Ein viel zu kurzes Leben - Volker Himmelseher - E-Book

Ein viel zu kurzes Leben E-Book

Volker Himmelseher

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Beschreibung

Der Verlust der Arbeitsplätze berührte in Belgien eine ganze Region. Zukunftsträume mutierten in Zukunftsängste. Alle suchten nach einem Ausweg aus der Krise. Der Weg des Protagonisten führte dazu aus Belgien nach Deutschland. Trotzdem häuften sich schlimme Schicksalsschläge. Eine Ehe, nicht aus Liebe geschlossen, sondern aus Verantwortung- und Ehrgefühl sowie bei der Partnerin aus Berechnung, hatte keine solide Grundlage. Die Ereignisse blieben konfliktbeladen und drifteten sogar ins Kriminelle ab und das bis hin zum Mord.

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Inhalt

Vorspann

Der Aufstieg von Genk

Sicherheit für die Genker Familien durch Ford

Die Jugendjahre von Nathalie Bogaert und Alain Leidgens

Eine willkürlich herbeigeführte Schwangerschaft und ihre Folgen

Das Ende der Ford-Werke in Genk

Abschiednehmen bei den älteren Leidgens und Streit bei den jüngeren

Ein neuer Lebensabschnitt für Freddy Leidgens als Witwer und Frührentner

Alain Leidgens vergebliche Arbeitssuche

Alain Leidgens unerwartete Aussicht auf eine Anstellung

Alain Leidgens Bewerbungsgespräch in Köln

Alain Leidgens bereitet sich auf Köln vor und nimmt Abschied von Genk

Alain Leidgens als Strohwitwer in Köln

Deutsche Sprach’, schwere Sprach’!

Parallelwelten in Genk und Köln

Weihnachtszeit in Köln und in Genk

Kommissar Zufall schlägt zu

Luc de Clercq hegt finstere Gedanken

Alain Leidgens überdenkt seine Lage

Alain befindet sich in einer Zwickmühle

Ein nervenaufreibender Vorlauf zum Mord

Nur bei Suizid ist das Opfer der Mörder

Wahre und geheuchelte Sorge um einen Vermissten

Fünf Jahre danach!

Der dornige Weg bis zum Urteil

Sabine Kassens Trauer

Personenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorspann

Dieses Buch schildert die Bedeutung sicherer Arbeitsplätze für eine Region und ihre Menschen. Es zeigt, wodurch deren Sicherheit aus den Fugen geraten kann. Zum Beispiel durch das Erschöpfen natürlicher Ressourcen, wie Steinkohlevorkommen, oder durch die Entscheidungen gewinnorientierter Unternehmen. Solche Umstände reißen Familien aus ihren Zukunftsträumen, lassen Zukunftsängste entstehen und fordern den Leidtragenden Entbehrungen ab. Ein Einfach-weiter-so gibt es nicht. Krise, was nun? Eine Antwort muss her. Die Betroffenen müssen sich im Kampf um ein erträgliches Leben umorientieren, neue Wege suchen. Diese Wege verlangen in einem verbundenen Europa auch den Schritt über Grenzen. In diesem Roman zieht es den Protagonisten aus Belgien nach Deutschland. Die geschilderten Einzelschicksale sind bedrückend. Eine ganze Familie gerät in die Krise. Eine Ehe wird nicht aus Liebe geschlossen. Verantwortungs- und Ehrgefühl sowie bei der Partnerin reine Berechnung geben den Ausschlag für sie. Die Ereignisse driften ins Kriminelle ab, bis hin zum Mord. …

Die Geschichte hat sich in ähnlicher Weise ereignet. Sie wurde in andere Gegenden versetzt und in schriftstellerischer Freiheit verändert und ergänzt. Wenn die erfundenen Hauptdarsteller im Regen stehen, klingt der nur mit geschlossenen Augen wie Applaus. …

Der Aufstieg von Genk

Genk brauchte eine längere Entwicklungszeit, um aus einem kleinen Weiler zu einer Stadt, sogar Industriestadt, zu werden. Unter dem Namen »Geneche« fand sich in einer Schenkungsurkunde aus dem Jahre 1108 erstmals seine namentliche Erwähnung. Der Weiler und seine Umgebung gehörten zu diesem Zeitpunkt der Grafschaft Loon an. 1366 ging er an das Fürstbistum Lüttich. Etwa im 17. Jahrhundert begann man Genk mit Schanzen zu schützen. Das galt nicht nur für Genk sondern auch für die Dörfer Winterslag, Gelieren, Sledderlo, Langerlo, Terboekt und Waterschei, die später zum größten Teil eingemeindet wurden.

Die Ruhe der Heidelandschaften der Kempen blieb noch längere Zeit erhalten und die Gegend wurde bei den reichen Bürgern von Antwerpen und Brüssel als Zweitwohnsitz immer beliebter. Etwa 1840 ließen sich dort auch fast zweihundert Landschaftsmaler nieder. Die abwechslungsreiche Landschaft bot viele Bildmotive. An diese Blütezeit der Landschaftsmalerei erinnert heute noch die Villa Le Coin Perdu. Das Atelier und der Wohnsitz des Künstlers Emile van Doren werden seit 1976 städtisch als Emile Van Dorenmuseum betrieben.

Noch Anfang 1900 war Genk ein verschlafener Ort und hatte weniger als zweitausendfünfhundert Einwohner. 1902 stieß man nahezu zufällig auf ein erhebliches Steinkohlevorkommen. Nun begann eine rapide Wachstumsphase. 1914 wurde erstmals in der Mine Winterslag Kohle gefördert. Zwei weitere Bergwerke entstanden in kurzer Abfolge in Waterschei und Zwartberg. Die neuen Arbeitsstätten zogen aus allen Herren Ländern Bergleute an, zunächst aus den Niederlanden, aus Polen, der Ukraine, aus Italien, Spanien, Portugal und Griechenland. Ab etwa 1964 kamen Türken und Marokkaner hinzu. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche erinnert heute noch an die Neubürger. Auch Moscheen wurden gebaut. Die Bergleute ließen Genk schon bis 1930 auf rund fünfundzwanzigtausend Einwohner anwachsen.

Die Wirtschaftsvielfalt ging weiter: 1936 wurde im südlichen Genk der Albert-Kanal gebaut. Dort, im Stadtteil Langerlo, siedelte man den »Port Charbonnier de Genck« an, um die abgebaute Steinkohle schleusenfrei zur wallonischen Schwerindustrie um Lüttich zu verschiffen. Trotzdem wurde die Gemeinde Genk erst im Jahre 2000 zur Stadt erhoben. Es entwickelten sich die Stadtteile Bokrijk, Boxbergheide, Bret-Gelieren, Centrum, Driehoeven, Hoevenzavel, Kolderbos, Langerlo, Nieuwe Kempen, Nieuw Texas, Sledderlo, Termien, Vlakveld, Waterschei, Winterslag und Zwartberg. Zu dieser Zeit hatte längst ein Strukturwandel eingesetzt. Schon 1966 beendete, genau wie die Bergwerke in der Wallonie, die Mine Zwartberg den Kohleabbau. Er war nicht mehr rentabel durchzuführen. Waterschei hielt sich immerhin bis 1987, Winterslag schloss ein Jahr danach. Der Hafen behielt seine Bedeutung, wurde aber umgewidmet. Nach dem Export von mehr als 89 Millionen Tonnen heimischer Steinkohle wurde hier nun Steinkohle eingeführt. Damit versorgte man das zweitgrößte nichtnukleare Kraftwerk Belgiens, das direkt am Hafen lag. Die Benennung Kolenhaven van Genk konnte auch für die neue Aufgabe beibehalten werden.

Die Zukunft wird nur von denen gemeistert, die nicht am Vergangenen kleben. Als Ersatz für die fortfallenden Arbeitsplätze durch die Beendigung des Bergbaus verhandelte die Regierung von Limburg mit dem amerikanischen Autobauer Ford. Im April 1962 unterschrieb die Provinzregierung mit dem Weltunternehmen einen Fünfjahresvertrag. Im Kölner Ford-Werk waren die Arbeitskräfte knapp geworden, und man hatte im nahen Ausland nach einem Standort für ein weiteres Werk gesucht, denn das Geschäft boomte. Dank günstigem Lohnniveau und hoher staatlicher Zuschüsse fiel die Wahl auf den Standort Genk im belgischen Limburg. Ford wurde ein Segen für die vom Niedergang der Kohlezechen zurückgeworfene Provinz.

Auf einer Gesamtgrundfläche von 134 ha erstanden die Ford-Werke Genk. Als Name des Standorts wählte man Genk Assembly Plant. Zunächst sollten dort Taunus und Transit montiert werden. Das Werksgelände war verkehrstechnisch bestens angebunden. Es hatte Schienenanbindung genau wie Zugang zur Autobahn und dem Albertkanal. 1964 öffnete Ford-Genk seine Pforten und begann mit der Montage. Das Werk wurde schnell mit viertausendfünfhundert Mitarbeitern zum größten Arbeitgeber der Provinz und sorgte für Prosperität. Ford montierte dort zunächst die Modelle Taunus (1964), Transit (1965) und Escort (1968) sowie Taunus Cortina (1970). Später kamen Sierra (1982) und Mondeo (1993), Galaxy und S-MAX (2005) als Nachfolgemodelle. Mit dem Sport Van S-MAX gelang Ford eine echte Innovation, die viele Kunden von anderen Herstellern wegzog. Der Van kannte bei seinem Marktdebüt keinen Vergleich.

Ab 2007 wurden in ihm ein neues Automobil-Design »Ford Kinetic Design« verwendet, das gemeinsame Merkmal war der untere Kühlergrill in umgekehrter Trapezform mit seiner glänzend schwarzen Oberfläche.

Im Supplier Park gründeten sich zehn bedeutende Zulieferfirmen.

1968 traten erste Probleme auf. Rivalisierende Gewerkschaftsgruppen versuchten sich durch Streikmaßnahmen zu übertrumpfen. Ihr Ziel war es, zu erreichen, dass in Genk die gleichen Löhne wie bei Ford Antwerpen gezahlt würden. Ford lehnte ab. Dies war nicht Grundlage für die Wahl des neuen Standorts gewesen. Im November vereinbarte man einen Kompromiss, doch bald wurde das Werk von Antwerpen geschlossen. Dessen Anlagen wurden nach Großbritannien verschifft. Es blieben nur Erinnerungen: Ford glaubte einstmals mit der Wahl von Antwerpen einen Glücksgriff getan zu haben, als im Jahr 1926 der Automobilbau nach Hoboken, an das Ufer der Schelde, verlagert wurde. Hoboken wurde dann 1983 ein Stadtteil von Antwerpen. Die Entscheidung für den Ort der Niederlassung soll der Firmengründer Henry Ford persönlich getroffen haben. Er kam sogar zur Gründungsfeier von Detroit nach Antwerpen.

Schon im 16. Jahrhundert wurde Hoboken Namensgeber für eine Siedlung am Hudson durch Niederländer. Ihre Siedlung lag gegenüber von New York.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lief die Produktion nach Unterbrechung in den Kriegsjahren wieder vorsichtig an. Ende der vierziger Jahre stellten die Beschäftigten bereits fünfunddreißig Autos am Tag her. Nun aber waren die Weichen umgestellt worden. Ford baute in Antwerpen künftig statt Autos landwirtschaftliche Traktoren. Auch dieses Projekt wurde zunächst zur Erfolgsgeschichte.

1999 sorgten in Genk ein Container-Terminal mit Anbindung an die Eisenbahn sowie die Autobahnen E313 und E314 für zusätzliche Arbeitsplätze. Rund achtzigtausend Container wurden im Jahr umgeschlagen. Mit der steigenden Wirtschaftskraft wuchs der Fußballverein KRC Genk in die Runde der Top-Clubs Belgiens hinein. 1988 hatten die beiden Vereine FC Winterslag und THOR Waterschei in ihm fusioniert. Nach Abstiegen 1989 und 1995 konnte sich der neue königliche Club dauerhaft in der ersten Liga etablieren. Er gewann 1998, 2000, 2009 und 2013 den Pokal und wurde 1999, 2002, 2011 und 2019 sogar Landesmeister. Sein 1999 errichtetes Stadion, die Crystal Arena, ragt jenseits des Genker Zentrums wuchtig aus dem Ortsteil Waterschei hervor. Die alten Häuser der Siedlung der Minenarbeiter reichten noch fast bis zu ihr hin. Wo das letzte von ihnen aufhörte, fing das Stadiongelände an.

Gleich hinter beidem sah man einen spitzkegeligen Hügel, der zur Landschaft der Terrils gehörte. So hießen die Abraumhalden, die bei der Förderung von Kohle und Galmei zurückgeblieben waren. Die Welt um Genk sah rosig aus, seine Bürger lebten zufrieden, bis ….

Sicherheit für die Genker Familien durch Ford

Die Familien Leidgens und Fontaine hatten schon während der Blüte des Bergbaus in den anmutigen Backsteinhäusern der Werkssiedlung an der Duinlaan gewohnt. Dort war auch die Generation heimisch geblieben, die nun Arbeit bei Ford Genk fand. Die fußläufige Nähe zum Fußballstadion und dessen Geräuschkulisse bei den Heimspielen machten es selbstverständlich, dass alle Familienmitglieder Fußballfans waren, natürlich Blau-Weiße. Freddy Leidgens war 1963 ein Jahr nach seiner Schwester Claudine in die Minenarbeiter-Familie Leidgens hineingeboren worden. Sein Vater arbeitete bis zum Schluss im Jahre 1987 in der Mine Waterschei als Elektromechaniker und fand danach sofort eine Anstellung bei Ford. Freddy hatte bereits 1983 bei Ford als ausgebildeter Maschinenschlosser Anstellung gefunden. Zwei Jahre später heiratete er mit Billigung der Eltern seinen Schulschwarm Michelle Birset. Er hatte Michelle schon auf dem Schulweg immer nachgeschaut. Sie hatte einen sexy Hintern. Er mochte auch, wie ihre Hüften beim Gehen wackelten. Als sie sich einmal plötzlich umdrehte und ihn ansah, grinste er betreten und sagte: »Erwischt!« Sie quittierte das mit einem Lächeln und war eindeutig bereit für einen Flirt. Als er sie in einer Toreinfahrt schnell und fast kindlich küsste, war Michelle nur kurz sprachlos, dann sagte sie: »Erschreckend, wie lieb du sein kannst, wenn du etwas willst.« Das war ihr Anfang! Sein Vater hatte Michelle am längsten kritisch beäugt. Es galt, seinen Vorbehalt zu widerlegen: »Die jungen Frauen von heute tun für ihr Äußeres Dinge, für die ein Gebrauchtwarenhändler ins Gefängnis käme.« Michelle überzeugte ihn letztlich mit Bravour. Sie war sich zwar ihrer Wirkung bewusst, roch angenehm nach herbem Parfüm und war nicht aufdringlich aufgehübscht, als Freddy sie seinen Eltern vorstellte. Als er auch noch mit ernster Miene sagte: »Wir werden gemeinsam altern und schrumpeln, bis wir aussehen wie Zwillingsrosinen«, ging der Daumen seines Vaters endgültig nach oben. Das ziehharmonikaartige Fältchen auf seiner Oberlippe, das zeigte, wenn er unangenehm berührt war, blieb ihnen erspart. Freddys Mutter hatte Michelle ohne Vorbehalte aufgenommen. Ihr eigenes Eheleben hatte mit einer Teenagerehe begonnen. Sie hatte zum Zeitpunkt der Hochzeit nicht einmal wählen dürfen, so jung war sie gewesen.

Außerdem durchlebte sie gerade einen besonders freudigen Lebensabschnitt. Die Weltfirma Ford hatte ihrer Familie endlich wieder Sicherheit beschert. Die Zeit, in der sie den Marktfrauen schon aus Geldnot beim Wiegen auf die Finger schauen musste, war Gott sei Dank vorbei. Freddys Vater war ebenfalls mit seinem Leben zufrieden. In diesen Jahren wurde zur Fertigung des neuen Sierra in Roboter investiert. Er war an verantwortlicher Stelle in die technischen Vorarbeiten eingebunden. Ford Belgien koordinierte nun alle notwendigen Aktivitäten im Werk Genk. Das machte ihn stolz und zufrieden. Er bestellte sich seinen ersten Sierra: Panther-Schwarz-Metallic, Fließheck, Leichtmetallräder, Seitenscheiben ab 2. Sitzreihe und Heckscheibe getönt, Rücksitze beheizbar, Audio-Paket Spezial, Komfort-Paket, Technik-Paket! So konnte das Leben weitergehen.

Das tat es dann auch: 1986 brachte Michelle die kleine Claudine auf die Welt. Bereits 1987 folgte Alain nach. Beide waren gesunde, hübsche Babys. Mit drei Jahren kamen sie in die Vorschule und hatten dort ersten Kontakt mit ihren späteren Ehepartnern.

Freddys Mutter war sehr gläubig. Die schon lange währende Zeit der Prosperität machte ihr Angst. Sie musste immer wieder an die sieben fetten Jahre in der Bibel denken (Gen. 41–48). Die fetten Jahre mussten bald vorbei sein, dachte sie, man schrieb inzwischen schon das Jahr 1991. Die Zeit des Wohlstandes, des Überflusses oder im übertragenen Sinn des Erfolgs würde zu Ende gehen. Ihr Mann tat das grimmig ab: »Sorgen sind verschwendete Emotionen!«

»Verheiratete Männer leben länger als ihre Frauen«, antwortete sie. Ihr Mann erwiderte mit einem Grinsen: »Das glaube ich nicht. Es kommt ihnen nur so vor.« Er liebte seine Frau. Ohne sie würde die hektische Welt für ihn in Stücke brechen.

Für seine Frau sollte es, wie von ihr befürchtet, schlecht verlaufen. Sie traf die Vergänglichkeit. Was für ein erhabenes Wort, sie hatte Krebs im Endstadium und starb noch im gleichen Jahr. Ihr Mann war völlig neben sich. Er suchte eine Tür, um dem Unglück zu entfliehen. Der Tod ist so eine Tür, befand er schließlich und verstarb wenige Monate nach ihr. Das Ableben des Paars ereignete sich nicht ganz wie bei Philemon und Baucis. Er musste vor seinem Tod das Grab seiner geliebten Frau beschauen. Die Familie Leidgens war nun klein geworden. Freddy und Michelle blieben mit ihren Kindern im Haus zurück. …

Die Phase der Sicherheit hatte jedoch noch Bestand und drängte die Trauer nach einiger Zeit in den Hintergrund. Wichtige Einschnitte ins Familienleben spielten eine Rolle dabei: 1992 kam Claudine in die Schule, Alain folgte ihr das Jahr darauf. Seine spätere Frau Nathalie war mit ihm von Anfang an in der gleichen Klasse. Eine Wiederholung früherer Abläufe zeichnete sich ab.

Das neue Modell Mondeo wurde zum Welterfolg und sogar zum Auto des Jahres gewählt. Alain wurde in diesem Umfeld automatisch zum Autonarr. Schon mit vier Jahren war er seinem Vater zwischen den Füßen herumgekrabbelt, wenn der in seiner Freizeit an seinem Sierra schraubte. Später durfte Alain ihn sogar auf seinem Fahrrad bei Arbeitsschluss an der Werkspforte abholen. Sein Rad kam in die Kofferkammer, und die beiden »Männer« fuhren vergnügt nachhause. Alain wurde ein Vaterkind und Claudine zusammen mit ihrer Mutter die kleine Hausfrau.

Das Jahr 1999 bescherte Alain ein unvergessliches Erlebnis. Die Saison 1998/99 der Jupiler League fand vom 21. August 1998 bis zum 16. Mai 1999 statt. Die Saison war die 96. im belgischen Fußball. Das hatte er sich alles ganz genau gemerkt. Am Ende der Spielzeit konnten noch drei Mannschaften Meister werden: Brügge, Anderlecht und Genk. Im vorletzten Spiel, einem Heimspiel, verlor Genk 2:5 gegen Anderlecht. Die Chance auf die Meisterschaft schien verspielt. Der FC Brügge schied mit einer 2:0-Niederlage gegen Mouscron endgültig aus dem Rennen aus. Der KSC hatte am letzten Spieltag noch eine Chance, und die nutzte er. Genk gewann am 16. Mai auswärts gegen Harelbeke und wurde belgischer Meister. Alain war mit seinem Vater im Stadion. Die beiden kamen aus dem Jubeln nicht heraus. Im Bus auf der Rückfahrt wurde noch viel getrunken. Freddy hatte ordentlich mitgehalten und torkelte beschwipst ins Haus. Er dachte im Schwips: Irgendwie sind alle in meinem Alter älter als ich. Er fühlte sich einfach nur jung und stark. Als Alain am nächsten Morgen über seine Trunkenheit Scherze machte, meinte sein Vater humorvoll: »Wer auf dem Boden liegen kann, ohne sich festzuhalten, ist meines Erachtens nicht betrunken.« Noch Jahre danach erzählten sie am Stammtisch davon.

Der Topscorer Branko Strupar war zu dieser Zeit Führungsspieler der Genker. Bereits 1998 war er mit zweiundzwanzig Treffern Torschützenkönig der Liga und Belgiens Fußballer des Jahres geworden. Im Meisterschaftsjahr heiratete er eine Belgierin und nahm die belgische Staatsbürgerschaft an. Er war Alains großer Held, und der fieberte nun auch mit Strupar bei den Spielen der Nationalmannschaft mit. Strupar spielte 17-mal für Belgien, dabei gelangen ihm fünf Tore. …

Die Jugendjahre von Nathalie Bogaert und Alain Leidgens

In der Grundschule war Alain der Beste seiner Klasse. Er zeigte in keinem Fach Schwächen. In Mathematik und Turnen war er hervorragend. Er war beliebt bei den Jungen, aber auch die Mädchen fanden ihn toll. Nathalie hatte ein Auge auf ihn geworfen. Sie wollte immer das Beste für sich, auch wenn sie selbst nur gehobenes Mittelmaß war. Alain war ein Tüftler, ein wenig ein Eigenbrötler. Er merkte nicht, wenn ein Mädchen ihn anhimmelte. Seine Schwester Claudine beobachtete dies allerdings ganz genau und mit finsteren Blicken. Nathalie mochte sie nicht und wies sie manchmal bei ihrer Anmache in die Schranken. In solchen Fällen bekam ihre Stimme den Klang eines Schleifers vor seinen Rekruten. Ihr Bruder ging ihr über alles. Alain sah sie dann erschrocken mit Hundeaugen an, als wolle er gestreichelt werden oder wäre getreten worden.

1999 zum Ende der Grundstufe machte ihre Klasse eine Wanderung im Thor Park. Auf den 30 Hektar herrlicher Naturumgebung blühte zu dieser Zeit die Heide. Das Lila leuchtete im Licht eines Sonnentages. Der Himmel war erst am Morgen aufgerissen. In der Nacht hatte es noch geregnet, und aus den vielen Birken triefte die Nässe. Sie wanderten durch einige hübsche Gartenviertel, vorbei an leerstehenden Bergwerkgebäuden. De Schansbroek, de Klaverberg und das Kohlegleis lagen direkt in der Nähe. Sie hatten sogar einen guten Blick auf die Weite des Nationalparks Hoge Kempen.

Das Ziel der Wanderung war die Bergehalde von Waterschei. Der alte Steinberg zeugte von der großen Steinkohlevergangenheit Genks. Hier waren Steine aus allen Steinkohleadern der Umgebung auf Halde geschüttet worden. Seit 1999 stand der Berg unter Denkmalschutz. Auf dem Weg zur Spitze hatten die vielen Besucher, die vor ihnen da gewesen waren, Steinmännchen aufgestellt. Ihr Lehrer ermunterte sie, dies ebenfalls zu tun. Die jungen Leute ließen sich nicht lange bitten. Nathalie nutzte die Gelegenheit, Alain näherzukommen. Er hatte bereits ein Steinmännchen aufgebaut, sie setzte eins direkt daneben und meinte: »Das sind wir beide. Sind wir nicht ein hübsches Paar?« Alain reagierte verlegen und errötete. Dann beschloss er, einfach darüber hinwegzuhören. Er wusste nicht, was er von Nathalies Vorstoß halten sollte. Ich komme mir vor wie mit einer Kamera, bei der ich den richtigen Abstand nicht bestimmen kann, um scharf zu stellen. Ich finde keine Klarheit über Nathalie, war das Ergebnis seines Grübelns. Nathalie schnaubte nur verächtlich, als jegliche Reaktion von ihm ausblieb, dann wandte sie sich beleidigt ab. Sie beschloss aber, nicht aufzugeben, sie konnte Niederlagen wegstecken. Als sie den Berggipfel erreichten, hatte Alain die Szene längst wieder vergessen. Der fulminante Blick über das Bergwerkgelände und das Fußballstadion von KRC Genk belohnte sie für den schweißtreibenden Aufstieg.

2003 wurde Freddy Leidgens 40 Jahre alt. Michelle hatte als Überraschung einen Kaffeeklatsch mit Familie und Freunden arrangiert. Der Geburtstag fiel auf einen Sonntag, also musste Freddy nicht arbeiten und war zu Hause. Mit Claudine hatte Michelle eine herrliche Geburtstagstorte gebacken mit vielen Kerzen darauf. Die sollte Freddy zur Feier des Tages ausblasen. Doch der wehrte sich, er mochte so viel Aufhebens nicht. »Das Ausblasen einer Kerze auf einer Geburtstagstorte ist für mich ein versteckter Gesundheitstest, und den brauche ich nicht. Mein Atem ist nämlich sehr lang«, meinte er trocken und hatte die Lacher auf seiner Seite.

Für ihre Kinder hatte nun der Sekundarunterricht begonnen. Nach der Grundausbildung gingen ihre Wege auseinander. Claudine hatte den berufsausbildenden Sekundarunterricht gewählt. Sie wollte einen kaufmännischen Beruf erlernen. Stenografie wurde ihre große Leidenschaft. Für Alain waren das böhmische Dörfer, doch sie erklärte ihm das Fach sehr einleuchtend: »Mit Stenografie kann man so schnell schreiben, wie man spricht.« Zu ihrem Leidwesen wählte Nathalie die gleiche Ausbildungsrichtung. Gott sei Dank war sie eine Klasse unter ihr.

Alain wählte den technischen Sekundarunterricht. Er hatte für sein Berufsleben die Ford-Werke fest im Sinn und wollte zum Hochschulstudium nach Antwerpen gehen. Mit der Verschiffung von jährlich über dreiundsiebzigtausend neuen Ford-Fahrzeugen war der Hafen von Antwerpen seit vielen Jahren eine der wichtigsten europäischen Drehscheiben des weltumspannenden Logistiknetzes von Ford. Die Neuwagen stammten aus den Produktionsstätten Köln, Saarlouis, aber auch aus Genk. Sie gingen vom Antwerpener Seehafen in den Mittelmeerraum, den Vorderen Orient, nach Afrika sowie Asien. Alains Erinnerungen an die Heimat, in die er bald wieder hinwollte, blieben also vor seinen Augen. Da er schnell Geld verdienen wollte, beschloss er den kurzen Ausbildungsweg zu wählen und nur einen Bachelorabschluss zu machen. Sein Vater hatte diese Pläne abgesegnet. Ein Kopfnicken unter Männern, das war es. Freddy freute sich heimlich darüber, dass aus der Familie Leidgens nun ein Studierter bei Ford eintreten würde. Einen sichereren Werdegang konnte er sich für seinen Sohn partout nicht vorstellen.

Alain fand bei einer alten Dame ein günstiges Quartier. Sie hatte ihr graues Haar zu kleinen, festen Löckchen gedreht, wie sie auch ihr Hund hatte. Sie hatte wohl nur ihn, und er war ihr Ein und Alles, dachte Alain voll Mitleid. Wie der Rüde sich an ihr geschwollenes Bein drückte, bestätigte seine Annahme. Der Kellerraum, den er bewohnte, war in der Vergangenheit stehen geblieben: Linoleumboden, Einbauschränke, ein Arbeitstisch mit Resopalplatte, Raufasertapete mit leuchtend orangenen Kringeln. Hier hatte er auch den ersten Sex mit einer gleichaltrigen Studentin. Alain war nicht sehr anstellig und es blieb bei einem One-Night-Stand ohne Folgen und weiterem Kontakt. In seiner freien Zeit fuhr er öfters zum Hafen. Er mochte den Geruch des Meeres, den der Dieselmotoren und das Geschrei der Möwen, die im Wind dahinsegelten. Seine Abschlussprüfungen schaffte er mit Bravour und besten Noten. Er ließ nur wenige Tage der Muße verstreichen, bevor er sich schriftlich bei Ford Genk bewarb. Ihn trieb das Heimweh, er wollte wieder nach Hause. …

Eine willkürlich herbeigeführte Schwangerschaft und ihre Folgen

Im Jahr 2008 erreichte die Produktion in Genk 280.000 Autos. Der frischgebackene Ingenieur Alain erhielt eine Anstellung bei Ford Genk in der Qualitätskontrolle. Diese Stelle kam seinen Neigungen sehr entgegen, und er freute sich auf sie. Der erste Tag im Werk bescherte ihm eine unerwartete Überraschung: Nathalie war als kaufmännische Angestellte in seiner Abteilung beschäftigt. Sie begrüßte ihn kokett mit den Worten: »Seien Sie gegrüßt, Herr Ingenieur.« Dabei blitzten ihn zwei Augen an, und bald musste er sich an ihm gewidmete eindeutige Augenaufschläge gewöhnen. Dies machte ihn unsicher.

Im Jahr 2010 verzichteten die Mitarbeiter von Ford in Genk auf zwölf Prozent ihres Lohns. Sie kauften damit vermeintlich das Versprechen ein, dass auch die neue Generation der Ford-Modelle, der Mondeo, der Galaxy und der Sportvan S-MAX, in Genk gebaut werden würden. Die Lohnkürzung führte zu Verärgerungen, wurde der Belegschaft aber als Sicherung des Standorts verkauft und letztlich akzeptiert.

Das Jahr 2011 hielt zunächst Erfreuliches bereit: Der Niederländer Mario Been trainierte nun den Königlichen Racing-Club. Den Jahresetat hatte der Verein auf 28 Millionen Euro angehoben. Man wollte in Europa mitmischen. Doch dazu musste man sich zunächst mal qualifizieren. Am 17. Mai fand das letzte Meisterschaftsspiel der Saison statt. Für Genk war es ein Heimspiel. Die Arena war schon bald mit knapp fünfundzwanzigtausend Zuschauerplätzen ausverkauft. Alain hatte wie sein Vater aus dem Ford-Kontingent eine gute Karte ergattern können. Die beiden Männer fieberten dem wichtigen Ereignis entgegen. Sie träumten von der Meisterschaft, die noch möglich war, und hatten auch Ambitionen im europäischen Fußball. Im Stadion überraschte Nathalie Alain ein weiteres Mal. Sie hatte sich ebenfalls eine Karte besorgt, saß nun neben ihm und strahlte ihn an. Ihr »Freust du dich?« ließ er unkommentiert. »Ich wusste nicht, dass du dich für Fußball interessierst«, antwortete er stattdessen, bemühte sich aber nicht unfreundlich zu wirken. »Ich teile viele deiner Passionen.« Auf Nathalies Antwort hin blieb er stumm und widmete sich dem Geschehen im Stadion.

Die Geräuschkulisse war groß, und die Kriegsgesänge für den KRC waren unüberhörbar. Strijdbaar zu sein und Passie zu zeigen, wurde auf Flämisch besungen. Genk befand sich in einer guten Ausgangslage. Für die Meisterschaft würde ein Remis genügen.

Die reguläre Spielzeit der ersten Hälfte war vorbei. Immer noch stand es 0:0. Dieses Ergebnis würde Genk reichen. Doch in der Nachspielzeit des ersten Durchgangs schoss der Spieler Eliaquim Mangala von Standard Lüttich ein Tor. Die Genker standen Kopf, die Zuschauer aus Lüttich jubelten. Sie wollten unbedingt ihren Gegner als Meister verhindern, wo sie selbst doch keine Chance mehr hatten. Die Minuten der zweiten Halbzeit schienen viel zu schnell durchzulaufen, ohne dass etwas zu Gunsten von Genk geschah. Die Anfeuerungsrufe wurden immer aggressiver. In der 77. Minute kam endlich die Erlösung. Der eingewechselte Nigerianer Kennedy Ugoala Nwanganga glich für die Heimmannschaft aus. Der tosende Jubel brach bis zum Schlusspfiff nicht ab. Racing war Meister!

Die Clubführung jubelte in ihren dunklen Anzügen mitten auf dem Platz. Champagner spritzte aus vielen Flaschen auf die Menschen und auf den grünen Rasen. Die Begeisterung war übergroß. Es wurde getanzt, gesungen und geschrien. Auf der Tribüne stupste Nathalie Alain in die Seite und rief strahlend: »Ich bin deine Glücksfee!« Er war in einem Glückstaumel und konnte ihr nicht widersprechen. Er umarmte sich allerdings nur mit seinem Vater.

Nach der Meisterschaftsehrung ging es in die Stammkneipe. Nathalie klebte an Alains Seite. Er vertrug nicht viel Alkohol und nahm sich vor, nur wenig zu trinken. Doch ein alter Schulfreund rief ihn zur Ordnung: »Heute ist Alkohol Pflicht. Mit Kopfhörern schaltest du einen Sinn aus, mit Alkohol auch, dann doch lieber Alkohol!« Alle um sie herum lachten. In der Kneipe gab es keine Sitzplätze mehr. Sie standen in der Nähe des Tresens. Nathalie drängte sich an Alains Seite. In der Enge hätte er nicht einmal ausweichen können. Die Abfolge der Trinkrunden wurde immer schneller. Alain merkte, dass er beschwipst wurde. Er wollte sich leise davonmachen und torkelte Richtung Ausgangstür. Er ließ seine Baseballcap auf dem Tresen liegen, obwohl sie sein liebstes Kleidungsstück war. Er hatte sie von einem kurzen Trip zu Ford Amerika mitgebracht und pflegte sie wie einen Schatz. Nathalie nahm sie auf, trug sie ihm nach und hakte sich, ganz Fürsorge, bei ihm unter. Sie meinte dabei leise: »Ich gehe mit dir.«

Er ließ es geschehen. Die frische Luft draußen verstärkte seinen Rausch. Er merkte nicht, dass Nathalie ihn einen anderen Weg führte als den nach Hause. Erst als sie stehen blieb und ihm erklärte: »Meine Tante ist verreist. Ich habe ihren Wohnungsschlüssel, weil ich die Blumen gieße. Wir gehen in ihre Wohnung. Dort kannst du dich ungestört ausschlafen«, stutzte er einen Moment, dann stapfte er willenlos hinter ihr her. Sie führte ihn ins Schlafzimmer und half ihm beim Ausziehen. Als er lag, huschte sie nackt zu ihm unter die Decke. Er fühlte ihre Wärme und fand das angenehm. Nathalie hatte ein Ziel, und das verfolgte sie mit aller Kraft. Mit Streicheln und kleinen Küssen hielt sie ihn wach und merkte bald, dass es ihr gelang, ihn zu reizen. Als sein Glied anschwoll, schob sie sich auf ihn und sein Glied schnell in sich hinein. Sie hatte darin Erfahrung. Mit sanften Bewegungen und leisem Stöhnen erregte sie ihn immer mehr und führte ihn zum Erguss. Sie hatte bewusst keine Verhütung betrieben!

Als Alain am späten Morgen erwachte, schlief Nathalie neben ihm tief und fest. Sie war nackt. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, was mit ihnen in der Nacht geschehen war. Am liebsten hätte er sich heimlich davongeschlichen. Doch das vertrug sich nicht mit seinem Charakter. Bis sie aufwachte, hatte er sich einige unverbindliche Floskeln zurechtgelegt. Nachdem er sie ausgesprochen hatte, zog er sich an und ging. Ein »Bis bald« quälte er sich als Abschiedsgruß regelrecht ab.

In den nächsten beiden Monaten wurde der Vorfall zwischen ihnen totgeschwiegen. Doch dann schlug die Hiobsbotschaft wie eine Bombe ein. Nathalie nahm ihn im Büro zur Seite und sagte: »Wir müssen reden. Können wir in der Pause vor die Tür gehen?« Er hatte ein beklommenes Gefühl, nickte aber.

Draußen im Park eröffnete sie ihm: »Ich bin schwanger.«

Sein Atem wurde kalt und sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Schnell kam er zum Schluss, er müsse sich der Situation stellen. Tonlos sagte er: »Ich werde dich heiraten. Das gehört sich so.« Nathalie hatte bei seinen Worten zu weinen begonnen. Nun schniefte sie noch einmal, riss ihre Augen weit auf und flüsterte: »Ist das wahr?« Er nickte kurz und ergänzte:

»Morgen sagen wir es unseren Eltern.« Dann drehte er sich um und ging zu seinem Arbeitsplatz zurück. Nathalie wusste, dass sie am Ziel war, aber es würde keine Liebesheirat werden. Das war ihr klar. Ihre Ehe würde dem Pflicht- und Ehrgefühl Alains geschuldet sein.

Seine Eltern informierte Alain noch am gleichen Abend.

Er verschwieg auch nicht, wie er sich in die Bredouille gebracht hatte. Sein Vater sagte: »Schwierigkeiten sind wie Babys, sie kommen meistens nachts. Und von dir, mein Sohn, habe ich nichts anderes als ein Heiratsversprechen erwartet.«

Claudine war die Einzige, die versuchte, ihren Bruder von seiner Absicht abzubringen. »Nathalie ist eine Schlampe«, giftete sie. Ihr Bemühen war vergeblich, und das verursachte ihr Magenschmerzen. »Böse Worte kann man nicht zurückpfeifen wie Hunde. Hättest du sie runtergeschluckt, hättest du dir nicht den Magen verdorben«, sagte Alain trocken, als sie darüber klagte.

Zunächst heiratete Claudine Bruno Fontaine, der inzwischen Stadtbeamter geworden war. Gegen den Vorschlag einer Doppelhochzeit hatte sich Claudine massiv gewehrt. Freddy Leidgens ließ sich bei der Ausrichtung ihrer Hochzeit nicht lumpen. Seine Tochter heiratete schließlich aus Liebe und in allen Ehren. Es wurde ein schöner Tag. Selbst das Wetter spielte mit. Das Paar zog zu Brunos Eltern. Dieser Umstand ärgerte Claudine maßlos. Nun trug sie auch noch dazu bei, dass in ihrem Elternhaus die obere Etage für Nathalie und Alain frei wurde. Das gönnte sie diesem Weib gar nicht.

Das Aufgebot für Nathalie und Alain wurde bald bestellt. Nathalies Schwangerschaft sollte nicht sichtbar sein. Die Heirat fand in kleinem Kreis und in bescheidenem Rahmen statt. Eine Tochter kam Anfang 2012 gesund auf die Welt.

Sie nannten sie Yvette.

Das Paar lebte von Anfang an in Parallelwelten. Alain war jedoch der Harmoniebedürftigere von beiden. Er hoffte heimlich, dass sich mit der Geburt ihres Kindes etwas verbessern möge. Es würde sicher kein dauerndes Glück, aber vielleicht ergaben sich wenigstens Glücksmomente. Die traten auch ein, denn Alain liebte seine Tochter vom ersten Moment an. Er bemühte sich nun, auch ansonsten Gutes an ihrer Ehe zu sehen. Nathalie war beileibe keine Schlaftablette. Sie strotzte vor Unternehmungslust und riss ihn manchmal mit. Doch ihr gefährliches Halbwissen schloss sie für ihn allzu oft als Gesprächspartnerin aus. Er hatte stets den hässlichen Klang der Worte seine Schwester im Ohr: »Ihr passt nicht zusammen. Ich gebe euch höchstens vier bis fünf Jahre.« …

Das Ende der Ford-Werke in Genk

Für Mittwoch, den 24. Oktober 2012 hatte Freddy Leidgens ein großes Fest der Ford-Familie in Genk vorhergesagt. Vor genau fünfzig Jahren war das Werk eröffnet worden. Dieser Umstand war seines Erachtens eine Feier wert. Doch das Management von Ford International hatte anderes im Sinn. Auch wenn ihr Vorhaben gar nicht auf dieses Datum passte, eher makaber war. Schon einen Tag zuvor schwappten erste düstere Gerüchte aus Deutschland nach Genk herüber. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete mit Berufung auf eine kompetente Stimme der Konzernleitung davon, im Werk Genk sollten für Ford die Lichter ausgehen. Im Werk wurde das Gerücht zwar bekannt, aber keiner wollte es ernst nehmen. Schließlich waren noch im April erhebliche Neueinstellungen erfolgt. Anfang Mai war sogar noch gefeiert worden, als der 14-millionste Ford ausgeliefert wurde. Einem Mondeo Clipper Titanium S 2.0 TDCi 136 PS Power Shift wurde genau 48 Jahre nach der ersten Auslieferung ein Schild mit der Zahl vierzehn Millionen an die Frontscheibe geheftet. Besitzer von vierzehn historischen Ford-Modellen wurden zur Feier eingeladen. Ebenfalls im Mai verkündete die Werksleitung, im Jahr darauf würde in Genk exklusiv der Ford Mondeo weiter produziert und damit der Fortbestand des Werks auf Jahre gesichert. Es schien also keinen Grund für Sorgen wegen einer unschönen Zukunft zu geben.