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Wie kann Demokratie transparenter, gerechter und zukunftsfähig werden? Dieses Buch stellt innovative Ideen und konkrete Konzepte vor, wie wir unser politisches System verbessern können. Dritte Kammern, Bürger:innenräte, mehr Mitbestimmung und eine politische Kultur, die Zusammenhalt fördert: Expert:innen und Bürger:innen zeigen, wie wir als Gemeinschaft wirksam werden können. In einer Zeit, in der demokratische Werte unter Druck stehen, eröffnet dieses Buch eine mutige Perspektive: Demokratie ist kein starres System – sie kann wachsen, lernen und sich verändern. Und wir alle können dazu beitragen. Mit Beiträgen von: Jascha Rohr, Anna Kückelmann, Alexandra Klobouk, Bernd Bötel, Christoph Burger, Thomas Deterding, Leonie Disselkamp, Elke Fein, Christian Felber, Dominik Fette, Raban Daniel Fuhrmann, Antje Hinz, Kristina Krömer, Josef Maiwald, Sophie Mirpourian, Claudine Nierth, Clemens Oswald, Paula Rubertus, Lukas Salecker, Constantin Schäfer, Ute Scheub, Laurenz Scheunemann, Linus Strothmann, Bruno Wipfler, Susanne Zels, Andreas Zeuch, Sebastian Bohnet, Martin W. Boit, Stefan Körber, Vera Köhler und Axel Zietz.
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jascha Rohr
Jascha Rohr (Hrsg.)
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
erschienen 2025 im oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Goethestraße 28, 80336 München +49 89 544184 – 200
© Jascha Rohr (Hrsg.)
Mitarbeit: Anna Kückelmann, Ole Gärtner, Robert Kaden
Layout und Satz: oekom verlag
Korrektur: Maike Specht
Umschlaggestaltung: Laura Denke, oekom verlag
Ein Projekt der Cocreation Foundation
Gefördert durch die Open Society Foundations
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Diese Lizenz erlaubt das Vervielfältigen und Weiterverbreiten des Werkes, nicht jedoch seine Veränderung und seine kommerzielle Nutzung. Die Verwendung von Materialien Dritter (wie Grafiken, Abbildungen, Fotos, Auszügen etc.) in diesem Buch bedeutet nicht, dass diese ebenfalls der genannten Creative-Commons-Lizenz unterliegen. Stehen verwendete Materialien nicht unter der genannten Creative-Commons-Lizenz, ist die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers für die Weiterverwendung einzuholen.
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ISBN: 9783987264528
DOI: https://doi.org/10.14512/9783987264511
Cover
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Inhaltsverzeichnis
Hauptteil
Jascha Rohr
Kapitel 1:
Einführung
Anna Kückelmann / Jascha Rohr
Kapitel 2:
Werkstatt für ein Demokratie‐Update Deutschland
Kapitel 3:
Aufruf: Du bist Souverän!
Teil 1:
Entwürfe für ein demokratischeres politisches System
Teil 2:
Entwürfe für bessere Institutionen und Verfahren
Teil 3:
Entwürfe für eine bessere politische Kultur
Teil 4:
Entwürfe für bessere Beteiligung und Mitbestimmung
Teil 5:
Entwürfe der Bürger‐Expert:innen
Glossar
Die Autor:innen
Anmerkungen
Jascha Rohr
Dieser Band kommt zu einer Unzeit. Oder vielleicht genau zur richtigen Zeit. Während du diese Zeilen liest, verlieren Demokratien weltweit an Stabilität (The Economist Intelligence Unit 2024). In den USA droht der Präsident ebenso wie in Europa rechte Parteien unverhohlen mit Massendeportationen und politischen Säuberungen. Wir beobachten in den USA einen Staatsstreich von innen. In Ungarn wird die Gewaltenteilung abgebaut, in Polen scheint sie knapp noch verhindert worden zu sein. In der Türkei wurde ein autoritäres Präsidialsystem eingeführt, Hongkong von China einverleibt. Die Ergebnisse der letzten demokratischen Wahlen in Belarus wurden ignoriert, die Oppositionen dieser Länder werden offen oder versteckt staatlich verfolgt. Auch in Deutschland wächst die Zahl der Menschen, die sich von der Politik entfremdet fühlen und sich ausgerechnet von autoritärer Führung mehr Beachtung ihrer Angelegenheiten versprechen. Vertrauen schwindet – und mit ihm die Grundlage jeder Demokratie.
Müssen wir uns in dieser Lage nicht darauf konzentrieren, mit aller Kraft das Bestehende zu verteidigen? Wäre es nicht fahrlässig, unsere Demokratie in dieser Situation mit neuen Ideen, Diskussionen und Veränderungen weiter zu destabilisieren?
Unsere Demokratie ist eine der besten, die es je gab. Sie ist stabil, sie schützt unsere Rechte, sie ermöglicht Freiheit und Sicherheit. Doch ist sie damit am Ende ihrer Entwicklung angekommen? Ist sie wirklich schon die beste Demokratie, die wir uns vorstellen können? Die Antwort ist einfach: Nein. Ein politisches System ist kein Denkmal, das bewahrt werden muss – es ist ein Werkzeug, das funktionieren muss. Und wenn sich die Welt verändert, muss sich auch dieses Werkzeug anpassen.
Insbesondere, wenn wir sehen, dass die real existierende Demokratie tatsächlich Schwächen hat. Sie kommt ihrem eigenen Versprechen nach Teilhabe und Mitwirkung aller nicht vollständig nach. Sie ist nicht schneller, effektiver und fairer als andere Staatsformen und findet nicht immer die besten Lösungen für das Gemeinwohl. Vor allem konnte sie die Spaltung der Gesellschaft nicht verhindern (Nierth & Huber 2023). Genau das muss eine gute Demokratie aber leisten. Deswegen muss sie sich hinterfragen und weiterentwickeln. Gerade wenn Probleme sichtbar werden, Kritik laut wird, Fehler passieren und Angriffe zunehmen, kann eine Demokratie ihre Stärke entfalten: Sie kann sich lernfähig, einsichtig für Fehler, innovativ und evolutionär zeigen. Sie kann durch Kritik und Angriffe stärker, besser und resilienter werden.
Und genau darum geht es in diesem Buch: Wir brauchen ein Update unserer Demokratie! Dringend! Wir brauchen politische Innovationen und eine starke demokratische Kultur, die Demokratie wieder zu einem lebendigen, kraftvollen Prozess macht. Wir müssen unsere Demokratie stärker, handlungsfähiger, lösungsorientierter machen. Vor allem aber müssen wir den Beweis antreten, dass die Demokratie weiterhin liefert: Lösungen für alle Menschen im Land, Konzepte, Klarheit, Führung, Sicherheit, Nachhaltigkeit und Verständigung in der Gesellschaft. Wir müssen zeigen, dass Demokratien weiterhin die besten Antworten für ein gutes Leben in Freiheit, Frieden, Wohlstand, Sicherheit und Nachhaltigkeit liefern.
Wie sähe für dich eine erneuerte, verbesserte Demokratie aus? Welche Möglichkeiten der Mitgestaltung hätte diese Demokratie? Nimm dir ruhig einen Moment Zeit. Stell es dir ganz konkret vor.
Du wirst merken, das ist gar nicht so einfach. Vor allem, wenn wir nicht nur nach Schuldigen suchen, sondern uns als ganze Gesellschaft in die Verantwortung nehmen wollen. Wie sähe das konkret aus? Ein Update der Demokratie? Und wie können wir dadurch verhindern, dass uns unsere Demokratie genommen wird?
Hitler benötigte nur 52 Tage, um die Weimarer Republik auf legalem Wege abzuschaffen. Seitdem ist diese Methode zum Handbuch autokratischer Herrscher geworden. Putin, Orban, Erdogan oder Milei zeigen, dass es keine faschistische Ideologie mit Fahnen und Swastikas braucht. Moderne Autokraten geben sich einerseits konservativ und gemäßigt, argumentieren für Recht und Ordnung, um Wahlen zu gewinnen, und polarisieren andererseits mit vergifteten Emotionen. Einmal an der Macht, bringen sie den Rechtsstaat unter ihre Kontrolle, schaffen ihn ab und ersetzen ihn durch korrupte Clans und Seilschaften. Ihre Verbündeten sind weniger politische Fanatiker:innen als vielmehr Oligarchen, die die Kommunikations‐ und unsere Versorgungsinfrastrukturen besitzen, von denen wir und unsere offenen Gesellschaften abhängig sind (Applebaum 2024). Mit Blick auf die USA müssen wir vielleicht sogar von einer Maniokratie sprechen: einer Herrschaft der Wahnsinnigen und Besessenen, wenn nicht die Vermutung naheläge, dass dieser Wahnsinn durchaus Methode hat (Project 2025 o. J.).
Warum fällt es den Demokratien so schwer, sich zu wehren? Liegt es an einer grundsätzlichen Schwäche oder am mangelnden Engagement der Demokrat:innen? Die Weimarer Republik scheiterte nicht allein an den Menschen, die die radikalen Parteien wählten. Sie scheiterte nicht allein an zentralen mächtigen Figuren und Mandatsträgern wie Hindenburg und von Papen. Auch die wirtschaftliche Krise und die gesellschaftliche Spaltung können nicht allein für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlich gemacht werden. Es lag neben diesen Gründen eben auch an strukturellen Schwächen des demokratischen Systems. Eine fehlende Fünf‐Prozent‐Hürde, die instabile Regierungen begünstigte, die übermächtige Stellung des Reichspräsidenten, der per Notverordnungen regieren konnte: Das waren kleine, aber entscheidende Mängel im Design einer ansonsten durchaus soliden Verfassung. Diese Mängel konnten genutzt werden, um die Demokratie von innen heraus auszuhöhlen und abzuschaffen.
Das Scheitern von Demokratien liegt fast immer im Zusammenspiel dieser vier Faktoren:
starke äußere und innere Krisen, auf die das politische System keine guten Antworten liefert
enttäuschte, verunsicherte und wütende Wähler:innen, die sich und ihre Nöte nicht repräsentiert sehen
undemokratische Mandatsträger:innen, die die Schwächen für ihren eigenen Machtgewinn ausnutzen
tatsächliche Fehler im Design des politischen Systems
Um Krisen adäquat zu begegnen, braucht es ein starkes, widerständiges System und kompetente Menschen, die bereit sind, sich demokratisch zu einigen. Sonst gibt es keine guten politischen Antworten auf Krisen. Das lässt Enttäuschung, Verunsicherung und Wut entstehen. Denen, die ein Interesse an der Destabilisierung der Demokratie haben, fällt es nun leicht, vermehrt Gehör zu finden und zersetzende Narrative zu streuen. Diese aufgeheizte Stimmung wird genutzt, um sich als bessere Alternative mit einfachen Antworten zu präsentieren. Am Ende führt diese Dynamik zu Situationen, in denen die Schwächen einer Verfassung ausgenutzt werden können. Systemische und strukturelle Fehler, sozusagen Bugs im Code der Verfassung, sind daher gefährlich. Neben der Notwendigkeit für gute politische Lösungen in Krisenzeiten, neben dem Fördern von Vertrauen und Mut in der Gesellschaft und neben demokratisch gefestigtem Personal müssen wir immer wieder auf die Funktionsweise und das Design des politischen Systems selbst gucken. Und mit politischem System ist mehr als nur die Verfassung gemeint. Es beinhaltet auch nachgeordnete Gesetze und Verordnungen, Geschäftsordnungen der Organe und informelle Formen der politischen Teilhabe und demokratischen Kultur. Der analytische und gestalterische Blick auf dieses Gesamtsystem ist gerade in Zeiten multipler Krisen und Angriffe auf die Demokratie wichtig. Und daran sollte der Souverän nicht nur vermittelt sondern möglichst direkt beteiligt sein. Denn wir alle sind Expert:innen unseres politischen Systems und können dessen Analyst:innen, Erfinder:innen, Ingenieur:innen und Designer:innen sein.
Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes waren solche Ingenieur:innen unserer Demokratie. Und sie haben nach dem Zweiten Weltkrieg weitreichende Schlüsse aus Deutschlands unheilvoller Rolle in zwei Weltkriegen gezogen. Mit dem Grundgesetz haben sie uns eine Verfassung gegeben, die besser und sicherer als die der Weimarer Republik sein sollte. Sie haben auf eine klare und starke Gewaltenteilung, auf die Fünf‐Prozent‐Hürde, einen starken Verfassungsschutz und eine starke Stellung des Parlaments gegenüber Kanzler:in und Präsident:in gesetzt. Das zeigt sich nicht zuletzt in einer Parlamentsarmee. Und auch das Parteienverbot wurde uns als ein scharfes Schwert in die Hand gegeben, um die Demokratie robust und widerständig gegen Verfassungsfeinde zu machen.
An diesem Grundgesetz gab es immer wieder Änderungen und Anpassungen (Leonhardt & Hano 2024). Die Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik verändert, aber das Grundgesetz ist nahezu unverändert übernommen worden. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass sich viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht mit dem Grundgesetz identifizieren und sich verfassungskritischen bis verfassungsfeindlichen Parteien zuwenden. Und kürzlich vor Veröffentlichung dieses Buches gab es eine kleine, aber zentral wichtige Veränderung: Die Struktur des Bundesverfassungsgerichts wurde in die Verfassung aufgenommen, um das Bundesverfassungsgericht vor einer Instrumentalisierung durch verfassungsfeindliche Kräfte zu schützen. Es gibt und gab also Anpassungen und Veränderungen, die inhaltlich durchaus wichtig sind.
Mit Blick auf das politische System selbst hat sich jedoch wenig getan. Wir sind sozusagen immer noch in der Bundesrepublik 1.0 – vielleicht, wenn man die Wiedervereinigung als große Zäsur nehmen möchte, in der Bundesrepublik 2.0 (Rohr et al. 2019). Aber technisch gesehen, leben wir in einer Demokratie, deren Design 75 Jahre alt ist. Das ist einerseits Grund zu Freude und Stolz. Es zeigt, wie gut unsere Verfassung und wie stabil unsere Demokratie ist. Andererseits sehen wir genau jetzt, dass wir nicht selbstverständlich davon ausgehen können, dass das immer so bleiben wird. Eine Verfassung ist kein unveränderliches Naturgesetz, sondern ein menschlicher Entwurf. Und dieser wurde aus dem Verständnis einer historischen Erfahrung gemacht. Nach 75 Jahren und mit Blick auf den Zustand unserer Gesellschaft darf, ja muss man heute fragen: Ist dieses Design noch zeitgemäß? Passt es zu unserer heutigen historischen Erfahrung? Ist es in Zeiten von Digitalisierung, KI, Social Media, ist es bei erstarkendem Rechtspopulismus, immer mehr autokratischen Staaten, global agierenden (Tech‑)Oligarchen, ist es in Zeiten einer globalen Pandemie und einem neuen Angriffskrieg in Europa immer noch up to date, oder braucht es dringend ein Update? Wir würden heute ungern mit einem Betriebssystem von 1995 auf unserem PC arbeiten. Warum aber regieren wir uns noch mit einer »politischen Software« aus den 1950er‐Jahren? Muss nicht gerade das politische Betriebssystem, mit dem wir die wichtigsten Angelegenheiten unseres Zusammenlebens regeln, regelmäßig gewartet, überholt, verändert, angepasst und optimiert werden? Muss es nicht mit uns, unseren Erfahrungen und der gesellschaftlichen Entwicklung lernen und wachsen?
Aber was heißt das nun genau: die Demokratie updaten? Ein politisches System zu gestalten? Das Design der Demokratie zu verbessern? Wie können wir uns das konkret vorstellen? Wie kommen wir von unserer Vision konkret zu einer neueren, besseren Demokratie?
Design ist die bewusste Gestaltung von Formen und Funktionen. In einem politischen System geht es um Form und Funktion von Governance: um die Summe aller Abläufe, Verfahren, Institutionen und Funktionen, durch die wir uns als Gesellschaft regieren, Entscheidungen treffen und deren Umsetzung organisieren. Nun ist es etwas anderes, ob wir rechtliche Aspekte von Gesetzen und der Verfassung betrachten (Jurist:innen), ob wir politische Programmatik formulieren (Politiker:innen) oder auf die Funktionsweise eines politischen Systems schauen. Governance‐Designer:innen sind mit Spieleerfinder:innen oder Organisationsentwickler:innen zu vergleichen. Sie betrachten die Gesamtfunktionsweise der Demokratie und machen Entwürfe zu deren Verbesserung. Sie entwickeln den Code des politischen Betriebssystems.
Politische Systeme wurden immer schon gestaltet. Auch dann, wenn man ihnen die Legitimation Gottes oder universeller Naturgesetze zuschreiben wollte. Es ist ja nicht so, dass beispielsweise die Demokratie den Athenern in den Schoß gefallen wäre. Es waren vielmehr erste Governance‐Designer:innen in den Rollen von Herrscher:innen, Politiker:innen, Gesetzgeber:innen, Philosoph:innen und Kulturschaffenden, die politische und kulturelle Regeln und Normen prägten: irgendwo zwischen gesellschaftlichen Werten, kulturellen Praktiken, regulierenden Gesetzen und Verfassungen ganzer Staatswesen.
Friedrich Schiller hat einen spannenden Bericht über drei dieser frühen Governance‐Designer verfasst. Er berichtet über Lykurgus, Drakon und Solon. Lykurgus entwarf ein politisch‐kulturelles System für die Stadt Sparta. Drakon und Solon entwickelten zwei sehr unterschiedliche Systeme für Athen. In Schillers Aufsatz wird deutlich, dass es diesen frühen Gesetzgebern nicht allein um einzelne konkrete Gesetze für aktuelle Probleme ging. Ihnen ging es vielmehr um die Umsetzung einer kulturellen Staatsidee. Es ging ihnen um Werte und Haltungen, die durch ein politisches System für eine ganze Gesellschaft konstituiert und damit realisiert werden sollten. Lykurgus setzte beispielsweise auf eine Kultur von Verzicht und eiserner Disziplin, die ausschlaggebend für alle Lebensbereiche des spartanischen Lebens wurde. Der Begriff »spartanisch« spiegelt das bis heute wider. Drakon wollte die Athener mit eiserner Strenge erziehen. Dazu setzte er auf die Todesstrafe für jedes noch so kleine Vergehen. Wir benutzen heute noch den Begriff der drakonischen Strafe. Solon hingegen schuf einen Vorläufer einer modernen Demokratie. Ihm ging es um den fairen Ausgleich der Kräfte innerhalb der athenischen Gesellschaft. Durch diesen Ausgleich sollte das größte Wohl aller ermöglicht werden. Und er verfügte, dass die Gesetze, die er zur Verfassung des athenischen politischen Systems verfasst hatte, nur 100 Jahre dauern sollten. Tatsächlich überdauerten einige von ihnen weitaus länger (Schiller 1980).
Diese ersten Governance‐Designer taten etwas, was heute im Grunde nur noch dann passiert, wenn sich nach einem Krieg oder einer Revolution neue Staatssysteme bilden und neue Verfassungen entstehen (vgl. Rohr 2022). In solchen historischen Momenten konstituiert sich eine neue Gesellschaftsordnung nach dem Willen der siegreichen Kräfte. Durch die Verfassung manifestieren sie ihre politische Vision und geben der Gesellschaft und dem Staat einen neuen Betriebscode, eine neue DNA. Dadurch soll der Staat einerseits funktionieren: Er bekommt Regeln, Institutionen und Verfahren, die für ein effektives und effizientes Staatswesen nötig sind. Und andererseits werden der Gesellschaft damit Werte und kulturelle Normen zugrunde gelegt, mit denen Selbstverständnis und Zielvorstellung dieser neuen Gesellschaft begründet werden. Das Material von Governance‐Designer:innen lässt sich daher in vier Aspekten beschreiben:
Fast jede Verfassung hat eine Präambel oder Einleitung, in der das Selbstverständnis des Staates und seiner Gesellschaft beschrieben werden. Wer sind wir, was wollen wir, wo kommen wir her, was sind unsere Ziele, und wie wollen wir diese Ziele erreichen? Häufig wird hier auch die Legitimationsquelle genannt: Gott, das Volk, eine historische Erfahrung.
Im Grundgesetz wird in einer Eingangsformel der Prozess beglaubigt, durch den das Grundgesetz seine Gültigkeit erlangt. In der Präambel wird die Legitimation durch die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes begründet. Hier wird beschrieben, dass sich Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa sieht und zum Frieden in der Welt beitragen möchte. Beides sind Lehren aus der Rolle Deutschlands in den Weltkriegen. In anderen Verfassungen werden andere Gründungsgeschichten und Aufträge formuliert, die das Selbstverständnis des jeweiligen Staates und seiner Gesellschaft zum Ausdruck bringen. In der amerikanischen Verfassung steht beispielsweise: »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.«
Daneben hat jede Verfassung eine Reihe von grundlegenden, fundamentalen Regeln, Rechten oder Gesetzen. Ähnlich wie Religionen ihre Gebote und Regeln (z. B. die Zehn Gebote im Christentum) oder wir unsere individuellen Glaubenssätze und Prinzipien haben, haben auch politische Systeme solche zentralen Gesetze. In der deutschen Verfassung sind das die Grundrechte in 18 Artikeln. In der amerikanischen Verfassung ist das die Bill of Rights, die als Sammlung von Zusatzartikeln nach der Beschreibung des Institutionengefüges der Verfassung hinzugefügt wurden.
Eine Verfassung beschreibt die Mechanik, also die innere Funktionsweise des politischen Systems. Dazu zählt eine Beschreibung erstens der Institutionen und Organe und zweitens der Verfahren, nach denen diese Organe arbeiten. Es wird geklärt, welche Verfassungsorgane und Institutionen es gibt und wie diese arbeiten. Institutionen und Organe sind beispielsweise die Regierung, die Ministerien, das Parlament, das Amt des:der Präsident:in und eines:einer Regierungschef:in, weitere Kammern und nachgeordnete Behörden. Wie sich diese Institutionen bilden, zusammensetzen und legitimieren, beschreiben die Verfahren. Wie Wahlen abgehalten werden, wie Menschen in politische Ämter gelangen, wie Entscheidungen getroffen werden, wie die Gewaltenteilung des Staates organisiert ist und wie Zuständigkeiten verteilt werden, wird ebenfalls beschrieben.
Nicht alles davon muss direkt in der Verfassung stehen. Häufig werden detaillierte Regeln, insbesondere zur internen Arbeitsweise der Institutionen, in nachgeordneten Dokumenten beschrieben, wie beispielsweise in Geschäftsordnungen. Diese werden dann, wie die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente und Räte, von diesen selbst beschlossen.
Eine Verfassung ist ein formales Dokument, das die Mechanik des Staates beschreibt, ebenso wie die nachgeordneten Gesetze und Verordnungen. Daneben gibt es aber auch eine informelle Dimension gesellschaftlicher Verfasstheit: Sie betrifft die Werte und Haltungen, die täglich gelebt werden, und die politisch‐kulturelle Atmosphäre, die stärker durch äußere und innere Ereignisse beeinflusst wird. Wie wird unsere Demokratie im Alltag wahrgenommen und gelebt? Wodurch zeigen wir uns als Demokrat:innen in unseren eigenen Handlungen und Entscheidungen? Wie sicher und resilient empfindet sich eine Gesellschaft gegenüber Krisen? Wie zerrissen und toxisch ist sie, wie resilient und ausgeglichen? Wie werden innerhalb der Gesellschaft Fragen nach Offenheit und Sicherheit, nach Autorität und Freiheit, nach Solidarität oder individuellem Aufstieg und nach Diversität und Homogenität gestellt, verhandelt und beantwortet?
Dieser Aspekt betrifft weniger die mechanischen und formellen Verfahren als vielmehr die kulturellen informellen Prozesse der Gesellschaft. Governance‐Designer:innen können diese Aspekte ebenfalls adressieren, ohne an formalen Verfassungsfragen arbeiten zu müssen. Das geschieht zum Beispiel durch gesellschaftliche Interventionen, kulturelle Programme und Beteiligungsprozesse.
Alle vier Aspekte ergänzen sich gegenseitig. Denn das Entwerfen von politischen Systemen und der Verfasstheit eines Staates ist ohne Blick auf die tatsächliche Dynamik der politischen Kultur einer Gesellschaft nicht möglich. Eine Transformation der politischen Kultur benötigt hingegen den regulierenden und moderativen Rahmen formaler Regeln, Institutionen und Verfahren.
Den Beruf Governance‐Designer:in gibt es im Übrigen nicht. Es wäre schön, wenn das anders und ebenso selbstverständlich wie beispielsweise der Beruf Organisationsentwickler:in wäre. Und es gibt auch keine offiziellen Aufträge oder Projekte für Governance‐Designer:innen. Dementsprechend gibt es auch keine Ausbildung dafür. Governance‐Designer:innen sind vielmehr Menschen, die sich als Politiker:innen, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, Journalist:innen mit den hier aufgeworfenen Themen und Fragen beschäftigen. Sie schlagen aus ihren unterschiedlichen Rollen und Professionen heraus Entwürfe vor, wie sich Visionen einer besseren Demokratie realisieren ließen.
In diesem Buch haben wir solche Entwürfe zusammengetragen. Würden sie ganz oder teilweise umgesetzt, entstünde ein Update unserer Demokratie. Ein Entwurf ist immer schon mehr als eine Idee, aber auch noch kein detailliertes Konzept. Ein Entwurf ist eine sehr konkrete Skizze, die man weiterentwickeln und in die Umsetzung bringen kann.
Die Entwürfe dieses Buches wurden von Governance‐Designer:innen geschrieben: Menschen, die sich intensiv in ihrer Arbeit und ihrem Schaffen um eine bessere Demokratie bemühen. Sie haben aus ihren teils jahrzehntelangen Erfahrungen aus politischer und wissenschaftlicher Arbeit, aus der Konzeption und Begleitung von Beteiligungsprozessen, aus der Projektarbeit in NGOs und Initiativen, aus der Arbeit als soziale Unternehmer:innen, Aktivist:innen, Intellektuelle und Journalist:innen geschöpft. In diesem Buch präsentieren sie gleichermaßen mutige, utopische, aber auch fundierte und realisierbare Entwürfe. Alle Entwürfe haben selbst ein kokreatives Beteiligungsverfahren durchlaufen, das im nächsten Kapitel beschrieben ist. Die Entwürfe decken ein großes Spektrum ab: Es sind große Würfe dabei, die sich damit auseinandersetzen, wie das Versprechen der Demokratie wieder eingeholt und neue Verfassungsentwürfe und Institutionengefüge entstehen könnten. Andere Entwürfe beschreiben neue Verfahren und Institutionen als Ergänzung der bestehenden Strukturen, wieder andere beschäftigen sich damit, wie die bestehenden Institutionen und Verfahren intern verbessert werden könnten. In manchen Beiträgen werden einzelne Aspekte aus dem politischen Alltag betrachtet: Wie und wo entstehen bessere Dialoge, bessere Fragen, ja bessere Begegnungen, die zu einer verständnisvolleren und kooperativeren politischen Kultur führen. Fast alle Entwürfe skizzieren, wie unsere demokratische Kultur wieder stärker werden kann und wir Menschen uns als Souveräne unseres eigenen Staates erleben können. Manche Entwürfe sind radikal, andere sind pragmatisch, allen geht es um mehr, tiefere und bessere Demokratie. Gemeinsam zeigen sie uns: Demokratie ist kein starres Konstrukt, sondern eine lebendige, lernfähige Struktur, die wir miteinander anpassen, reformieren, updaten können und wahrscheinlich auch müssen. So unterschiedlich die Entwürfe sind: Sie vereint die kreative Freude an und die ernsthafte Sorge um unsere Demokratie.
Wir wollen mit diesem Buch zeigen, dass:
wir alle Souveräne sind und das Recht und die Pflicht haben, uns einzubringen und Vorschläge zu unserem politischen System zu machen. Sie sind kein exklusives Terrain von Expert:innen. Demokratien leben von der Beteiligung ihrer Bürger:innen in allen Belangen.
wir unsere Demokratie gerade in Zeiten, in denen sie unter Druck steht, weiterentwickeln und weiterdenken sollten. Demokratien erhalten ihre Stärke und Widerstandskraft aus der Fähigkeit, zu lernen und sich zu entwickeln.
Dieses Buch kommt daher zur richtigen Zeit! Mit diesem Buch wollen wir alle dazu einladen, mit uns über eine gute Demokratie der Zukunft ins Gespräch zu kommen.
Applebaum, A. (2024). Autocracy, Inc: The dictators who want to run the world. Allen Lane, an imprint of Penguin Books.
Leonhardt, M.-L., & Hano, J. (2024). 75 Jahre Grundgesetz – Änderungen des Grundgesetzes seit 1949 (Infobrief der Wissenschaftlichen Dienste WD 3 – 3010 – 032/24). Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. https://www.bundestag.de/resource/blob/995980/dc7cf6b9b7a0b10c71f0870582847ed4/75-Jahre-Grundgesetz-Aenderungen-des-Grundgesetzes-seit-1949.pdf
Nierth, C., & Huber, R. (2023). Die zerrissene Gesellschaft: So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter. Goldmann Verlag.
Popper, K. R. (2023). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I und II. Mohr Siebeck.
Project 2025. (o. J.). Project 2025: Presidential transition project. The Heritage Foundation. https://www.project2025.org/
Rohr, J. (2022, 21. April). Writing a constitution in a democratic transition with Noomane Fehri [Interview]. https://www.youtube.com/watch?v=sNnGSwS3xv4
Rohr, J., Ehlert, H., Hörster, S., Oppold, D., & Nanz, P. (2019). Bundesrepublik 3.0: Ein Beitrag zur Weiterentwicklung und Stärkung der parlamentarisch‐repräsentativen Demokratie durch mehr Partizipation auf Bundesebene. Forschungsprojekt im Auftrag des Umweltbundesamtes (Abschlussbericht.) Texte 2019(40). https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2020-03-16_texte_40-2019_bundesrepublik_3.0.pdf
Schiller, F. v. (1980). Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon. Mit einer Original‐Radierung von Reiner Zimnik (16. Druck der Edition Tiessen). Edition Tiessen.
The Economist Intelligence Unit (2024). Democracy index 2023: Age of conflict. The Economist Group. https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy-index-2023
Anna Kückelmann / Jascha Rohr
Dieses Buch hat eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Ursprünglich wollten wir in einem größeren Konsortium von Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen ein Projekt zum Thema »Reform der Gesetzgebung« starten. Eine Reform des Gesetzgebungsprozesses war Teil des Ampelkoalitionsvertrags (SPD, Bündnis 90/Die Grünen, & FDP 2021, S. 8). Wir hatten die Hoffnung, mit dem Wissen und der Kompetenz unserer Gruppe wertvolle Vorschläge und Unterstützung liefern zu können. Mit einer Förderung der Open Society Foundations wollten wir ein Bundesministerium dafür gewinnen, mit uns einen Prototypen für ein partizipatives Gesetzgebungsverfahren durchzuführen.
Trotz vieler Anfragen an unsere Kontakte und Angebote an Ministerien ließ sich kein Ministerium dafür gewinnen, mit uns ein echtes Gesetz in einem partizipativen Prozess zu entwickeln. Diese Situation hatten wir schon vorhergesehen. Trotzdem waren die Rückmeldungen enttäuschend. Einigen Ministerien war das Unterfangen zu heikel, sie waren grundsätzlich skeptisch. Andere hatten kein geeignetes Vorhaben. Viele Entscheider:innen in den Ministerien konnten wir gar nicht direkt erreichen oder bekamen keine Antwort. Viele gaben an, keine Zeit und Ressourcen bzw. andere Prioritäten zu haben.
So mussten wir uns einen Plan B überlegen. Der Plan B bestand darin, einzelne Aspekte des ursprünglichen Projekts in separaten kleineren Projekten und ohne ministerielle Partner durchzuführen. Drei Teilprojekte entstanden. Fast Forward und Legal Public Design führten mehrere Workshops und Veranstaltungen zur Vertiefung legistischer Kompetenz durch – auch in Kooperation mit einem Ministerium. Daraus ist unter anderem ein Toolkit für eine partizipative Gesetzgebungsreform entstanden (Cocreation Foundation 2024). Mehr Demokratie e. V. führte eine umfangreiche Analyse der Veränderung von Gesetzesentwürfen durch das Parlament durch, die spannende Erkenntnisse lieferte (Mehr Demokratie e. V. 2024). Wir in der Cocreation Foundation wollten ursprünglich einen Wettbewerb für demokratische Innovationen durchführen, der im Zusammenhang mit der Initiative »Demokratie‐Update Deutschland« stand. Diese Initiative hatte parallel im Frühjahr 2024 einen Aufruf für ein Update unserer Demokratie und die Durchführung einer Vollversammlung gestartet,1 der allerdings kaum Reichweite erzielte. Aus all diesen Erfahrungen und Rückschlägen heraus entstand nun das Konzept eines Werkstattverfahrens für demokratische Innovationen, das wir »Bundeswerkstatt Demokratie‐Update Deutschland« tauften.
Mit der Bundeswerkstatt ist es uns gelungen, viele Menschen aus der Demokratiebewegung, aber auch interessierte Bürger:innen zusammenzubringen und in einen sehr fruchtbaren und kreativen Prozess zur Weiterentwicklung unserer Demokratie zu bringen. Als sichtbar wurde, dass wir viele und gute Einreichungen bekamen, begannen wir darüber nachzudenken, nicht nur den geplanten Projektbericht zu veröffentlichen, sondern stattdessen dieses Buch herauszugeben. Damit beenden wir unsere Arbeit aber nicht, sondern hoffen, dass dieses Buch uns hilft, diese Arbeit weiterzuführen. Noch immer möchten wir:
die Vollversammlung Deutschland organisieren und durchführen und suchen dafür Unterstützer:innen und vor allem Förder:innen,
ein konkretes Gesetzesvorhaben mit einem reformierten Verfahren begleiten und zeigen, dass eine transparentere und partizipativere Gesetzgebung nicht nur möglich ist, sondern auch bessere Gesetze hervorbringt. Vielleicht haben die Ministerien der nächsten Regierung mehr Interesse und Offenheit, diesen Schritt mit uns zu gehen, um mehr Beteiligung und Transparenz bei der Entwicklung von Gesetzen zu wagen, und:
einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft unserer Demokratie anregen und die Idee des Governance‐Designs durch den Souverän – uns alle – vorantreiben.
In der »Bundeswerkstatt Demokratie‐Update Deutschland« brachten wir Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammen, um Lösungen, Ideen und Konzepte für die Zukunft der Demokratie auf Bundesebene zu entwickeln. Wir sprachen dabei von Bürger‐Expert:innen und Demokratie‐Expert:innen, die wir miteinander ins Gespräch brachten.
Bürger‐Expert:innen
Eine Demokratie ist nur so stark wie die Vielfalt der Stimmen, die in ihr gehört werden. Unser Ziel war es daher, in der Bundeswerkstatt eine kleine, aber möglichst repräsentative Gruppe von Bürger:innen, ähnlich einer Planungszelle2, einzuladen. Aufgrund begrenzter Möglichkeiten kam eine umfangreiche, geloste Zufallsauswahl über Melderegister nicht infrage. Stattdessen entschieden wir uns für ein zweistufiges Bewerbungsverfahren, das wir auf Basis von Milieustudien entwickelten.
Wir arbeiteten mit eigens entwickelten positiven Selbstbeschreibungen, anhand derer sich Bewerber:innen gesellschaftlichen Milieus zuordnen konnten. Zusätzlich gaben sie Alter und Geschlecht an. Aufgrund dieser Merkmale haben wir dann in der zweiten Stufe eine möglichst repräsentative 24‐köpfige Gruppe per Los ausgewählt. Im Verlauf des Verfahrens mussten sieben Personen aus persönlichen und zeitlichen Gründen aussteigen, sodass am Ende 17 engagierte Bürger:innen am ganzen Verfahren aktiv teilnahmen.
Die Teilnehmenden erreichten wir über Social Media Ads, über Newsletter und Verteiler von Partnerorganisationen und über eine aufsuchende Beteiligung in Berlin: auf Wochenmärkten, in Einkaufspassagen, an Bushaltestellen, überall dort, wo wir mit Menschen ins Gespräch kommen konnten. So wollten wir diejenigen erreichen, die sonst selten in Partizipationsprozessen vertreten sind. Trotz unserer Bemühungen gelang uns das nicht ausreichend. Unsere Gruppe erreichte ein Verhältnis von 10:7 bei Frauen und Männern. Die Gruppe der 35‐ bis 45‐Jährigen war stärker vertreten als andere Altersgruppen, junge Menschen unter 25 fehlten ganz.
In einem zukünftigen Prozess hoffen wir, die bekannten Methoden für eine bessere repräsentativere Verteilung der Teilnehmenden besser nutzen zu können. Trotzdem hatten wir am Ende eine Gruppe von Bürger:innen, die eine gewisse, wenn auch nicht die gewünschte Diversität aufwies.
Demokratie‐Expert:innen
Bei den Demokratie‐Expert:innen handelt es sich um Menschen, die sich intensiv und professionell mit unseren demokratischen Strukturen und Prozessen beschäftigen. Ihre Aufgabe war es, konkrete Konzepte und Vorschläge als Entwürfe für ein Demokratie‐Update einzubringen. Die Demokratie‐Expert:innen haben wir durch gezielte Ansprache erreicht. Wir kontaktierten sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen und baten andere Demokratie‐Initiativen, unseren Call for Papers weiterzuverbreiten. Dabei half uns eine umfangreiche Datensammlung von Akteuren zum Thema Demokratie in Deutschland. Um den Prozess zugänglicher zu gestalten, boten wir mehrere kurze Q&A‐Zoom‐Sessions an, in denen wir offene Fragen klärten und die Anforderungen für die Beitragseinreichung erläuterten. Insgesamt wurden in der ersten Runde 24 Entwürfe eingereicht. Allerdings entschieden sich drei der Demokratie‐Expert:innen, ihre Teilnahme vorzeitig zu beenden, da ihre zeitlichen Kapazitäten nicht ausreichten, um die Artikel für die Veröffentlichung auszuarbeiten.
Die Bundeswerkstatt umfasste eine Kombination aus Online‐ und Präsenzworkshops in Berlin. Über fünf Veranstaltungen hinweg hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich kennenzulernen, die eingereichten Texte zu bewerten und gemeinsam an neuen Ideen und Konzepten zu arbeiten. Ziel des kokreativen Prozesses war es, die Entwürfe für einen Projektbericht, später für dieses Buch miteinander zu diskutieren und zu schärfen.
Die Workshops folgten einem methodischen Ablauf (s. Abbildung): Nach einem Auftaktworkshop, der als Grundlage für die Zusammenarbeit diente, fanden mehrere Onlinesitzungen statt, in denen die Bürger‐Expert:innen intensives Feedback zu den Konzepten der Demokratie‐Expert:innen gaben. Der Prozess gipfelte in einem Abschlussworkshop in Berlin, bei dem alle Teilnehmenden gemeinsam die Entwürfe finalisierten und weitere Entwürfe der Bürger‐Expert:innen ausarbeiteten.
Die Bürger‐Expert:innen nahmen dabei an allen Workshops teil. Die Demokratie‐Expert:innen bereiteten ihre Konzeptbeiträge im Vorfeld der ersten Veranstaltung als Posterentwürfe vor, bekamen in einer Onlineveranstaltung Feedback zu ihren Texten und erarbeiteten die Langfassung parallel.
Auftaktworkshop
Der Auftaktworkshop legte die Basis für die Arbeit der Bürger‐Expert:innen. In Kleingruppen setzten sie sich mit ihren persönlichen Vorstellungen, Herausforderungen und Visionen zur Demokratie in Deutschland auseinander, bevor sie die Entwürfe der Demokratie‐Expert:innen kennenlernten. Dabei kristallisierten sich erste gemeinsame Themen heraus, etwa der Wunsch nach mehr Transparenz und stärkeren Beteiligungsmöglichkeiten.
Es folgte die erste Auseinandersetzung der Bürger:innen mit den Konzepten der Demokratie‐Expert:innen. Diese wurden in Form von Postern präsentiert, die im Raum ausgestellt waren. Die Bürger:innen hatten die Möglichkeit, die Entwürfe zu lesen, Kommentare zu hinterlassen und diese gemeinsam zu diskutieren. Das erste Feedback war durchweg positiv: Die Konzepte wurden als innovativ und vielversprechend bewertet, wenngleich auch angemerkt wurde, dass noch mutigere und radikalere Ansätze vorstellbar wären.
Onlineworkshops I & II
Die Onlineworkshops dienten als zentrale Feedbackrunden, in denen die Bürger‐Expert:innen die Plakatversionen der Autor:innen eingehend prüften und diskutierten. Dabei lag der Fokus auf einer wertschätzenden und konstruktiven Auseinandersetzung, die die Qualität und Verständlichkeit der Konzepte weiter verbessern sollte. Dazu wurde das Format eines moderierten Autor:innenworkshops aus der Pattern Language Community (The Hillside Group o. J.) genutzt.
In diesem Format erhielten die Autor:innen der Workshops ein strukturiertes Feedback. Der Ablauf der Diskussionen war darauf ausgerichtet, die Perspektiven der Bürger:innen umfassend einzubeziehen und zugleich die Autor:innen dazu anzuregen, ihre Texte weiterzuentwickeln. So bekam jede:r Autor:in ein umfangreiches Feedback und erlangte ein Verständnis dafür, wie ihre Texte von Bürger:innen rezipiert werden. Dabei ging es sowohl um den sprachlichen Ausdruck als auch die inhaltliche Qualität der Entwürfe.
Onlineworkshop III – Austausch und Ideenentwicklung
Im dritten Onlineworkshop stand der Austausch zwischen den Bürger‐Expert:innen im Mittelpunkt. Da die Bürger:innen in den vorherigen Workshops vor allem als Feedbackgebende in Erscheinung getreten waren, bekamen sie nun Raum für die Entwicklung eigener Ideen. Die Bürger reflektierten in einer großen Runde die Erkenntnisse und Eindrücke aus dem Feedbackprozess und identifizierten wiederkehrende Muster und Themen, die sich aus den verschiedenen Entwürfen der Demokratie‐Expert:innen herauskristallisiert hatten.
Die Teilnehmenden erkannten mehrere zentrale Muster, die eine Schlüsselrolle für die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen spielen:
Neue Institutionen und Formate: Die Idee einer »dritten Kammer« als ergänzendes demokratisches Kontrollorgan wurde diskutiert, ebenso Formate wie Bürgerräte, die Rückkopplungsschleifen zwischen Institutionen und Öffentlichkeit ermöglichen.
Verfahren und Regeln: Es wurde ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Kooperation und Kokreation gefordert, weg von wettbewerbsorientierten Strukturen. Auch alternative Regierungsformen wie Minderheitsregierungen oder soziokratische Ansätze wurden diskutiert. Verfassungsänderungen und Parteienreformen wurden als Hebel dafür in den Blick genommen.
Haltungen, Werte und Kultur: Schulung und Beratung für Bürger:innen und Abgeordnete sowie die Demokratisierung von Lebensbereichen wie Bildung und Arbeitswelt wurden als zentrale Elemente genannt. Die Bedeutung von Transparenz in politischen Prozessen und die Stärkung der lokalen Ebene wurden hervorgehoben. Auch Inklusion und Niedrigschwelligkeit wurden als relevante Werte und Haltungen erkannt.
Auf Basis dieser Muster begannen die Teilnehmenden, eigene Ideen für die Gestaltung der Demokratie zu entwickeln. Diese Ideen wurden im darauffolgenden Abschlussworkshop ausgearbeitet und sind teilweise als eigenständige Beiträge in diesem Sammelband enthalten.
Abschlussworkshop – Ideenfinalisierung und gemeinsamer Abschluss
Beim Abschlussworkshop kamen die Bürger‐Expert:innen und die Demokratie‐Expert:innen erstmals in Präsenz zusammen. Der Workshop diente dem gegenseitigen vertieften Kennenlernen, der Ausarbeitung von Bürger:innenentwürfen und dem Feiern eines erfolgreichen Projektabschlusses. Gemeinsam arbeiteten sie an den neuen Entwürfen der Bürger:innen. Dazu wurden Visionen entwickelt und Ziele definiert, dann folgte die Arbeit am Konzept. Ähnlich wie zuvor bei den Beiträgen der Demokratie‐Expert:innen gab es auf diese ersten Posterentwürfe ein vertieftes Feedback. Die im Abschlussworkshop entstandenen Entwürfe finden sich teilweise in Teil 5 dieses Sammelbands wieder.
Veröffentlichung
Das Ziel des gesamten Werkstattverfahrens war es, eine gemeinsame Veröffentlichung zu gestalten, die möglichst viele Perspektiven einbezieht und die Vielfalt demokratischer Innovationen sichtbar macht. Der Sammelband wurde so konzipiert, dass die Ergebnisse des kokreativen Prozesses – die Entwürfe der Bürger:innen und die Konzepte der Expert:innen – gemeinsam repräsentiert werden.
Nach dem Abschlussworkshop wurden die neuen Entwürfe teilweise in gemischten Gruppen geschrieben, und die Beiträge der Demokratie‐Expert:innen bekamen ein Lektoratsfeedback, das die Autor:innen wiederum selbst einarbeiteten.
Die Texte in diesem Buch transportieren damit nicht nur innovative Ideen für unsere Demokratie, sondern sind selbst in einem kooperativen Verfahren entstanden. Für die Beiträge galten folgende Regeln:
Es gab keine Auswahl von Texten, weder nach der Einreichung noch während des Prozesses. Ausnahmslos alle Beiträge, die eingereicht wurden, wurden auch weiterentwickelt und veröffentlicht. Einige Beiträge wurden von den Autor:innen selbst zurückgezogen.
Die Autor:innen hatten jederzeit volle Kontrolle über ihre Texte. Sie erhielten zwar ausgiebiges Feedback durch die Bürger‐Expert:innen und in einem abschließenden Lektorat. Es war aber den Autor:innen überlassen, wie sie mit dem Feedback umgingen und es in ihre Texte einarbeiteten.
Es gab eine Gliederungsstruktur und eine Empfehlung für die Länge des Textes, sodass eine Vergleichbarkeit aller Texte ermöglicht wurde. Es gab aber keinen Zwang, sich daran halten zu müssen. So sind Autor:innen nach eigenem Ermessen von Struktur und Umfang abgewichen.
Wir haben ausdrücklich keine akademische Publikation angestrebt, um die Texte für ein breites, an Politik interessiertes Publikum zu öffnen. Das war wegen der Fachlichkeit und Komplexität der Aufgabe nicht immer einfach. Die unterschiedlichen Ansätze in Schreibweise und Erzähltechnik spiegeln dieses Ringen um Verständlichkeit einerseits und Fachlichkeit andererseits, zwischen emotionaler Zukunftsvision und technischer Konzeption, wider.
Zu jedem Text haben wir um Grafiken gebeten. Wir haben alle Grafiken neu zeichnen lassen und sind sehr froh über die Unterstützung von Alexandra Klobouk. Sie hat geholfen, die Grafiken lesbarer, bunter und einfacher zu machen und an das Layout des Buches anzupassen.
Einen Entwurf müssen wir besonders erwähnen: die »Rational‐wissenschaftliche Aufklärung«. Wir hatten unter den Bürger:innen einen Teilnehmer, der sichtbar mit den meisten Aussagen der Gruppe nicht mitgehen konnte und offensichtlich eine stark abweichende eigene Meinung hatte. Seine Gedanken fanden sich in keinem der Entwürfe wieder. Das ist genau die Form von Diversität und Diskussion, die man sich in solchen Prozessen wünscht. Also sprachen wir ihn direkt darauf an und baten ihn, uns seine Ideen zu einer Staatsform zu erläutern. In einem Gruppengespräch fragten wir wertschätzend und ohne zu urteilen und skizzierten seine Vorstellungen auf einem Flipchart. Der Text in diesem Band gibt das Konzept dieses Teilnehmers so genau wie möglich wieder. Wir halten ihn für sehr wichtig, um zu verstehen, was neben dem bürgerlichen Diskurs um Demokratie noch in unserer Gesellschaft gedacht wird. Dieser Text spiegelt natürlich weder die Meinung des Herausgebers noch der Autor:innen wieder.
Eigentlich sind die hier vorgestellten Entwürfe nur ein Anfang. Sie zu Prototypen und Projekten weiterzuentwickeln, wäre nun der nächste Schritt, für den wir uns gerne weiterhin engagieren wollen.
Cocreation Foundation (2024). Toolkit for participatory legislative reform / Für die partizipative Reform der Gesetzgebung. https://cocreation-foundation.org/wp-content/uploads/2024/12/FORWARDING-A-PARTICIPATORY-LEGISLATIVE-REFORM%E2%80%8B-Toolbox.pdf
Mehr Demokratie e. V. (2024, Dezember). Der Einfluss des Bundestages im Gesetzgebungsverfahren. Eine Analyse der in der 19. Wahlperiode (2017 bis 2021) verabschiedeten Gesetze. https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2024/Publikationen/241220_Gesetzgebungsreform_final.pdf
SPD, Bündnis 90/Die Grünen & FDP (2021). Mehr Fortschritt wagen Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP). https://cms.gruene.de/uploads/assets/Koalitionsvertrag-SPD-GRUENE-FDP-2021-2025.pdf
The Hillside Group (o. J.). How to hold a writers’ workshop. Abgerufen am 16. Februar 2025 von https://hillside.net/conferences/plop/235-how-to-hold-a-writers-workshop
Ein Update für unsere Demokratie gestalten
Stell dir vor, du lebst in einer Demokratie, in der deine Stimme wirklich gehört wird, in der du mitgestalten und dich offen für deine Interessen einsetzen kannst. Und stell dir vor: Dieser Einsatz zeigt tatsächlich Wirkung!
Stell dir vor, dass wir in dieser Demokratie respektvoll, wertschätzend und empathisch miteinander umgehen, uns zuhören, aufeinander eingehen und uns auseinandersetzen. Gerade auch dort, wo es Konflikte gibt und es schmerzhaft wird. Um dann gemeinsam die bestmöglichen Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.
Stell dir vor, die Demokratie ist die Staatsform, mit der wir uns erfolgreich selbst regieren, verwalten und unser Land und unsere lokalen Nachbarschaften gestalten und so für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand sorgen. Stell dir vor, uns gelingt es, dabei menschlich miteinander umzugehen: solidarisch, fair und nachhaltig!
Wir sind eine Initiative, in der sich Menschen gefunden haben, die sich seit vielen Jahren für die Verbesserung unserer demokratischen Kultur, für mehr Teilhabe, Mitbestimmung und Mitgestaltung einsetzen. Wir sind überzeugt: Gemeinsam können wir unsere Demokratie gestalten und erneuern. Mit einem solchen Update kann unsere Demokratie ihr Versprechen wieder voll einlösen: die beste Staatsform zu sein, mit der wir selbstwirksam werden können. Wir alle sind der Souverän unseres Staates, der Inhaber der Staatsgewalt. Als solcher ist es unsere gesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung, dafür zu sorgen, dass unsere Demokratie erfolgreich ist: für uns und für die kommenden Generationen.
Wir glauben, dass unsere Demokratie lernen kann und muss. Und das bedeutet auch, dass sie sich ihrer Zeit anpassen muss, ohne ihre Sicherheit und Stabilität preiszugeben. Dazu braucht es aber mehr als Wahlen. Dazu braucht es die Gestaltungsmacht des Souveräns. Wir können und sollten selbst darüber nachdenken, was unsere Demokratie jetzt braucht, um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.
Um dieses Update der Demokratie vorzubereiten, wollen wir eine Vollversammlung Deutschland einberufen. In ihr erarbeiten wir miteinander eine Antwort auf die Frage, wie wir uns als Gesellschaft zukünftig regieren wollen. Zur Vorbereitung der Vollversammlung organisieren wir einen Wettbewerb um die besten demokratischen Innovationen für Deutschland.
Mit diesem Aufruf laden wir alle Souveräne dazu ein, sich daran zu beteiligen.
Sei Souverän! Unterzeichne diesen Aufruf und setze damit ein Zeichen als Mitgestalter oder Mitgestalterin einer besseren Demokratie für unsere Zukunft.
Jascha Rohr (Cocreation Foundation)
Kai Schächtele (Journalist)
Raphael Thelen (Autor)
Heiko Erhard (Sozialunternehmer)
Caspar Dohmen (Autor und Journalist)
Thomas Schindler (Initiative Regenerative Marktwirtschaft)
Dr. Aleander Grevel (Projekt Menschlichkeit)
Dr. Raban Daniel Fuhrmann (Akademie Lernende Demokratie)
Dr. Elke Fein (Institut für Integrale Studien)
Henning Jeschke (Letzte Generation)
Siehe auch: https://www.openpetition.de/petition/unterzeichner/ein-update-fuer-unsere-demokratie-weil-du-der-souveraen-bist/
Wie wir aus der am wenigsten schlechten (noch) eine richtig gute Staatsform machen
Christian Felber
Angriffskriege, Klagerechte für Konzerne, systemrelevante Banken, ihre Rettung mit Steuergeld, freier Kapitalverkehr in Steueroasen, Patente auf Lebewesen, grenzenlose Ungleichheit, Vorenthaltung direkter Demokratie … die Liste der Entscheidungen von Regierungen und Parlamenten gegen den Willen und die Werte der Souveräne wächst. Formal leben wir in Demokratien, faktisch in Postdemokratien oder Plutokratien. Souveräne Demokratie stellt die Machtbalance zwischen der höchsten Instanz und ihrer Vertretung wieder her: Der Souverän wird zur »Konstitutive«. Anstatt nur alle vier oder fünf Jahre zu wählen, erhält er »Souveränsrechte« (Felber 2018), mit denen er das Gemeinwesen nach seinen Werten und Prioritäten mitgestalten kann, und zwar über verschiedenste Mittel: Einzelfallvolksabstimmung, thematischer Bürger:innenrat oder Verfassungskonvent. Souveräne Demokratie nimmt die Menschen stärker in die Verantwortung und gibt ihnen dadurch mehr – kollektive – Freiheit.
In einer souveränen Demokratie erleben die Menschen, dass sie als höchste (souveräne) Instanz das letzte Wort haben und als Kollektiv alle Entscheidungen ändern können. Sie werden zu einer aktiven Staatsgewalt, die andere Staatsgewalten begrenzen, gesellschaftliche Machtverhältnisse verändern und die Konzentration von Macht verhindern können. So wird Demokratie spürbar, aus Post‑/Prädemokratie wird echte Demokratie.
Obwohl liberale Demokratien als höchstentwickelte Form der Demokratie angesehen werden, wird die Demokratie ihrem Grundversprechen – der Umsetzung des Souveränswillens in Regeln und Gesetzen – häufig nicht gerecht. Rezipiert wird das als »Postdemokratie« (Crouch 2008), »Econocracy« (Earle, Moran & Ward‐Perkins 2017) und auch Renaissance der Plutokratie (Gilens & Page 2014). Das Hauptproblem ist ein doppeltes, es besteht einerseits in der Beeinflussung repräsentativer demokratischer Gremien – Ministerien, Regierungen und Parlamenten – durch mächtige ökonomische und finanzielle Lobbys; und zum anderen darin, dass die Bürger:innenschaft in den meisten liberalen Demokratien nur Vertretungen wählen, aber Sachentscheidungen nicht direkt treffen kann. Durch die daraus resultierende faktische Unmöglichkeit, die ökonomischen Machtverhältnisse substanziell zu verändern, schreitet die Machtkonzentration immer weiter voran: Die Global Player bilden Oligopole und in Teilbereichen sogar Monopole, werden aber von der Politik weder verstaatlicht noch zerteilt. Nachdem die ersten Menschen die 100‐Milliarden‐Dollar‐Schallmauer bei Privatvermögen durchbrochen hatten, wurde auch schon die 200‐Milliarden‐Grenze überschritten. Oxfam (2024) erwartet für 2034 den ersten Dollarbillionär. Gegengleich geht das weltweit erreichte Demokratieniveau seit 15 Jahren kontinuierlich zurück. Laut V‑DEM‐Berichten von der Universität Göteborg ging die Zahl der liberalen Demokratien weltweit von 44 im Jahr 2009 auf 32 im Jahr 2023 zurück (V‐Dem Institute 2023, S. 11). Österreich wurde auf den Status einer »elektoralen Demokratie« zurückgestuft, in Deutschland strichen die Grünen Direkte Demokratie aus dem Parteiprogramm (Mehr Demokratie e. V. 2020). Auch Grund‐ und Bürgerrechte sind weltweit in der Defensive (Civicus 2022; Amnesty International 2024). Wenn wir die Demokratie nicht weiterentwickeln und vertiefen, schafft sie sich durch den oben beschriebenen positiven Verstärkungsmechanismus selbst wieder ab.
Kern des Konzepts zur Lösung des eingangs beschriebenen Problems ist eine Weiterentwicklung der Gewaltentrennung in der Bedeutung, dass der Souverän zu einer eigenen, vierten Staatsgewalt aufgewertet wird und seine Vertretung in zwei Situationen korrigieren kann:
wenn die Vertretung etwas tut, was die Mehrheit des Souveräns nicht will.
wenn die Vertretung des Souveräns etwas unterlässt, was die Mehrheit des Souveräns wünscht.
Die souveräne Instanz ist in vielen Verfassungen klar benannt, jedenfalls im Grundgesetz: Artikel 20 (2) GG besagt dort: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.« Man beachte die Formulierung »und Abstimmungen«.
Sprachlich stammt »souverän« aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich »über allem stehend«. Eine »souveräne Instanz« gibt es in allen Staatsformen, in der Monarchie ist es der König oder die Königin, in der Diktatur der Autokrat, in der Plutokratie der Geldadel, in der Aristokratie der Blutadel und in der Demokratie die gesamte Bevölkerung. Üblicherweise hat eine staatliche Instanz, und insbesondere eine Staatsgewalt, in der Verfassung definierte Rechte (und Pflichten), analog zur Satzung eines Vereins, in der die Rechte und Pflichten aller Vereinsorgane klar geregelt sein müssen. Interessanterweise sind jedoch »Souveränsrechte« bisher nirgendwo klar definiert. Dass sich die Macht der obersten Staatsgewalt darin erschöpfen soll, eine Vertretung zu wählen, ist manifester Ausdruck von Impotenz der höchsten Instanz. »Abstimmungen« würden den Souverän »empowern«, doch im Unterschied zu Italien, der Schweiz oder Uruguay gab es in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes keine einzige Abstimmung durch den Souverän.
In einer »souveränen Demokratie« wird der Souverän zur ersten Staatsgewalt, weil er die Kompetenz besitzt, die anderen Staatsgewalten zu konstituieren. Er wird zur konstituierenden Staatsgewalt, die anderen sind die – vom Souverän – konstituierten Staatsgewalten. Als formelle Staatsgewalt erhält der Souverän verfassungsmäßige Rechte, sogenannte Souveränsrechte oder kollektive Grundrechte, in Ergänzung zu den individuellen Grundrechten, in deren Genuss jeder Mensch, jede Person kommt. Die kollektiven Grundrechte könnten umfassen:
Eine neue Verfassung in einem demokratischen Prozess ausarbeiten. Dies geschah zuletzt in Chile, jedoch wurde die Verfassungsversammlung nicht auf Initiative des Souveräns gewählt, sondern mit dem Willen der Regierung.
Die Verfassung verändern. Dies könnte sowohl durch einen Bürger:innenrat, der einen bestimmten Teil der Verfassung neu fasst, oder durch ein Referendum im Fall einer kleineren Änderung geschehen.
Eine bestimmte Regierung(skonstellation) wählen. Derzeit liegt diese Entscheidung allein bei den gewählten Parteien.
Die Regierung abberufen. Dieses Recht könnte bei besonders triftigen Anlässen eingesetzt werden, zum Beispiel zur Verhinderung eines Angriffskrieges, mit der nicht bis zur nächsten Wahl gewartet werden kann.
Ein Gesetzesvorhaben stoppen (»Abrogativreferendum«). Diese Möglichkeit gibt es heute bereits z. B. in Italien und Uruguay. 2011 verhinderte die italienische Bevölkerung damit den von der Regierung Berlusconi geplanten Bau von Atomkraftwerken und die Privatisierung der Trinkwasserversorgung.
Gesetzesinitiative (Volksentscheid). Dieses Instrument existiert in der Schweiz und ist maßgeblich für die hohe Zufriedenheit der Schweizer:innen mit der direkten Demokratie in ihrem Land verantwortlich. Und zum Beispiel für das vorbildliche Schweizer Bahnnetz.
Einen Bürger:innenrat initiieren. Derzeit sind die Bürger:innen von der Zustimmung ihrer Vertretung abhängig, wenn sie einen Bürger:innenrat initiieren wollen. Dieser sollte ein Instrument der Bürger:innen – des Souveräns – sein. In Deutschland entschied die Bundesregierung 2024, dass es keinen Bürger:innenrat zur Aufarbeitung des Covid‑19‐Pandemiemanagements geben wird.
Kontrolle über ein Grundversorgungsgut übernehmen (Wasser, Energie, Banken …). Die Bereiche der Daseinsvorsorge sollten sowohl dem Markt entzogen (= von der Liberalisierung ausgenommen und vor Privatisierung geschützt) werden können als auch der direkten Verwaltung durch die Regierung durch demokratische Governance‐Strukturen.
Letztentscheidung über das Geldsystem. Da Geld das mächtigste Mittel ist, sollten die Entscheidung, wer es »schöpft« (in Umlauf bringt), und andere Kernfragen des Geld‐ und Finanzsystems von der höchsten demokratischen Instanz getroffen werden. Dann kann der Geldschöpfungsgewinn als »Souveränage« der Allgemeinheit zugutekommen.
Abstimmungsrecht über internationale Verträge. Da es sich auch hier um Grundsatzentscheidungen handelt, sollte die Entscheidung bei der höchsten demokratischen Instanz liegen. In manchen Fällen ist das heute schon so: Der EU‑Beitritt musste in Österreich von der Bevölkerung entschieden werden.
Der Befürchtung, dass die neue Staatsgewalt die bisherigen Staatsgewalten ersetzen könnte, kann entgegnet werden: Die Gewaltentrennung wird ganz im Gegenteil weiter ausdifferenziert, weil drei Staatsgewalten zu wenige sind. Montesquieus Ansinnen war es nicht, exakt drei Staatsgewalten ins Leben zu rufen, sondern zu verhindern, dass sich die Macht im Staat konzentriert. Genau das muss die Prüfungsfrage sein, wenn man feststellen möchte, ob die aktuell implementierten Gewalten ausreichen. Sollte bei der Prüfung herauskommen, dass sich die Macht weiterhin an bestimmten Stellen konzentriert, muss das System der Gewaltentrennung weiterentwickelt werden, zum Beispiel durch die Hinzufügung einer vierten Gewalt, die einer Machtfülle von Legislative und Exekutive entgegenwirken und diese unmittelbar korrigieren kann.
Diese für manche weitreichend anmutenden Neuerungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bundestag fraglos der Hauptgesetzgeber bliebe. Selbst wenn das weiter unten vorgeschlagene Maximum von sechs Referenden im Jahr ausgeschöpft würde, wären das nur fünf Prozent der neuen Gesetze, der Bundestag beschließt jedes Jahr rund hundert Gesetze, 2023 waren es 107 (Deutscher Bundestag 2024).
Auch bezüglich der Befürchtung, dass auf die Staatsbürger:innen nun immense neue und zeitraubende Aufgaben zukämen oder neu hinzukämen, kann Entwarnung gegeben werden: Zum einen kann der Souverän nur im Ausnahmefall – nach Überwinden hoher Hürden – selbst ein Gesetz initiieren oder ein geplantes Gesetz der Legislative stoppen. Um eine »Inflation« an Volksabstimmungen zu vermeiden, könnte die Schwelle, die überschritten werden muss, damit es zu einem Referendum kommt, so angesetzt werden, dass pro Jahr nur wenige Initiativen imstande sind, diese zu überschreiten. Es könnten auch nur zwei fixe Abstimmungstermine im Jahr zur Verfügung stehen, zum Beispiel zur Tagundnachtgleiche im Frühjahr und Herbst. Die Zahl der abstimmbaren Initiativen je Termin könnte auf maximal drei begrenzt werden.
Ein Bürger:innenrat wiederum könnte als ein höchstens alle zwei Jahre stattfindendes besonderes Ereignis gestaltet werden: ein Jahr Beratung und Vorbereitung der Abstimmung, ein Jahr Pause. Und ein Verfassungskonvent könnte mit einer so hohen Hürde versehen werden, dass es vielleicht nur einmal im Jahrhundert zu einer gesamthaften Überarbeitung oder Neufassung der Verfassung kommen kann. Ganz grob könnten die Schwellen für eine Einzelfallvolksabstimmung mit einem Prozent der Stimmen aller Stimmberechtigten, ein Bürger:innenrat mit drei Prozent und ein Verfassungskonvent für eine Teiländerung der Verfassung mit fünf und für eine Neufassung der Verfassung mit zehn Prozent der Stimmen aller Stimmberechtigten gelegt werden. Ein demokratisches Ereignis soll umso schwieriger zu initiieren sein, je mächtiger seine Wirkung ist.
Zusammenfassend könnte in Aussicht gestellt werden, dass eine Staatsbürger:in ein‐ bis zweimal im Jahr zur Volksabstimmung gerufen wird, höchstens einmal in ihrem Leben in einem bundesweiten Bürger:innenrat mitwirken wird und die meisten nie in einem Verfassungskonvent sitzen werden. Überlegenswert wäre aber, dass jede Gemeindebürger:in einmal im Leben im Aufsichtsrat eines Kommunalbetriebs der Daseinsvorsorge, einer »öffentlichen Allmende«, Mitverantwortung tragen könnte. Selbst damit würden sich die demokratiebedingten Zusatzaufgaben in überschaubaren Grenzen halten. Dagegen würde das Gefühl der Selbstwirksamkeit oder besser Mitwirksamkeit in der Demokratie deutlich zunehmen.
Die Umsetzung einer so weitreichenden Demokratiereform bedarf breiter Unterstützung und starker formaler Legitimation. Eine Möglichkeit wäre die Abhaltung eines Verfassungskonvents innerhalb der repräsentativen Demokratie, der sich – noch – aus den konstituierten Gewalten zusammensetzt: Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und eventuell weitere Stakeholder wie die Sozialpartner:innen. Das Ergebnis könnte einer Volksabstimmung unterzogen werden. Verfassungskonvente fanden in diesem Jahrtausend in der EU und in Österreich statt. In Chile beauftragte die Regierung angesichts einer akuten Selbstblockade des Landes die Direktwahl eines Verfassungskonvents, dessen Elaborat einer bindenden Volksabstimmung unterzogen wurde; überraschenderweise wurde der Entwurf jedoch abgelehnt. Eine zweite Möglichkeit wäre die Einsetzung eines Bürger:innenrates, welcher mehrere Varianten oder einen Entwurf mit Varianten ausarbeitet, über die dann der Souverän in einer komplexeren Abstimmung entscheidet. Allein dieses Entscheidungsverfahren wäre maßgebliches demokratisches Neuland. Die Mitwirkung durch die gewählten Gremien ist vorzuziehen, dadurch ist ein stabiler Prozess gewährleistet. Es ist aber denkbar, dass sich die Vertretung des Souveräns weder zu einem »eigenen« Konvent noch zu einem beauftragten Bürger:innenrat erwärmen kann, dann käme zumindest noch eine dritte Strategie infrage. Diese könnte sich aus zwei Phasen zusammensetzen:
Schritt 1: Eine kritische Anzahl von z. B. 50 bis 100 Organisationen aus den Bereichen Gewerkschaften, Kirchen, Umweltschutz, Gender, Menschenrechte, Demokratie, Armutsbekämpfung, Internationale Zusammenarbeit … verständigt sich auf eine gemeinsame Strategie. Sie gewinnen je zehn bis 20 weitere Organisationen dazu, um die gemeinsame Forderung nach einem bundesweiten Volksentscheid (BVE) zu unterstützen. Ziel ist, dass die Plattform aus zumindest 1.000 namhaften Organisationen besteht. Diese gemeinsame Forderung erhält hohe Kampagnenpriorität aller Beteiligten, bis das gesetzte Ziel erreicht ist: die Verankerung des BVE in der Bundesverfassung entweder durch eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments oder durch eine vom Parlament beschlossene verbindliche Volksabstimmung.
Schritt 2: Nach Einrichtung des BVE werden die inhaltlichen Vorschläge für Volksinitiativen aller mitmachenden zivilgesellschaftlichen Organisationen nach der SK‑Methode (»Systemisches Konsensieren«) gemeinsam priorisiert und kampagnisiert. (Bei diesem innovativen Entscheidungsverfahren können mehrere Vorschläge gemacht werden, es wird der Widerstand gegen alle gemessen, siegreich geht der Vorschlag mit dem geringsten Widerstand hervor.) Mit dieser gemeinsamen »Pipeline« für progressive politische Projekte (P4PPP) wird einerseits einer Inflation von Volksinitiativen vorgebeugt und zum anderen die Erfolgswahrscheinlichkeit der vorausgewählten Initiativen deutlich erhöht. Beispielsweise könnten im ersten Jahr eine Finanztransaktionssteuer, ein Glyphosatverbot und ein Mindestlohn eingeführt werden, im Jahr zwei eine Obergrenze für Massentierhaltung, eine verpflichtende Gemeinwohl‐Bilanz und ein Waffenexportverbot. Nebeneffekt dieser strategischen Kooperation wären eine signifikante Aufwertung und Ermächtigung der Zivilgesellschaft in Deutschland. Zusammenarbeit würde mit substanziellen und befeierbaren Erfolgen belohnt. Unbeschadet davon können alle Initiativen ihre Kernthemen individuell weiterbearbeiten – und für zukünftige Volksentscheide aufbereiten.
Der beiden stärksten Vorbehalte gegen direkte Demokratie sind zum einen, dass das Bildungsniveau in der Bevölkerung für die Entscheidung konkreter Fragestellungen nicht ausreichend sei; und zum anderen, dass rechte oder rechtsextreme Kräfte diese Instrumente missbrauchen könnten. Oft wird argumentiert, dass nicht nur »schlechte« und »falsche« Entscheidungen getroffen werden könnten, sondern dass Minderheiten diskriminiert, Grundrechte ausgesetzt oder die Demokratie selbst abgeschafft werden könnte.
Zunächst die formalen Antworten: Dem »souveränen« Gesetzgeber wären dieselben Schranken gesetzt wie dem gewählten: Diskriminierung ist immer verboten, und eine entsprechende Initiative würde von der Wahl‐ und Abstimmungsbehörde erst gar nicht zugelassen; vorgeschlagene Grundrechtseinschränkungen würden ebenfalls einer Grundrechtsprüfung unterliegen und unterzogen wie Gesetzesvorhaben des Parlaments – und gegebenenfalls vom Verfassungsgerichtshof gestoppt. Die Vorenthaltung des Abstimmungsrechts für bestimmte Menschen (die gerade nicht im Parlament oder in der Regierung sitzen) durch andere Menschen ist, rein formal besehen, die Nichtanerkennung ihrer Menschenwürde, der daraus fließenden Selbstbestimmung und der gleichen Rechte für alle.
Auf der inhaltlich‐prozessualen Ebene kann diesen Befürchtungen begegnet werden. Wenn das Abstimmungsverfahren des Systemischen Konsensierens für Volksabstimmungen eingesetzt wird, können beide Befürchtungen gut behandelt werden. Bei der SK‑Methode wird nämlich über mehrere Vorschläge abgestimmt, und es gewinnt derjenige, der den geringsten Summenwiderstand hervorruft – der unsichtigste und empathischste, der dem Gemeinwohl am nächsten kommt. Polarisierende Vorschläge von den politischen Rändern haben bei diesem innovativen Entscheidungsverfahren erfahrungsgemäß keine Chance. Sie hatten es aber auch bisher schon nicht leicht. In der Weimarer Republik gab es direkte Demokratie mit Volksinitiative. Sie wurde zweimal genutzt, einmal von den Kommunist:innen und einmal von den Nazis. Beide Initiativen wurden abgelehnt, was dafürspricht, dem Souverän zu vertrauen.
Amnesty International (2024, 8. Juli). Under‐protected and over‐restricted: The state of the right to protest in 21 European countries. https://www.amnesty.org/en/documents/eur01/8199/2024/en/
Civicus (2022). People Power Under Attack 2022: A report based on data from the CIVICUS Monitor. https://civicusmonitor.contentfiles.net/media/documents/GlobalFindings2022.pdf
Crouch, C. (2008). Postdemokratie. Suhrkamp.
Deutscher Bundestag (2024, 2. Mai). Parlament: 107 Gesetze an 68 Sitzungstagen verabschiedet. Abgerufen am 10. November 2024 von https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/jahresstatistik-2023-996750.
Earle, J., Moran, C., & Ward‐Perkins, Z. (2017). The Econocracy: On the Perils of Leaving Economics to the Experts. Penguin Books.
Felber, C. (2018). Gemeinwohl‐Ökonomie. Piper.
Gilens, M., & Page, B. (2014). Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens. Perspectives on Politics, 12(3), 564–581. doi:10.1017/S1537592714001595
Mehr Demokratie e. V. (2020, 22. November). Grüner Parteitag streicht direkte Demokratie aus Programm [Presseinformation]. Abgerufen am 9. November 2024 von https://www.mehr-demokratie.de/presse/einzelansicht-pms/gruener-parteitag-streicht-direkte-demokratie-aus-programm.
Oxfam International (2024, Januar). INEQUALITY INC: How corporate power divides our world and the need for a new era of public action [Briefing Paper]. https://doi.org/10.21201/2024.000007
V‑Dem Institute (2023, März). Democracy Report 2023: Defiance in the Face of Autocratization. University of Gothenburg, Department of Political Science.https://www.v-dem.net/documents/29/V-dem_democracyreport2023_lowres.pdf
Entwurf für eine Demokratisierungdes Grundgesetzes
Clemens Oswald
Aus der rein repräsentativen Demokratie muss eine Bürgerdemokratie werden.
In dieser neuen repräsentativen, direkten und partizipativen Demokratie bliebe der Deutsche Bundestag zwar der Hauptgesetzgeber, aber die Bürger können Gesetze vorschlagen und ihn in Einzelfragen über die Kombination von Bürgerräten und Volksentscheiden überstimmen. Die Bürgerdemokratie stärkt das Wir, das Miteinander, indem es – grundgesetzkonform – eine neue Rechtsphilosophie und starke bürgerfreundliche Strukturen institutionalisiert. Für den Einzelnen bedeutet sie die Aufwertung vom Bourgeois (Kleinbürger) zum Citoyen (Aktivbürger).
Ziel dabei: Die Zufriedenheit aller Bürger durch spürbares Gehörtwerden und aktives Mitmachen bei politischen Entscheidungen. Das Fundament der »Fairfassung« ist die Bürgerwürde, also aktive politische Partizipation über das Wählen hinaus. Daraus folgen Bürgerräte auf allen Ebenen und regelmäßige Teilnahme an Bürger‐ und Volksentscheiden. Idealerweise wird der Bundestag eine geloste Bürgerkammer institutionalisieren. Diese beruft Bürgerräte zu Themen ein, die von Bürgern vorgeschlagen werden. Deren Empfehlungen werden an den Bundestag weitergeleitet. Dieser kann die Empfehlungen umsetzen oder ablehnen. Letzteres muss begründet geschehen. Die Bürgerkammer hat im Falle von Ablehnungen die Option, Volksbegehren und letztlich Volksentscheide einzuleiten. Diese werden gemeinsam mit dem empfehlenden Bürgerrat vorbereitet und mithilfe eines neutralen Juristischen Dienstes formuliert und auf etwaige Verfassungswidrigkeit geprüft. Wichtig: Die Bürgerkammer hat eine Scharnierfunktion im Bereich der Gesetzgebung und dazu eine starke Funktion im Bereich der Gewaltenteilung: Sie kann Vertreter in Kommissionen entsenden. Diese kümmern sich um von der Politik überlagerte Themen wie Parteienfinanzierung und Bundesrichterwahlen.
Sowohl für Bürgerkammer als auch für bundesweite Volksentscheide sind Grundgesetzänderungen nötig.
Die Demokratie muss nicht nur verteidigt, sondern sie muss weiterentwickelt werden. Bürger haben nicht nur Menschen‑, sondern auch Bürgerwürde, und daraus resultiert das Grundrecht auf aktive politische Partizipation über das Wählen hinaus. Nicht zuletzt aus diesem Anspruch heraus sind neue demokratische Strukturen zu schaffen, die die Bürger bestmöglich als Souverän in den Mittelpunkt stellen.
Die Überzeugung politischer Freiheit und Autonomie, die die Gesellschaft beleben kann, muss bei Bürgern und erst recht Politik noch wachsen. Es ist mit starkem politischen Widerstand aus Befangenheit (Politik) und Gewohnheit (Bürger) zu rechnen. Zur gegenwärtigen Krise der Repräsentation gehört es, dass die Repräsentanten selbst die notwendigen Reformen beschließen müssen. Es sind Grundgesetzänderungen nötig, die eine Zweidrittelmehrheit brauchen. Dafür braucht es eine starke demokratische Reformbewegung.
Derzeit entwickelt sich ein lang vernachlässigtes Politikfeld: die Demokratiepolitik. Dazu soll dieses Konzept einen Beitrag leisten. Inspirierend für dieses Konzept wirkten historische Modelle, aktuelle Praktiken und wissenschaftliche Untersuchungen.
Besonders hervorzuheben ist das Vorbild der athenischen Demokratie, sowohl philosophisch als auch strukturell. In der athenischen Polis gab es zwar keine Menschenwürde, dafür aber eine sehr ausgeprägte Bürgerwürde, wie der Althistoriker Josiah Ober herausgearbeitet hat. Gemeint ist die politische Würde, die Würde in öffentlichen Angelegenheiten als Souverän aktiv mitgestalten zu können. »Alle stehen groß«, drückt Josiah Ober diesen individuellen Anspruch jeder und jedes Einzelnen aus, sich in das Gemeinwesen einzubringen (Ober 2017, S. 101–127). Steffen Mau spricht in Bezug auf Bürgerräte von der Entdeckung des »zoon politikon« (Mau 2024, S. 136).
Bestechend war in der athenischen Demokratie die strukturelle Umsetzung dieser Idee: die Kombination des politischen Losens mit direkten Abstimmungen. Sie wurde eingeführt, um eine gute Gesetzgebung zu erreichen und zugleich Machtmissbrauch zu verhindern, was, wenn man Althistorikern glauben darf, auch weitgehend funktionierte. Es gab einen aus den Bürgern der Phylen (regionalen Verwaltungsbezirken) gelosten Rat der 500, der die Gesetze vorbereitete. Er gab konkrete Empfehlungen ab, die dann im großen Rund Tausender stimmberechtigter Bürger in der Volksversammlung (Ekklesia) diskutiert, ggf. abgeändert und per Handheben meist im Konsens beschlossen wurden (Bleicken 1995, S. 67, 312 ff.). Das hier vorgestellte moderne Modell der Kombination geloster Bürgerräte mit Volksentscheiden hat also einen gut zweieinhalbtausend Jahre alten Vorgänger.
Anzumerken ist, dass der damalige Ausschluss einer großen Zahl von Bewohnern wie Frauen, Metöken (Fremden) und Sklaven von Bürgerrechten kein Grund ist, die Polis pauschal als Vorbild abzulehnen. Denn dieser Ausschluss spricht weder gegen die Idee einer auf alle Bürger ausweitbaren Bürgerwürde noch gegen die Methodik des Losens. Es ist nur ein – schon mal unreflektiert vorgebrachtes – Argument, um von den beachtenswerten Vorzügen der athenischen Demokratie abzulenken. Wir sind auch gut beraten, die athenische Demokratie nicht als zu alt oder bloß kleinstaatliche Erfahrung zu diskreditieren. Es geht um die damals basisdemokratisch vorgelebten Prinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit und Gewaltenteilung. Wissenschaft und Praxis belegen zudem längst, dass das Losen auch im Großformat, sogar auf Bundesebene, gewinnbringend anwendbar ist, wie zuletzt der vom Deutschen Bundestag veranstaltete Bürgerrat Ernährung (Deutscher Bundestag 2023; Deutscher Bundestag 2024) gezeigt hat.