Ein unauffälliger Mann - Charles Chadwick - E-Book

Ein unauffälliger Mann E-Book

Charles Chadwick

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein hochintelligentes Porträt unserer Zeit

Tom Ripple, ein ganz normaler Mann, nicht gerade mit Charme oder intellektueller Neugier ausgestattet, erzählt von seinem ganz normalen Leben in der Londoner Vorstadt, vom Auf und Ab menschlicher Beziehungen, von seiner Sicht auf die Welt. Seine Aufzeichnungen sind mit das Überzeugendste, Erstaunlichste und Originellste, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Ein grandioses Sittengemälde Englands seit den Siebzigern, ein hochintelligentes Porträt unserer Zeit, ein weise-ironischer Blick auf die menschliche Natur.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1484

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CHARLES CHADWICK

Ein unauffälliger Mann

Inhaltsverzeichnis

CHARLES CHADWICK - Ein unauffälliger MannERSTER TEIL
KAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNKAPITEL VIERZEHNKAPITEL FÜNFZEHN
ZWEITER TEIL
KAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUN
DRITTER TEIL
KAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBEN
VIERTER TEIL
KAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNKAPITEL VIERZEHNKAPITEL FÜNFZEHN
ANMERKUNG DES AUTORSCopyright

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel It’s All Right Now bei Faber and Faber, London.

ERSTER TEIL

KAPITEL EINS

Eine Weile waren die Häuser links und rechts von uns leer. Dann wurden ungefähr gleichzeitig die ZU VERKAUFEN-Schilder weggenommen, und Leute zogen ein. Wir wohnen dazwischen, in einem (gerade so) freistehenden Haus, von dem ich inzwischen annehme, vielleicht meine Frau ebenfalls, daß wir den Rest unseres Lebens darin verbringen werden ... Na ja, irgendwo muß man ja anfangen, und wenn es nur auf irgendeinem alten Fetzen Papier ist. Ich weiß nicht so recht, was das eigentlich werden soll. Wir werden sehen müssen. Es kann ziemlich lange dauern.

Webb, unser Nachbar auf der einen Seite, leidet an zu großer Neugier, aber ich bin sicher, daß keine Bosheit dahintersteckt. Auf der anderen Seite leben ein Mann namens Hamble und seine Frau, die in ihrem Verhalten ein beständiges, aber geduldig ertragenes Leiden demonstrieren, das, wie ich vermute, für beide eine ziemliche Strapaze darstellt, wenn sie miteinander allein sind. Auch Webb ist verheiratet. Seine Frau ist eine blasse, geduckte Brillenträgerin und hält sich eher im Hintergrund, als wäre sie schon zu oft das Objekt der Neugier gewesen.

Oft, allerdings nicht allzu oft, wünsche ich mir, wir könnten es uns leisten, ohne nahe Nachbarn zu leben, anstatt in dieser nichtssagenden Londoner Vorstadt, wo man Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn man versucht, für sich zu bleiben. Schon an meinem Arbeitsplatz wird mir zuviel Nachbarschaftlichkeit aufgezwungen, da muß ich sie in den langen Zeitspannen dazwischen nicht unbedingt auch noch haben. Meine Frau würde solche Theorien (wenn überhaupt) als antisozial betrachten. Sie ist das genaue Gegenteil davon. Die Gesellschaft im allgemeinen und das Soziale im besonderen liegen ihr sehr am Herzen, zumindest hat sie Theorien darüber — sowohl über die Gesellschaft, die existiert, wie auch über die bessere, an deren Entstehung wir alle arbeiten sollten. Sie praktiziert, was sie predigt — und umgekehrt ebenso, was andere durchaus als, nun ja, benutzen wir das Wort einfach, antisozial betrachten könnten. Ich tue es nicht. Ich bewundere sehr, was sie tut, nämlich Gutes in einem anderen Viertel, wobei sie sich hin und wieder fragt, Gott sei Dank nur in der Theorie, ob sie dafür wirklich bezahlt werden sollte. Man könnte also sagen, daß wir beide an der Erschaffung einer besseren Welt, einer breiteren Nachbarschaftlichkeit arbeiten. Zumindest ist das die Theorie, und die lasse ich nicht zwischen uns kommen.

Wenn sie die Webbs oder die Hambles sieht, winkt sie ihnen flott zu, ohne zu unterbrechen, was sie gerade tut — meistens resolut unseren Gartenpfad hinauf- oder hinuntergehen –, und sie antwortet auf Webbs Fragen mit einem seitlichen Verziehen einer Mundhälfte, was nur Webb für ein Lächeln halten kann. Meine Frau hat keine Lust auf Diskussionen über unsere Nachbarn, da es doch viel schwerwiegendere Themen zu besprechen gibt, wie zum Beispiel die Entwicklung und das wachsende soziale Bewußtsein unserer Kinder, meinen totalen Mangel an beidem (über den nur in Andeutungen gesprochen wird) und den Zustand der Welt, der immer irgendwo dazwischen liegt.

Meiner Frau wäre es ziemlich egal, wo wir wohnen, natürlich innerhalb gewisser Grenzen; ich glaube, ihr wäre es lieber, in größerer Armut und Beschwerlichkeit zu leben, als sich noch offensichtlicher zu den Privilegierten zählen zu müssen. Deshalb bin ich ebensooft froh, genau da zu leben, wo wir sind, irgendwo in der Mitte also, soll heißen nicht zu verwahrlost, aber auch nicht zu sehr gequält von ihrem Gewissen. In dem Viertel, in dem sie arbeitet, gibt es sehr viel Verwahrlosung, und wenn sie davon erzählt, mache ich »Ts ts«, schüttle den Kopf, suhle mich in stummer Dankbarkeit für das, was ich habe, und sage nichts. Wir sind im Augenblick in den frühen Siebzigern, und die Lage scheint immer schlimmer zu werden, was sie für sie immer besser macht, zum Glück (oder leider).

Bis zu einem gewissen Punkt stelle ich mir gern vor, daß Webb seine Frau aus reiner Neugier geheiratet hat, um herauszufinden, wie die Intimitäten des ehelichen Lebens mit jemand so Schüchternem aussehen könnten, oder weil sie so gefügig wirkte, daß man mit ihr vermutlich viel experimentieren konnte. Ich stelle mir außerdem vor, daß er auch neugierig ist auf meine Intimitäten mit meiner Frau, wobei er ahnen dürfte, daß sie ihn nicht unendlich neugierig auf mehr machen würden. Eine meiner Spekulationen geht dahin, daß er, wenn wir nach oben ins Bett gehen, ohne Licht im Bad gegenüber unserem Schlafzimmer steht und darauf hofft, daß wir eines Abends vielleicht vergessen, die Vorhänge zuzuziehen und das Licht auszuschalten. Diese Art von Gedanken kann ich meiner Frau auf keinen Fall anvertrauen. Sie würde mir nicht nur einen Mangel an Phantasie vorwerfen, sondern mich obendrein noch für frivol halten. Sie würde außerdem Webb verachten, weil man bei ihm offenbar auf solche Gedanken kommen kann.

Ich glaube, bis jetzt mag ich Webb genug, um ihn nicht verachtet sehen zu wollen, vor allem nicht (nicht einmal) von meiner Frau. Und auch wenn ich mir nicht die Mühe mache, in dunklen Badezimmern zu lauern, muß ich gestehen, daß ich nicht sehr viel weniger neugierig bin, als ich es bei Webb vermute, und zwar auf das, was er und Mrs. Webb so miteinander treiben. Wenn ich mich bettfertig mache, lasse ich mir oft sehr viel Zeit und werfe flüchtige Blicke hinüber, um zu sehen, ob da irgendwas Interessantes passiert, nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß sie nachlässiger sind als wir. Ich meine, als meine Frau es ist, denn sie ist diejenige, die die Vorhänge zuzieht und immer noch zweimal daran zupft, um auch den winzigsten Lichtspalt dazwischen zu unterbinden. Generell gesprochen beschränkt sich meine Neugier darauf, mich bereitzuhalten, nicht wegzusehen, sollte sich mir irgend etwas Interessantes bieten. Wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit noch spazierengehe, schaue ich ganz beiläufig hoch zu erhellten Schlafzimmern mit offenen Vorhängen. Ich habe noch nie etwas gesehen.

Ich würde Webbs Neugier gern befriedigen, ohne ihm alles auf dem Silbertablett zu präsentieren, etwa indem ich nackt und erigiert vor seinem Badezimmerfenster auftauche und meine Frau packe, wenn die gerade ihren Unterrock ablegt oder ihren BH aufhakt, Dinge, die sie in letzter Zeit auf zunehmend sachliche und keineswegs zur Sache kommende Art erledigt. Ich hätte nichts dagegen, wenn er dabei unsere Schatten an der Wand sehen würde. Wenn ich es mir recht überlege, ich hätte auch nicht viel dagegen, wenn die Leute erführen, wie niedrig (ich sollte wohl besser sagen, wie eng) meine Frau in diesem Bereich die Grenzen akzeptablen Verhaltens ansetzt — was mir und der Gesellschaft allem Anschein nach noch etwas Gemeinsames gibt. Vielleicht glaubt Webb, daß eine Frau, die von sich selbst so besessen ist wie meine, sich in der Ekstase, von einem anderen besessen zu werden, völlig hingibt. Vielleicht würde er sie gern fragen, ob sie mit ihm ins Bett geht, nur um zu sehen, wie sie reagiert, aber ich bezweifle, daß seine Neugier so allumfassend ist. In Wahrheit denke ich manchmal (eher selten), ich würde Mrs. Webb gern dieselbe Frage stellen, aber auf eine Art, daß sie nicht genau weiß, was ich eigentlich will (etwa den Kopf plötzlich durch ihr Küchenfenster stecken und einfach sagen: »Wie wär’s?«), nicht wegen ihrer schockierten Miene, sondern weil sie es dann Webb erzählen und damit seine Neugier erregen könnte, was ihn wiederum anstacheln würde, sie in bezug auf meine Frau zu befriedigen. All das geht mir immer nur höchst flüchtig durch den Kopf. Mrs. Webb ist dürr mit einer Tendenz zum Ungepflegten. Ich möchte sie auf keinen Fall in irgendeiner Weise aufregen. Sie ist zu furchtsam und hilflos. Wenn man mit ihr spricht, was ich bis jetzt nur zweimal getan habe, beschreiben ihre Augen eine Parabel von der einen Schulter über den Nabel zur anderen.

Der Unterschied zwischen Webb und den Hambles, die man sich immer nur als Paar vorstellen kann, ist der, daß Webb, wenn man ihn fragt, ob man sich etwas borgen kann, einen Schraubenzieher oder ein Stück Draht zum Beispiel, sofort zurückfragt, wozu man es braucht. Beide Hambles dagegen stürzen in größter Hast davon, um danach zu suchen, auch wenn sie wissen, daß sie das Verlangte gar nicht haben, und später kehren sie dann mit glücklicher Miene zurück und präsentieren einem etwas anderes, eine Schere oder eine Rolle Spagat zum Beispiel, oder aber mit Trauermiene und leeren Händen, so daß man bedauert, sie nicht um sehr viel mehr gebeten zu haben oder um etwas anderes oder natürlich um gar nichts.

Webb behauptet, sie seien nach Kanada ausgewandert, als Churchill nach dem Kriegsende die Wahl verlor, aber wegen des anhaltenden Mangels an Wärme schon bald wieder zurückgekehrt. Webb hat sich diese Geschichte wahrscheinlich ausgedacht, aber wenn es tatsächlich stimmt, dann vermute ich, daß sie keinen Augenblick davon genossen hatten, sich nicht einmal gestatteten, daran zu denken, weil sie davon ausgingen, daß eine generelle Genußunfähigkeit überall auf dieser Welt ihre intensivste Erfahrung im Leben sein würde.

Manchmal meine ich, Schluchzen aus dem Haus der Hambles zu hören. Vielleicht erinnern sie sich an den lange zurückliegenden Tod eines kleinen Haustiers oder eines Kindes. Sie gehören zu den Menschen, die in ihrem Leben einen tiefen Schmerz haben, den sie nicht überwinden können, und die ihren Kummer in Gestalt einer unbestimmten Herzensgüte nach außen kehren. Die beiden sind alt, korpulent und grau, und sie zogen in unsere Straße, um hier ihren Lebensabend zu verbringen. Ich kann mir vorstellen, daß sie all ihre Ersparnisse in das Haus gesteckt haben, jetzt von einer immer kleiner werdenden Pension leben und sich permanent den Kopf zerbrechen, wie sie über die Runden kommen sollen. Sie gehören zu den Menschen, die sich still in eine Ecke zurückziehen, um zu sterben. Ich sehe es richtig vor mir, wie sie nebeneinanderliegen, Hand in Hand, auf dem Küchenboden vor dem Gasherd, nachdem sie es sich zuvor mit Kissen bequem gemacht haben. Ihr letztes Gespräch würde sich wohl darum drehen, was sie vor langer Zeit verloren oder was sie nie erlebt hatten, aber sie würden an ein Wiedersehen glauben, an eine Begegnung ihrer Seelen auf grünen, sonnigen Weiden im Schatten riesiger Eichen und Zedern. Sie gehören zu den Menschen, denen man nicht helfen kann, weil sie sich dann nur darüber aufregen, daß sie nichts als Gegenleistung anzubieten haben, und weil man ihnen das, was sie wirklich brauchen — anonymes Geld –, nicht in ausreichender Menge geben kann, ganz davon abgesehen, daß es sie verstören würde, nicht zu wissen, woher es kam. Nebenher jedoch pflegen sie einen makellosen Garten, in dem das Gemüse gleichmäßig und in so ordentlichen Reihen wächst wie die Blumen. Manchmal sehe ich Webb in ihrem Garten stehen und hierhin und dorthin deuten und Fragen stellen, aber ich glaube nicht, daß sie sie beantworten. Sie vermuten, daß er bereits zu viel erraten hat. Er borgt sich Gartengerät von ihnen, und zweimal habe ich ihn schon mit einem Samenpäckchen davongehen sehen. Ich bin mir sicher, er borgt sich die Sachen nur aus, damit er wieder hingehen und sie ihnen zurückgeben kann. Am liebsten würde ich ihm vorschlagen, unsere Häuser zu tauschen, weil die Hambles seiner Neugier offensichtlich mehr bieten als wir.

Meine Frau würde glauben, ich mache einen Witz. Sie lacht nie über meine Witze. Sie »lächelt« über ungefähr die Hälfte, über die offensichtlichen, aber weil ich meine Witze selber kaum noch lustig finde, sobald ich sie gemacht habe, kann ich an keinem Grinsen oder Zwinkern erkennen, ob ich die andere Hälfte nun gemacht habe oder nicht. Als ich sie fragte, ob sie mich heiraten will, und sie ja sagte, war ich so überrascht, daß ich sie fragte, wieso. Ich hatte ihr zu der Zeit schon mehrmals den Großteil ihrer Kleidung ausgezogen (oder besser »wir hatten« und »uns«, nur um dem Eindruck entgegenzuarbeiten, ich hätte im Lauf der Jahre die Initiative verloren), und unser Keuchen und Ächzen und verzweifeltes Stöhnen hatte keine grundlegende oder körperliche Disharmonie erkennen lassen, auch wenn es für alle Ohren außer für die unseren disharmonisch klang, so daß ich kaum noch einen Zweifel an unserer baldigen und endgültigen Vereinigung hatte. (Heutzutage würde Webb kaum noch etwas hören, außer er hätte sein Ohr direkt unter unserer Matratze.) Sie hatte also einen Grund, bei dem ich mir ziemlich sicher sein konnte. Doch was sie antwortete, war: »Du bist ein liebenswürdiger Mensch. Du hast einen trockenen Humor.«

Nicht einmal der liebenswürdigste aller Männer sollte, wenn er, erhitzt und keuchend, sich unter Riemen und Elastikbändern vorwärts tastet und weiche Oberflächen mit forschenden Lippen befeuchtet und durch die Nase eine ganze Reihe von Gerüchen einatmen muß, die er bei weitem nicht alle den eigenen vorzieht, kein Mann also sollte in einer solchen Situation erleben müssen, daß sein Humor in den Vordergrund gerückt wird. »Irgendwas muß ja trocken bleiben«, erwiderte oder murmelte ich, das Ohr inzwischen in der Gegend ihres Nabels, und dann noch: »Bald stecke ich fast bis zur Taille drin.« Es kam keine Reaktion, nicht das Vibrieren eines Lachens in ihrem Bauch — doch sie konnte mich auch unmöglich gehört haben. Ich war froh darüber, weil es, bei Gott, auch für mich ein feierlicher Augenblick war und ich nicht wollte, daß sie jetzt schon herausfand, wie selten mein Humor, im Gegensatz zu anderen Teilen von mir, sich zu Größe aufschwang. Wenn ich also jetzt sagen würde: »Laß uns mit den Hambles oder den Webbs tauschen«, würde sie sagen: »Was für eine lustige Idee. Warum?« Und ich würde erwidern: »Häuser, meine ich. Um sie näher zusammenzubringen. Damit sie nicht durch uns hindurchschauen müssen.« Oder so ähnlich.

Diese Art Unterhaltung kann ich mit meiner Frau nicht führen. Ich könnte nicht einmal vorschlagen, wir sollten die Webbs und die Hambles zum Essen oder zum Fernsehen einladen. Da sie selbst keinen Grund hat, Leuten gegenüber besonders aufmerksam zu sein, nur weil die zufällig nebenan wohnen, würde sie sich fragen, was für einen Grund ich dafür habe, da ich doch bis dahin keine nennenswerte Aufmerksamkeit irgendeiner Form gezeigt hatte. (»Wenn du nichts dagegen hast, Schatz.«) Sie würde Vermutungen über meine Motive anstellen und in eine völlig falsche Richtung denken. Sie weiß, daß ich keiner bin, der unnötige Verpflichtungen eingeht, und deshalb würde sie denken, ich will den Pflichtbewußten mimen, um meine Familie zu beeindrucken (aber was will ich dahinter verbergen?), wohingegen ich mir doch nur Webbs Neugier aus der Nähe, in unserer Mitte, anschauen will, mit einem leisen Bedauern darüber, daß wir ihr sehr schnell nichts mehr bieten können, während die Hambles in einem stetig wachsenden Tümpel aus Schweigen dasitzen. (Ich sollte hinzufügen, daß wir an diesem Abend, als sie in unsere Heirat einwilligte, auch nicht »bis zum Äußersten gingen«. Das kam erst später, als etwas anderes zu Ende gegangen war, das Sterben meines Vaters, um genau zu sein. Im Augenblick fühle ich mich nicht dazu in der Lage, genauer darauf einzugehen.)

Ich bin meiner Frau gegenüber nicht fair. Das bin ich selten. Sie ist eine Frau, an der man unmöglich etwas auszusetzen haben kann. Sie weiß, was sie will, ist ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, verbringt ihre Zeit sinnvoll, ist eine bewundernswerte Mutter, kurz gesagt, sie ist weiß Gott (weiß sie) alles, was ich nicht bin. Sie hat nicht den Wunsch, an mir herumzunörgeln, geschweige denn, mich zu dominieren. Es ist einfach so, daß sie die Führung übernommen hat, gelernt hat, mich so zu nehmen, wie ich bin, ein nicht unangenehmer Kerl, der, leider, ausschließlich das tut, was man von ihm erwartet. Zum Beispiel wählen wir beide Labour. Bei meiner Frau bedarf das keiner Erklärung. (Wenn sie sich nur daran halten würde.) In meinem Fall liegt es vielleicht daran, daß ich in mir das typische Erwerbsstreben des Konservativen erkenne und mich für die wenigen realen Erwerbungen, die aus diesem Streben resultierten, bestrafen will. Außerdem ist mein Chef ein Konservativer, gezwungenermaßen (ohne die Freiheit, etwas anderes zu sein?). Vielleicht liegt es auch daran, daß ich ungefähr alle vier Jahre für ein paar Sekunden die Selbstgerechtigkeit der Selbstzufriedenheit vorziehe, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, was mir für den Rest der Zeit lieber ist. Es könnte aber auch einfach so sein, daß ich wähle, was meine Frau wählt. Ich bin nach außen hin ein besserer Heuchler als ein Lügner. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich anders wähle, und würde unbedingt darüber reden wollen, natürlich vor den Kindern, was noch schlimmer ist. Mein Kreuz an der falschen Stelle wäre für uns alle eine entsetzliche Last. (Für die Liberale Partei hat meine Frau kaum mehr als ein Achselzucken übrig. Das ist ein Wort, das meine Frau nur in Kombinationen wie »liberal bemessene« Portionen oder Dosen oder Zuwendungen benutzt, was zu viel von etwas Gutem oder Schlechtem bedeutet. Es ist ein Wort, das mir vielleicht Kopfzerbrechen bereiten würde, wenn ich darüber nachdenken müßte, da es doch so viel Freiraum zum Guten wie zum Schlechten hin beinhaltet, man denke dabei nur an Begriffe wie Libertinage. Das gilt auch für das Denken selbst, das frei und ungehindert herumwandert, und wer weiß, wo das noch alles enden wird. Alles sehr besorgniserregend. Ich sollte die Freiheit haben, nicht darüber nachdenken zu müssen — wenn es mir gutgetan hätte, dann habe ich eben Pech gehabt. Und dabei wollen wir es bewenden lassen.)

Wir haben ein kleines Haus, einen kleinen Garten, ein kleines Auto (alles Folge meines kleinen Jobs), zwei völlig zufriedenstellende Kinder, und wir machen jedes Jahr zwei Wochen Urlaub irgendwo am Wasser. Ich habe keine Laster. Ich rauche meine Stumpen nur im Garten, und sogar dann schauen meine Kinder vom Fenster aus zu und wedeln heftig mit den Händen, ohne daß meine Frau einschreiten würde. Ich trinke nicht exzessiv und habe bis jetzt wirklich noch keinen Ehebruch begangen. Kurz gesagt, ich gebe meiner Frau keinen Anlaß zur Sorge. (Und unterstütze sie sogar, weil ich ihre Aufmerksamkeit nicht von den Sorgen derer ablenke, deren Betreuung ihr Beruf ist.) Wenn ich zu Hause bin, beschäftige ich mich mit kleineren Arbeiten wie Wände anstreichen, Risse mit Moltofill verspachteln, den kleinen Garten pflegen und das kleine Auto waschen. Das einzige Spiel, das ich spiele, ist Badminton, weil wir einen Club gleich in der Nachbarschaft haben. Meine Frau spielt keine Spiele, vielleicht aus Prinzip. Ich weiß das nicht so recht; ich habe sie nie gefragt. Bis zum nächsten Golfclub müßte ich vier Meilen durch heiklen Verkehr fahren, und ich glaube sowieso nicht, daß Golf mein Spiel wäre. Die Leute, die Golf spielen, haben eine gewisse beharrliche Leichtigkeit, die mich beschweren würde. Auch das ganze Drum und Dran an Ausrüstung. Außerdem habe ich das Gefühl, daß ich, wie oft ich auch üben würde, häufig in die mißliche Lage käme, vor allen Augen den Ball komplett zu verfehlen. Es ist auch ein teures Spiel, und das würde mein Gewissen insofern belasten, als ich mich hin und wieder verpflichtet fühlen würde, mich zu fragen, wofür das Geld besser ausgegeben wäre — nicht nur im Sinne der Anliegen meiner Frau, sondern auch besser oder erfreulicher für mich, was meiner beschränkten Erfahrung nach (im Vergleich zu der meiner Frau) nicht immer (nie) dasselbe ist. Nein, danke — ein sehr gutes Beispiel –, ich jogge auch nicht. Die Bereitschaft, sich von so vielen anderen dabei beobachten zu lassen, deutet auf ein Verlangen nach Selbstverbesserung von heroischen Ausmaßen hin, da doch absolut kein Vergnügen darin liegt — außer genau das ist das Vergnügen: die Leute wissen zu lassen, was für einen Spaß man nicht hat, weil man sich so viel besser fühlt dabei. Ich würde es nicht einmal in dichtem Nebel oder einem einsamen Moor tun, denn es liegt mir auch nichts daran, meine Sichtbarkeit ohne Not auf mich selbst zu beschränken; überdies ist es im Augenblick offensichtlich nicht mein Körper, der sich austoben muß.

Neben Herumwerkeln und Fernsehen lese ich Bücher: vor allem Thriller und Biographien der großen Entdecker. Ich nutze meine Zeit recht ordentlich, man könnte sagen, es ist eine Art unwillkürlicher Vergnügungssucht. »Du alter Hedonist, du«, hat meine Frau mich einmal genannt. Ich habe den Begriff »Hedonismus« nachgeschlagen: »Philosophische Lehre, nach welcher das höchste ethische Prinzip das Streben nach Sinnenlust und Genuß ist.« Es freute mich natürlich sehr, daß meine Frau in mir den Exponenten einer Philosophie sah, die bis zu den Griechen zurückreicht. Aber nachdem ich die gelehrten Worte herausgenommen hatte, blieb ich auf dem Streben nach Sinnenlust sitzen, und dieses Streben paßt nicht so recht zu mir, da es meiner natürlichen Trägheit widerspricht. Und Sinnenlust? Vielleicht gibt es noch eine andere Definition für einen alten Hedonisten.

Ich habe vom Leben nie viel erwartet und auch nie viel von mir, und meine Frau würde sagen, das ist ein und dasselbe. Ich nicht. Ich bin nicht sehr erpicht darauf, Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich das wäre, dann wäre mein Leben vermutlich weniger befriedigend, weil ich in Konflikt mit meiner Frau geraten würde. Sie ist es, die die Kinder erzieht. Wie sie das macht, stört mich im großen und ganzen wenig, allerdings habe ich den Eindruck, ob nun gerechtfertigt oder nicht, daß sie die Kategorien richtig und falsch oft überstrapaziert. Es wäre überhaupt nicht gut, wenn ich eigene Ideen über die Erziehung unserer Kinder hätte. In diesem sensiblen Bereich würde ich mich mit meiner Frau nur höchst ungern streiten. Sie ist eine bessere Rednerin als ich, und ich bezweifle, daß ich eine Argumentation, mit der ich ihr einen Irrtum nachweisen wollte, lange aufrechterhalten könnte. Außerdem habe ich keins der einschlägigen Bücher zu diesem Thema gelesen. Auch meinen Kindern hält sie gern Vorträge über den Unterschied zwischen Weisheit und Wissen. Mir wäre lieber, sie würde es nicht tun. Manchmal denke ich mir, letztendlich müssen sie nur wissen, daß Weisheit eine Form der Erschöpfung ist, denn das macht mich weiser, als sie es ist.

An diesem Punkt sollte ich mir vielleicht noch einmal die Frage stellen, warum ich überhaupt angefangen habe, so über mein Leben zu schreiben — abgesehen davon, daß ich im Büro Zeit dazu habe und es mir hilft, fleißig auszusehen. Ich schätze, ich möchte einfach herausfinden, wohin es mich führt, und vielleicht auch ein bißchen Selbsterkundung treiben, wobei ich erst weiß, was ich finden werde, wenn ich es direkt vor mir habe. Ansonsten gibt es meinen ständigen Selbstgesprächen ein wenig mehr Klarheit und erspart mir auch ihre Wiederholung — wobei ich vermutlich nicht mehr und auch nicht weniger mit mir selber rede als alle anderen. Das muß man sich einmal vorstellen: All diese ausgedachten, aber ungeschriebenen Lebensläufe überall um einen herum ...

Ich komme um halb sieben von der Arbeit nach Hause. Während ich in der Diele meinen Mantel aufhänge, rufe ich ein paar Worte der Begrüßung in das Wohnzimmer, wo meine Kinder sich die Nachrichten ansehen. Ich versuche, die Floskeln immer ein wenig zu variieren, aber ich glaube nicht, daß ihnen das auffällt. »Hey, Kinder!«, »Hallo, ihr zwei!«, »Bin wieder zu Hause!«, »Abend, Leute!«, das ist so in etwa meine Bandbreite. Da ich nur selten eine Antwort erhalte, strecke ich den Kopf durch die Tür und wiederhole mich. Meine Kinder schauen kurz hoch, heben eine Hand und lächeln manchmal sogar, allerdings so flüchtig, daß man schon sehr viel Optimismus und guten Willen aufbringen muß, um es überhaupt zu bemerken. Wenn meine Frau auch da ist, sagt sie: »Hallo, Liebling«, und zu den Kindern: »Sagt hallo zu eurem Vater.« Worauf sie synchron »Hi« sagen, ohne auch nur für einen Sekundenbruchteil den Blick vom Fernseher zu nehmen. Sie sehen mich ja nicht zum ersten Mal.

Oft denke ich mir dann, wie zufriedenstellend meine Kinder im großen und ganzen doch sind, wie gut erzogen usw. — wenn man, so gut es geht, davon absieht, daß sie ein wenig mehr Aufheben um mein Nachhausekommen machen könnten, ohne gleich davonzusausen, um meine Hausjacke und meine Pantoffeln zu suchen, was sie in dem Fall tatsächlich tun müßten, da ich beides nicht besitze. Es ist lange her, daß meine Frau mich fragte, ob ich einen schweren Tag gehabt habe. Sie weiß, daß ich so einen nie habe. Sie ist diejenige mit den schweren Tagen, da sie sich mit unverheirateten Müttern und Straftätern und so weiter herumschlagen muß. Ich frage sie nie, ob sie einen harten Tag gehabt hat, weil ich die Antwort und vor allem ihre Länge kenne. (»Alleinerziehende Mutter« ist übrigens der korrekte Begriff, fällt mir gerade ein, aber ich vermeide ihn, da er mich zu sehr an unsere Familie erinnert.)

Ich kann es meinen Kindern deshalb nicht verdenken, daß sie nicht gleich aufspringen, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, wie ich (und auch meine Frau) es wohl erwarten würden, wenn ich meine Tage damit zubrächte, Leute aus Feuersbrünsten zu retten oder Operationen am Gehirn durchzuführen oder auf eine andere Art die Welt zu verbessern. Darüber hinaus gehören die Nachrichten zu den Sendungen der informativen Kategorie, die anzuschauen sowohl die Schule wie ihre Mutter empfehlen, da sie ein Fenster zur Welt darstellen. Ich kann verstehen, daß meine altbekannte Anwesenheit, mein eigenes flüchtiges Lächeln sie auf keinen Fall vom Schmerz und der Fremdartigkeit der Existenz im allgemeinen ablenken dürfen.

Das Fernsehen ist einer der Bereiche in unserem Leben, in dem meine Frau mehr zu sagen hat als ich. Es ist der einzige, bei dem ich gern allein das Sagen hätte. Ich bin fast ausschließlich fixiert auf Harte-Männer-Eskapismus in Serien wie Starsky und Hutch, Hawaii Fünf-Null, Kojak, Mit Schirm, Charme und Melone und so weiter. Mir gefallen diese Sendungen wirklich, und ich freue mich immer den ganzen Tag darauf. Doch die Sendungen, die gut sind für meine Kinder und eigentlich auch gut sein sollten für mich, gefallen mir eher weniger. Meine Frau hat schon recht, wenn sie die Sendungen ankreuzt, die wir anschauen sollten, und unseren Kindern, die Hausaufgaben und andere verstandeserweiternde Tätigkeiten zu erledigen haben, verbietet, etwas anderes anzusehen. Meiner Ansicht nach hat BBC2 da einiges zu verantworten.

Meine Kinder gehen pünktlich um neun ins Bett, einen Konflikt zwischen meinem Vergnügen und ihrer Erbauung gibt es also nur bis zu einem gewissen Punkt. Nachdem sie ins Bett gegangen sind, kann es passieren, daß meine Frau sagt: »Ich würde lieber das und das sehen.« Und in dem Augenblick kommt es mir eigentlich gar nicht in den Sinn, genuschelt und mit einem Lolli im Mund zu antworten: »So ein Pech aber auch, ich möchte nämlich lieber das andere sehen.«

Ich hege keine aktive Abneigung gegen die Informationssendungen, mit denen sie sich bildet, und manchmal muß ich mir sogar eingestehen (laut murmle ich höchstens ein paar betroffene Adjektive), daß die Sendung für einige Augenblicke meinen Horizont wirklich erweitert hat; allerdings hege ich eine aktive Abneigung gegen das Gefühl des Schrumpfens, das darauf folgt, vor allem, wenn ich daran erinnert werde, wie meine Phantasie immer wieder meinem Intellekt, wenn nicht sogar meinem moralischem Empfinden (andersherum?) in die Quere kam, zum Beispiel bei all den verpaßten Verfolgungsjagden und nicht gesehenen Faustkämpfen.

Wenn meine Frau einmal ihren Kopf nicht durchsetzen kann, sagt sie oft, wie sehr sie sich jetzt auf ein paar stille Stunden gemütlichen Lesens freut, und ich sage dann vielleicht: »Was dagegen, wenn ich noch aufbleibe und mir das und das anschaue?« Worauf sie erwidert: »Natürlich nicht, Schatz.« Ohne hinzuzufügen (aber zu denken?): »Wenn dir so ein Quatsch gefällt.«

Sie kann nicht schlafen, bis ich auch im Bett bin, was blöd ist, andererseits macht sie aber auch keinen Aufstand, wenn mein schrecklicher Film sie bis nach der Zeit wach hält, zu der sie normalerweise schon eingeschlafen wäre. Sie dreht sich einfach von mir weg, wenn ich mir die Decke bis zum Kinn hochziehe. Sie seufzt nicht. Sie ist keine stumme Nörglerin, schließlich hat sie viele Bücher über das Eheleben und seine Rituale gelesen. Sie schläft ein, sobald ich das Licht ausmache. Sie schmollt nicht. Aber am nächsten Abend gähnt sie viel und geht früher als sonst ins Bett, so daß ich mir nicht an zwei Abenden hintereinander meine Lieblingssendungen anschauen kann. Meine Frau ist ein außerordentlich vernünftiger Mensch. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, warum sie eine so herausragende Persönlichkeit ist. Sie hat viel Erfahrung damit, was passieren kann, wenn ein verheiratetes Paar es nicht schafft, sich aneinander anzupassen. Sie hat sich auch mit den Auswirkungen auf die Kinder beschäftigt. Sie hält nicht viel von Streit. Ich auch nicht. In vieler Hinsicht sind wir ein perfektes Paar. Wir stimmen, ohne es je zur Sprache gebracht zu haben, völlig darin überein, daß wir schlecht beraten wären, wenn wir zuließen, daß das Fernsehen oder etwas anderes, Meinungen zum Beispiel, einen Keil zwischen uns treibt. Ganz allgemein halte ich mich an den Grundsatz, nicht mit Leuten zu streiten, die anderer Meinung sein könnten als man selbst.

Wenn ich also auf meine Kinder hinunterschaue, bevor ich mir ein Glas süßen, billigen Sherry einschenke, dann denke ich manchmal mit flüchtigem Bedauern an die Zeit zurück, als meine Kinder sich auf mich stürzten, wenn ich nach Hause kam, mein Sohn mich mit irgendeiner Waffe piekste und mir befahl, sofort tot umzufallen, und meine Tochter meine Beine umklammerte und darum bettelte, auf meine Schultern gehoben zu werden; aber mein wichtigstes Gefühl ist das der Zufriedenheit. Ich mache ihnen keine Angst, es ist eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich, daß sie immer auf der Seite der Engel stehen. (Das ist ein Ausdruck meiner Frau, ich auf jeden Fall achte immer darauf, im Hier und Jetzt auf der richtigen Seite von ihr zu stehen, da sie an ein Jenseits nicht glaubt, sie glaubt, nach dem Hier und Jetzt ist alles aus. Manchmal bittet sie mich, »ein Engel zu sein ...«, oder sagt, daß es mir im Himmel vergolten werde, wobei sie nie vergißt hinzuzufügen: »Wie’s im Sprichwort heißt.« Die Sache ist nur die, sie könnte durchaus auch unrecht haben, was mich in die Lage versetzen würde, ihr zu sagen, wenn wir uns oben wiedertreffen: »Wie’s im Sprichwort heißt, ich glaub’s einfach nicht!«) Um zu meinen Kindern zurückzukehren: Sie werden nie einen Grund haben, mich zu verachten oder das, wofür ich stehe (da ich für nichts stehe — höchstens vielleicht dafür, nicht aufzustehen, wenn die Nationalhymne gespielt wird). Sie werden heranwachsen zu vernünftigen, fleißigen Menschen, die mir keine schlaflosen Nächte bereiten werden. Ich liege auch jetzt nicht wach und zerbreche mir den Kopf über sie, höchstens gelegentlich, wenn ich mir den Kopf darüber zerbreche, ob ich es tun sollte.

Mein Sohn wird wahrscheinlich jemanden heiraten wie meine Frau, weil er, wie ich, kein sehr energisches Temperament besitzt, allerdings hat er den scharfen Verstand meiner Frau, der hin und wieder in Streitlust ausartet; also wird er sich vielleicht eine Frau suchen, die vorwiegend dann das Sagen hat, wenn nicht gerade ein Gespräch läuft. Es gibt allerdings etwas an ihm, das mir ein wenig Sorgen macht — ein gewisser Mangel an Fröhlichkeit, oder ist es vielleicht sogar Freudlosigkeit? Ich müßte mir allerdings um einiges klarer darüber sein, als ich es im Augenblick bin, um mit meiner Frau darüber zu sprechen.

Meine Tochter, die jetzt, mit zwölf, noch zu einer gewissen Affektiertheit neigt, aus der sich zweifellos die Gewißheit meiner Frau in bezug auf Gut und Böse entwickeln wird, wird auf keinen Fall jemanden wie mich heiraten, wenn auch nur, weil sie ein gutes Stück hübscher sein wird als meine Frau und deshalb die größere Auswahl haben wird, vor allem, wenn sie mit der Zeit noch lernt, die Abgrenzung zwischen Gut und Böse ein bißchen zu verwischen. Außerdem wird, dank ihrer jahrelangen Indoktrination durch die Ansprüche meiner Frau, einer wie ich schon ein gutes Stück unterhalb ihres Sichtfeldes stehen, wenn es dann einmal soweit ist. Was beide meiner Kinder einmal haben werden, ist sowohl Zielstrebigkeit wie Intelligenz. Auch ich habe Ambitionen für sie, einfach weil ich neugierig bin, zu sehen, wie weit sie es schaffen. Ich habe nichts dagegen, zu winken, bis sie außer Sicht sind. Während ich an meinem Sherry nippe, danke ich meinem Schicksal (meiner Frau), daß ich sie zeugen durfte, daß sie nicht entstellt oder zurückgeblieben oder häßlich sind, daß sie wahrscheinlich keine Forderungen an mich stellen werden. Nein, es wurmt mich nicht lange, daß sie meine Grüße nicht erwidern.

So richtig als komplette Familie fühlen wir uns nur im Urlaub. Zumindest bis jetzt waren unsere Urlaube glückliche Intermezzi. Meine Kinder nennen mich dann wieder Daddy, fragen sowohl mich wie meine Frau um Erlaubnis, ob sie dies und das tun dürfen, tollen mit mir am Wasserrand herum und fassen sogar manchmal nach meinen Händen, wenn wir am Strand oder sonstwo spazierengehen. Im Urlaub legen wir unser gewohntes Leben ab. Kein Fernsehen, Unmengen frischer Luft und Bewegung und viel tiefer Schlaf. Sogar meine Frau stürzt sich hinein und zappelt auf für sie höchst untypische Weise darin herum. (Ich rede jetzt vom Wasser.) Wir sind eine richtige Familie in diesen zwei Wochen (mehr können wir uns nicht leisten, das ist allerdings immer noch mehr, als die meisten Leute sich leisten können, vielen Dank, meine Liebe). Ich vermute, wir sind ein erfreulicher Anblick, wie wir fröhlich miteinander plaudern und herumplanschen. Ich sehe andere Familien wie uns, und mir kommt der Gedanke, daß wir im Vergleich zu ihnen recht gut abschneiden. Wir sehen irgendwie gesund aus. Unsere inneren Stimmen scheinen verstummt zu sein. Für meine Frau sind zwei Wochen genug. Für meine Kinder sind sie es allerdings bei weitem nicht. Mir ist es ziemlich egal. Wie ich eben darzustellen versucht habe, gefällt mir die Urlaubsstimmung, aber ich freue mich auch immer wieder auf den Fernseher, wenn wir zu Hause sind.

KAPITEL ZWEI

Manchmal denke ich mir, ich könnte ein wenig mehr von Webbs Neugier und der Herzensgüte der Hambles vertragen. Wie gesagt, wir wohnen zwischen ihnen — zwei kinderlosen Paaren –, und während ich mich frage, ob sie glauben, sie täten mir leid, spüre ich ihre wachsam prüfenden Augen beständig auf mir, ebenso wie die meiner Frau.

Manchmal denke ich daran, einfach zu verschwinden. Wegen meiner Familie würde ich mir keine Sorgen machen, o nein. Aber wohin sollte ich gehen? Ich sehe es vor mir, wie ich eine kurze, prägnante Nachricht auf den Kaminsims stelle, mich mit einem kleinen, schwarzen Plastikkoffer, dem einzigen, der mir gehört, über den Gartenpfad davonstehle, nach links abbiege ... und dann stocken meine Schritte. Ich sehe es vor mir, wie ich das Gartentor der Webbs öffne und ihren Gartenpfad hinuntergehe (meine Frau hat die Kinder zu irgend etwas Förderlichem gebracht, wie etwa dem örtlichen Jugendclub, den sie hassen wegen der Förderung, die er ihnen eben nicht zuteil werden läßt), an ihre Haustür klopfe und mich selber in ihr Heim einlade. Für immer. Webb würde mich willkommen heißen und sich die Lippen mit der Zungenspitze lecken, während seine Nase in einem regelrechten Neugierkrampf zuckt. Er würde mich in eine kleine, dämmerige Mansarde bringen, und von dort aus würde ich durch ein Fernglas beobachten, wie meine Familie ohne mich zurechtkommt — sehr gut, vielen Dank, denn sie vertiefen ihre Liebe zueinander mit Seufzern und Blicken, die von meinem Mangel daran erzählen. Ich habe mir noch nicht überlegt, in welcher Verkleidung oder welchen Verkleidungen ich kommen und gehen würde, ohne erkannt zu werden. So weit habe ich die ganze Sache noch nicht durchdacht. Das ist etwas, das ich Webb würde überlassen müssen. Er würde mich auf dem laufenden halten, und er würde es genießen. Er hat einen großartigen Blick für Details. Ich weiß nicht so recht, ob seine Neugier auch bedeutet, daß er Mitgefühl hat. Ich bin nicht so neugierig in bezug auf andere Leute, und ich habe auch nicht genug Mitgefühl für sie.

So lief ich zum Beispiel eines Tages unseren Gartenpfad hinunter und tat so, als würde ich sein Gesicht nicht bemerken, das aus dieser Buschreihe mit den kleinen, unauffälligen Blüten herauslugte, die etwa vier Meter unseres gemeinsamen Zauns ausmacht. Er sah aus wie ein geisteskranker Herumtreiber, der sich im Unterholz versteckt.

»Ist das Gerstenkorn besser geworden?« rief er mir zu.

Ich ging zu ihm und drückte die Hecke auseinander. Er berührte sein rechtes Auge und ich meins.

»Wie bitte? Ich wußte gar nicht, daß wir Gerste im Haus haben, geschweige denn, daß sie erst noch besser werden muß«, sagte ich und zeigte Zähne, wie ich es immer tue, wenn ich mir unsicher bin, wieviel Humor in der Luft liegt. Webb runzelte die Stirn.

»Das der kleinen Virginia.« Mit übertriebener Behutsamkeit berührte er sein Auge noch einmal.

(Mein Sohn heißt Adrian. Meine Frau hat die Namen unserer Kinder ausgesucht. Virginias zweiter Name ist Clementine. Adrians zweiter Name ist Toby. Ich stritt damals nicht mit ihr. Da ich zu der Zeit gerade Lady Chatterleys Liebhaber gelesen hatte, gehörten zu meinen Vorschlägen für meinen Sohn Thomas und John, »egal, in welcher Reihenfolge«, wie ich zu ihr sagte. Ich lächelte damals nicht, obwohl ich mir wünschte, es würde viel Humor in der Luft liegen, es mir sehnlichst wünschte, denn meine Frau war nach einigen anderen meiner Vorschläge — Randolph Dick, S. Herbert, Bob S. Leigh, Ivor Willy, C. Ellery usw. — inzwischen ganz und gar nicht mehr amüsiert und hatte mich bereits aufgefordert, nicht so albern zu sein, wofür ich jedoch sie hielt, weil sie die ganze Zeit mit diesen hochtrabenden Namen daherkam, die merkwürdig klangen aus dem Mund von jemand, dessen Überzeugungen zum Teil darauf beruhen, keine Allüren an den Tag zu legen — auch wenn sie vielleicht ein bißchen zu viel Aufheben darum macht. Abgesehen von allem anderen, paßte keiner dieser Namen zu dem, den ich in die Familie gebracht hatte: Ripple. Ich versuchte ihr auch Edward oder kurz Ned schmackhaft zu machen, was sie anfangs nicht völlig ablehnte, nachdem ich kurz davor schon auf Spooner verzichtet hatte. Aus irgendeinem Grund wurden Vanilla und Cherie für meine Tochter abgelehnt, und sie war dann nicht mehr im mindesten amüsiert, als ich sagte, Virginia und Clementine zusammengenommen würden klingen, als wäre unsere Tochter etwas außergewöhnlich Ekliges aus der neuen Eisdiele an der High Street, außer sie mache sich in späteren Jahren einen Namen am Cornetto.)

Aber wie dem auch sei, ich runzelte ebenfalls die Stirn, denn mir war am Auge meiner Tochter nichts Schlimmes aufgefallen. In diesem Augenblick fiel mir allerdings auch auf, wie wenig ich meine Tochter tatsächlich anschaue, wobei man bedenken muß, daß in der Zeit, die ich zu Hause verbringe, ihr Gesicht meistens dem Fernseher zugedreht oder über Hausaufgaben gebeugt ist. Sie hat ein süßes und unschuldiges Gesicht (das leider zu oft von einem Ausdruck der Süße und Unschuldigkeit verunstaltet ist), und ich hätte eigentlich noch den kleinsten Makel darauf bemerken sollen.

»Schon viel besser, danke«, sagte ich.

Webb drückte die Hecke weiter auseinander und brach dabei ein paar Zweige ab, genau diejenigen, wie ich später bemerkte, die die vielversprechendsten Knospen trugen. Dann schob er sein Gesicht dicht an meins heran, so daß ich mich ein wenig zurückbeugen mußte.

»Es gibt ja heutzutage ganz erstaunliche Salben«, sagte er.

»Das stimmt.«

»Wenn ich Sie wäre, würde ich den hinteren linken Reifen im Auge behalten.«

Seine kleinen schwarzen Augen schauten an mir vorbei zu meinem Auto. Er hat diese Angewohnheit, unvermittelt das Thema zu wechseln, und oft gibt er mir Ratschläge zu meinem Auto, etwa weil er aus ihm Geräusche gehört hat, die, wie mir in der Werkstatt versichert wurde, völlig normal sind — für ein Auto seines Alters, und hat es eigentlich das Telegramm von der Queen schon bekommen? Sehr lustig, erwidere ich, und nein, ich weiß nicht, wo der Mann, der immer mit der Fahne vor ihm hergeht, hingekommen ist.

Ich zuckte zusammen. »Mal wieder mein alter Ischias. Dennoch danke.« Dann ging ich, ein wenig gebeugt und mit einem leichten Hinken, davon.

Ich kehrte ins Haus zurück und schaute mir meine Tochter an, die eben bei der Hausarbeit half. Ihr linkes Lid war sehr gerötet und zu etwa zwei Dritteln seiner Länge geschwollen, also wahrscheinlich so schlimm, wie es nur sein konnte, bis es anfing, wieder besser zu werden. Es glänzte feucht vor Creme.

»Ich hoffe, du tust dir was auf das Auge«, rief ich durch den Lärm des Staubsaugers und berührte mein linkes Auge.

»Ist noch nur ein blödes Gerstenkorn«, rief sie zurück. »Hatte ja schon Hunderte davon.«

»Solange du nur ...«

Worauf sie den Staubsauger links und rechts an meinen Beinen vorbeischob und sich dann umdrehte, um unter dem Wohnzimmertisch zu saugen. Ich trottete den Gartenpfad wieder hinunter, schlug mit meinem Badminton-Schläger kräftig nach einer Heidekraut-Aster und ärgerte mich über mich selber, weil ich nicht weiter gekommen war, als mich zu fragen, warum man wegen eines Gerstenkorns eigentlich so ein Tamtam machte. Als ich mich am Gartentor noch einmal umdrehte, sah ich, daß meine Tochter mich an dem Lumpen vorbei, mit dem sie nun das Wohnzimmerfenster putzte, anstarrte. Ich dachte mir: Das bringt sie bestimmt beim Abendessen zur Sprache.

Was sie auch tat. Zu ihrer Mutter gewandt, sagte sie: »Ich habe gesehen, wie Dad mit seinem Badminton-Schläger einer Blume den Kopf abgeschlagen hat.«

»Reiner mutwilliger Vandalismus«, erwiderte ich und versuchte, mich daran zu erinnern, welche soziale Ungerechtigkeit normalerweise der Auslöser dafür ist.

Mein Sohn sagte: »Warum hast du das getan? Das hätte er nicht tun sollen, oder, Mum?«

»Es steht dir wohl kaum zu, zu kritisieren, was dein Vater in seinem eigenen Garten macht.«

Aber sie warf mir einen dieser Blicke zu, ein flüchtiges Stirnrunzeln oder ein langsames Zwinkern, ein Blick, der eigentlich nur für mich wahrnehmbar sein sollte, den meine Kinder aber unweigerlich jedesmal mitbekamen.

»Hab nur meinen Aufschlag geübt«, sagte ich, hob die Fingerspitzen ans Kinn und schloß in einem Ausdruck der Versenkung die Augen. »Lasset uns beten ...«

Aber ein feierlicher Ernst hatte sich über den Tisch gelegt, und die Chancen, einen Lacher zu provozieren, waren gleich null. Ich hatte mich eines undisziplinierten Verhaltens schuldig gemacht. Ich konnte meine Frau denken hören (was sie mit ziemlicher Sicherheit nicht tat): Kein Wunder, bei all dem Quatsch, den er sich im Fernseher anschaut. Unter der Gelassenheit lauert Gewalt. Er wird uns alle noch enttäuschen.

Auf jeden Fall könnte ich mich darauf verlassen, daß Webb mich darüber auf dem laufenden hielte, wie meine Familie ohne mich zurechtkommt, was meine Frau mit dem Auto tun sollte, um zu verhindern, daß sie einen tödlichen Unfall haben, welche Erfolge sie mit erstaunlichen Salben haben und so weiter. Ich könnte mir vorstellen, daß Mrs. Webb mir mein Abendessen in die verdunkelte Mansarde bringt, ohne ein Wort, ohne einen Blick in meine Richtung, aber immer mit der Frage im Kopf, ob es bei der ganzen Schreiberei, mit der ich dauernd beschäftigt bin, vielleicht um sie geht. Vielleicht würde sie das Tablett vor der Tür abstellen. Und sooft ich eine von Webbs neuen Verkleidungen anlegte, würde sie sich vielleicht einreden, ich sei ein völlig anderer Mensch. Immerhin müßte ich die ganze Straße entlanggehen können, ohne von Leuten erkannt zu werden, die dann meiner Familie petzen würden, sie hätten mich gesehen und ich würde ein äußerst merkwürdiges Verhalten an den Tag legen. Der ganze Plan hatte natürlich Schwachstellen: Webb und ich müßten uns in dunklen Badezimmern abwechseln, Mrs. Webb hätte nicht den geringsten Schimmer, was wir eigentlich im Schilde führen, ob ich einen eigenen Fernseher hätte, wieviel Miete ich zahlen müßte, eine ganze Latte solcher Details. Vielleicht sind es diese Höhenflüge der Phantasie, die wir nicht zu Ende denken, was uns vor Schwierigkeiten bewahrt — und nicht die sachlich nüchternen Details, die Gewißheit, alles zu Ende gedacht zu haben, daß es das war und die ganze Sache der Mühe nicht wert ist.

Um diesem Gedankengang noch ein wenig nachzuhängen, nun aber abschließend, wie ich hoffe. Was ich über die glücklichen Urlaube am Meer gesagt habe, war insofern eine Lüge, als ich, wenn ich mich an sie erinnere, intensiver als sonst in diese albernen, aber euphorisierenden Phantasien versinke, die so schwer zu beschreiben sind. Mal sehen: Ein Pfad aus Mondlicht, der sich von einem weißen Sandstrand zum Horizont hin verjüngt, das Rascheln von Palmwedeln über meinem Kopf, während ich es mir bequem mache auf meiner Chaiselongue (wie Mrs. Hamble das Ding nannte, als sie die Umzugsmänner beauftragte oder, besser, sehr kleinlaut bat, sie unters Fenster zu stellen) und an einem Minz-Julep nippe, während junge Damen, die im Mondlicht dunkler wirken, mit wehenden Baströcken an mir vorbeigehen, dann stehenbleiben und sich zu mir beugen, um mir nachzugießen, so daß mein Blick genau auf den Blumenkränzen ruht, die baumelnd und sie kaum verhüllend vor ihren ... der Rest sollte im Grunde genommen Sache der Phantasie sein, aber die vermasselt es völlig. Na ja, eigentlich nicht. Ich meine nur, daß es schwierig ist weiterzumachen, oder zumindest ich habe die Schwierigkeit, über diese tropische Mondscheinszenerie hinauszugehen bis zur tatsächlichen Aktion, der vollen Nacktheit — hinauszugehen über das Stadium des »O Mann, puh, das ist vielleicht ein Paar« und »Ups, jetzt schau dir die mal an«. So eine Niete ist man also, hat man am Hals. Ich könnte meiner Frau nie gestehen, daß ich Gedanken dieser Art habe. Sie würde nur antworten, das ist doch völlig natürlich/normal, Schatz. Sie wäre auch nicht bestürzt, da diese Gedanken ja keine »soziale Dimension« haben, wenngleich auch in solchen Fallen normalerweise ein »Mangel an Phantasie« die Ursache ist, wie sie sagt, und genau das scheint auf mich ebenfalls zuzutreffen, da meine Phantasien einfach so vertröpfeln und mir »der Schaffensdrang« fehlt, den auch die Gesellschaft so dringend nötig hat, wie man mir sagt, wobei diese beiden Mängel so ziemlich auf das gleiche hinauslaufen dürften, wie es ja bei mir offensichtlich der Fall ist. Also sieht es mal wieder so aus, als hätten die Gesellschaft und ich etwas gemeinsam. Wie dem auch sei — und darauf wollte ich eigentlich hinaus –, ich bin mir sicher, meine Frau geht davon aus, daß ich Gedanken dieser Art nicht habe, und ich bin zufrieden mit den wenigen, die ich habe. Vielleicht würden meine Phantasien ihr nur dann Kopfzerbrechen bereiten, wenn ich anfangen würde, gewisse Magazine nach Hause zu bringen, die dann unsere Kinder zufällig finden könnten, da sie die Angewohnheit hat, sie immer wieder nach irgendwelchen Sachen suchen zu lassen, wozu oft auch gehört, daß sie in Schubladen wühlen. Das wäre dann nicht so phantastisch.

Die fraglichen Magazine kaufe ich mir in der Mittagspause, verstecke sie in der einzigen Schublade meines Schreibtisches, die ich abschließen kann, und schaue sie mir in der Mittagspause des folgenden Tages an, womit ich dann so beschäftigt bin, daß ich ohne Mittagessen auskommen muß. (Ich sollte eigentlich hinzufügen, daß ich mich im Grunde genommen schäme, natürlich nicht für meine Lust, sondern dafür, daß ich dem Verhalten jener Klasse von Personen Vorschub leiste, die ihre Lust auf diese Art befriedigt, und natürlich der Herabwürdigung von Frauen. Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte das nicht hinzuzufügen brauchen, aber das »ich sollte eigentlich« ist Ihnen sicher aufgefallen. So kann einem sein Gefühl für richtig und falsch in einem einzigen Wort durcheinandergeraten. Soll heißen, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich schäme oder nicht; zu wissen, daß man es sollte, sollte eigentlich fast dasselbe sein, aber ist es das wirklich?

Weil wir gerade von Schmuddelbildern reden, meine Frau war nur ein einziges Mal unverblümt wütend auf mich. Es hatte zu tun mit meiner Bemerkung über eine Reproduktion der Mona Lisa über dem Kamin im Haus eines Kollegen — von ihr, muß ich hinzufügen  –, und zwar sagte ich, daß ihr Ausdruck auf mich weder ironisch noch geheimnisvoll, noch unergründlich, noch heiter, noch sonst irgendwie in der Richtung wirke, sondern einfach nur geil. (Ich fügte sehr schnell »kokett« hinzu, aber Wörter haben oft die Tendenz, sich zu ergänzen, anstatt sich zu ersetzen.) Auf dem Nachhauseweg fragte mich meine Frau, welcher »perverse« Teufel mich da geritten habe und warum ich es darauf anlegte, anders zu reagieren als alle anderen, und das auch noch im Bereich der Kunst, wo ich mich doch so wenig auskenne. Das hätte rein gar nichts zu bedeuten gehabt, erwiderte ich und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Aber wie auch immer, seitdem habe ich sie bei keinem ihrer Besuche in den Häusern ihrer Kollegen mehr begleitet. Ich hätte mich nicht lustig machen dürfen, ich weiß, vor allem, wenn ich daran denke, wie verloren ich mich fühle inmitten von hochkulturellem Treiben auf einer weiten Rasenfläche mit einem hohen Zaum drum herum — und ich erinnere mich auch noch gut an das höchst unjoviale Schweigen, das sich vor dem schelmischen Gesicht ausbreitete, und an die Blicke, die meine Frau erhielt, Blicke mitleidiger Verwunderung darüber, wie jemand wie sie nur mit jemand wie mir verheiratet sein könne. (Ich sehe durchaus ein, daß Jovialität in der Art von Arbeit, die meine Frau und ihre Kollegen verrichten, nicht zu den erforderlichen oder erstrebenswerten Eigenschaften gehört. Das ist auch gut so. »Wie amüsant abscheulich«, klingt irgendwie nicht richtig. Es gibt eine ganze Reihe von Sätzen, die meiner Frau nie über die Lippen kommen würden, und einer davon ist: »Da muß man einfach lachen.«)

Als die Hambles einzogen, gingen wir rüber, um sie zu fragen, ob wir ihnen helfen könnten. Es war die Idee meiner Frau, die von meiner Tochter eifrig unterstützt wurde. Die Hambles erröteten, und Mrs. Hamble sagte zu ihrem Mann: »Ist das nicht nett von ihnen, Alf?«

»Das ist es«, erwiderte er.

Nein, nein, das sei überhaupt nicht nötig, sagten sie, obwohl sogar ich sehen konnte, daß sie Hilfe nötig hatten. Zum Beispiel brachten sie ihren Herd nicht zum Laufen, ein Waschbecken war verstopft, und eine Kiste mit Bettzeug war von der Umzugsfirma verschlampt worden. Als wir gingen, hörte ich sie auf diese heimliche Art über ihr Pech reden, die typisch ist für sie, denn sie wollen nicht, daß ihre Sorgen bekannt werden, weil sonst andere sie bemitleiden könnten, was wiederum ihnen erlauben würde, sich selber weniger zu bemitleiden. Es war ein schändlicher Gedanke. Und auch unpräzise, wie ich jetzt denke.

Als wir zu unserem Haus zurückkehrten, sagte meine Frau: »Da drüben scheint alles in Ordnung zu sein. Die kommen schon zurecht. Ist dir aufgefallen, daß Webb von diesem Fenster im ersten Stock zugeschaut hat? Neugieriger kleiner Mistkerl.«

Webb wartete natürlich nur ab, bis wir gegangen waren. Dann war er drüben wie der Blitz und ging sofort wieder, nur um mit einer Saugglocke zurückzukehren und dann lange bei ihnen zu bleiben. Wahrscheinlich reparierte er ihren Herd und brachte ihnen später auch noch Bettzeug.

Ich erzähle diese Episode, um zu demonstrieren, daß es nicht die größte Stärke meiner Frau ist, mitzubekommen, was direkt vor ihrer Nase passiert, wohingegen sie größte Scharfsicht bei Leuten zeigt, die weiter weg oder aber Beispiele für ein allgemeines soziales Problem sind; was mich zu der Frage bringt, nachdem sie meistens schon nicht mitbekommt, ob ich da bin oder nicht, wie lange sie brauchen würde, um mitzubekommen, daß ich überhaupt nicht mehr da bin — wobei ich als Beispiel dann viel interessanter sein dürfte, für meine Kinder allerdings das genaue Gegenteil.

Das alles war ganz anders am Anfang, als wir noch in einer Wohnung mit Gartenzugang einen kräftigen Steinwurf entfernt von der North Circular Road lebten und ich mir Mühe gab, meinen Anteil (zugegebenermaßen keinen sehr großen) an der Hausarbeit zu leisten etc. Eines Abends bot ich meiner Frau an, ihr insoweit beim Abendessen zu helfen, als ich die Bohnen schnitt, die Kartoffeln schälte, die Erbsensuppe aus der Dose in einen Topf schüttete und alles zum Kochen brachte. Auf kleinerer Flamme brutzelten auch Steaks in einer Pfanne. Danach ging ich zu meiner Frau hinaus in den Garten, wo ich mit einem Schäufelchen Unkraut ausstach, mich dabei jedoch ablenken ließ von, unter anderem, ihren forschen Bewegungen beim Laubrechen (hatten wir schon so schnell den Herbst unseres Lebens erreicht?), wobei zu »unter anderem«, in der Form einer schnellen Abfolge von Vergleichen, die etwas trägeren Reize einer jungen Dame im Nachbargarten gehörten, die jedoch nur in Bruchstücken zu sehen war, allerdings genau die richtigen Stücke, und zwar durch zwei fehlende Latten im Zaun. Meine Vergleiche waren eben bei dem höchst originellen Gedanken angelangt, daß das, worauf man nur einen schnellen Blick werfen kann, reizvoller sein kann als das, was man dauernd vor Augen hat, als meine Frau ihren Rechen auf den Rasen warf und an mir vorbeieilte. Ich kauerte noch interessiert vor der unteren Lattenlücke, als ich sie aufstöhnen hörte: »O Gott, was ist denn da los.« Also drehte ich mich um und schaute eine Weile zu, wie Rauch und Dampf hübsch aus dem Küchenfenster wehten, bevor ich ihr gemächlich folgte, um ihr genügend Zeit zu geben, mit der Problemlösung auf ihre Art zu beginnen. (»Wir machen es auf deine Art« wurde so ungefähr am zweiten Tag unserer Ehe zu meinem Universalsatz. Doch man darf da keinen Groll hineinlesen; es ist nur eine elegante Möglichkeit, eine Diskussion abzukürzen, deren Ausgang von Anfang an klar ist.) Schließlich stand ich, nach überflüssigem Pinkeln und peniblem Händewaschen, in der Tür zur Küche, wo sie mit einem Arm wedelte, um den Dampf zu vertreiben, und mit der anderen Hand etwas machte, das lautes Scheppern verursachte. »Also wirklich«, murmelte sie — oder war es: »Was kommt denn noch alles?« Ich weiß es nicht mehr. Ich war verlegen (nicht nur um Worte), konnte mich ja schlecht in diese erbsensuppendicke Luft stürzen, ohne, wie ich meinte, die für einen Suchtrupp erforderlichen Gerätschaften parat zu haben. Die Luft wurde etwas klarer, und ich öffnete das Fenster, so weit es eben ging. Als ich mich dann umdrehte, sah ich ihr gerötetes Gesicht und die Tränen in ihren Augen.

»Ziemlich viel Dampf auf deine Turbinen, was?« sagte ich.

Es kann sein, daß sie erst jetzt »Also wirklich« oder »Was kommt denn noch alles« sagte.

Nicht der Anflug eines Lächelns war auf diesem rosigen und wäßrigen Gesicht zu erkennen, obwohl wir frisch verheiratet waren und noch Liebe zwischen uns war, sogar sehr viel davon. Später, bei Spaghetti und Rühreiern, spielte sie die Episode herunter. Ich bot ihr an, den Herd und die Töpfe und Pfannen mit Stahlwolle zu reinigen, aber von so groben Mitteln wollte sie nichts wissen. Damals, vor so langer Zeit, war ja alles noch sehr, sehr in Ordnung, jede Begegnung am früheren oder späteren Abend konnte eine Einleitung zum Vorspiel oder zum Heben des Sicherheitsvorhangs werden. Sie legte mir die Hand auf den Arm und lächelte voller Vergebung und Zuneigung, ziemlich präzise in dieser Reihenfolge. Ich antwortete mit einem Grinsen und schüttelte den Kopf, da ich beschlossen hatte, die ganze Schuld auf mich zu nehmen und nicht einmal anzudeuten, daß die Frau von nebenan verantwortlich sein könnte. Es ist durchaus möglich, daß in dieser Nacht Virginia gezeugt wurde. Ich internalisierte das Problem, wie meine Frau das in bezug auf ihre Benachteiligten nennt. Das Feuer, das hätte ausbrechen können, fuhr mir in die Lenden. Am Ende war es meine Leidenschaft, die dampfte und rauchte.

Vielleicht sollten Webb, Hamble und ich mal gemeinsam irgendwo hingehen. Webb wäre unser Späher, er würde sich an die Spitze setzen und neugierig in alle Richtungen schauen wie diese nervösen, stolzierenden Vögel. Hamble würde hinter uns herwatscheln, voller Güte und Verständnis, das Wesen, das all unsere körperlichen und seelischen Lasten auf sich nimmt. Und ich, der ich am meisten zu verlieren hatte, würde nichts beitragen außer ein wenig nicht allzu intelligentem Humor — abgesehen von der Tatsache natürlich, daß wir ohne mich nie in die Situation gekommen wären, diesen Ausflug in die Welt zu wagen, ich als Neutraler zwischen dem Ruhelosen und Neugierigen vorneweg und dem Zuvorkommenden und Passiven hintendran. So wäre ich geschützt; aber zwischen den beiden in einem Bett sehe ich mich deswegen noch lange nicht. So neugierig könnte Webb nie sein und Hamble nicht so zuvorkommend. Außerdem würde ich wohl einen Großteil der Unterhaltung bestreiten müssen. Webb stellt nur Fragen oder deutet auf dieses und jenes hin, während Hamble vorwiegend mit Formeln der Zustimmung oder nachdenklichen Kopfbewegungen kommuniziert.

Ich vermute, wir würden lächerlich aussehen, wenn wir nebeneinander oder im Gänsemarsch über eine Wiese oder eine Straße gingen. Das Problem ist nur, ich komme mir schon jetzt ziemlich lächerlich vor, wenn ich zum Beispiel versuche, einen Blick auf das Gesicht meiner Tochter zu erhaschen, mich frage, wie oft mein Sohn (außer im Urlaub) an mich denkt, und gleichzeitig das geistige Auge meiner Frau auf mir spüre, die mich nach Lebenszeichen absucht. Aber ohne jeden Groll. Ich spiele meine Rolle, indem ich ihr als Projektionsfläche diene für das, was sie sich an Zufriedenheit gestattet. Verglichen mit so vielen anderen, haben wir keine Probleme. Ich habe keine Klagen, also kann auch sie sich nicht beklagen. Es ist lächerlich, nicht zu wissen, warum man sich lächerlich vorkommt.

Meine Frau liest eben ein Buch über Einwanderer und fragt sich, was sie noch tun könnte, um ihnen zu helfen. Hin und wieder liest sie uns ein paar Zeilen laut vor. Meine Kinder machen ein betroffenes Gesicht, aber sie haben den Trost des Wissens, daß sie nichts tun können, außer noch netter zu sein zu den dunkleren Kindern in ihrer Schule. Ich bin mir sicher, daß sie bereits netter zu ihnen sind als die meisten anderen Kinder. Sie versuchen, sich ein schlechtes Gewissen einzureden, weil ihre Mutter es von ihnen erwartet, sind sie doch Mitglieder einer Gesellschaft, in der alle Verantwortlichkeit für das, was schlecht ist auf dieser Welt, geteilt wird. Natürlich sagt sie das nie direkt. Sie spricht die zitierten Sätze nur klar und deutlich aus, hebt am Ende die Stimme, als wären es Fragen, und sieht uns dann an, als erwartete sie eine Antwort.

Wenn sie darüber spricht, was schlecht ist in der Welt, runzle ich die Stirn, was entweder bedeuten könnte, daß ich es auch schockierend finde und etwas dagegen getan werden sollte, oder daß es mir lieber wäre, sie würde mich nicht dauernd bei meinem Spionagefilm stören — der Plot ist sowieso schon kompliziert genug. Ich könnte aber auch die Stirn runzeln, weil es mir lieber wäre, sie würde es mir nicht so leicht machen, immer wieder vorauszuahnen, wie sie als alte Frau aussehen wird, weil es mir lieber wäre, sie würde ihre Haare nicht so kurz geschnitten tragen und sie hätte mir die Ehre erwiesen, ein wenig von dem Zeug in den Tuben und Gläsern aufzulegen, die im Lauf der Jahre immer seltener ersetzt werden mußten, und sie laufen wirklich, die Jahre. Es ist ein Zeichen der Befreiung, das weiß ich, daß man so genommen wird, wie man ist, und das scheint mir auch ganz richtig zu sein — wobei es allerdings bei der Frage, wie weit wir es uns gestatten sollten, so gesehen zu werden, wie wir wirklich sind, sicherlich einige Argumente dafür gibt, bis zur abschließenden Beantwortung ein wenig den Schein zu wahren. Ich spreche hier natürlich ausschließlich für mich selbst. Also schließe ich diesen Gedankengang mit der Beobachtung ab, daß sie mehr Falten hat, als sie in ihrem Alter haben sollte, oder etwa nicht? Sie kommen natürlich davon, daß sie sich zu viele Sorgen um andere Menschen macht, und wie viele mehr wären es noch, wenn diese anderen auch mich einschließen würden? Mein Stirnrunzeln bleibt also, während ich die oben erwähnten Möglichkeiten durchgehe. Es ist meine Art, auf ihr stummes Mustern und ihre fragende Stimme zu reagieren beziehungsweise sie zu ignorieren. Aber ehrlich gesagt, ich habe mir mein Stirnrunzeln im Spiegel angeschaut, und es könnte alles oder nichts bedeuten. Manchmal denke ich mir, daß es nicht mehr ist als die Imitation eines Stirnrunzelns, nur der Versuch, in mir das Gefühl zu wecken, wie sehr ich mich sorgen könnte, wenn ich es nur genug wollte. Wenn ich Afrikaner oder Asiaten auf der Straße oder sonstwo anlächle, wie ich es manchmal tue, wenn ich mich daran erinnere, was meine Frau mir eingeschärft hat, habe ich oft das Gefühl, es wäre ihnen lieber, ich würde es nicht tun, weil ich mich mehr um meinetwillen als um ihretwillen einschmeichle. Allerdings lächeln sie immer zurück, sie sind ja so höflich. Ein besorgtes