Blut ist dicker als Wasser - Volker Himmelseher - E-Book

Blut ist dicker als Wasser E-Book

Volker Himmelseher

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Beschreibung

Mit striktem Einhalten der Maxime „Die Familie geht über alles, Blut ist dicker als Wasser“ ertragen die Mhallami die Unterdrückungen in der Türkei. Viele von ihnen suchen eine Perspektive im Libanon. Die Protagonisten des Romans bleiben aber auch dort Menschen zweiter Klasse. Nach weiteren Unbilden lockt sie der Weg nach Europa, bis nach Deutschland. Sie bleiben bei ihren Wertvorstellungen und greifen im Gastland auf ihre fremden, hier teils verbotenen Machtinstrumente zurück. Ihr Rechtsverständnis gestattet ihnen dabei den Weg in die Kriminalität. Deutschland wird für sie zum Beuteland. Den Weg der Mhallami um Tarek Omeirat aus der Türkei bis in den Libanon, von dort nach Deutschland und teils wieder zurück, erlebt die Leserschaft mit. Ihr Weg ist voll Tragik und lässt viele Fragen offen.

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Seitenzahl: 221

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Inhalt

Blut ist dicker als Wasser

Vorwort

Buch 1

Der Aufbruch in den Libanon

Buch 2

Beirut, die Stadt ihrer Hoffnung

Buch 3

Ein Migrantenleben in Deutschland

Epilog

Namensregister

Literatur

Blut ist dicker als Wasser

– Klarstellung –

Der Satz im Titel des Romans folgt der gängigen Interpretation: Das Blut der Familie ist dicker (bedeutsamer) als Wasser!

Dieser Hinweis geht an die Leserschaft, weil der Verfasser noch auf eine Sondermeinung gestoßen ist:

Danach geht der Ausspruch auf eine Sitte in den Zeiten des Alten Testaments zurück (grob ab 250 v. Chr.).

Wichtige Vereinbarungen wurden damals bekräftigt, indem die Parteien ein Schwein schlachteten und in zwei Hälften teilten. Für die Besiegelung der Absprache stellte man sich in das auslaufende Blut des Tieres.

Die daraus erwachsende Verpflichtung wog mehr als die Verbindung durch das Geburtswasser (Wasser). Sie ging danach über die blutmäßige Bindung innerhalb der Familie hinaus.

Vorwort

Dieser Clanroman befasst sich mit einem Teil der Geschichte der Mhallami.

Es ist bis heute nicht eindeutig belegt, ob es sich bei ihnen, vom Ursprung her, um Araber, Aramäer oder Kurden handelt.

Eine Theorie vertritt, sie seien Araber und unter dem Kalifen Hārūn ar-Raschīd im 8. Jahrhundert aus Kampftruppen, die er in der nordirakischen Region Kirkuk ausgehoben hat, in die Region Mardin umgesiedelt worden, um dort lebende Christen zu überwachen.

Ihr Name soll sich demnach von »maall« (»Ort«) und »mia« (»hundert«) ableiten und »Ort der Hundertschaft« bedeuten. Diese Interpretation wird von den meisten Gelehrten gestützt.

Bis zum 20. Jahrhundert lebten die Mhallami hauptsächlich in einem Teilgebiet der heutigen türkischen Provinzen Mardin und Batman. Heute leben sie, sofern sie nicht ins Ausland geflohen sind, überwiegend in Großstädten wie Adana, İskenderun, İstanbul, İzmir und Mersin sowie immer noch in kleineren Orten der Provinzen Batman und Mardin.

Folgt man der zweiten Theorie, so waren die semitischen Ahlamū die Vorfahren der Mhallami. Diese siedelten als Aramäer seit 1805 v. Chr. im Kalksteingebirge Tur Abdin. Das liegt in Nordmesopotamien am Oberlauf des Tigris im Südosten der heutigen Türkei.

Als Selim I. Anfang des 16. Jahrhunderts Ostanatolien eroberte, lernten sie nicht nur Arabisch, sondern nahmen auch den Islam an.Schon im Jahre 1525 wurden sie in Archiven des Osmanischen Reichs als Muslimische Gemeinde der Mhallami erwähnt.

Weitere Wissenschaftler vertreten die Meinung, die aramäischen Mhallami seien schon im 14. Jahrhundert zum Islam übergetreten. Sie sollen dies aus Protest getan haben, nachdem ihr Patriarch während einer Hungersnot nicht gestattete, die Fastenzeit zu unterbrechen.

Unter türkischer Herrschaft wurden die Mhallami nicht froh. Mustafa Kemal Atatürk betrieb während seiner Amtszeit eine rigide Türkisierung. Neben der größeren Volksgruppe kurdisch sprechender Kurden kam auch die kleinere Gruppe der Mhallami unter Druck.

Sie führte in der Türkei noch ihre arabischen Namen, die keine Nachnamen im westlichen Sinne kannten. Atatürk verlangte von ihnen im Umgang mit türkischen Behörden nun türkische Namen.

Auch ihre Bürgerrechte wurden stark beschnitten. Sie wurden aus dem Sektor Wirtschaft nahezu ausgegrenzt. Zum Leben blieb ihnen die Landwirtschaft. Aber auch bei der Verteilung von Ackerland und beim Zugang dazu standen sie ganz am Ende der Interessenten an.

Die Überzahl der Kurden, die mit ihnen in Ostanatolien zusammenlebten, war ihnen ebenfalls nicht grün. Sie mochten ihren arabischen Dialekt nicht. Die Mhallami sprachen den für sie fremd klingenden arabischen Quito-Dialekt. Auch deren starke Sippenbildung war ihnen suspekt.

Viele Kurden arbeiteten für den türkischen Staat als Steuerpächter und taten den Mhallami in dieser Funktion viel Unrecht an. Das konnten die nur im starken Zusammenhalt ihrer Sippe ertragen. Doch vielen setzte das zu sehr zu. Sie suchten den Weg der Flucht in ein besseres Leben.

Mehrere Flüchtlingswellen spülten Mhallami aus ihrer Heimat:

In den zwanziger Jahren handelte es sich zunächst nur um ein paar 100 mutige Leute, die sich als Wirtschaftsflüchtlinge versuchten.

In den dreißiger Jahren, nach dem Scheitern des Kara-Dağ-Aufstandes (1930–1932), wuchs die nächste Flüchtlingswelle schon auf mehrere 1000 Personen an.

In den Vierzigern folgte dann eine noch größere Zahl.

Ihre genaue Höhe ist nicht gesichert. Man schätzt sie auf bis zu 100.000 Personen. …

Der Protagonist des Romans, Tarek Omeirat, führt eine Gruppe junger Clanmitglieder in den Vierzigern auf einer beschwerlichen Reise nach Beirut an. Ihr Leben als Wirtschaftsflüchtlinge, zunächst im Libanon, später in Europa wird, miterlebt.

Personen, sofern sie nicht zur Zeitgeschichte gehören, sowie ihre Geschichte wurden frei erfunden. Der Erzählstrang fußt allerdings auf wirklichen Begebenheiten und kommt dem Schicksal echter Migranten sehr nahe.

Die Geschichte wirft drängende Fragen auf:

Treffen die vorherrschenden einseitigen Schuldzuweisungen in Richtung der Emigranten zu? Wurde nur auf ihrer Seite alles falsch gemacht? Hat die Integration in die deutsche Gesellschaft noch eine Chance? Besonders für die in Deutschland geborenen Außenseiter?

Der bisher unrund verlaufene Versuch, eine solche Chance zu gewähren, berührt und schreit nach Veränderungen des künftigen Umfelds. Stattdessen bleibt den Betroffenen bis dato nur die Abschiebung oder gar Flucht aus Deutschland. …

Buch 1

Der Aufbruch in den Libanon

1947

Anatolien, Provinz Mardin im Südosten der Türkei

Der Sommermonat August hatte gerade begonnen.

Zwölf Sonnenstunden bei 36 Grad Celsius bestimmten den Tageslauf.

Tarek Omeirat war aus seinem Heimatdorf Rashdiye seit Langem mal wieder in die Provinzhauptstadt Mardin gereist. Er hatte vieles zu bedenken und wollte dabei von Familie und Nachbarn ungestört sein.

Der drahtige Zweiundzwanzigjährige gehörte zu der arabischsprachigen Volksgruppe der Mhallami. Er war ein gutaussehender Mann. Sein männliches Gesicht, von der Sonne gegerbt und von einem dunklen Bart eingerahmt, strahlte Gelassenheit aus. Seine gebrochene Nase hingegen ließ die Lust an körperlichen Konfliktlösungen erahnen.

Die Hitze des Tages hielt noch vor, es war immer noch warm.

Tarek hatte sich in der Altstadt von Mardin, die sich an den alten Burghügel schmiegte, einen einsamen Platz gesucht und schaute versonnen in die Tiefenebene von Mesopotamien. Auch das mächtige Kalksteingebirge Tur Abdin am Oberlauf des Tigris hatte er im Blick.

In seinem Kopf fand eine einseitige Konversation statt. Ihn trieben unzählige Fragen um. Heute wollte er die Antworten auf sie finden. Die Antworten zur Gegenwart lagen in der Vergangenheit, dessen war er sich bewusst:

Die Mhallami hatten schon seit Langem unter den Türken einen schweren Stand. Dass sie als arabisch Sprechende unter kurdisch Sprechenden mit einem besonderen Dialekt lebten, stigmatisierte sie zusätzlich.

Die Kurden beäugten sie wie die Türken mit Argwohn. Sie betrachteten sie, wegen der unterschiedlichen Sprache, trotz kurdischer Wurzeln nicht als Kurden.

So wurden sie von ihren andersartigen Nachbarn immerzu geduckt. Eine besondere Rolle spielten dabei die Agas, die Steuerpächter. Sie waren aus den kurdischen Stämmen rekrutiert und benachteiligten sie ständig.

Sie verhielten sich ausbeuterisch und korrupt. Um sich in diesem feindlichen Umfeld zu behaupten, hatten die Mhallami ihre Clanstrukturen immer enger geschnürt. Cousins heirateten Cousinen und Söhne von Freunden heirateten die Töchter aus dem Freundeskreis. Heiraten in fremde Stämme waren verboten.

Schon Ende des Ersten Weltkriegs hatten die ersten Familien aus dieser misslichen Lage die Konsequenz gezogen und waren in den Libanon migriert.

Mustafa Kemal Atatürk, der Schöpfer der modernen Türkei, hatte nicht nur Protestaktionen der Kurden blutig niedergeschlagen, sondern auch die Mhallami gezwungen, ihre arabischen Namen durch türkische zu ersetzen. Das ging gegen deren Ehre. …

Nun verspürten Tarek Omeirat und seine Freunde ebenfalls den Wunsch auszuwandern, hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen. Sie waren jung, voller Lebensmut und wollten für sich eine bessere Zukunft finden. Sie waren es leid, Jahr für Jahr dem kargen Land zu trotzen.

Auf den wenigen Hektar harten, trockenen Bodens ließen sich keine Reichtümer erwirtschaften. Auch wenn es, trotz der Wasserarmut in jedem Frühjahr, als geschehe ein Wunder, wieder zu keimen begann, blieb man vom Wasser, vom Staubsturm und von anderen Wetterunbilden auf Gedeih und Verderb abhängig. …

Diese Tage hatten die Freunde Tarek gefragt, ob er die Führung ihrer Gruppe übernehmen wolle. Er hatte dies wohl dem Umstand zu verdanken, dass ihr Mullah ihn früh protegierte. Tarek war im Koran überdurchschnittlich belesen und für einen Bauernjungen gut geschult in Schrift und Wort. Zudem war er körperlich stark und seelisch belastbar.

Die Anfrage der Freunde galt es, gründlich zu überdenken. Er wusste, dass eine Rückkehr in die Türkei ausgeschlossen war. Sie würden von den Behörden ausgebürgert, schon weil sie sich dem Wehrdienst entzogen hatten. Die Emigration allein war schon Grund genug dafür. Dass er sich keinesfalls ohne Alia Yıldırım auf den Weg machen würde, stand für ihn fest. Er liebte Alia, die Erhabene, wie ihr Vorname zu Recht preisgab. Sie war eine schöne Frau.

Ihre zarte Gestalt, das edle Gesicht mit den sanften braunen Augen und die glänzenden schwarzen Haare traten sofort vor sein inneres Auge und ließen ihn wohlig erschauern. Mit ihr wollte er Kinder haben und den Familienstamm fortsetzen. Er glaubte, ihr Flüstern zu hören: »Tu es!«

Diese vermeintliche Aufforderung ließ in ihm den Entschluss reifen, Alia noch vor der Reise zu heiraten. Sie waren weitläufige Verwandte. Hochzeiten unter Verwandten waren in ihrem Stamm gang und gäbe, sogar gewünscht. Sie wurden von den Alten sogar gefördert, denn sie dienten der Stärkung der Großfamilie.

Er hatte genaue Vorstellungen, wie das Fest ablaufen sollte: Sein Vater, Firat, würde Ehevormund, der Wali.

Für den Abschluss des Ehevertrages wollte er seinen Onkel Mahmoud und seinen besten Freund Nidal um Hilfe bitten. Sie sollten ihre Zeugen sein.

Für die Hochzeit schwebte ihm unter den gegebenen Umständen nur eine bescheidene Zeremonie vor. Das schöne Ereignis würde schließlich mit dem bevorstehenden Trennungsschmerz einhergehen. Es konnte keine übermütige Freude aufkommen. Danach würde keinem zumute sein. …

Tarek war sich im Klaren, dass sich das Auswandern mühevoll und gefährlich gestalten würde. Der Weg über Syrien in den Libanon war weit. Allah sei Dank boten die Grenzübergänge, besonders in der Nacht, an den vielen einsamen Stellen keine größere Gefahr. Unruhig machte ihn, was ihm in diversen Berichten zu Ohren gekommen war: Auch der Libanon gelte für ihren Stamm nicht als gelobtes Land.

Vom Hörensagen wusste er, dass man sie dort gern abfällig behandelte, besonders wenn sie nicht registriert waren. Dazu brauchte man aber viel Geld. Ohne Registrierung wurde es schwer, überhaupt Arbeit zu finden, erst recht Arbeit zu fairem Lohn. Kindern gestand man nicht mal einen Schulplatz zu. Auch soziale Leistungen, wie Versicherungsschutz bei Krankheiten, blieben den Migranten versagt. …

Es gab, Allah sei es gedankt, auch positive Berichte über den Libanon. An die wollte sich Tarek klammern. Aber auf jeden Fall würden er und seine Freunde in der Fremde, wie hier zuhause, aufeinander angewiesen sein. Unbedingter Zusammenhalt war fürs Überleben vonnöten.

Was ihn neben den Unkenrufen ängstigte, war, dass es keinen Weg zurückgab, wenn man erst einmal gegangen war. Die Älteren, aber auch einige Junge ihres Stammes, würden zurückbleiben und damit eigentlich einen Ort für die Heimkehr bieten. Doch die verbot die türkische Regierung! Wenn sie ausreisten, durften sie im Libanon also nicht scheitern. …

Als die Sonne am Horizont unterging, hatte er die Entscheidung getroffen. Er würde das Wagnis eingehen und seine Freunde in die Fremde führen. Seine Hoffnung war groß, dass es für sie dort besser würde. Für die Nacht genoss er in der Altstadt die Gastfreundschaft einer befreundeten Familie. Nach einem üppigen Abendmahl und guten Gesprächen schlief er traumlos und fest.

Am späten Morgen verabschiedete er sich mit Dank, »Salam aleikum«, Friede sei mit dir, und machte sich auf den Weg nach Rashdiye zurück. Der ließ ihm mit einer Dauer von über acht Stunden viel Zeit, Einzelheiten der bevorstehenden Reise zu bedenken. Zuhause war die Zeit reif, seine Führungsrolle anzunehmen und mit ersten Taten unter Beweis zu stellen. Tarek fühlte sich stark genug und war hoffnungsfroh. …

Rashdiye am nächsten Tag

Als Tarek Omeirat den 7000-Seelen-Ort erreichte, tauchte die untergehende Abendsonne bereits die kleinen Häuser und Hütten in ein schläfriges Rot. Selbst die grünen Weintrauben auf den Feldern hatten einen rötlichen Glanz. Die Luft war etwas kühler geworden, und so saßen viele der Dörfler vor der Tür und genossen die beginnende Frische der aufziehenden Nacht. Tarek grüßte alle Bekannte beim Vorbeigehen mit freundlichem Nicken und erhobener Hand.

Als er auf seinen Busenfreund Nidal Hammad traf, eilte der auf ihn zu. »Hast du deine Entscheidung getroffen?«, wollte er wissen. Tarek nickte und antwortete: »Ja, ich werde euch führen. Aber erspare mir heute Abend die Einzelheiten. Ich bin müde vom Weg. Ruft unsere Gruppe für morgen um 7:00 Uhr in der Früh am Marktplatz zusammen, dort werden wir alles beratschlagen.« Mit einem abschließenden »Salam« ging er weiter. …

Am nächsten Morgen warteten einschließlich Alia fünfzehn Personen auf ihn. Die Neugierde, wie seine Entscheidung ausfallen würde, war ihnen in die Gesichter geschrieben. Tarek wollte seine Kumpane nicht auf die Folter spannen, er kam deshalb direkt auf den Punkt:

»Ich werde euch in den Libanon führen. Aber unsere Ausreise müssen wir sorgsam vorbereiteten. Nichts soll dem Zufall überlassen bleiben. Die damit verbundenen Aufgaben müssen von mehreren Schultern getragen werden.

Hat jemand von euch Vorschläge, welche Pflichten er übernehmen könnte?«

Nach einem Moment der Stille meldete sich Amir Hammad zu Wort: »In unserer Familie erfolgt eine solche Reise nicht zum ersten Mal. Ich habe mich deshalb bei unseren Leuten über die beste Route kundig gemacht.

Ich würde sie auch für uns gerne ausarbeiten.«

»Das ist eine wichtige Sache. Kannst du uns, ohne in Einzelheiten zu gehen, schon jetzt etwas dazu sagen?«, wollte Tarek wissen. Er brauchte Amir nicht lange zu bitten. …

»Unser Reiseziel sollte Beirut sein.

Libanons Hauptstadt ist eine große, aufstrebende Stadt und wird auch Platz für uns haben.

Die meisten von uns verfügen über wenig finanzielle Mittel. Papiere, um die Einbürgerung zu beantragen, kosten schon allein eine Menge. Wir werden also zunächst nicht registriert im Untergrund leben und ein bescheidenes Dasein fristen müssen. Es soll sich mittlerweile ein Gürtel von Lagern um die Stadt gelegt haben, in dem Unseresgleichen unterkommen. Unser Leben wird viele Schattenseiten aufweisen. Wir müssen für unser Auskommen niedere Arbeiten annehmen.

Als Lastenträger, Bauarbeiter, Schuhputzer und Müllarbeiter können wir arbeiten. Unsere Kinder, die wir haben wollen, dürfen auf keine Schulen. Für sie und auch für unsere medizinische Versorgung müssen wir, trotz der schlechten Verdienstmöglichkeiten, selbst aufkommen. Ihr seht, uns erwartet kein Paradies. Aber man kann sich hocharbeiten. Beirut erlebt seit der Unabhängigkeitserklärung des Libanon im November 1943 einen großen wirtschaftlichen Aufschwung.« …

»Deine letzten Worte waren wichtig«, warf Tarek ein.

»Du sollst uns schließlich nicht die Hoffnung rauben.

Sag jetzt lieber etwas zu der Reiseroute.«

»Nun, die Reisedauer wird davon bestimmt sein, wie oft wir eine Fahrgelegenheit ergattern können, die nicht viel kostet. Reisen mit dem Zug sollten wir erst gar nicht ins Auge fassen. Die sind zu teuer. Das Eisenbahnnetz ist zudem zersplittert und marode. Fahrpläne werden nicht eingehalten. Wenn es überhaupt eine Streckenführung gibt, muss man meist mit Güterwagen vorliebnehmen. Die sind überfüllt, dreckig und unbequem. Hinter der rußenden Diesellok heißt es giftigen Staub schlucken.

Mit Bussen ist es nur wenig besser. Mitfahrgelegenheiten auf Eselkarren, Ochsenwagen und auch Lastwagen wären hingegen ein Glücksfall. Im schlimmsten Fall kommt ein langer Fußmarsch auf uns zu. Das Wetter ist stabil, und in Zeitnot sind wir nicht. Wenn alles gut geht, können wir selbst auf diese Weise in etwa fünfundzwanzig Tagen am Ziel sein.

Für die einzelnen Etappen, wenn wir sie zu Fuß machen müssen, habe ich mir in etwa die Stundenzahlen errechnet.«

Die anderen sahen, dass Amir sich konzentrierte, um die Zahlen richtig hervorzubringen.

»Es empfiehlt sich für uns, so lange wie möglich in der Türkei zu reisen. Dort sind wir, wenn auch ungeliebt, immerhin noch gemeldete Bürger. Die erste Etappe nach Sanliurfa verlangt uns einen Fußmarsch von in etwa sechsundvierzig Stunden ab. Von Sanliurfa nach Gaziantep brauchen wir dreißig Stunden. Unterhalb von Kilis quert man in der Nacht die syrische Grenze. Die Nacht ist empfehlenswert, denn die Grenze wird von türkischem Militär kontrolliert.

Der Weg nach Aleppo dürfte mindestens fünfundzwanzig Stunden dauern. Von Aleppo nach Beirut fallen nochmals über neunzig Stunden an. Ihr seht, das wird kein Zuckerschlecken.«

Amir sah sich in der Runde um und schaute dabei in viele bedenklich blickende Gesichter.

Tarek verstieg sich in ein Lob: »Amir, ich bin beeindruckt, wie sehr du dich schon in unsere Pläne hineingekniet hast.

Mach weiter so. Wichtiger als ein erster Überblick ist nun die Feinarbeit. Keiner wird dagegen sein, dass die ab jetzt auf deinen Schultern liegt.«

Amir errötete vor Stolz.

»Wer ist bereit, für uns zu planen, was wir mitnehmen müssen?«, wollte Tarek nun wissen.

Nidal meldete sich sofort.

»Solche Reisevorbereitungen mache ich nicht das erste Mal. Dafür übernehme ich die Verantwortung. Wenn ich meine Vorstellungen erarbeitet habe, sollten wir gemeinsam darüber diskutieren. Viele Augen sehen mehr als zwei.«

Nidals Angebot wurde dankbar angenommen. Nun meldete sich Alia selbstbewusst:

»Wir Frauen sollten darüber beraten, was wir als Wegzehrung hier schon vorbereiten können. Es muss leicht transportierbar, haltbar und kräftigend sein.«

Tarek sah sie liebevoll an.

»Das ist ein nützlicher Vorschlag, meine Taube.«

Rede und Gegenrede gingen noch eine ganze Weile hin und her. Schließlich ließ man es bei diesen Plänen fürs Erste bewenden. Die jungen Menschen wurden sich einig, spätestens Ende September aufzubrechen. In dieser Zeit war es auch des Nachts noch warm, und sie konnten im Freien schlafen. Außerdem gab es fast keine Regentage. Ab jetzt lief die Uhr. …

Die Vorbereitungen für den Aufbruch

Der Plan, zu heiraten, fand die freudige Zustimmung der Eltern. Denen war alles recht, was die Bindung zwischen den scheidenden Kindern festigte und die Sicherheit der Gruppe stärkte. »Ihr müsst eine richtige kleine Sippe werden«, meinte Tareks Vater bestimmt.

Nidal Hammad schloss sich Tarek und Alia an und nahm seine Cousine Ramiye Najjar am selben Tag zur Frau. Über den Feierlichkeiten lag ein Hauch von Wehmut. Das Auseinandergehen stand zu nahe bevor. Allen Elternteilen war es jedoch daran gelegen, ihren Kindern und den Gästen zum Abschied eine würdige Festtafel anzubieten.

Auf so viele Köstlichkeiten würden die jungen Menschen danach lange verzichten müssen. Jeder der vier Hochzeiter fand sein Lieblingsgericht aufgetafelt, das die jeweilige Mutter mit großer Liebe zubereitet hatte.

Tarek sah sofort sein geliebtes mariniertes Fleisch am Drehspieß. Es war ähnlich dem Döner Kebab gegrillt. Mit braunen Bohnen in Olivenöl, Knoblauch und Weintraubenessig gekocht, servierte es seine Mutter stolz mit Reissalat und Granatapfelstücken.

Nidal aß schon mit den Augen das herrlich gewürzte zu Brei verarbeitete Fleischgemisch aus Lamm und Kalb mit Salata Malful, einem Krautsalat, mit Minze und Knoblauch gewürzt und Hefeteigtaschen.

Alia bevorzugte schon immer vegetarische Kost. Für sie hatte ihre Mutter frittierte Bällchen aus Kichererbsen, Favabohnen, Koriander und Zwiebeln gekocht.

Ramiye liebte Geflügel, gekochtes Huhn in Joghurtsoße mit Walnüssen und Tahin, einer Paste aus fein gemahlenen Sesamkörnern.

Süßspeisen erfreuten nicht nur das Auge, sondern auch den Gaumen. Das traditionelle Dessert Layali Lubnan, ein Mouse aus Milch, Weichweizengrieß, Eiern, Zucker, Schlagsahne, Zitronensaft mit gehackten Pistazien, frischen Rosenblättern und Rosenwasser abgeschmeckt, fehlte genauso wenig wie Halawet el Jibn, der süße Käse aus Mozzarellakugeln, Gries, Rahm, Sirup, mit ganzen Nüssen belegt sowie mit Zitronensaft, Rosenund Orangenblütenwasser beträufelt.

Alle Gäste fanden etwas nach ihrem Geschmack. Die Festlichkeiten zogen sich bis spät in die Nacht hinein. Es wurde erzählt und auch manchmal gelacht. Der bevorstehende Abschied war dann für den Moment vergessen. Für das erste Beieinanderliegen hatten sich die beiden Paare heimlich Besonnenheit versprochen. Sie wollten vor der großen Reise keinen Beischlaf riskieren. Sie scheuten die Gefahr, dass die Frauen durch aufkommende Schwangerschaft die Strapazen der Reise nicht ertragen würden. Es blieb ein stilles, aber trotzdem unvergessliches Fest. …

Alia hatte nach Studium der Speisebeispiele für ihre Hochzeit die Überlegungen zur Wegzehrung für die Reise bald abgeschlossen.

Ihr war schnell klar gewesen, dass man bei der Hitze, die im September noch herrschte, auf den Transport verderblicher Ware verzichten musste.

Fisch, Fleisch, Geflügel, frisches Obst und Gemüse waren also ungeeignet. Die musste man unterwegs auf den Märkten oder direkt bei den Bauern kaufen. Sie hatte eine Liste geeigneter Nahrungsmittel zusammengestellt, die sie problemlos mitnehmen konnten, und las sie den Reisegefährten vor:

»Am besten eignen sich getrocknete Hülsenfrüchte, Bohnen, Kichererbsen, Favabohnen, Bulgur, Reis und Nüsse.«

Dass alles vegetarisch war, kam ihr zupass.

»Auch Zusatzstoffe kann man gut und gerne von zuhause mitnehmen. Olivenöl, Sesampaste, Knoblauchzehen, Koriander, Minze, Thymian, Salz und Sumach stehen auf meiner Liste oben an.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie noch etwas hinzu, was ihr fast entfallen war: »Das eigentlich in der Fastenzeit gegessene Cevizli Sucuk ist äußerst nahrhaft und gut haltbar.

Für diese Spezialität fädelt man, wie die meisten von euch wissen, Walnusskerne auf eine Schnur und taucht sie mehrfach in eine Mischung aus Weintraubensirup, Stärke und Zucker, die dann trocknet und zu einer gummiartigen Masse aushärtet. Das bietet sich gut als schnelle Wegzehrung an.«

Ihre Kameraden lobten sie für ihre Umsicht.

Auch Nidal trug bald seine Empfehlungen für die Dinge vor, die ihm für die beschwerliche Reise unentbehrlich erschienen. Mit an erster Stelle nannte er vernünftige Kleidung und Schuhwerk. Leichtes Arbeitsgerät, Zeltbahnen für die Übernachtung auf freiem Feld, Messer und andere Waffen zur Verteidigung gehörten genauso dazu wie Mittel zur Wundversorgung.

»Wir müssen damit rechnen, dass räuberische Banden auf unserer Strecke ihr Unwesen treiben.«

Wasserflaschen und auch der Koran durften nicht fehlen. »Allah muss unser Beschützer und Wegbegleiter sein, soll die Reise gelingen.«

Nidal stellte zur Diskussion, vorab einen Kassensturz zu machen, um festzustellen, wer über welche Geldmittel verfügte. Dann plädierte er für eine gemeinsame Kasse, aus der nur nach einvernehmlichem Beschluss verfügt werden sollte.

»Einer für alle, alle für einen« gab er diesem Vorschlag als Namen.

Es bedurfte einiger Diskussion, bis dieser Plan von allen akzeptiert war. Letztlich kamen aus den unterschiedlich begüterten Familien unterschiedliche Geldbeträge. Aber die Kameraden sahen schließlich ein, in ihrer Gemeinsamkeit durfte es keine Unterschiede geben, wenn sie Bestand haben sollte. Egoismus und Neid hatten keinen Platz.

Am ernüchterndsten waren die Erläuterungen von Amir Hammad zur Reiseroute.

»Wir werden uns auf lange Fußmärsche einstellen müssen. Das Fahren mit der Eisenbahn ist äußerst teuer, die Fahrzeuge und Gleise sind oftmals nicht intakt, und Fahrzeiten werden nicht eingehalten, wenn überhaupt etwas rollt. Ich hatte das schon angedeutet. Unsere Chance, die Füße ab und zu ein wenig zu schonen, liegt in Mitfahrgelegenheiten auf Lastwagen, Fuhrwerken und Karren. Dazu müssen wir uns vereinzeln, das heißt, in kleinere Gruppen aufteilen. Das ist nicht unmöglich. Die Glücklichen, die irgendwo mitfahren können, müssen dann später an einem verabredeten Ort auf die anderen warten. Am ehesten sehe ich zwischen Aleppo und Beirut eine Möglichkeit, den öffentlichen Verkehr zu nutzen.

Doch selbst das ist fraglich. Wir müssen uns also auf unsere Füße verlassen und mit unseren körperlichen Kräften, unseren Vorräten und unserem gemeinsamen Geld sehr haushalten.«

Auch zu diesen Erläuterungen gab es keine Verbesserungsvorschläge, selbst nachdem man die Alten und Erfahrenen aus der Dorfgemeinschaft zur Aussprache hinzugezogen hatte. …

Zeit des Abschieds für eine beschwerliche Reise

Schon Mitte September, etwas früher als geplant, konnte die Gruppe zum Aufbruch blasen. Nun galt es, Abschied zu nehmen. Das fiel allen schwer. Bei den Frauen, besonders den Müttern, flossen Tränen. Die Männer umarmten sich mehrfach und wünschten sich Glück und Erfolg. Allah wurde um Schutz und Hilfe angerufen.

Tareks Vater hatte sich zu einer großzügigen Geste entschieden. Als er seinen Sohn das letzte Mal an sich drückte, sagte er: »Ich gebe dir einen unserer drei Maulesel mit. Er wird euch auf der Reise gute Dienste tun. Auf seinen starken Rücken passt eine Menge Gepäck. In den Satteltaschen könnt ihr einen Teil der Wegzehrung verstauen.«

Sein Sohn war gerührt und bedankte sich mit einer weiteren festen Umarmung. Auch die anderen drückten ihre Dankbarkeit aus.

Die zuhause blieben und die weggingen versprachen sich gegenseitig, alles zu tun, um in Kontakt zu bleiben. Keiner konnte sich allerdings so richtig vorstellen, wie die Familienbindung in die Ferne und über lange Zeit anhalten würde.

Die Zeit sollte aber zeigen, dass die Familie etwas Klebriges an sich hatte. Noch nach Jahrzehnten meldeten sich Abkömmlinge der Migranten, die inzwischen sogar bis Europa weitergezogen waren. Geld und Gegenstände, die das harte Leben im Dorf erleichterten, fanden den Weg dorthin und wurden Beleg dafür, dass einige der Auswanderer in der Fremde ihr Glück gemacht hatten. …

Noch vor Tagesanbruch brachen sie auf. Der Maulesel war mit Kleidung, Gerät und Vorräten bepackt. Er stampfte unruhig den Boden und gab heisere Töne von sich. Sie schauten zurück auf die im Morgenlicht liegenden Felder, auf denen Vögel nach Nahrung suchten.

Sie winkten ihren Angehörigen voller Inbrunst zu, für die nun wieder ein langer Arbeitstag begann. An der letzten Wegbiegung, bevor ihr Dorf endgültig aus dem Blickfeld entschwand, hielten sie einen Moment inne, um endgültig Abschied vom alten Leben zu nehmen. …

Die erste Etappe bis Sanliurfa, auch Urfa genannt, bewältigten sie zu Fuß. Sie erfuhren am eigenen Leib, dass die Reise hart werden würde.

Die Hitze ließ über den ganzen Tag nicht nach, ermüdete und machte durstig. Das Trinkwasser musste sorgsam eingeteilt werden. Jedes Kilo Gepäck lastete schwer auf den Schultern und wurde immer wieder kritisch hinterfragt. Selbst die Frauen mussten mittragen. Zur Stärkung griffen sie auf die Vorräte in den Satteltaschen zurück.

Erfreulich war, dass die Temperatur über Nacht so hoch blieb, dass es sich gut unter den leichten Planen übernachten ließ. Das zerklüftete, weiche, für Anatolien so typische rötliche Gestein wurde noch rötlicher in der Abendsonne und bescherte ihnen vor den Ruhepausen ein friedliches Licht. …

Sie verteilten ihre erste Etappe auf fünf Tage und nutzten jede Gelegenheit, bei Bauern Obst und Gemüse einzukaufen. Sie füllten bei ihnen auch ihre Wasservorräte auf und tränkten das Maultier. Kleine Mädchen trugen dafür eifrig flache Schalen voll Wasser herbei.

Der Weg wellte sich endlos über die Hügel der staubigen Steppenlandschaft. Wenn sie auf Hirten trafen, die dort ihre Schafherden grasen ließen, kauften sie frische Milch. Kleine Glocken hingen am Hals der Tiere und füllten die Ohren der Durchreisenden mit optimistischem Klang. Es war ein besonderer Glücksfall, wenn sie eine Reisschüssel mit Schaffleisch und weißen Bohnen ergatterten. Gastfreundschaft galt eben etwas auf dem Land. …

Die Ankunft in Urfa erwarteten sie mit größter Ungeduld. Die Stadt galt als fünfheiligste Stadt des Islam und war ein bedeutender Wallfahrtsort.

Um die Halil-Rahman-Moschee rankte sich eine alte Legende: Zu dem Gotteshaus gehörte der Teich des Abraham mit seinen unantastbaren Karpfen. Abraham sollte an dieser Stelle auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Doch Allah errettete ihn. Er ließ das Feuer zu Wasser werden und die Glutbrocken zu Karpfen.

»Wir werden morgen wieder früh aufbrechen«, verkündete Tarek, bevor sie sich zur Ruhe legten. Die Nacht verging sternenlos. …

Auf der Etappe nach Gaziantep, auch kurz Antep genannt, hatte die Hälfte der Gruppe Glück. Sie fand auf Karren kostenlose Mitfahrgelegenheiten. Ein rumpelnder Ochsenkarren, der nur wenig beladen war, nahm allein vier von ihnen mit.

Die Zurückgebliebenen standen nun vor einem Marsch von drei Tagen. Sie kamen mit den Scheidenden überein, dass sie am dritten Tag zu drei vereinbarten Zeiten im Zentrum auf dem Marktplatz auf sie warten würden. Den glücklichen Mitfahrern tat die Erholung gut.