Ein Versteck unter Feinden - Roxane van Iperen - E-Book
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Ein Versteck unter Feinden E-Book

Roxane van Iperen

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Beschreibung

 Die wahre Geschichte von Anne Franks Freundinnen und ihrem Kampf gegen die Nazis  Nach Kriegsende überbrachten die Schwestern Lien und Janny Brilleslijper der Familie Frank die Nachricht vom Tod ihrer Töchter Anne und Margot. Dass sie darüber hinaus während der Besatzungszeit Teil einer einmaligen Geschichte jüdischen Widerstandes waren, war bislang unbekannt. Als die Autorin Roxane van Iperen im Jahr 2012 in eine Villa einzieht, ahnt sie nichts von den doppelten Böden und Hohlräumen, die es hier gibt: Die jüdischen Schwestern hatten zahlreichen verfolgten Juden hier Unterschlupf gewährt. 't Hooge Nest, so der Name des Hauses, war umzingelt von den Villen hochrangiger Nazis, unter deren Augen hier der Widerstand für die gesamten Niederlande organisiert wurde. Bis das Versteck im Sommer 1944 verraten und gestürmt wurde. Janny und Lien überlebten mehrere Konzentrationslager – bis zum Tod von Margot und Anne Frank blieben sie an deren Seite. Eine außergewöhnliche Geschichte des niederländischen Widerstandes in der Zeit der Nazi-Besatzung, fesselnd erzählt wie ein Roman.

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Seitenzahl: 525

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Roxane van Iperen

Ein Versteck unter Feinden

Die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand

Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek

Hoffmann und Campe

Vorwort

Als wir auf den Waldweg einbiegen und sich das Haus zwischen den Bäumen zeigt, hat es uns verzaubert. Die Redensart »ein Häuschen im Grünen« – und genau danach hatten wir gesucht – entspricht nicht ganz der Realität, denn dieses Haus ist riesig und trägt sogar einen eigenen Namen: Das Hohe Nest. Unser Blick gleitet über die stattliche Fassade, die mit Efeu bewachsenen Steinmauern und die alten Fensterläden. Aus allem hier spricht Geschichte, Größe, aber ohne das Prätentiöse oder Steife, das damit oft einhergeht. Im Gegenteil: Der verwilderte, waldähnliche Garten, das hochstehende Gras, die Strickleitern, die hin und her baumeln, die Obstbäume weiter hinten – all das verlangt geradezu danach, herumzurennen, zu spielen, ein Feuer zu machen und bis in die Nacht unter dem Sternenhimmel zu reden, ungestört von der bewohnten Welt. Wir schauen uns an und denken das Gleiche. Wenn wir hier leben könnten.

Das Unvorstellbare wird Wirklichkeit. Im Spätsommer des Jahres 2012 ziehen mein Mann und ich mit unseren drei kleinen Kindern, einem Altdeutschen Schäferhund und drei Katzen mit einem Mobile Home in den Garten des Hohen Nestes. Vor uns liegt ein langer Weg, an dessen Ende wir diese ganz besondere Villa wieder im alten Glanz erstrahlen lassen wollen. Wände werden restauriert, Treppen abgeschliffen, Verkleidungen entfernt, unter denen sich Decken mit einfallsreichen Balkenkonstruktionen verbergen. Mit bloßen Händen ziehen wir den Bodenbelag ab und entdecken in nahezu jedem Zimmer Luken im Holzboden und Verstecke hinter alten Vertäfelungen. Dort finden wir Kerzenstummel, Notenblätter und Zeitungen des Widerstands aus dem Zweiten Weltkrieg. So beginnt für uns die Rekonstruktion der Geschichte des Hohen Nestes. Eine erstaunliche Geschichte, die, wie sich gezeigt hat, von einem wichtigen Teil des Krieges erzählt; einem breiten Publikum war sie bislang unbekannt – sogar in der unmittelbaren Umgebung des Hohen Nestes.

Mit meinen Fragen löchere ich die ehemalige Besitzerin des Hauses, Nachbarn und Ladenbesitzer in den umliegenden Dörfern, ich stürze mich auf Kataster und Archive, und eine verblüffende Entdeckung folgt auf die nächste. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs – die Züge in die Konzentrationslager sind ausgelastet und die »Endlösung der Judenfrage« wird Realität – errichten zwei jüdische Schwestern im Hohen Nest ein Zentrum des Widerstands und verstecken viele Verfolgte. Nach und nach lerne ich deren Nachfahren kennen, und die damals untergetauchten Kinder kehren ins Haus zurück. Sie teilen ihre Erinnerungen mit mir, geben mir persönliche Dokumente. So bekommt die Geschichte Farbe, kann ich den Schwestern eine Stimme geben.

Langsam, aber sicher, Zimmer für Zimmer, finden die Puzzlestücke zueinander, bis die unglaubliche Geschichte jetzt, sechs Jahre später, auf dem Papier steht: Dieses Haus ist größer als wir. Wir sind nur Passanten, die das Glück haben, es bewohnen zu dürfen.

Krieg

»Wenn gekämpft werden muss, muss gekämpft werden. Man kann sich selbst nicht untreu werden. Man kann sich selbst auch nichts vormachen. Wir standen für etwas ein. Wir haben getan, was wir tun mussten, was wir tun konnten. Nicht mehr und nicht weniger.«

Janny Brandes-Brilleslijper

Die Schlacht um den Nieuwmarkt

Amsterdam, 1912. Wenn die Schlacht um den Nieuwmarkt anders ausgegangen wäre, hätte es die Familie Brilleslijper wahrscheinlich nicht gegeben. Dort, auf dem Platz im jüdischen Viertel, dem sogenannten Jodenhoek, zu Füßen des jahrhundertealten Stadttors De Waag, kämpft Joseph Brilleslijper um die Hand von Fijtje Gerritse.

Ihre Familien könnten gegensätzlicher nicht sein: Joseph stammt aus einem Zirkusgeschlecht von umherziehenden, jiddisch sprechenden Musikern, und obwohl sein Vater mittlerweile beruflich Obst importiert, sind für den Haushalt Brilleslijper noch immer die ausschweifenden Freitagabende zu Hause in der Jodenbreestraat typisch, wenn sich alle Familienmitglieder versammeln, um zu musizieren und Theater zu spielen. Fijtje Gerritse hingegen stammt aus einer Familie frommer friesischer Juden, alle groß und eher mürrisch, alle mit rotblondem Haar, die ihre sechs Kinder mit eiserner Disziplin inmitten der Gottlosigkeit des Amsterdamer Zeedijk erziehen, in dem sich Hafenarbeiter, Huren und Seemänner tummeln. Schon in jungen Jahren arbeitete Fijtje dort im Geschäft ihrer Eltern, das abends geöffnet war. Sie stand auf einer Kiste hinter der Kasse, neben sich die drei Brüder als Rausschmeißer. Sie ist bis über beide Ohren in den immer zum Lachen aufgelegten Joseph Brilleslijper verliebt, aber ihre Eltern wollen von dem jungen Kerl nichts wissen: ein Nichtsnutz ohne Beruf, der bei jeder Gelegenheit abhaut, um seinen umherziehenden Zirkusgroßvater zu besuchen.

Nachdem Joseph sich von den drei Gerritse-Brüdern wiederholt eine heftige Abreibung eingefangen hat, als er bei Fijtjes Eltern um ihre Hand anhalten wollte, ja von ihnen sogar aus dem Haus gejagt wurde, wobei sein Gesicht unsanft auf dem Pflaster landete, weiß er, dass er nur noch eine Chance hat. Er fordert die ungeschlagenen Riesen des Zeedijk-Viertels auf, von ihrem Thron herabzusteigen, sodass er der Familie Gerritse ein für alle Mal zeigen kann, zu was er imstande ist. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Ruben trommelt er einige Freunde aus der Jodenbreestraat und den Joden Houttuinen zusammen. Darunter ist ein Junge namens Stummer Öpie, der noch nie ein Wort gesagt hat, der aber so bärenstark ist, dass niemand es auch nur wagt, laut ein Wort darüber zu verlieren. Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Kiefern halten sie auf De Waag zu. Vor der Fischhalle auf dem Nieuwmarkt kommt es zu einem spektakulären Faustkampf, und zum ersten Mal in ihrem Leben werden die Brüder Gerritse in die Knie gezwungen. Joseph wischt sich das Blut von den Fingerknöcheln, holt seine »Fietje« im Laden ihrer Eltern ab und zieht mit ihr bei Ruben und dessen Frau ein. Ob es nun ein taktisches Kunststück, brutale Gewalt oder Glück war: Der Sieg ist das Startzeichen eines liebevollen Zusammenlebens. Sie heiraten am 1. Mai 1912 und Josephs Vater organisiert ein Häuschen für das junge Paar im ärmlichsten Teil des Jodenhoek. Dort bei den Joden Houttuinen, auf der Ecke zum Uilenburgersteeg, erblickt am 13. Dezember 1912 ihr erstes Kind, Rebekka – »Lientje« – Brilleslijper das Licht der Welt.

Die Familie ist arm, aber glücklich. Nach ein paar mageren Jahren können sie mit Hilfe von Josephs Vater, Opa Jaap, einen Laden in der Nieuwe Kerkstraat übernehmen. Mit der kleinen Lien ziehen sie über dem Geschäft ein. Fietje arbeitet Tag und Nacht im Laden, während Joseph als Arbeiter im Großhandel von Opa Jaap hilft. Es dauert noch vier Jahre, bevor das Ehepaar Gerritse von Zeedijk aus – von ihnen nur getrennt durch den Waterlooplein und den Nieuwmarkt, aber doch eine ganze Welt entfernt – wieder Kontakt zu ihrer Tochter sucht. Der Anlass ist die Geburt von Fietjes zweiter Tochter, die sie nach ihrer Mutter nennen: Marianne – »Janny«. Fünf Jahre später, im Sommer 1921, wird dann endlich der lang erwartete Sohn, Jacob – »Japie« – geboren, damit ist die Familie komplett.

Während Joseph und Fietje rund um die Uhr arbeiten, damit es auch am Ende des Monats noch reicht, erzieht der Jodenhoek die Kinder. Große Familien leben in Häusern, die eigentlich nur bessere Schuhkartons sind – mit Schlafplätzen unter Spülbecken und neben der Fußbodenleiste in der Diele; das Leben der Kinder spielt sich daher vor allem auf der Straße ab. Um die Ecke des elterlichen Hauses befindet sich das Theater Carré, dort beobachten sie stundenlang die hübsch herausgeputzten Menschen, die in die Revue strömen. Etwas weiter in der Jodenbreestraat gibt es das Tip-Top-Theater, ein beliebter Treffpunkt, wo Stummfilme gezeigt werden und bekannte Künstler wie Louis und Heintje Davids auftreten. In diesem Viertel kennt jeder jeden; Brüder helfen, das tägliche Brot zu verdienen, Schwestern, die Kinder groß zu bekommen. In den Straßen hängt Essensgeruch; vom Waterlooplein bis zur Jodenbreestraat sind Stände aufgebaut, an denen geröstete Maronen, frischer Fisch, scharfe Gewürze und saure Gurken angeboten werden. Freitags kocht Fietje, genau wie einige andere Frauen aus der Nachbarschaft, für die Armen immer einen großen Topf Suppe über dem Feuer. In den Kriegsjahren, als plötzlich viele belgische Flüchtlinge im Laden auftauchen, gibt sie besorgten Müttern auch ohne Geld deren Einkäufe mit – »Ich schreib das an«, sagt sie dann und lächelt ihnen zum Abschied zu. Freitags trifft man sich abends mit dem Rest der Familie Brilleslijper im Haus von Opa Jaap an der Jodenbreestraat. Dann wird Hühnersuppe gegessen und den ganzen Abend mit allen Onkeln, Tanten, Neffen und Nichten Musik und Theater gemacht. Eine Tradition, die Joseph, als Opa Jaap stirbt, mit seiner eigenen Familie fortsetzen wird.

So spielt die frühe Jugend der drei Brilleslijper-Kinder sich in der bedürftigen, aber geschützten Umgebung des Amsterdamer Jodenhoek ab, in einer Familie voller Liebe und Musik. Aber im Laufe der zwanziger Jahre wird das Leben schwieriger. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Familien haben nichts zu essen, und als Fietje einmal freitags bei einer Nachbarin vorbeischaut, besteht deren traditioneller Eintopf für die Armen bloß noch aus kochendem Wasser. Das Gebäude, in dem sich ihr Laden und darüber ihre Wohnung befinden, wird an eine große Firma verkauft, und notgedrungen müssen sie in die Rapenburgerstraat umziehen. Das ist nur ein Block entfernt von ihrem alten Haus, aber die Mutter verliert ihr Geschäft, und dieser Verlust trifft sie schwer. Joseph allein verdient zu wenig, um das Haus zu halten, und die Familie zieht nochmals um, in zwei kleine Zimmer in der Nähe der Marnixstraat. Vor Tagesanbruch verlassen Fietje und Joseph die Wohnung, um Geld als Obst- und Gemüsegroßhändler zu verdienen.

Nach dem Tod von Opa Jaap 1925 ändern sich die Zeiten ein wenig: Joseph übernimmt mit der Unterstützung seines Bruders Ruben den Großhandel, und sie ziehen zur Familie in ein Gebäude in der Marnixstraat, wo sie das erste Geschoss bewohnen. Janny und Lien haben ein wunderbares gemeinsames Zimmer. Aber den Mädchen scheint der vertraute Jodenhoek Meilen entfernt; sie vermissen ihre Umgebung, die Menschen und das vertraute Jiddisch Amsterdams, mit dem gelispelten »S«. Abgeschnitten vom Jodenhoek verstehen die Mädchen zum ersten Mal, warum der stetig wachsende Strom jüdischer Flüchtlinge aus Russland und Polen in derart winzigen Gebäuden aufeinanderhockt. Im Straßenbild um die Nieuwe Prinsengracht, in der Gegend ihres alten Ladens, wo viele Ostjuden frischen Fisch bei Fietje kauften, bilden sie ein zusammengehörendes Ganzes aus Männern in schwarzen Kaftanen mit langen Schläfenlocken und Frauen mit Kopftüchern.

Die Schwestern sind nicht nur äußerlich kaum auseinanderzuhalten, sie sind auch unzertrennlich und genießen die Freiheiten, die sich aus dem liebevollen Schlendrian der Eltern ergeben. Wenn Joseph und Fietje in der Morgendämmerung zum Markt aufgebrochen sind und Japie noch schläft, holen sie ihre Fahrräder aus dem Schuppen, treten kräftig in die Pedale und fahren mit vornübergebeugten Oberkörpern am Olympia-Stadion vorbei, über den Amstelveenseweg und dann rechts ab zum Ijsbaanpad. Bei der hölzernen Fußgängerbrücke über die Zugtrasse nach Aalsmeer müssen sie absteigen; die Brücke ist so steil und hoch, dass sie sich ins Zeug legen müssen und mit ausgestreckten Armen ihre Fahrräder emporschieben, die Augen zu Schlitzen verengt, damit sie die Schienen tief unter sich nicht sehen müssen. Und dort, wo die Schinkel ins Nieuwe Meer fließt, liegt auf hohen Pfählen das Schinkelbad, ein aus Holz errichtetes Freischwimmbad, gespeist aus dem örtlichen Wassernetz. Mit verschwitzten Körpern vom Fahrradfahren und dem Schlussanstieg springen sie rasch ins kalte Wasser und schwimmen jedes Mal etwas zu lange, sodass sie sich sputen müssen, um Jaap noch rechtzeitig zur Schule zu bringen.

Janny und Lien entwickeln sich zu zwei bildhübschen Mädchen. Sie sind klein und dunkel, mit geraden Nasen, hohen Jochbeinen und Augenbrauen, die aussehen wie Fuchsschwänze. Die schwarzen Haare tragen sie im Nacken zusammengebunden. Mit dem Ende der Volksschule ist ihre Ausbildung abgeschlossen; die Eltern haben kein Geld, um sie noch länger die Schule besuchen zu lassen und können ihre Hilfe außerdem gut gebrauchen. Das ist nicht weiter schlimm: Die Schwestern sind wissbegierig und haben einen guten Blick für die Welt um sie herum – Amsterdam bietet ihnen alles, was sie brauchen. Sie helfen Fietje im Haushalt, arbeiten Vollzeit als Näherinnen und kümmern sich um ihren kleinen Bruder. Je älter sie werden, desto mehr scheint der Altersunterschied zu verschwinden, jedoch fallen die Charakterunterschiede umso mehr auf. Lien ist spontan und extrovertiert, hat ein unbeschwertes Wesen wie ihr Vater und ist schnell im siebten Himmel. Janny ist nüchtern, mitunter sogar reserviert und verfügt über einen eisernen Willen, genau wie ihre Mutter.

Lien entpuppt sich als musikalisches Talent. Mit jungen Jahren singt sie in einem Kinderchor und trumpft bei den musikalischen Abenden bei Opa Jaap auf. Als Jugendliche besucht sie für einige Jahre die Tanzschule von Florrie Rodrigo, einer jüdisch-portugiesischen Tänzerin, die sich zunächst einen Namen im Cabaret von Jean-Louis Pisuisse und später als expressionistische Tänzerin in Berlin gemacht hat. Nach der Flucht vor dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland eröffnet sie eine Tanzschule im Jodenhoek von Amsterdam. Joseph hält von dem frivolen Hobby seiner Tochter nichts und verbietet ihr, weiterhin zu Florrie zu gehen. Aber Josephs sture Gene sind stärker als seine Autorität: Über Florrie lernt Lien die Choreographin Lili Green kennen, und mit etwa sechzehn fängt sie an, heimlich Unterrichtsstunden zu nehmen. Lili ist eine Pionierin in der Welt des Tanzes, eine Tänzerin, die klassische Balletttechniken modernisiert, und sie sieht für Lien eine echte Zukunft in diesem Metier. So arbeitet Lien also tagsüber als Näherin, eilt abends ins Studio von Lili Green auf der Pieter Pauwstraat zum Training und präsentiert nachts ihre Kunst in den Clubs um den Rembrandtplein. Wenn sie wieder einmal in der Morgendämmerung nach Hause kommt, und auf der Treppe ihrer besorgten Mutter begegnet, schleust diese sie schnell in ihr Zimmer, bevor Joseph sie entdeckt.

Die jüngere Schwester Janny hält es nur ein halbes Jahr in der Nähstube aus. Wie schon in der Schule ist sie ungeduldig und trotzig. Sie nennt sich gläubig, aber nicht religiös. Sie ist mitten im jüdischen Viertel aufgewachsen, geht aber nie in die Synagoge. Sie kommt aus einer Krämerfamilie, meldet sich aber bei der zionistischen Organisation Hatzair an, zu der vor allem Kinder von Ärzten und Anwälten gehören. Wenn sie sich ungleich behandelt fühlt, wehrt sie sich heftig – angetrieben von der Geschichte der Großeltern Gerritse, die ihren Vater zu unbedeutend fanden, um die Tochter zu heiraten. Nach dem gescheiterten Versuch in der Nähstube hat sie unzählige Stellen und landet schließlich in einem Labor. Dort darf sie mit ihrem verdienten Geld gelegentlich an Kursen teilnehmen. Janny lernt ein wenig Englisch, Französisch und Deutsch, und nimmt an einem Erste-Hilfe-Kurs teil; was ihr und Lientje später wahrscheinlich das Leben retten wird. Sie verlässt die zionistische Bewegung, um für eine bessere Gesellschaft für alle zu kämpfen – und nicht nur für die Rechte einer gut situierten Oberschicht. Sie beschäftigt sich mit dem Kommunismus, mit Marx, den sozialdemokratischen Grundprinzipien – Vater und Mutter Brilleslijper lesen zu Hause die Tageszeitung Het Volk – und fängt mit jedem eine Diskussion an. Bekümmert beobachtet sie, wie immer mehr Ostjuden und andere Emigranten im Jodenhoek ankommen, obwohl ihnen das Passieren der Grenze zunehmend erschwert wird. Janny versucht, ihren Vater von der »braunen Gefahr« zu überzeugen. Joseph glaubt, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird, aber Janny sieht im Freundschaftspakt zwischen Hitler, Mussolini und Franco eine ernsthafte Bedrohung. Als im Sommer 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbricht, wird sie als neunzehnjähriges Mädchen im Untergrund aktiv.

Sie arbeitet vor allem für die Internationale Rote Hilfe: Mit verschiedenen Aktivitäten unterstützen sie niederländische Freiwillige, die im Spanischen Bürgerkrieg kämpfen wollen. Zudem gehört sie dem Komitee »Hilfe für Spanien« an. Dort arbeitet sie mit jungen Leuten zusammen, die sich auf der Keizersgracht 522ein Haus teilen. Unter den Mitstreitern sind der Journalist Mik van Gilse, die Fotografin Éva Besnyő, der Fotograf Carel Blazer und der Filmemacher Joris Ivens – sie alle hat Janny über Lien kennengelernt. In Amsterdam unterstützt sie die Arbeit, indem sie Geld für Verbandsmaterial und andere knapp bemessene Dinge beschafft; sie schmuggelt einen Krankenwagen über die Grenze und hilft dabei, Unterkünfte für die steigende Zahl von Flüchtlingen aus Deutschland zu finden. Von ihnen hört Janny Geschichten über den zunehmenden Hass gegen Juden und die »Bolschewiken«. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Börsenkrach 1929 auf der Wall Street, der zu einer Weltkrise führte und Deutschland hart traf, und die immer antisemitischere Atmosphäre in der Öffentlichkeit – all diese Faktoren haben zum niederschmetternden Sieg von Hitlers Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei geführt, der NSDAP.

Auch die Situation in den Niederlanden verschlechtert sich. Die wirtschaftliche Depression sorgt für breite Pauperisierung, die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter und Premier Colijn setzt eine eiserne Sparpolitik um. Zu Hause bei Familie Brilleslijper läuft es auch nicht mehr gut: Joseph musste sich mehreren schweren Augenoperationen unterziehen und erholt sich davon nur schlecht. Fietje und die drei Kinder verdienen das Geld, bis auch die Mutter krank wird und ins Krankenhaus muss. Einen Lichtblick gibt es am Ende der unruhigen dreißiger Jahre: Beide Schwestern begegnen den Männern, die ihr Leben verändern.

~

Lien wohnt mittlerweile allein, vor allem um dem Zorn des Vaters über ihre Tanzleidenschaft zu entkommen. Sie lebt in einer Künstlerkommune auf der Bankastraat in Den Haag, die aus einer bunten Truppe Studenten besteht. Es gibt eine gemeinschaftliche Küche, eine Haushaltskasse, und im Flur hängt eine Schultafel mit einer Liste der Bewohner, Zimmernummern und organisatorischen Mitteilungen. Als Lientje wegen einer Gehirnerschütterung ans Bett gefesselt ist – sie ist auf dem Weg zum Tanztraining gestürzt –, bringt ein neuer Mitbewohner ihr einen Strauß selbst gepflückter Blumen. Sie ist hingerissen von diesem großen blonden jungen Mann mit den blauen Augen und dem schüchternen Lachen. Eberhard Rebling ist ein Konzertpianist und Musikwissenschaftler aus Deutschland, der vor dem Nationalsozialismus und seinem militaristischen Vater aus seinem Heimatland geflohen ist. Eberhard wiederum ist fasziniert von dieser kleinen dunkelhaarigen Frau und ihrer spitzen Zunge. Auf dem Papier hätten sie nicht gegensätzlicher sein können, trotzdem verlieben sie sich innig ineinander. Auch musikalisch bilden sie schnell ein Duo: Als Lien wieder auf den Beinen ist, gibt sie Tanzunterricht und tritt selbst auf, dabei begleitet sie Eberhard am Klavier. Sie freunden sich mit weiteren Studenten an, die in die Wohngemeinschaft kommen, und diskutieren nächtelang die bedrohliche politische Situation in den Nachbarländern. Unter anderem treffen sich dort der junge Arzt Gerrit Kastein, der Oboist Haakon Stotijn und seine Frau Mieke sowie der Student der Wirtschaftswissenschaft Bob Brandes, ein Sohn aus einer bekannten Den Haager Architektenfamilie.

Als Lien im Sommer 1938 für ihre Arbeit in der Revue vorübergehend ein Zimmer am Leidseplein in Amsterdam mietet, kommt ihre vier Jahre jüngere Schwester Janny am Ende ihres Arbeitstages häufig zum Essen vorbei. Eines Abends, Janny ist wieder zu Gast bei Lien, trifft sie dort Bob Brandes, der sie wegen ihrer politischen Überzeugungen aufzieht – er sitzt im Leitungsgremium der Sozialdemokratischen Studentenvereinigung und absolviert ein Praktikum bei dem kommunistischen Verlag Pegasus in Amsterdam. Während der Diskussion wird Janny derart sauer, dass sie anfängt mit Kissen zu werfen, um diesem Besserwisser den Mund zu stopfen. Als sie aber wenige Wochen später von Lien den Schlüssel für deren Zimmer auf der Bankastraat in Den Haag bekommt, benutzt sie diesen schon bald, um Bob häufiger zu sehen. »Das scheint hier so eine Art linkes Bordell zu sein«, brummelt ein Mitbewohner, als die soundsovielte Beziehung im Haus besiegelt wird.

Frau Brandes, der Mutter von Bob, kommt die Affäre zu Ohren, und sie ruft daraufhin den wohlerzogenen Pianisten an, der einmal bei ihnen ein Hauskonzert gegeben hat, diesen Eberhard Rebling, um ihn zu bitten, auf seinen Freund Bob einzuwirken: Dieses Mädchen aus einem zweifelhaften Kaufmannsmilieu sei wirklich eine Nummer zu gewöhnlich für ihren Sohn. Eberhard hört ihr amüsiert zu, beruhigt Frau Brandes und versichert ihr, die Familie Brilleslijper bringe wirklich allerliebste Töchter hervor. Im Januar 1939 nimmt Bob Janny mit ins Kino in Den Haag, geht nach dem Ende des Films mit ihr nach Hause und zieht nicht wieder aus.

Bobs Eltern weigern sich, der beabsichtigten Hochzeit zuzustimmen: Neben Jannys sozialem Hintergrund halten sie ihre jüdische Abstammung in dieser Zeit für ein Risiko. Diese Haltung bereitet ihr natürlich Kummer, doch sie folgt dem Beispiel ihrer eigensinnigen Eltern: Im September 1939 treten die fast dreiundzwanzigjährige Janny und der sechsundzwanzigjährige Bob in den Stand der Ehe. Gefeiert wird in Jannys Elternhaus in Amsterdam, ohne Vater und Mutter Brandes, allerdings in Anwesenheit seiner Schwestern, unter denen sich Aleid Brandes befindet, mit der sich Janny gut versteht. Joseph schmiert Brote für alle, Fietje ist wieder aus dem Krankenhaus zurück und Janny ist mit einem nicht zu übersehenden runden Bauch der strahlende Mittelpunkt. Mit einiger Schadenfreude hat Bob eine Hochzeitsanzeige in der Den Haager Zeitung aufgegeben, woraufhin Herr und Frau Brandes noch wochenlang mit Glückwünschen aus ihrem vornehmen Bekanntenkreis überschüttet werden.

Einen Monat nach der Hochzeit, am 10. Oktober 1939, wird Robert Brandes geboren, und Janny und Bob beziehen mit dem Baby zwei Zimmer in der Den Haager Bazarlaan.

Das junge Paar schwebt auf einer rosa Wolke, aber satt werden sie davon nicht. Durch ihre letzte Anstellung vor der Schwangerschaft – sie arbeitete an einer Strickmaschine in einer Fabrik – bekommt Janny ein wenig Mutterschaftsgeld, das rasch zusammenschmilzt. Bob bricht das Studium ab und findet eine Anstellung als Beamter. Janny kümmert sich um den kleinen Robbie.

Die Familie wächst schnell: Im Winter 1939 gewähren sie dem ersten Untergetauchten in ihrem Haus Unterschlupf. Alexander de Leeuw ist ein führender Anwalt aus Amsterdam, Vorstandsmitglied der Kommunistischen Partei der Niederlande (CPN) und Direktor bei Pegasus, wo er Bob kennengelernt hat. De Leeuw ist bekannt für seinen schroffen Charakter, aber auch für seinen kompromisslosen Kampf gegen den Faschismus und seine viel gelesenen Publikationen. Als bekannter Kommunist und CPN-Anwalt wird er zu einer Zielschiebe im immer feindseliger werdenden Amsterdam. Die jahrelange Politik der Genügsamkeit der Kabinette Colijn haben dem Land nicht über die ökonomische Krise hinweghelfen können, im Gegenteil: Die wirtschaftliche Erholung kommt kaum in Schwung, und die anhaltende Knappheit verursacht anwachsende Spannungen. Hunderttausende Juden und Sozialisten versuchen aus Deutschland und weiter östlich gelegenen Ländern zu entkommen, auf der Flucht vor der Orgie der Gewalt, die in der Kristallnacht Ende 1938 entfesselt wurde, als Juden auf der Straße gelyncht wurden. Aus Angst, Deutschland vor den Kopf zu stoßen, hat die niederländische Regierung die Grenze für Flüchtlinge geschlossen, die als »unerwünschte Elemente« gebrandmarkt wurden. Zudem, so argumentiert Colijn, würde ein massenhafter Zustrom von Juden den bestehenden Antisemitismus im Land bloß verschlimmern. »Vermieden werden muss alles, was tendenziell eine dauerhafte Ansiedlung in unserem bereits so dicht bevölkerten Land unterstützen könnte, weil ein weiteres Eindringen fremder Elemente schädlich wäre für die Aufrechterhaltung des Charakters des niederländischen Stamms. Die Regierung ist der Meinung, dass unser begrenztes Territorium grundsätzlich der eigenen Bevölkerung vorbehalten bleiben muss« – heißt es in der Antwortnote zum Haushalt von 1938.

Die Benennung eines Sündenbocks fällt auch in den Niederlanden auf fruchtbaren Boden, und der Hass zeigt sich immer deutlicher in der Öffentlichkeit. In diesem Winter des Jahres 1939 läuft in mehreren Kinos der Hauptstadt der Film Olympia, den Leni Riefenstahl im Auftrag Adolf Hitlers über die olympischen Spiele 1936 in Berlin drehte – ein langatmiges Anhimmeln arischer Sportlerkörper. Der Film zieht Gruppen halbstarker Anhänger der Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland (NSB) an, und in der Stadt kommt es zu Schlägereien: NSB gegen Linke und Juden.

Der Anwalt De Leeuw fühlt sich sogar in seiner Stammkneipe Reynders nicht mehr sicher und sucht einen Ort, um unterzutauchen. Die Wohnung von Janny und Bob in Den Haag liegt im Obergeschoss; er kann auf dem Speicher schlafen und sich im Nebenzimmer des gerade geborenen Robbie heimlich waschen. Janny fällt auf, wie in sich gekehrt und ungelenk ihr untergetauchter Gast ist. Als ihre Schwester Lientje eines Morgens unangekündigt hereinkommt und De Leeuw bei Janny im Wohnzimmer beim Frühstück sieht, blicken sie einander erschrocken an. De Leeuw brummelt etwas vor sich hin, kramt sein Zeug zusammen und rast mit gesenktem Kopf an Lien vorbei auf den Speicher. Lien zieht fragend ihre Augenbrauen hoch und blickt Janny an, die nur demonstrativ die Lippen zusammenpresst und mit den Schultern zuckt, als hätte sie diesen Mann noch nie zuvor gesehen.

 

Als am 10. Mai 1940 um 03.55 Uhr deutsche Panzerzüge die niederländische Grenze überqueren und Geschwader der Luftwaffe in den niederländischen Luftraum eindringen, ist Janny kaum überrascht. An diesem Tag schließt sich das Netz, das Vertrauen auf Sicherheit durch die niederländische Neutralität entpuppt sich als Illusion. Die Proklamation von Königin Wilhelmina an diesem Tag lautet:

Nachdem unser Land mit peinlich genauer Gewissenhaftigkeit in all diesen Monaten eine strikte Neutralität gewahrt hat, und obwohl es keine andere Absicht hatte, als diese Haltung streng und konsequent aufrechtzuerhalten, hat die deutsche Wehrmacht in der vergangenen Nacht ohne die geringste Warnung plötzlich unser Gebiet angegriffen. Dies ungeachtet der offiziellen Zusage, dass die Neutralität unseres Landes respektiert würde, solange wir uns an sie hielten.

In den ersten Tagen hoffen Janny und Bob noch, dass die Engländer die Deutschen aus dem Land jagen, aber das passiert nicht. Aus ihrem Haus in der Bazarlaan sind die königlichen Stallungen des Paleis Noordeinde quasi zum Greifen nah, und als sie am 13. Mai einen abfahrenden Konvoi mit eleganten Wagen sehen, wird ihnen klar: Die Niederlande sind besetzt. Als Robbie an diesem Abend eingeschlafen ist, sprechen Janny und Bob über die Situation. Sie kennen die Geschichten der Flüchtlinge aus dem Osten, die Traumata der Spanienkämpfer und die verhärteten Fronten in den Niederlanden in der jüngsten Vergangenheit. Aber sie zweifeln nicht im Geringsten: Sie werden dem Faschismus Widerstand leisten. Sie sind sich der möglichen Konsequenzen bewusst, obwohl sie sich noch keine Vorstellung von dem machen können, was sie tatsächlich erwartet.

Als Janny ein paar Tage später während eines Spaziergangs mit Robbie im Kinderwagen plötzlich vom Luftalarm überrascht wird, rennt sie durch die Straßen Den Haags und sucht Schutz. Das Unheil verkündende Heulen erfüllt die Luft, kreist zunächst drückend und flach über ihr, und schießt dann empor – immer wieder, während die Angst ihren Leib einschnürt und das Pflaster des Bürgersteigs unter ihren Füßen vorbeischießt. Sie sieht eine bekannte Fassade, klingelt beim Haus von Bekannten der Familie Brandes, einer Familie De Pres, und fragt außer Atem, ob sie bei ihnen Schutz suchen könne. Beschämt, aber resolut verweigern sie ihr und dem Baby den Zutritt.

Die braune Pest

Die erste, die sie nach der Kapitulation verlieren, ist Anita, ein fröhliches Mädchen aus der Wohngemeinschaft in der Bankastraat. Am 14. Mai 1940 starren Lien, Eberhard und deren Freunde am Fenster des Vorderzimmers schweigend auf die schwarzen Rauchschwaden in der Ferne über Rotterdam – ein Fehler der Deutschen, die nach der niederländischen Kapitulation ihre Flugzeuge nicht rechtzeitig zurückbeordert haben. Plötzlich hören sie oben ein Stöhnen, es kommt aus dem ersten Stock. Lien eilt die Treppe hoch, Eberhard ist dicht hinter ihr, sie finden Anita kreideweiß und matt auf ihrem Bett, ein Glasröhrchen neben sich. Die junge Frau war vor dem brutalen Antisemitismus aus Deutschland geflohen; einmal erzählte sie Lien von der Dosis Arsen, die ihr ihr Vater, ein jüdischer Arzt, als Abschiedsgeschenk mitgegeben habe. Die Geschichte führte ihnen den Ernst der Lage in Deutschland einmal mehr vor Augen, dennoch hatten sie die Geste des Vaters auch als übertrieben dramatisch empfunden. Bis jetzt. »Besser tot als in den Händen der Nazis«, hatte Anitas Vater ihr ans Herz gelegt.

Im Rest der Niederlande denken viele ähnlich: Nachdem die Nachricht von der Kapitulation die Runde macht, nehmen sich Hunderte Menschen das Leben. Trotzdem geht das öffentliche Leben recht schnell wieder seinen gewohnten Gang; Leute gehen zur Arbeit, die Geschäfte haben geöffnet, und die Zeitungen erscheinen. Janny und Lien besuchen regelmäßig ihre Eltern und den Bruder in Amsterdam, und auch dort scheint alles auffallend normal. Bobs ältere Schwester Aleid hat, dem Beispiel aus der Familie folgend, eine Wohngemeinschaft mit Gleichgesinnten an der Nieuwe Herengracht gegründet. Dort leben Freunde wie Janrik van Gilse, der ältere Bruder von Mik, und andere aus dem gemeinsamen Bekanntenkreis von Janny und Lien. Erst als die Schwestern bei Aleid vorbeischauen und fast niemanden ihrer Freunde mehr zu Hause antreffen, wird ihnen klar, dass manche schon fast im Untergrund leben: Sie übernachten überall und nirgends und kommen nur manchmal nach Hause, um etwas abzuholen. Janny und Lien hören, dass Listen mit Namen von Spanienkämpfern, linken Jugendlichen, Sozialdemokraten, Kommunisten und anderen Antifaschisten zirkulieren, die schon im Visier der Deutschen sind. Bei der Erstellung dieser Listen stützen sie sich auf das Wissen der sogenannten fünften Kolonne: faschistisch gesinnte Bürger, die gerne ihr Scherflein beitragen, indem sie lange gehütete Informationen weitergeben – von niederländischen Unternehmern, die ihre »roten« Kunden denunzieren, bis hin zu deutschen Dienstmädchen, die über jene Familien Bericht erstatten, für die sie schon seit Jahren die schmutzige Wäsche waschen. Janny ist besorgt, da Bob und ihre Freunde womöglich schon registriert worden sind – aber Bob zuckt nur mit den Schultern: »Das werden wir dann schon merken.«

Und damit beginnt die Zeit des Wartens.

 

Am 29. Mai 1940 hält der Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart seine erste Ansprache als höchster Beamter der Besatzungsmacht im Rittersaal in Den Haag. Der österreichische Jurist mit der Schmachtlocke und der kleinen, runden Brille kündigt an, dass das niederländische Volk nichts von den Deutschen zu befürchten habe:

Wir kommen nicht hierher, um ein Volkstum zu bedrängen und zu zerstören und um einem Land die Freiheit zu nehmen. […] Aber diesmal ist es nicht um Volkstum und Glauben und Freiheit gegangen; diese Güter der Nation waren niemals bedroht. Diesmal ist es darum gegangen, daß die Niederlande zur Plattform für einen Angriff gegen den politischen Glauben, die Freiheit und das Leben der deutschen Nation mißbraucht werden sollten. […] Dies ist es, was ich heute aus dem Anlaß der Übernahme der obersten Regierungsgewalt in den Niederlanden dem niederländischen Volk sagen wollte. Wir sind nicht gern mit Waffengewalt gekommen. Wir wollen Schützer und Förderer sein, um dann Freunde zu bleiben, dies alles aber in dem Sinne der höheren Aufgaben, die wir als Europäer haben. Denn es geht darum, ein neues Europa zu bauen, dem als Leitstern die Grundsätze vorangestellt sind: Nationale Ehre und gemeinsame Arbeit.

In den Niederlanden atmet man auf. Hier wird es anders laufen als in den östlichen besetzten Ländern: Vor diesem kultivierten, westlichen Land haben die Deutschen zumindest Respekt. Hitler hat immer betont, dass er die slawischen Völker als Abfall in seinem Hinterhof betrachtet, den man wegräumen muss, dass er dort Lebensraum schaffen will, und hofft, seine germanischen Brüder im Westen werden ihm dabei helfen. Die Niederlande haben sich nicht weiter um die deutsche Unterdrückungspolitik geschert – dafür erfährt man im Gegenzug gewiss eine milde Behandlung, so ist die Hoffnung im Land. Sogar die deutschen Soldaten sind gar nicht so schlimm: Bei diesem strahlenden Sommerwetter sieht man sie überall im Straßenbild, und am Strand von Scheveningen genießen sie warmen Kakao mit Schlagsahne – trotzdem bleibt es ein befremdlicher Anblick. Auch in der Wohngemeinschaft in der Bankastraat ist man optimistisch: Dass eine der befreundeten Großmächte Hitler schnell schlagen wird, steht sowieso fest, die Frage ist nur, ob das ein oder vielleicht zwei Jahre dauern wird. Für die hier lebenden Juden wird das keine größeren Folgen haben; die niederländischen Juden sind in die Gesellschaft integriert und diese wird nicht zulassen, dass ihnen etwas angetan wird.

Als Lien gut gelaunt bei Janny zum Kaffeetrinken vorbeischaut, kann sich diese der positiven Perspektive nicht anschließen. Janny ist kurz angebunden und abwesend.

»Du darfst nicht mehr so oft hierherkommen.«

Das sagt sie, bevor sie ihrer Schwester überhaupt etwas zu trinken angeboten hat. Lien denkt an die fremden Männer, die sie immer wieder im Haus sieht, die verbotenen Zeitungen, die geheimen Verabredungen. Janny wird doch ihrer eigenen Schwester vertrauen?

»Ist es wegen Eberhard?«

Lien bekommt das fast nicht über die Lippen. Sie verengt ihre Augen zu Schlitzen, hält den Kopf schief und blickt ihre Schwester an. Lien weiß, dass Janny keine Zwischentöne akzeptiert, was die Besatzung betrifft; für sie ist jeder weitere Tag mit den Deutschen im Land einer zu viel. Und Eberhard ist Deutscher.

»Wie kommst du bloß darauf? Ich vertraue Eberhard wie meiner eigenen Familie.«

Janny drückt Lien an sich und seufzt. Dann hält sie ihre Schwester mit ausgestreckten Armen von sich weg und schaut ihr in die Augen.

»Hier ist es gefährlich, Lientje. Du hast keine Ahnung, wozu die Moffen imstande sind. Glaub mir: Je weniger du hier bist, desto besser ist das. Für dich und für mich.«

Kurz nach dem Gespräch mit ihrer Schwester steht Lien vor dem Tanzstudio, bereit, ihre nächste Stunde zu geben, als ein merkwürdiger Mann auf sie zugeht. Lien erschrickt, als er sie anspricht und erkennt erst dann seine Stimme: Es ist einer ihrer ostjüdischen Schüler; er hat seinen langen Bart und die Schläfenlocken abrasiert und ist mit dem glatten und bleichen Gesicht in der neuen Kleidung nicht wiederzuerkennen. Er traut sich kaum, Lien anzuschauen. Sie zwingt sich zu einem Lächeln und beginnt aufgeweckt mit der Stunde, aber für den Rest des Mittags verkrampft ihr Bauch und fühlen sich die Gliedmaßen so schwer an, dass sie sie kaum bewegen kann.

~

Eines Abends im Oktober kommt Bob mit einem Formular aus dem Büro nach Hause. Es ist eine Ariererklärung, mit der alle Beamten in den Niederlanden verbindlich angeben müssen, ob sie selbst jüdisch sind oder jüdische Verwandte haben. Gleich nachdem sie Robbie ins Bett gebracht haben, setzen sie sich zusammen und gehen die Erklärung konzentriert durch:

Der Unterzeichnende: ....................

Beruf: ....................

Tätigkeit: ....................

Geboren am .................... in ....................

wohnhaft in ....................

erklärt, dass nach seinem besten Wissen weder er/sie selbst noch der Ehepartner bzw. seine/ihr Verlobte(r), noch jemand seiner/ihrer Eltern oder Großeltern jemals der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehört hat.

Dem Unterzeichnenden ist bekannt, dass ihm/ihr, falls obenstehende Erklärung sich als unrichtig erweist, fristlos gekündigt werden kann.

...................., 1940.

(Unterschrift)

Beim letzten Satz halten sie inne und schauen einander an. Es hat angefangen. Bob sagt nichts, fasst das Formular mit angewiderter Miene an einer Ecke an, öffnet den Deckel des Kanonenofens und lässt es langsam ins Feuer sinken.

»Was machst du da?«, fragt Janny.

»Ich fülle nichts aus und du auch nicht. Ich will damit nichts zu tun haben, und was passiert, werden wir ja sehen.«

Einen Monat später wird jeder im Staatsdienst entlassen, von dem man weiß, dass er Jude ist. Darunter auch der Vater ihrer Freundin Tilly, der Vorsitzende des Hohen Rats der Niederlande, des obersten Gerichts des Landes: Lodewijk Visser. Keiner seiner Kollegen protestiert dagegen.

 

Janny und Bob ahnen noch nicht, was auf die durchorganisierte Erfassung der Juden folgen wird und ignorieren die Erklärung. Viel interessanter sind die ermutigenden Zeichen des Widerstands in ihrer eigenen Umgebung. Sie hören vom Streik von Dutzenden Schülern am Vossius-Gymnasium in Amsterdam und vom zivilen Ungehorsam von Professor Rudolph Cleveringa an der Universität Leiden. Die Protestrede von Cleveringa wurde von Studenten tausendfach illegal im ganzen Land verteilt, und Janny und Lien bekommen auch ein Exemplar in die Hände. Cleveringa gehört, genau wie Bob, zu der sehr kleinen Gruppe von Beamten in den Niederlanden, die sich dazu entschließen, die Ariererklärung nicht zu unterzeichnen – im Fall von Cleveringa aus Solidarität mit seinen beiden jüdischen Kollegen, den Professoren Meijers und David, die gerade entlassen wurden. Aber jeder, der sich weigert das Formular auszufüllen, riskiert den Verlust der Arbeit. Cleveringa ist kein impulsiver Draufgänger, er ist sich der möglichen Konsequenzen sehr wohl bewusst, und doch will er seinen Standpunkt klar vertreten. Am 26. November 1940 bricht Cleveringa morgens zur Universität auf, angeblich um ein Seminar seines Kollegen Meijers zu übernehmen. Er hält vor den nichtsahnenden Studenten in der großen Aula der Universität Leiden eine Protestrede, die bis heute als eine der besten Reden gilt, die je in den Niederlanden gehalten wurden. In seinen Ausführungen lässt Cleveringa als Ehrbezeugung an seinen Lehrmeister die ganze Bandbreite des wissenschaftlichen Werks von Meijers Revue passieren und veranschaulicht so die Prinzipien des niederländischen Rechts. Er geht auf die Grundfesten der unterschiedlichen Rechtsgebiete ebenso ein wie auf die Verdienste von Meijers während seiner beeindruckenden Laufbahn; anschließend appelliert er an die Vernunft, das Gewissen und das Rechtsgefühl seiner jungen Zuhörer:

Meijers ist dieser Niederländer, dieser noble und wahre Sohn unseres Volkes, dieser Mensch, dieser Mentor der Studenten, dieser Gelehrte, den die Fremden, die uns heute mit feindlicher Gesinnung beherrschen, »von seinen Aufgaben entbinden«! Ich versprach Ihnen, nicht über meine Gefühle zu sprechen: Ich werde mich daran halten, auch wenn sie wie kochende Lava durch alle Ritzen zu quellen drohen, die sich, so kommt es mir vor, unter diesem Druck in meinem Kopf und in meinem Herzen auftun wollen. Aber in dieser Fakultät, die sich getreu ihrer Zielsetzung dem Studium des Rechts widmet, darf folgende Bemerkung nicht unterschlagen werden: In Übereinstimmung mit den niederländischen Traditionen erklärt das Grundgesetz, dass jeder Niederländer zu jedem Dienst für sein Land und zur Bekleidung jedweder Würdenfunktion und jedes Amts berufen werden kann, und erkennt ihm, unabhängig von seiner Religion, dieselben bürgerlichen Rechte beziehungsweise Bürgerrechte zu.

Nachdem Cleveringa seine Rede beendet hat, ertönt tosender Applaus. Einige Studenten stimmen die Nationalhymne an, der restliche Hörsaal fällt ein. In den Straßen von Leiden herrscht kurz ein Gefühl des Zusammenhalts, das aber schon einen Tag später durch die Verhaftung von Cleveringa erstickt wird. Bis zum Kriegsende ist er im Gefängnis in Scheveningen inhaftiert. Die Universität Leiden wird geschlossen.

Janny und Lien diskutieren diesen Akt des Widerstands mit ihrer Freundin Tilly. Sie wollen sie ermutigen und betonen auch die Courage des Anwalts Visser, ihres Vaters. Sie bewundern seine Standhaftigkeit, sogar nachdem ihn die Nazis und deren Kollaborateure im Justizsystem vor die Tür gesetzt haben, worauf seine Kollegen im Rat nur mit Schweigen reagiert haben. Er ist überzeugt, die Kündigung sei unwirksam: Die Königin habe ihn ernannt, und nur sie habe das Recht, ihn seines Amtes zu entheben – alles andere betrachte er als widerrechtlichen Akt. Lodewijk Visser geht noch weiter und leistet den Deutschen aktiv Widerstand. Er arbeitet an der illegalen Zeitung Het Parool mit und wird Vorsitzender des Jüdischen Koordinierungsausschusses, einer landesweiten, autonomen Organisation, die von zwei religiösen jüdischen Verbänden gegründet wurde.

Menschen wie Lodewijk Visser sind für Lien Vorbilder, durch ihren Widerstand werden die Massen gegen die Besatzer in Aufruhr kommen – diese dachten vielleicht bislang, die Holländer würden ihnen freie Hand geben, aber die würden sich noch wundern. Janny hingegen spekuliert weder mit der Gnade der Deutschen noch mit einer Rettung durch die niederländische Bevölkerung. Als im Januar 1941, wenige Monate nach der verpflichtenden Ariererklärung für Beamte, eine Meldepflicht für alle Juden in den Niederlanden erfolgt, kommt sie dieser daher auch nicht nach. Als eine der wenigen in ihrem Umfeld weigert sie sich, sich den schwarzen Großbuchstaben J in den Personalausweis stempeln zu lassen. Später bereut sie bloß, dass sie nicht jeden in ihrem Umfeld aufgefordert hat, es ihr gleichzutun. Etwa ihre eigene Schwester, Lien, die sich keine Gedanken um die Bürokratie macht, sich also meldet und daher ein J in ihrem Personalausweis trägt, wie 160820 andere Juden in den Niederlanden. Eine scheinbar kleine Verwaltungsangelegenheit, die sich für das System der Deportation von großem Wert erweisen wird. Es läuft kurz danach an, erleichtert durch die Effizienz und die Diensteifrigkeit der Niederländer, für die sie von den Deutschen so geschätzt werden.

Allein in Amsterdam werden etwa siebzigtausend Juden registriert – zehn Prozent der Einwohner. In der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung am Adama van Scheltemaplein wird es dadurch später möglich sein, während des Krieges mit ein paar einfachen Karteikästen zu kontrollieren, wer schon deportiert wurde und wer noch nicht. Von jedem Zug, der abfährt, wird eine Kopie der Namensliste an die Zentralstelle geschickt. Dort steckt ein Buchhalter die Karteikarte, die zum jeweiligen Namen gehört, von einem Kasten in einen anderen. Eine Karte für jeden deportierten Mann, jede Frau, jedes Kind – bis der Karteikasten mit den gemeldeten Juden in Amsterdam beinahe leer ist und der mit den Deportationen voll.

Streikt! Streikt! Streikt!

Es ist ein eiskalter Winter, der erste seit der deutschen Besatzung, und unter der Leitung von Anton Mussert werden die NSB und ihre Wehrabteilung (WA) – ein eleganter Name für schwarz uniformierte Schlägertrupps –, immer brutaler. Die NSB lässt sich vom Sog der ausländischen Besatzungsmacht erfassen: Bis zum deutschen Überfall hatte die Partei in der niederländischen Politiklandschaft wenig zu melden. Trotz einer fanatischen Kampagne mit dem Motto »Mussert oder Moskau?«, in der Mussert als Retter vor der bolschewistischen Bedrohung propagiert wurde, erreichte die Partei bei den landesweiten Wahlen 1937 noch nicht einmal vier Prozent der Stimmen – eine Halbierung der fast acht Prozent, die sie zwei Jahre zuvor bei den Regionalwahlen erreicht hatte. Das lässt sich aber auch dadurch erklären, dass die traditionell rechten Parteien nach und nach Standpunkte der Faschisten übernommen hatten.

Geschützt durch den starken Arm von Adolf Hitler nimmt die Dreistigkeit der NSB im Alltag schnell zu. Die Partei organisiert zielgerichtet provokante Aktionen in Vierteln, in denen viele jüdische Familien leben. Unter den Bewohnern des Amsterdamer Jodenhoek herrscht eine angespannte Atmosphäre.

Die Besatzungsmacht hat neue Richtlinien für die niederländische Polizei erlassen, die besagen, dass sie die NSB bei Konfrontationen mit Juden und aufrührerischen Bürgern besser beschützen müssen. Zudem ist es nun verboten, Mitglieder der WA festzunehmen.

Janny ist häufig in Amsterdam. Sie sieht die versteiften Gesichter, hört das Flüstern in den Gassen und spürt, wie die Spannung im und um das Stadtzentrum zunimmt. Jeder scheint in Eile zu sein, und wer nicht zwingend auf den Straßen unterwegs sein muss, bleibt in der Wohnung. Zu Hause berichtet sie Bob von der Lage in der Hauptstadt. Kleine Gruppen der WA suchen Cafébetreiber auf, bei denen noch kein Verbotsschild für Juden hängt – und diese Besuche laufen nicht gerade feinfühlig ab: Bei De Kroon am Rembrandtplein wurden alle Fenster eingeschmissen und bei anderen Cafés und Kneipen, die von Juden besucht werden, schlägt die WA, unterstützt von deutschen Soldaten und ohnmächtig beobachtet von der niederländischen Polizei, das Inventar zu Bruch.

»Das kann nicht gut gehen, Bob. Auch ganz normale Menschen akzeptieren das nicht. Es gab eine Schlägerei mit NSB-Leuten, dabei ist sogar jemand gestorben, ein gewisser Koot, und jetzt haben sie die Snoekjesgracht in Koot-Viertel umbenannt.«

Janny meint den Schläger und überzeugten WA-Mann Hendrik Koot. Bereits am 9. Februar hat eine Schlägerei beim Alcazar am Thorbeckeplein stattgefunden. Das Alcazar ist das letzte Lokal, das sich weigert, die Schilder mit der Aufschrift FÜR JUDEN VERBOTEN aufzuhängen. Die NSB erledigt die Angelegenheit mit grober Gewalt. Im Siegesrausch ziehen die Männer danach durch die Stadt, in Richtung des jüdischen Viertels. In der Gegend vom Waterlooplein richten sie großen Schaden an: Sie schlagen Türen und Fenster ein und drangsalieren Passanten. Die Menschen ziehen sich ängstlich in schmale Gassen zurück oder verstecken sich, aber nicht alle Amsterdamer lassen sich derart abschrecken.

Einige Bewohner des Viertels sind an diesem Sonntagmittag in einer Kneipe in der Nähe vom Waterlooplein, als sie von draußen hören, dass die WA anrückt. Ohne nachzudenken greifen sie zu den Billardstöcken, zerbrechen diese über den Knien und laufen damit hinaus. Als die Nachbarn die Männer mit ihren Spießen sehen, eilen sie von allen Seiten zu Hilfe, und mit einer großen zahlenmäßigen Überlegenheit jagen sie die Eisenbeißer von Mussert aus dem jüdischen Viertel.

Die Neuigkeit, dass sich die WA auf dem Kriegspfad befindet und dass die niederländische Polizei nur zuschaut, verbreitet sich schnell in der Stadt. Am nächsten Tag stoßen Freunde und Bekannte aus anderen Amsterdamer Vierteln zu der Bürgergruppe am Waterlooplein. Sie wollen bei einem eventuellen neuen Angriff das jüdische Viertel verteidigen. Aber an diesem 10. Februar 1941, einem Montag, geschieht nichts.

Dafür einen Tag später. Am Dienstagvormittag tauchen wieder zwei WA-Männer zwischen den Ständen auf dem Waterlooplein auf, aber als die Bürgergruppe auf sie zuläuft, nehmen sie die Beine in die Hand, »so schnell, das kannst du dir gar nicht vorstellen«, wie ein Amsterdamer Zeuge der ersten Stunde später voller Schadenfreude in einer Kneipe erzählt. Ein Eisenwarenhändler, der den Bewohnern des Viertels freundlich gesinnt ist, hat in der Zwischenzeit sein Lager für sie geöffnet. Die Männer greifen zu Eisenstangen und Holzlatten und bereiten sich auf die Rückkehr der WA vor – die nicht lange auf sich warten lässt.

Überall in der Stadt kommt es an diesem Tag zu Scharmützeln und Kämpfen zwischen jüdischen, nicht-jüdischen und kommunistischen Einwohnern auf der einen Seite – und NSB-Sympathisanten auf der anderen. Gerüchten zufolge werde auch im jüdischen Viertel in Den Haag gekämpft, und die NSB in Amsterdam habe vor, die Synagoge am Jonas Daniël Meijerplein in Brand zu stecken. Die Stimmung in der Stadt ist angespannt, auch weil man jetzt am eigenen Leib erfahren hat, dass die niederländische Polizei nicht gegen die Gewalt der NSB-Leute vorgeht. Die Straßen sind menschenleer, die Kälte allein kann kein Grund sein, und als die Sonne langsam hinter den Dächern verschwindet, scheint es, als würden die Zeiger der Uhr auf dem Westertoren sich in Zeitlupe bewegen.

Nach dem demütigenden Abzug der zwei WA-Männer vom Waterlooplein hat die NSB rund fünfzig Mann befohlen, sich beim Vendelhaus der WA zu melden. In den frühen Abendstunden setzen sie sich in Bewegung. In ihren pechschwarzen Uniformen marschieren sie in Reih und Glied durch die Stadt und singen dabei antijüdische Kampflieder. Sie ziehen von der Singel über Het Spui, Rokin, die Nieuwe Doelenstraat und die Staalstraat zum Waterlooplein, ins Herz des jüdischen Viertels. Die Menschen verschließen Fenster und Türen, nur die Sprechchöre der WA sind in den Straßen zu hören, während die Sonne schnell untergeht.

Beim Waterlooplein warten einige Dutzend bewaffnete Amsterdamer im Dunkeln auf sie. Etwas entfernt steht eine zweite Gruppe bereit. Sobald die WA-Leute eintreffen, bricht ein heftiger Kampf aus. Die Männer können kaum die Hand vor Augen sehen, aber laut einem der Anführer ist es einfach: Schlage auf jeden ein, der eine schwarze Uniform trägt. Man kämpft mit Totschlägern, Knüppeln, Billardstöcken, Eisenstangen und Steinen. Als die WA nach einigen Minuten flieht, bleibt einer von ihnen bewegungslos liegen. Es ist Hendrik Koot. Er wird mit einem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus gebracht, dort stirbt er an seinen Verletzungen. Koot ist der Märtyrer, den die Faschisten gebraucht haben, um den nächsten Schritt wagen zu können.

Noch in derselben Nacht wird der Jodenhoek, das Herz des Amsterdamer Judenviertels, hermetisch abgeriegelt. Dort wohnen mehr als 25000 Menschen. Die Brücken werden hochgezogen, und an anderen Stellen werden mannshohe Stacheldrahtabsperrungen ausgerollt. Vor den abgeriegelten Zugängen bezieht die Grüne Polizei Stellung, deutsche Polizisten. Einen Tag später fordert die Besatzungsmacht die Gründung des Jüdischen Rats: ein zentrales Organ, das die jüdischen »Rechte« wahrt und mit dem die Deutschen kommunizieren können – ein Organ, das sich schnell zu einer Institution entwickelt, die sie zur Durchführung ihrer Aufträge heranziehen können. Lodewijk Visser, das Gesicht des Jüdischen Koordinierungsausschusses, ist der direkte Widersacher des Jüdischen Rats und der Politik ihrer Vorsitzenden Abraham Asscher und David Cohen. Während Asscher, ein Diamantenhändler, und Cohen, ein Professor für alte Geschichte, denken, im Namen der jüdischen Gemeinschaft zwischen dieser und den Deutschen vermitteln zu können und vielleicht sogar einen positiven Einfluss auf die Besatzer auszuüben, ist Visser der Ansicht, der Jüdische Rat verhalte sich viel zu kooperativ. Visser weigert sich, im Namen des Jüdischen Koordinierungsausschusses mit den Deutschen zu sprechen und wendet sich ausschließlich an die niederländische Regierung. Im Laufe des Jahres werden die Deutschen befehlen, dass der Jüdische Koordinierungsausschuss seine Arbeit einstellt, und ernennen den Jüdischen Rat zum einzigen landesweiten Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft.

Die Propagandamaschine der NSB läuft nach dem Tod von Koot auf Hochtouren. Das NSB-Wochenblatt Volk en Vaderland schreibt:

Juda hat die Maske abgeworfen! […] Wachtmeister Hendrik Evert Koot wurde ermordet. Ermordet? Zu Tode getrampelt aus sadistischer Lust! Zermalmt unter den rücksichtslosen Füßen eines Nomadenvolks – das nicht von unserem Blut ist. Diese Methode orientalischer Abschlachtung praktizieren nur die Juden. […] Die Verbrecher sollen wissen, dass dies nun das letzte, allerletzte Mal war, dass einer von uns von Juden ermordet wurde.

In dieser Woche erscheinen in verschiedenen niederländischen Zeitungen Artikel mit demselben Tenor. Die vielen Bisswunden, die Koot angeblich gehabt haben soll, werden angeführt, schlimmer noch: Ein Jude soll sogar seinen Kehlkpf durchgebissen haben. In wenigen Tagen nimmt der Tod von Koot mythische Ausmaße an und müssen Joseph und Fietje Brilleslijper machtlos zusehen, wie das jüdische Viertel durch hohe Umzäunungen vom übrigen Amsterdam abgeschnitten wird. Überall, auch bei ihrer Wohnung, werden große Schilder aufgestellt: JUDENVIERTEL/JOODSCHE WIJK.

Aber das ist noch nicht alles. Am 19. Februar kommt es beim jüdischen Eiscafé Koco zur nächsten Schlägerei zwischen Mannschaften der Grünen Polizei und einem Verteidigungstrupp aus treuen Kunden, die schon seit längerem die beiden Cafébetreiber schützen, die deutsch-jüdischen Flüchtlinge Alfred Kohn und Ernst Cahn. Die Deutschen werden dabei aus einer eigens präparierten Flasche mit Ammoniakgas besprüht. Betreiber und Kunden werden festgenommen, und der Vorfall wird unmittelbar Heinrich Himmler berichtet, dem Führer der SS. Vom Café Alcazar über den Tod von Koot zum Ammoniakgas beim Eiscafé Koco: Die Deutschen haben jetzt ein ausreichendes Alibi, um eine Großoffensive gegen die Juden zu starten, ohne dass sie noch mit lauten Gegenstimmen aus dem niederländischen Bürgertum zu rechnen hätten. Sie müssen nur noch eine Sache in die Wege leiten: dem Jüdischen Rat befehlen, die jüdische Gemeinschaft zu entwaffnen. Die taufrischen Vorsitzenden des Rats, Asscher und Cohen, fordern die jüdische Bevölkerung auf, alle Waffen vor Freitag, dem 21. Februar 1941 abzugeben. »Wird dies nicht befolgt, werden unmittelbar harte Maßnahmen der Regierung erfolgen.«

An diesem Wochenende erlebt die niederländische Bevölkerung zum ersten Mal eine Razzia, es werden viele weitere folgen. Menschen werden aus ihren Häusern gezerrt, Männer, die jüdisch aussehen, von ihren Fahrrädern gerissen und Frauen, die sich irgendwo einmischen, mit Gewalt zur Seite gedrängt.

Während der ersten Razzien am 22. und 23. Februar 1941 werden vierhundertsiebenundzwanzig jüdische Männer zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren verhaftet; eine große Zahl von ihnen bei den Synagogen am Jonas Daniël Meijerplein in Amsterdam, einem kleinen Dreieck zwischen dem Wasser und dem Waterlooplein. Die niederländische Polizei wurde vorab nicht informiert und zahlreiche nicht jüdische Bürger werden an diesem Marktsonntag Zeugen der Maßnahme. Die Männer werden zusammengetrieben, sitzen in der Hocke, die Hände erhoben oder verschränkt hinter dem Kopf, mit kalkweißen Gesichtern und erweiterten Pupillen. Soldaten bewachen sie, stoßen junge Männer mit einem Stiefeltritt in die Ecke, andere Soldaten treiben frischen Nachschub mit dem Gewehrkolben auf den Platz. Lastwagen fahren vor, eine Gruppe wird hineingejagt, der Fahrer beschleunigt und weg sind sie. Weitergehen, die Arme hoch, Schreie, ein Schlag. Manche der jüdischen Männer tragen Arbeitskleidung, andere ihren Sonntagsanzug, ein Mann sogar einen Frack. Passanten schauen zu, wie festgenagelt ans Straßenpflaster, andere rennen nach Hause. Als der letzte Lastwagen an diesem Sonntagabend weggefahren ist, liegt eine eisige Stille über dem jüdischen Viertel.

 

Unter den Festgenommenen sind auch Freunde von Janny und Lien. Die Männer landen größtenteils im Arbeitslager Mauthausen: einem Konzentrationslager in Österreich, wo Granit abgebaut wird. Es ist wieder einmal Lodewijk Visser, der mehrere Male bei den Generalsekretären anfragt – denselben Leuten, die sich bei seiner Kündigung von ihm abgewandt haben –, ob man sich zumindest für die jüdischen Männer, die verhaftet und verschleppt wurden, einsetzen wird. Visser hat gehört, dass viele der Gefangenen im Arbeitslager rasch sterben, aufgrund der Arbeit im Steinbruch, durch Hunger, Krankheit oder Folter, und sieht die niederländische Regierung in der Pflicht einzugreifen. Abermals dringt er nicht durch. Den Deutschen wird dieser Mann inzwischen so lästig, dass sie damit drohen, ihn auch in ein Konzentrationslager zu stecken, wenn er sich in Zukunft nicht bedeckt halte. Das erweist sich als nicht mehr notwendig. Lodewijk Visser stirbt Anfang 1942 an einer Hirnblutung. Zu seiner Beerdigung erscheint kein einziger der ehemaligen Kollegen aus dem Hohen Rat.

Alle Männer, die am Wochenende vom 22. und 23. Februar 1941 aus den Niederlanden weggebracht werden, sind innerhalb weniger Monate tot; abgesehen von zwei »Glückspilzen«, die weiter ins Konzentrationslager Buchenwald geschickt werden und es überleben. Ernst Cahn vom Eiscafé Koco wird im März von einem Erschießungskommando auf der Waalsdorpervlakte getötet. Damit ist er der erste Bürger im Zweiten Weltkrieg, der auf diese Art in den Niederlanden ermordet wird. Sein Kompagnon Alfred Kohn kehrt nicht aus Auschwitz zurück.

~

Nach den Vorfällen passiert etwas Außergewöhnliches. Am Tag nach den Razzien verteilt die verbotene Kommunistische Partei am späten Abend Flugblätter in der ganzen Stadt. In schwarzen Schreibmaschinenlettern und mit vielen Ausrufungszeichen wird auf einem Blatt ausführlich zum Streik und zur Solidarität mit den Juden aufgerufen:

Organisiert in allen Betrieben Proteststreiks!

Kämpft zusammen gegen den Terror!!!

Fordert die unmittelbare Freilassung der verhafteten Juden!!!

[…]

Entzieht die jüdischen Kinder der Nazigewalt, nehmt sie in die eigenen Familien auf!!!

WERDET EUCH DER ENORMEN KRAFT DER GEEINTEN AKTION BEWUSST!!!

Diese ist um ein Vielfaches größer als die deutsche Militärbesatzung!

 

STREIKT!!! STREIKT!!! STREIKT!!!

Am frühen Abend desselben Tages, am 24. Februar, sind mehrere Hundert Mitglieder der Kommunistischen Partei der Niederlande – vor allem städtische Arbeiter – dem Aufruf ihrer Anführer gefolgt und haben auf dem Noordermarkt in Amsterdam unter freiem Himmel an einer Kundgebung teilgenommen. Aus allen Straßen und Gassen kamen sie auf den Platz; Männer in dicken Jacken, die Mützen über die Ohren gezogen, um der Kälte zu trotzen. Ein Nebel aus Atemwolken und Zigarettenrauch treibt über den Zuhörern zu Füßen der Noorderkerk. Die Initiatoren wenden sich mit feurigen Worten an sie.

Ein früherer Streikaufruf, aufgrund der Entsendung niederländischer Metallarbeiter nach Deutschland, wurde zwar abgeblasen, aber angesichts der entfesselten antisemitischen Gewalt der letzten Wochen rechnen die CPN-Führer nun mit einer breiteren Unterstützung für ihre Aktion. Jeder, der hier auf dem Noordermarkt zugegen ist, muss nicht nur selbst aktiv werden, sondern auch andere anspornen mitzumachen, als gemeinschaftlicher Protest gegen die Behandlung und Verschleppung der Amsterdamer Juden – ihrer Amsterdamer Mitbürger –, durch die ausländische Besatzungsmacht. Die Wut über die Misshandlung der Männer auf dem Jonas Daniël Meijerplein hat etwas entfacht, und die Planung einer großen Protestaktion wird an diesem Abend von vielen unterstützt. Am Ende der Kundgebung werden stapelweise Flugblätter verteilt, und die Gruppe löst sich auf, man kehrt zurück in die verschiedenen Amsterdamer Viertel, um die Nachricht zu verbreiten.

Am nächsten Morgen beginnt der Februarstreik: ein umfangreicher, organisierter und öffentlicher Protest gegen die Judenverfolgung. Eine wesentliche erste Maßnahme ist der Streik der Amsterdamer Straßenbahnführer. Da die Straßenbahnen nicht fahren, spekulieren die Wartenden an den Haltestellen darüber, was gerade passiert und gehen nicht zur Arbeit. Das bewirkt einen Domino-Effekt, und die Neuigkeit verbreitet sich schnell in der Stadt. Vielen verlangt die Aufforderung zum Streik das Äußerste ab, ein Akt des Ungehorsams, der ihrem üblichen Verhalten widerspricht – aber es braucht in jedem Betrieb nur einen, der den Streik in Gang bringt. Ein junger Mann in der Fabrik für Damenhüte der Gebrüder Van Duin löscht mit einem Eimer Wasser den großen Ofen, sodass kein Dampf mehr da ist, um die Hüte zu formen. Daraufhin steht die ganze Fabrik still, und das Personal verlässt in großen Gruppen das Gebäude. Eine junge Näherin hat ihren Plan gemeinsam mit ihrem Ehemann vorbereitet: Im Nähatelier im ersten Stock wartet sie am Fenster auf sein Zeichen von der Straße, dass der Streik begonnen hat. Daraufhin wendet sie sich nervös zum Saal mit den Näherinnen, räuspert sich und ruft die Kolleginnen auf, ihre Arbeit niederzulegen und gegen die Besatzungsmacht und den verbrecherischen Umgang mit den Juden zu protestieren und zu streiken. Zu ihrer Verblüffung stehen die Frauen alle auf und folgen ihr nach draußen.

Als die ersten Arbeiter unbefugt ihren Platz verlassen und in Jacken, die Mützen tief über die Ohren gezogen, auf der Straße erscheinen, gibt es kein Halten mehr. Überall in der Stadt strömen Menschen in der winterlichen Kälte auf den Straßen zusammen, Männer und Frauen, Büroangestellte und Straßenpflasterer. Erst zögernd und eng zusammengedrängt, später selbstbewusst und mit gerader Brust – nachdem mehr und mehr Leute aus den Häusern und Fabriken dazustoßen und die Zahl wächst. Man wartet auf die unvermeidliche Reaktion der Besatzer.

Die Deutschen werden vom Widerstand vollkommen überrascht, und am zweiten Tag greift der Streik auf andere Landesteile über: den Norden, ’t Gooi, Utrecht und zögerlich auch auf Den Haag. Ein überwältigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit breitet sich aus, und die Spannung, die aufgrund der Ereignisse der vergangenen Wochen das Land beherrschte, weicht der Hoffnung und der Kampfeslust. Aber das hält nur kurz an. Am ersten Tag des Streiks wurde eine Kundgebung auf dem Noordermarkt bereits grob von der Grünen Polizei aufgelöst, daher kehrt die Angst in der Bevölkerung zurück. Am zweiten Tag stehen große Polizeieinheiten zur Verfügung, außerdem die Schutzstaffel (SS): die deutschen Schwarzhemden, der große Bruder der WA. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen und unter Gewalteinsatz wird der Widerstand der Streikenden gebrochen.

Lien und Janny beobachten das alles von Den Haag aus, zuerst aufgeregt, dann zunehmend besorgt. Durch die Straßen von Den Haag rasen Polizeiwagen, Sirenen heulen und aus Lautsprechern wird den Bewohnern befohlen, in den Häusern zu bleiben, beziehungsweise unverzüglich zur Arbeit zurückzukehren. Kein Zweifel: Die Faschisten sind in Panik. Ein Streik wie dieser hat sich noch in keinem der besetzten Länder ereignet. In Amsterdam füllen sich die Gassen mit eilig entsandten Bataillonen, die die Bürger zurück in die Häuser drängen sollen. Am ersten Tag des Streiks sah man vor allem die Schuhe der Arbeiter auf dem Straßenpflaster, am zweiten Tag hört man die Polizeistiefel. Es gibt mindestens neun Tote, Dutzende Menschen werden schwer verletzt, Hunderte Männer festgenommen. Die betroffenen Städte müssen Strafzahlungen leisten – allein Amsterdam muss fünfzehn Millionen Gulden zahlen –, und Bürgermeister Willem de Vlugt wird durch einen pro-deutschen Bürgervertreter ersetzt: Edward Voûte. Schließlich erlässt der Jüdische Rat einen Appell, in dem die Streikenden aufgefordert werden, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Janny und Lien erfahren von Familie und Freunden aus dem CPN-Umfeld die blutigen Details der Vorgänge und werden sich über die Auswirkungen der aktuellen Entwicklungen nicht einig. Der zweitägige Streik hat bei Lien zum ersten Mal seit den Razzien wieder Hoffnung geweckt: Die Amsterdamer Arbeiter haben doch gezeigt, dass man sich sogar angesichts des schlimmsten Terrors wehren kann. Davon will Janny auch dieses Mal nichts wissen: Sie prophezeit, dass diese Aktion für die Juden negative Folgen haben wird. »Der Jüdische Rat versucht nun, die Juden ruhig zu stellen«, sagt sie ihrer Schwester, »und das passt zur Strategie der Moffen.«

Unmittelbar nach Kriegsende wird eine Gedenkfeier an die Streiks organisiert. Anlässlich des ersten Gedenkens 1946 verkündet Königin Wilhelmina, dass – in Erinnerung an die Februarstreiks – das Motto »Heldenhaft, Entschlossen, Barmherzig« dem Wappen von Amsterdam hinzugefügt werden soll. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen des einmaligen Charakters dieses organisierten Protests gegen die Judenverfolgung, bricht ein jahrzehntelanger Streit darüber aus, wem die rechtmäßige Ehre zusteht, den Streik initiiert zu haben. Die führende Rolle der CPN wird geleugnet oder totgeschwiegen; in den ersten Jahren nach dem Krieg wird der Mythos aufrechterhalten, dass die Menschen spontan auf die Straßen gingen – aus Wut über die Maßnahmen der Nazis. Während des Kalten Krieges wurde Mitgliedern der Partei sogar jahrelang der Zugang zu der öffentlichen Gedenkfeier anlässlich des Februarstreiks verwehrt. Bis heute ist der Zusammenhang zwischen der CPN und der berühmten Aktion in weiten Kreisen unbekannt. Ein Symbol der Gerechtigkeit ist somit selbst zu einem Symbol der Ungerechtigkeit geworden.

Auf dem Jonas Daniël Meijerplein in Amsterdam, dem Ort, an dem die Opfer der ersten Razzia zusammengetrieben wurden und stundenlang gehockt in der Kälte sitzen mussten, steht zur Erinnerung an den Streik das Denkmal De Dokwerker: ein robuster, unbeugsamer Mann, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und erhobenem Kinn – aber mit hilflosen, leeren Händen.

Kinder des Krieges

Während des Februarstreiks lebt Janny buchstäblich mit dem Feind im eigenen Haus. Unter der Wohnung in der Bazarlaan befindet sich eine Druckerei, die ein NSB-Blatt produziert. Genauso schnell wie im Erdgeschoss die faschistische Propaganda aus der Druckpresse schießt, vervielfältigen Bob und sie nur ein Stockwerk höher illegale Schriften, auf einem wahren Ungetüm von einer Maschine. Wie eine gelernte Druckerin kopiert sie die Auflage ihrer ersten Widerstandszeitung, Het Signaal – der Titel spielt auf Signal, das Propagandablatt der Wehrmacht an; dieses erscheint alle zwei Wochen in einer Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren in zwanzig Sprachen. Davon ist Janny noch weit entfernt, aber sie macht mutig immer neue Abzüge, den schlafenden Robbie an ihrer Seite.

Um ihre Aktivitäten ausweiten zu können, mietet Janny ein Gebäude im Schilderswijk von Den Haag an, ein paar Kilometer entfernt, und richtet dort eine Untergrund-Druckerei ein. Angst und Misstrauen wachsen mit jedem Tag: Nach dem Februarstreik wurden alle Verbindungspersonen und Ansprechpartner in Amsterdam verhaftet, Janny hat es immer öfter mit wildfremden Leuten zu tun. Das macht sie nervös. Augenkontakt, Nachrichten ohne Absender, eine Begegnung an einer Straßenecke im Schilderswijk, um logistische Informationen über die gedruckten Zeitungen auszutauschen: Nie weiß sie, wer ihr eigentlich gegenübersteht. Ist es ein Maulwurf oder jemand, der sie aus naiver Abenteuerlust in Gefahr bringen kann? Jemand wie sie selbst, der sich für die gute Sache einsetzen will? Bei jedem neuen Gesicht, das argwöhnisch unter einem Hut hervorsieht, fragt sie sich, ob sie dem Gegenüber vertrauen kann. Zum Glück haben beide Seiten Codewörter, sodass sie sich zu erkennen geben können.