmal schienen dieselben sie sogar wider ihren Willen an den Ankleidetisch und den darauf liegenden offenen Brief zu treiben. Sie las laut die Aufschrift: „An meinen Gatten“, ergriff dann hastig den Brief und sagte in festerem Tone:

„Warum soll ich ihm diese Schrift überhaupt geben ? Warum will ich nicht lieber das Geheimnis mit ihr und mit mir sterben lassen, wie es am besten wäre ? Warum sollte er es wissen ? Er soll es nicht wissen.“

Indem sie die letzten Worte sprach, näherte sie den Brief bis auf einen Zoll der Flamme des Lichts. In demselben Augenblick bewegte sich vor ihr der weiße Vorhang am Fenster, sowie die frischer werdende Luft durch die altmodischen, schlecht schließenden Fensterflügel hereindrang. Ihr Auge erblickte den Vorhang, während derselbe sich langsam vorwärts und rückwärts bewegte. Schnell drückte sie den Brief mit beiden Händen an ihre Brust und fuhr an die Wand des Zimmers zurück, während ihre Augen immer noch an dem Vorhang hafteten – mit dem Blick desselben Entsetzens, welches sie zu erkennen gegeben, da Mistreß Treverton gedroht hatte, von der andern Welt aus den Gehorsam ihrer Dienerin zu erzwingen.

„Es bewegt sich etwas“, keuchte sie bei sich selbst mit atemlosem Geflüster; „es bewegt sich etwas in dem Zimmer neben mir !“

Der Vorhang wehte zum zweiten Male langsam hin und her. Ich immer noch unverwandt über die Schulter hinweg anschauend, schlich sie sich die Wand entlang nach der Tür.

„Kommst du schon ?“ sagte sie, die Augen immer noch auf den Vorhang heftend, während ihre Hand an dem Schlosse nach dem Schlüssel tastete. „Ehe noch das Grab gegraben ist ? Ehe noch der Sarg fertig ist ? Ehe die Leiche kalt ist ?“

Sie öffnete die Tür und schlüpfte auf den Korridor hinaus. Hier blieb sie einen Augenblick stehen und schaute zurück in das Zimmer.

„Ruhe !“ sagte sie. „Ruhe ! – er soll den Brief bekommen.“

Die Treppenlampe leitete sie aus dem Korridor hinaus. Eilig, als ob sie fürchtete, sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, ging sie die Treppe hinunter und erreichte binnen wenigen Minuten Kapitän Trevertons Arbeitszimmer, welches sich im Erdgeschoß befand. Die Tür stand weit geöffnet und das Zimmer war leer.

Nachdem sie eine Weile nachgedacht, zündete sie eins der auf dem Tisch in der Hausflur stehenden Zimmerlichter an der Lampe im Arbeitszimmer an und ging wieder die Treppe hinauf nach dem Schlafzimmer ihres Herrn.

Nachdem sie wiederholt an die Türe gepocht, aber keine Antwort erhalten, wagte sie hineinzugehen. Das Bett stand noch unberührt, die Lichter waren nicht angezündet worden – allem Anscheine nach war während der ganzen Nacht niemand in dem Zimmer gewesen.

Nun gab es bloß noch einen Ort, an welchem sei ihn suchen konnte – das Zimmer, in welchem seine verstorbene Gattin lag. Hatte sie wohl Mut genug, um ihm den Brief dort zu geben ?

Sie zögerte ein wenig, dann flüsterte sie: „Ich muß ! ich muß !“

Die Richtung, welche sie nun zu nehmen gezwungen war, führte sie wieder einen Teil der Treppe hinunter. Diesmal ging sie sehr langsam, hielt sich vorsichtig an das Geländer an und blieb fast auf jeder Stufe stehen, um Atem zu schöpfen.

Die Tür von Mistreß Trevertons Schlafzimmer ward, als sie an dieselbe zu pochen wagte, von der Wärterin geöffnet, welche in rauhem und argwöhnischem Tone fragte, was sie hier wolle.

„Ich wünsche meinen Herrn zu sprechen.“

„Dann müßt Ihr ihn anderswo suchen. Er war vor einer halben Stunde hier. Jetzt ist er fort.“

„Wißt Ihr, wohin er gegangen ist ?“

„Nein. Ich bekümmere mich nicht um das Kommen und Gehen anderer Leute. Ich besorge, was meine Sache ist.“

Mit dieser höflichen Antwort schloß die Wärterin die Tür wieder. Gerade als Sara sich von derselben hinweg wendete, schaute sie nach dem innern Ende des Korridors. Dort befand sich die Tür der Kinderstube. Diese Tür stand ein wenig geöffnet und ein düsterer Schimmer Kerzenlicht fiel durch die Spalte.

Sara ging sofort hinein und sah, daß der Lichtschimmer aus einem innern Zimmer kam, welches, wie sie recht wohl wußte, gewöhnlich von dem Kidnermädchen und dem einzigen Kinde des Hauses Treverton bewohnt ward.

Dieses Kind war ein kleines Mädchen namens Rosamunde, zu dieser Zeit beinahe fünf Jahre alt.

Ist er vielleicht dort ? – von allen Zimmern des Hauses gerade in diesem ?

Schnell, wie dieser Gedanke in ihr erwachte, steckte Sara den Brief, welchen sie bis jetzt in der Hand getragen, in den Busen ihres Kleides und verbarg ihn zum zweiten Male gerade so, wie sie ihn verborgen, als sie das Bett ihrer Herrin verließ.

Dann stahl sie sich auf den Zehen durch die Kinderstube hindurch nach dem innern Zimmer.

Der Eingang desselben war, einer Laune des Kindes zu Gefallen, bogenförmig gemacht und mit bunt angestrichenem Spalierwerk versehen, sodaß er dem Eingang eines Gartenhauses glich. Zwei hübsche Zitzvorhänge, die innerhalb des Spalierwerks angebracht waren, bildeten die einzige Schranke zwischen dem Tagzimmer und dem Schlafzimmer.

Einer dieser Vorhänge war in die Höhe gesteckt und auf die auf diese Weise gebildete Öffnung ging Sara jetzt zu, nachdem sie vorsichtig ihr Licht draußen auf dem Korridor gelassen.

Der erste Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit in dem Schlafzimmer des Kindes auf sich zog, war die Gestalt des Kindermädchens, welches fest schlafend in einem Armstuhl am Feuer zurückgelehnt saß. Als sie nach dieser Entdeckung kühner in das Zimmer hineinzuschauen wagte, sah sie ihren Herrn, mit dem Rücken nach ihr gewendet, an dem Bettchen des Kindes sitzen.

Die kleine Rosamunde war wach und stand im Bett, während sie den Hals ihres Vaters mit ihren Armen umschlungen hielt. Eine ihrer Hände hielt die Puppe, die sie mit zu Bett genommen, über seine Schultern hinweg, die andere hielt sich sanft an seinem Haar fest. Die Kleine hatte bitterlich geweint und sich nun erschöpft, sodaß sie bloß von Zeit zu Zeit noch ein wenig stöhnte, während ihr Kopf müde an der Brust des Vaters ruhte.

Die Tränen standen Sara in den Augen, während sie ihren Herrn und die kleinen Hände betrachtete, die seinen Hals umschlungen hielten. Sie verweilte an dem aufgehobenen Vorhang, ohne auf die Gefahr zu achten, in der sie stand, jeden Augenblick entdeckt und zur Rede gestellt zu werden; sie weinte, bis sie Kapitän Treverton beschwichtigend zu der Kleinen sagen hörte:

„Still, meine gute Rose ! Still, mein liebes Kind; weine nicht mehr um die arme Mama. Denke an den armen Papa und suche ihn zu trösten.“

So einfach diese Worte waren, so ruhig und zärtlich sich auch gesprochen wurden, schienen sie doch Sara Leeson sofort aller Selbstbeherrschung zu berauben. Ohne darauf zu achten, ob sie gehört würde oder nicht, drehte sie sich um und eilte in den Korridor, als ob es gälte ihr Leben zu retten. An dem Licht vorbei, welches sie hier hatte stehen lassen, eilte sie, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, nach der Treppe und mit atemloser Schnelligkeit dieselbe hinab nach der Küche.

Hier kam ihr einer der beiden Diener, welche gewacht hatten, entgegen und fragte sie mit der Miene des Erstaunens und Erschreckens, was es gäbe.

„Ich bin krank – ich bin wie ohnmächtig – ich muß an die Luft“, antwortete sie stotternd und verworren. „Öffnet mir die Gartentür und laßt mich hinaus !“

Der Mann gehorchte, aber zweifelhaft, als ob er glaubte, sie könne nicht ohne Gefahr sich selbst überlassen werden.

„Sie wird immer seltsamer in ihren Mucken“, sagte er, als er, nachdem Sara an ihm vorüber ins Freie hinausgeeilt war, wieder zu seinem Kameraden zurückkam. „Nun, da ihre Herrin tot ist, wird sie wahrscheinlich einen andern Dienst suchen müssen. Ich für meine Person werde mich nicht zu Tode nach ihr sehnen. Du wohl auch nicht ?“

Die kühle milde Luft im Garten bestrich frisch Saras Gesicht und schien die Heftigkeit ihrer Aufregung zu beschwichtigen. Sie bog in einen Seitenweg ein, welcher nach einer Terrasse führte und die Aussicht auf die Kirche des benachbarten Dorfes bot. Das Tageslicht außerhalb des Hauses war schon ziemlich hell. Der neblige Schein, welcher dem Sonnenaufgang vorangeht, schwebte friedlich und lieblich hinter einer Strecke schwarzbraunen Moorlandes den ganzen östlichen Himmel entlang. Die alte Kirche mit ihrer Myrthen- und Fuchsienhecke, die den kleinen Kirchhof daneben mit all der Üppigkeit umgab, welche man bloß in Cornwall sieht, ward immer deutlicher und fast ebenso schnell als das Morgenfirmament selbst sichtbar.

Sara stützte sich mit den Armen schwerfällig auf die Lehne eines Gartenstuhls und wendete ihr Gesicht nach der Kirche. Ihre Augen schweiften von dem Gebäude selbst nach dem Kirchhof daneben, verweilten hier und sahen, wie das Licht über dem einsamen Asyl, wo die Toten in Frieden ruhten, immer wärmer und wärmer ward.

„O, mein Herz, mein Herz“, sagte sie. „Woraus muß es gemacht sein, daß es nicht bricht !“

Sie blieb eine Weile so auf den Stuhl gestützt stehen, schaute mit wehmütigem Blick nach dem Kirchhof und dachte über die Worte nach, welche sie Kapitän Treverton zu dem Kinde hatte sagen hören. Sie schienen – wie jetzt auch alles andere in ihren Gedanken zu tun schien – in Zusammenhang mit dem Brief zu stehen, der auf Mistreß Trevertons Sterbebett geschrieben worden. Sie zog ihn wieder aus dem Busen und knitterte ihn zornig in den Fingern zusammen.

„Immer noch in meinen Händen ! Immer noch von keinem andern Auge gesehen als dem meinigen !“ sagte sie, indem sie auf das zerknitterte Papier herabblickte. „Ist die Schuld aber mein ? Wenn sie jetzt noch lebte, wenn sie gesehen hätte, was ich sah – wenn sie gehört hätte, was ich hörte – könnte sie dann von mir erwartet haben, daß ich ihm den Brief geben würde ?“

Ihr Gemüt ward durch den Gedanken, den ihre letzten Worte aussprachen, anscheinend beruhigt. Sie bewegte sich gedankenvoll von dem Gartenstuhl hinweg, ging über die Terrasse, einige hölzerne Stufen hinunter und folgte einem durch die Anlagen gebahnten Pfad, der von der östlichen Seite des Hauses nach der nördlichen führte.

Dieser Teil des Gebäudes war seit länger als einem halben Jahrhundert unbewohnt und vernachlässigt gewesen. Zu Zeiten des Vaters des Kapitäns war die ganze Reihe der nördlichen Zimmer ihrer schönsten Gemälde und ihrer schönsten Möbels beraubt worden, um die westlichen Zimmer dekorieren zu helfen, welche jetzt den einzigen bewohnten Teil des Hauses bildeten und die für die Bequemlichkeit der Familie und der Gäste, welche hierherkamen, um vielleicht einige Zeit zu verweilen, auch vollkommen ausreichend waren.

Das schloßähnliche Gebäude hatte ursprünglich die Form eines Vierecks gehabt und war stark befestigt gewesen. Von den vielen Verteidigungswerken des Platzes war bloß noch eins übrig – ein plumper, niedriger Turm, von welchem, sowie von dem nahgelegenen Dorfe das Haus seinen Namen Portgenna Tower ableitete, und welcher an dem südlichen Ende der westlichen Front stand.

Die Südseite selbst bestand aus Ställen und Nebengebäuden mit einer verfallenen Mauer vor derselben, welche rückwärts in östlicher Richtung rechtwinklig an die Nordseite stieß und auf diese Weise das Viereck vervollständigte, welches der ganze Umriß des Gebäudes darstellte.

Die äußerliche Ansicht der Reihe nördlicher Gemächer vor dem verwilderten, vernachlässigten Garten unten verriet sehr deutlich, daß viele Jahre vergangen waren, seitdem irgend ein menschliches Wesen sie bewohnt. Die Fensterscheiben waren an manchen Stellen zerbrochen und an andern dicht mit Schmutz und Staub bedeckt. Hier waren die Läden ganz, dort waren sie bloß halb geöffnet. Der sich selbst überlassene Efeu, die wilde, aus den Spalten des Mauerwerks hervorwuchernde Vegetation, die Draperien von Spinnengeweben, das Geröll von Holz, Backsteinen, Kalk, zerbrochenem Glas, Lumpen und Fetzen schmutzigen Tuches, welches unter den Fenstern lag, alles erzählte dieselbe Geschichte von Verfall und Vernachlässigung.

In Folge ihrer Lage schattig, hatte diese verfallene Seite des Hauses ein finsteres, kaltes, winterliches Ansehen, selbst an dem sonnigen Augustmorgen, wo Sara Leeson sich in den verlassenen nördlichen Garten hineinverirrte.

Sich immer mehr in das Labyrinth ihrer eigenen Gedanken vertiefend, ging sie langsam an längst ausgerotteten Blumenbeeten vorüber und von Unkraut überwachsene Kieswege entlang. Ihre Augen schweiften mechanisch über diese Umgebung und ihre Füße trugen sie ebenso mechanisch überall hin, wo eine Spur von einem Wege war, mochte er führen, wohin er wollte.

Die Erschütterung, welche die von ihrem Herrn in der Kinderstube gesprochenen Worte ihrem Gemüt mitgeteilt, hatte ihre ganze Natur sozusagen in die Enge getrieben und in ihr endlich den moralischen Mut erweckt, sich durch einen endgültigen und verzweifelten Entschluss zu waffnen.

Immer langsamer die Pfade des verlassenen Gartens wandernd, sowie der Gang ihrer Ideen sie immer vollständiger von allen äußern Dingen abzog, blieb sie unwillkürlich an einem freien Raume stehen, der früher einmal ein wohlunterhaltener Rasenplatz gewesen und der jetzt noch die volle Aussicht auf die lange Reihe der unbewohnten nördlichen Zimmer darbot.

Was bindet mich, den Brief überhaupt meinem Herrn zu geben ? dachte sie bei sich selbst, indem sie das zerknitterte Papier träumerisch mit der flachen Hand wieder glatt strich. Meine Herrin starb, ohne mich dies beschwören zu lassen. Kann sie es vom Jenseits aus an mir heimsuchen, wenn ich bloß die Versprechungen halte, deren Beobachtung ich wirklich beschworen, aber weiter nichts tue ? Kann ich es nicht auf das schlimmste, was geschehen kann, ankommen lassen, so lange ich gewissenhaft alles halte, wozu ich mich eidlich verbindlich gemacht ?

Hier schwieg sie in ihrem Selbstgespräch. Ihre abergläubischen Befürchtungen äußerten im Freuen und beim hellen Tageslicht noch denselben Einfluß wie in ihrem Zimmer zur Stunde der Finsternis.

Sie schwieg, dann begann sie wieder den Brief glattzustreichen und sich die Worte der feierlichen Verpflichtung, welche Mistreß Treverton sie gewzungen hatte auf sich zu nehmen, ins Gedächtnis zurückzurufen.

Wozu hatte sie sich wirklich verbindlich gemacht ?

Bloß dazu, den Brief nicht zu vernichten und ihn nicht mitzunehmen, wenn sie das Haus verließe.

Außerdem hatte Mistreß Treverton noch gewünscht, daß der Brief ihrem Gemahl gegeben werde. War dieser letzte Wunsch bindend für die Person, welcher er anvertraut worden ? Ja. War er so bindend wie ein Eid ? Nein.

Als sie zu diesem Schlusse kam, blickte sie auf. Anfangs ruhten ihre Augen gedankenlos auf der einsamen, verlassenen nördlichen Front des Hauses. Allmählich wurden sie durch ein besonderes Fenster angezogen, welches sich genau in der Mitte in dem ersten Stockwerke über dem Erdgeschoß befand. Es war das größte und düsterste der ganzen Reihe.

Plötzlich leuchteten ihre Augen von einem seltsamen Ausdruck. Sie fuhr zusammen, eine schwache Röte überhauchte ihre Wangen und sie ging schnell näher hin an die Mauer des Hauses.

Die Glasscheiben des großen Fensters waren gelb von Schmutz und Staub und phantastisch mit Spinneweben drapiert. Darunter lag ein Haufen Unrat auf der trockenen Erde eines Platzes umhergestreut, der vielleicht einmal ein Blumenbeet oder ein Ziergebüsch gewesen war.

Die Form des Beetes war noch an einer länglichen Einfassung von Unkraut und wucherndem Gras zu erkennen.

Sie folgte ihm unentschlossen der ganzen Runde nach, blickte bei jedem Schritt nach dem Fenster empor, blieb dann dicht unter demselben stehen, warf einen Blick auf den Brief in ihrer Hand und sagte kurz abgebrochen zu sich selbst:

„Ich will es wagen.“

So wie diese Worte ihren Lippen entfielen, eilte sie zurück nach dem bewohnten Teil des Hauses, folgte dem Korridor in der Küchenetage, welcher nach dem Zimmer der Haushälterin oder dem Wirtschaftszimmer führte, trat in dasselbe und nahm von einem Nagel in der Wand ein Schlüsselbund, an dessen es zusammenhaltendem Ringe ein Elfenbeintäfelchen befestigt war, auf welchem geschrieben stand: „Schlüssel zu den nördlichen Zimmern.“

Sie legte die Schlüssel auf einem Schreibtisch in ihrer Nähe, ergriff eine Feder und fügte auf der leeren Seite des Briefes, den sie nach dem Diktat ihrer Herrin geschrieben, rasch noch folgende Zeilen hinzu:

„Wenn diese Schrift jemals gefunden werden sollte – was, wie ich von ganzem Herzen bete, niemals der Fall sein möge –, so erkläre ich hiermit, daß ich zu dem Entschlusse, sie zu verbergen, gekommen bin, weil ich nicht wage, den Inhalt dieses Briefes meinem Herrn zu zeigen, an welchen er gerichtet ist. Indem ich tue, was ich mir jetzt vornehme zu tun, handle ich allerdings den letzten Wünschen meiner Herrin entgegen, breche aber doch nicht den feierlichen Schwur, den sie mich vor sich an ihrem Sterbebett ablegen ließ. Dieser Schwur verbietet mir, diesen Brief zu vernichten oder ihn mit fortzunehmen, wenn ich das Haus verlasse. Ich werde auch keins von beiden tun, denn meine Absicht ist, ihn vor allen andern Orten an dem zu verbergen, wo nach meiner Ansicht die wenigste Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, daß er jemals gefunden werde. Jedes Drangsal oder Unglück, welches vielleicht eine Folge dieses hinterlistigen Verfahrens von meiner Seite ist, wird über mich selbst kommen. Andere dagegen werden, wie ich fest glaube, in Folge des Verbergens des furchtbaren Geheimnisses, welches dieser Brief enthält, nur um so glücklicher sein.“

Diese Zeilen unterzeichnete sie mit ihrem Namen, drückte rasch das Löschblatt darauf, welches mit den übrigen Schreibmaterialien auf dem Tische lag, nahm den Brief, nachdem sie ihn zusammengefaltet, zur Hand, ergriff das Schlüsselbund, indem sie sich rings umschaute, als ob sie im geheimen beobachtet zu werden fürchtete, und verließ das Zimmer.

Alle ihre Bewegungen, seitdem sie dasselbe betreten, waren hastig und schnell gewesen. Augenscheinlich fürchtete sie, sich auch nur einen Augenblick Muße zum Nachdenken zu lassen.

Als sie die Wirtschaftszimmer verließ, wendete sie sich links, ging eine Hintertreppe hinaus und schloß, oben angelangt, eine Tür auf. Eine Staubwolke flog um sie herum, während sie leise die Tür öffnete. Eine modrige Kühle machte sie frösteln, während sie eine große steinerne Halle durchschritt, in welcher einige schwarze Familienbildnisse hingen, deren Leinwand sich aus den an den Wänden hängenden Rahmen herausblähte.

Nachdem sie wieder eine Treppe erstiegen, kam sie an eine Reihe von Türen, welche alle in Zimmer des ersten Stockwerks auf der nördlichen Seite des Hauses führten.

Sie kniete nieder, legte den Brief neben sich auf die Diele dem Schlüsselloch der ersten Tür gegenüber, an welche sie von der obersten Stufe der Treppe aus kam, lugte mißtrauisch einen Augenblick hinein und begann dann die verschiedenen Schlüssel zu probieren, bis sie einen fand, der in das Schloß paßte.

Es kostete ihr viel Mühe, dies zu Stande zu bringen, denn ihre Aufregung war so groß, daß ihre Hände zitterten und sie kaum im Stande war, die Schlüssel getrennt voneinander zu halten.

Endlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Dichtere Staubwolken als ihr bis jetzt entgegengekommen, wirbelten in dem Augenblick heraus, wo das Innere des Zimmers sichtbar ward und eine trockene, luftlose, dicke Atmosphäre erstickte sie fast, als sie sich bückte, um den Brief vom Fußboden aufzuheben. Anfangs wich sie zurück und tat einige Schritte wieder nach der Treppe. Doch gewann sie ihre Entschlossenheit sofort wieder.

„Nun kann ich nicht mehr zurück“, sagte sie verzweifelt und trat in das Zimmer.

Sie blieb nicht länger als zwei oder drei Minuten darin. Als sie wieder herauskam, war ihr Gesicht totenbleich vor Furcht, und die Hand, welche, als sie in das Zimmer ging, den Brief gehalten, hielt jetzt nichts weiter als einen kleinen rostigen Schlüssel.

Nachdem sie die Tür wieder verschlossen, besah sie das große Schlüsselbund, welches sie aus dem Wirtschaftszimmer genommen, mit größerer Aufmerksamkeit als sie demselben bis jetzt gewidmet.

Außer dem an dem Ringe, der es zusammenhielt, befestigten Elfenbeintäfelchen waren auch noch kleinere Pergamentblättchen an die Griffe einiger der Schlüssel gebunden, um die Zimmer zu bezeichnen, deren Türen sie öffneten. Der besondere Schlüssel, dessen sie sich bediente, war auch mit einem solchen Blättchen versehen. Sie hielt dasselbe dicht an das Licht und las darauf in von der Zeit halb verwischten Buchstaben geschrieben:

„Das Myrtenzimmer.“

Das Zimmer, in welchem der Brief versteckt war, hatte also einen Namen ! Es war ein Name von angenehmem Klang, welcher die meisten Menschen angezogen und sich angenehm ihrer Erinnerung eingeprägt haben würde – ein Name, dem aber Sara nach dem, was sie getan, eben aus diesem Grunde mißtrauen mußte.

Sie nahm ihr Nähfutteral aus der Tasche ihrer Schürze und schnitt mit der darin befindlichen Schere das Pergamentblättchen von dem Schlüssel.

War es aber wohl genug, bloß dieses eine zu vernichten ? Sie verlor sich in ein Labyrinth von nutzlosen Mutmaßungen und schnitt zuletzt auch die andern Blättchen ab – aus keinem andern Grunde, als weil sie instinktartiges Mißtrauen dagegen hegte.

Nachdem sie sorgfältig die Pergamentstreifchen vom Boden aufgelesen, steckte sie dieselben nebst dem kleinen rostigen Schlüssel, den sie aus dem Myrtenzimmer mit herausgebracht, in die leere Tasche ihrer Schürze. Dann lenkte sie, mit dem großen Schlüsselbund in der Hand und indem sie sorgfältig die Türen, die sie auf ihrem Wege nach der Nordseite von Porthgenna Tower geöffnet, wieder verschlossen, ihre Schritte zurück nach dem Wirtschaftszimmer, ging, ohne jemand zu sehen, hinein und hing das Schlüsselbund wieder an den Nagel in der Wand.

Da die Morgenstunden mittlerweile vorgerückt waren und sie daher fürchten mußte, einer oder der andern der Dienerinnen zu begegnen, so eilte sie nun zurück auf ihr Schlafzimmer.