Ein Volk verschwindet - Philipp Mattheis - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Volk verschwindet E-Book

Philipp Mattheis

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang ist in den vergangenen Jahren eine Dystopie Wirklichkeit geworden: Die muslimischen Uiguren werden dort mit allen Möglichkeiten des Digitalzeitalters erfasst und überwacht. Etwa eine Million Menschen sind monatelang in »Umerziehungslagern« interniert, wo Folter, Zwangsarbeit und Gehirnwäsche an der Tagesordnung sind. Gleichzeitig werden Moscheen geschlossen, religiöse Feste untersagt, Baudenkmäler zerstört. Offensichtlich soll die kulturelle Identität des 15-Millionen-Volks ausgelöscht werden. Westliche Konzerne hält das nicht davon ab, in Xinjiang produzieren zu lassen. Philipp Mattheis’ aufrüttelndes Buch erzählt von den Schicksalen Betroffener und klärt über die Hintergründe des Geschehens auf. »Eines der größten Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit.« Süddeutsche Zeitung »Vielleicht erklärt ... der Mangel an Bildern die unverzeihliche Empathielosigkeit mit den Uiguren in China, von deren brutaler Entrechtung und massenhafter Internierung die Öffentlichkeit seit Jahren weiß.« Carolin Emcke

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Philipp Mattheis

Ein Volk verschwindet

Philipp Mattheis

Ein Volk verschwindet

Wie wir China beim Völkermord an den Uiguren zuschauen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Ch. Links Verlag ist eine Marke derAufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

entspricht der 1. Druckauflage von 2022

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Umschlaggestaltung: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung, Hamburg, Kamil Kuzin, unter Verwendung eines Fotos von picture-alliance / dpa / epa Azubel

Karte: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-96289-137-4

eISBN 978-3-86284-504-0

Inhalt

Vorwort

Was wir wissen können

Kashgar 2014

Uyghur Tribunal I: Zumret Dawut

Eine kurze Geschichte der Uiguren

Die Spur in den Daten

Uyghur Tribunal II: Abdusalam Muhammad

Das Freiluftgefängnis

Uyghur Tribunal III: Mihrigul Tursun

Der Weltkongress der Uiguren

Uyghur Tribunal IV: Qelbinur Sidik

Zwischen den Stühlen – Diaspora in Istanbul

Uyghur Tribunal V: Gulbahar Jelilova

Die Machtpolitik Xi Jinpings und die Folgen für die Uiguren

Uyghur Tribunal VI: Gulbahar Haitiwaji

Warum Xinjiang? Die geopolitische Bedeutung der Region für Peking

Schuld, Mitschuld, Verantwortung – Die Rolle deutscher Unternehmen in Xinjiang

Xinjiang und die globalen Lieferketten

Reiseblogger im Dienste der KPCh

Genozid versus »Bevölkerungsoptimierung«

Was wir tun können

Epilog

Quellen und Literatur

Dank

Karte

Der Autor

Vorwort

Zum letzten Mal in Xinjiang war ich im Mai 2014. Die Diskriminierung der Uiguren war damals bereits überall zu spüren. Das Lagersystem aber gab es damals noch nicht. Ende 2015 verließ ich Shanghai in Richtung Istanbul, wo ich die nächsten vier Jahre als Korrespondent tätig war. Als ich im November 2019 nach China zurückkehrte, war ich schockiert, welche Richtung das Land eingeschlagen hatte. Der grassierende Nationalismus, die Überwachung im Alltag und der Personenkult um Xi Jinping hatten ein Ausmaß angenommen, das fünf Jahre zuvor noch unmöglich erschienen war. Auch davon handelt dieses Buch, und die Verbrechen in Xinjiang sind nicht ohne diesen Kontext zu verstehen.

Was das Lagersystem in der Region selbst betrifft, so ist dieses Buch vor allem eine Zusammenfassung der Arbeiten von Journalisten, Datenforschern und Menschenrechtlern, die in teils mühevoller Detailarbeit und unter Strapazen Licht dorthin brachten, wo die kommunistische Partei Chinas Dunkelheit verbreiten will. Mein eigener Beitrag zu diesen Recherchen ist gering, weswegen dieses Buch auch mit einem Kapitel über die Arbeit von Kollegen in Xinjiang beginnt, und mit einer Danksagung endet.

Die Berichte von Zeugen, die die Lager überlebt haben, stammen alle vom »Uyghur Tribunal«. Die Veranstaltung in London ist der bisher umfangreichste Versuch, die Ereignisse in Xinjiang zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Wer die Website www.uyghurtribunal.com besucht, findet dort die hier wiedergegebenen Berichte in voller Länge und noch weitere Primärquellen.

Dieses Buch ist darüber hinaus der Versuch, die geopolitische Bedeutung der Provinz zu erklären. Das wirtschaftliche Projekt Pekings mit dem wohlklingenden Namen »Die neue Seidenstraße« soll die wirtschaftliche Hegemonie der Volksrepublik in Zentralasien sicherstellen und europäische Absatzmärkte für chinesische Produkte erschließen. Die Kontrolle über die Region Xinjiang ist für diese Strategie unerlässlich.

Nicht zuletzt ist dieses Buch auch eine Warnung vor der Propagandamaschinerie Pekings. Längst nutzt die kommunistische Partei Chinas auf raffinierte Weise westliche Social-Media-Plattformen (die in China selbst verboten sind), um ihre Narrative im Westen zu verbreiten. Vielleicht kann dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, das Bewusstsein dafür zu schärfen und wachsamer gegenüber den Lügen und der verdeckten Einflussnahme des Regimes zu werden.

Dass die deutsche Wirtschaft und Politik sich angesichts unserer historischen Verantwortung nicht deutlicher von Zwangsarbeit, der an Euthanasie grenzenden Bevölkerungspolitik und dem Lagersystem in Xinjiang distanzieren, ist beschämend.

Was wir wissen können

»Sie werden Baumwollfelder besichtigen und die Wahrheit und Fakten respektieren.«

Gao Feng, Sprecher des chinesischen Handelsministeriums, 2021

Bis vor kurzer Zeit hatten die meisten Menschen von dem Turkvolk im Westen Chinas noch nie etwas gehört. Xinjiang, die Stammheimat der rund 15 Millionen Uiguren, ist eine der ärmsten Provinzen Chinas. Während zum Jahreswechsel 2020/21 die Staatschefs mehrerer EU-Länder hinter verschlossenen Türen ein Handelsabkommen mit Peking aushandelten, schlugen Menschenrechtler Alarm. Peking hatte in der Region Xinjiang in den vergangenen Jahren eine digitale Dystopie errichtet. Die totale Überwachung ist – zumindest für die Minderheit der Uiguren – Wirklichkeit geworden. Bis zu zwei Millionen Menschen werden monatelang in »Umerziehungslagern« festgehalten. Folter, Zwangsarbeit und Gehirnwäsche sind dort an der Tagesordnung. Anfangs basierten die Meldungen noch auf Gerüchten und wenigen Berichten derer, die entkommen sind. Mittlerweile aber sind die Menschenrechtsverletzungen der kommunistischen Partei Chinas gut belegt.

Auf der einen Seite werden seit Jahren Milliarden in die Region investiert. Auf der anderen Seite schließen Pekings Beamte aber auch Moscheen, untersagen religiöse Feste und erlassen sogar Kleidervorschriften, um die Religion aus dem Alltag der Menschen zu verbannen. Uralte Oasenstädte wie Kashgar werden unter dem Vorwand der Modernisierung ihrer einzigartigen Architektur beraubt. Den Verlust der kulturellen Identität sollen Wirtschaftswachstum und Infrastruktur ausgleichen. Das ist das Rezept, mit dem die kommunistische Partei Chinas spätestens seit 1990 das Riesenland regiert.

Recherchen in Xinjiang sind nie einfach gewesen. Angst, Diskriminierung und Beamtenwillkür waren immer spürbar. Doch anders als zum Beispiel in Tibet, das seit Jahren für ausländische Journalisten komplett gesperrt ist, waren und sind Reisen nach Xinjiang noch immer erlaubt. Eine tiefergehende Berichterstattung aber ist kaum mehr möglich.

Vor etwa zehn Jahren mussten Journalisten sich zwar offiziell anmelden, wenn sie in Xinjiang recherchieren wollten, aber wie zu dieser Zeit noch oft in China waren die Vorschriften lax und folgten eher dem »Cha Bu Duo«-Prinzip, welches eine gewisse Larifari-Mentalität beschreibt und sich grob mit »passt schon« übersetzen lässt. Eine »Mann-Deckung«, also die direkte Verfolgung durch Beamte, gab es nur selten, und nahezu alle Städte und Landstriche Xinjiangs waren prinzipiell zugänglich, auch wenn man hin und wieder mit Behinderungen rechnen musste. Fernsehteams hatten es insgesamt schwerer, weil sie als Menschengruppe und durch ihr Equipment für mehr Aufmerksamkeit sorgten als ein einzelner Print-Journalist, der sich im Notfall immer als Tourist ausgegeben konnte. Aber das traf auf viele Teile Chinas zu, wenn man zu heiklen Themen recherchieren wollte. Vieles hing auch von der Willkür der zuständigen Beamten ab. Während manche Polizeichefs sich wenig Gedanken über Ausländer in der Region machten und Journalisten in Ruhe ließen, sobald diese versichert hatten, keine Fotos zu machen, waren andere übervorsichtig. Dennoch: In dieser Zeit waren Gespräche mit Uiguren möglich. Viele ließen sich zwar lieber anonym zitieren, aber ihnen war es ein Anliegen, dass die Welt etwas über die Situation in Xinjiang erfuhr. Die Angst vor den Konsequenzen war noch nicht so groß, dass sie mit niemandem sprechen wollten, wie es später der Fall war. Das änderte sich etwa um die Jahre 2016/2017, als das Lagersystem aufgebaut wurde.

Harald Maass, Journalist und ehemaliger China-Korrespondent der Frankfurter Rundschau, flog im Frühsommer 2018 in die kasachische Hauptstadt Almaty. Von dort aus bestieg er einen Bus, der ihn zur chinesischen Grenze brachte. Sein Plan: Mit eigenen Augen zu sehen, was in der Provinz Xinjiang vorging, die er zum ersten Mal in seinem Leben 1987 bereist hatte. Und um einem Verdacht nachzugehen: Ein kanadischer Student hatte über Google Maps und Satellitenaufnahmen Anlagen identifiziert, die wie Lager aussahen. Gerüchte darüber, dass es in Xinjiang Arbeits- oder Umerziehungslager gab, kursierten schon länger. Zu diesem Zeitpunkt aber stritt die chinesische Regierung deren Existenz noch rigoros ab.

Maass reiste mit einem Touristenvisum ein, das er zuvor in München beantragt hatte. »Mich wunderte es, dass es tatsächlich ausgestellt wurde. Heute wäre das völlig unmöglich«, erzählt er knapp drei Jahre später. Maass traf außerdem diverse Vorsichtsmaßnahmen. Er löschte jegliche Dateien von seinem Computer, die in den Augen der chinesischen Sicherheitsbeamten irgendwie verdächtig aussehen könnten. Die Fotos, die er auf seiner zweiwöchigen Reise durch die Provinz machte, lud er über ein Virtual Private Network (VPN) hoch und löschte sie anschließend wieder. Seine Notizen schrieb er in ein Heft, verklausulierte und chiffrierte sie als harmlose Tagebucheinträge, so dass auch sie keinen Verdacht erregen konnten. »Mir war bewusst, dass mir all das als Spionage ausgelegt werden könnte«, sagt der Journalist an einem sonnigen Junitag in München.

»Was ich dann aber tatsächlich sah, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen.« Maass schildert die Provinz als ein gigantisches Freiluftgefängnis, in dem die Uiguren auf Schritt und Tritt überwacht, kontrolliert, gescannt, registriert und diskriminiert werden. Am schlimmsten sei die Situation im Süden der Provinz. Nachts glichen die Städte einer einzigen Polizeikontrolle: Überall Blaulicht, bewaffnete Soldaten, die herumbrüllten, Durchsuchungen. Maass selbst wurde in den zwei Wochen 57 Mal kontrolliert.

Sämtliche Interviews mit ehemaligen Insassen der Lager und Familienangehörigen von Inhaftierten führte er in Kasachstan. In Xinjiang selbst beschränkte er den Kontakt mit Uiguren auf ein absolutes Minimum. »Das Wichtigste für mich war, dass niemand durch meine Arbeit in Gefahr geraten würde. Wenn in Xinjiang jemand mit einem Ausländer gesehen wird, droht ihm sofort ein Verhör oder Lagerhaft.« Die Geschichte, die Maass dann schrieb, wurde im März 2019 im Magazin der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Sie gewann den renommierten Deutschen Reporterpreis und wurde für den Theodor-Wolff-Preis nominiert.

Etwas später ist auch der französische Fotograf Patrick Wack zum letzten Mal in Xinjiang gewesen. »2019 folgten mir ein oder zwei Männer mit etwas Entfernung. Es handelte sich dabei oft um Uiguren. Sie waren übrigens sehr freundlich, das führte manchmal zu absurden Situationen. Ich sagte meinen Aufpassern, ich führe morgen hier- oder dorthin, und sie freuten sich mitzukommen.« Das täuschte aber nicht über die Repressionen hinweg. Wack führte immer zwei Fotokarten mit sich. »Ich wurde im Schnitt alle zwei Tage von einem Polizisten aufgefordert, meine Fotos zu löschen. Deswegen hatte ich eine JPEG-Fotokarte bei mir, mit der ich demonstrierte, dass ich die Fotos gelöscht hatte, während die zweite Karte sicher war. Jeden Abend machte ich zudem mehrere Kopien auf meinem Laptop und lud die Fotos über Filesharing-Dienste hoch.«

Die plumpe »Mann-Deckung« ist inzwischen von einer smarten, digitalen Überwachung abgelöst worden. Im Juni 2021 war Christoph Giesen, langjähriger China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, in Xinjiang und beschrieb, dass sich die Lage vordergründig entspannt habe. »Noch vor einem Jahr wurde man Schritt für Schritt von mindestens einem Mann mit Handy verfolgt. Fuhr man mit dem Auto, folgten einem Wagen ohne Nummernschilder. Mittlerweile aber ist das System ausgefeilter: Man hat die Städte, und eigentlich die ganze Provinz, in Zonen aufgeteilt. Überquert man eine Zonengrenze, wechselt automatisch auch das Personal, das einen verfolgt. Hinzu kommt, dass der Bewegungsradius durch Covid-Beschränkungen stark eingegrenzt ist. Da man nur in bestimmten Hotels übernachten darf, kann man maximal 200 Kilometer ins Land fahren«, erzählt er.

Gesprächspartner zu finden, die etwas über die tatsächliche Situation erzählen, ist dagegen noch schwieriger geworden. Es scheint, als hätten die massive Einschüchterung, Traumatisierung und Propaganda der Lager ihren Effekt gehabt: »Immer öfter bekommt man nichts als die Regierungspropaganda zu hören«, sagt Giesen. Die niederländische Journalistin Eva Rameloo bestätigt das. Sie war zuletzt im Mai 2021 mit dem französischen Reporter Simon Leplâtre in Xinjiang. Sie erzählt, dass die Überwachung zunächst weniger strikt schien als noch vor zwei Jahren. Die Kontrollen seien nun einfach verdeckter und raffinierter. Oft werden jetzt Corona-Maßnahmen als Vorwand genommen: »Bevor wir nach Xinjiang flogen, mussten wir natürlich einen Covid-Test machen. Als wir ankamen, war der auf einmal nicht mehr gültig. Am Flughafen wurden wir als Ausländer zunächst abgesondert und unsere Telefonnummern aufgeschrieben. Jede Nachbarschaft hat ihr Testzentrum. Wir mussten uns bestimmt alle zwei Tage testen lassen. Und an jeder Haustür ist ein QR-Code.«

In den größeren Städten wie Urumqi und Kashgar haben Überwachungskameras oft die Arbeit übernommen. Nur auf dem Land gab es im Mai 2021 noch die »klassische Überwachungsmethode«. »Männer folgten uns und achteten darauf, dass wir mit niemandem sprachen. Gleichzeitig will man natürlich auch keine Uiguren in Gefahr bringen. Einmal aber hörte ich eine Uigurin ein Lied singen, und ich wollte das für einen Radiobeitrag aufnehmen. Sofort aber erschienen wieder unsere Aufpasser und hinderten uns daran.«

Für andere Situationen hatten Rameloo und Leplâtre eine Liste parat, auf der Fragen in Uigurisch standen, die man alle mit Ja oder Nein beantworten konnte. In Geschäften, wo sie sich sicher fühlten und keine Kameras waren, zeigten sie diese den Menschen. Die Angst aber sei oft so groß gewesen, dass die Leute nicht einmal diese Fragen beantworten wollten.

Gleichzeitig schienen manche Dinge einfacher als 2018, bei Rameloos letzten Besuch. »Damals buchte man vorab ein Hotel in Xinjiang und als man ankam, wurde man wieder rausgeschmissen. Auf der Straße sah man zu dieser Zeit so gut wie keine Männer. All das war jetzt anders. In der Luft lag eine eigenartige Stimmung aus Angst und Freude. Mitte 2021 hatten wir mehr Freiheit, uns zu bewegen, als in den Jahren zuvor. Aber es war noch schwieriger, etwas herauszubekommen.«

Die kommunistische Partei versucht aber nicht nur, das Informationsmonopol innerhalb Xinjiangs zu kontrollieren. Ihr Einfluss auf das Narrativ macht sich auch außerhalb des eigenen Staatsgebiets immer deutlicher bemerkbar. Was das bedeutet, erfuhr im Juli 2021 wieder der französische Fotograf Patrick Wack. Seine Bilder zeigen oft seltsam entrückte Landschaften und Menschen, die etwas von fremder Schönheit und tiefer Trauer erzählen. Sie fanden Eingang in den Fotoband »DUST«, der im Herbst 2021 erschien. Etwas vorher aber, im Juli 2021, landeten zehn von Wacks Xinjiang-Bildern im Instagram-Feed des Unternehmens Kodak, mit dem er eine Kooperation hatte. Eines davon zeigt eine junge Frau auf einer grünen Wiese in scheinbarer Einsamkeit. Darunter stand »Massenarbeitslager werden in der Region aufgebaut – ein Zeugnis für Xinjiangs abrupten Abstieg in eine Orwell’sche Dystopie«. Schnell sprangen nationalistische chinesische Internetuser darauf an und bombardierten sowohl Wack als auch Kodak mit Nachrichten. »Falls Du in China bist, solltest Du ausgewiesen werden. Ich werde Dich der Polizei melden«, schrieb ein User namens »chinese_united«, und das war noch einer der harmloseren Kommentare.

»Ich habe Hunderte von Hass-Nachrichten bekommen, die mich als CIA-Agenten beschimpfen, der westliche Propaganda betreibt, als Rassist und vieles mehr«, sagt Wack. »Manche riefen mich sogar an. Noch befremdlicher war es, dass sich auch Amerikaner und Europäer darunter befinden, also Leute, die nicht jeden Tag mit chinesischer Propaganda bestrahlt werden und es besser wissen müssten.«

Kodak knickte ein: Die Verantwortlichen löschten Wacks Foto, mit dem Hinweis, man wolle sich aus politischen Angelegenheiten heraushalten. »Die politischen Ansichten von Hr. Wack entsprechen nicht denen von Kodak und Kodak befürwortet diese auch nicht. Wir bitten um Entschuldigung für die Missverständnisse und Verletzungen, die dieser Post verursacht haben könnte.«

Auch der nationalistischen chinesischen Zeitung Global Times war das einen eigenen Artikel wert. In dem gab man sich naiv und führte die Idylle, die Wack auf seinen Fotos oft zeigt, als Beweis dafür an, dass es keine Arbeitslager gebe. Dem Fotografen unterstellte man Gier nach Geld und Aufmerksamkeit.

Wack, der mehrere Jahre in Shanghai verbracht hat und mittlerweile in Berlin lebt, meint zum Vorgehen von Kodak: »Weil sie eingeknickt sind, haben sie nun alle verärgert. Es ist peinlich.« Der Fotograf wiederum erhielt zahlreiche Mails und Posts, die das Vorgehen von Kodak verurteilten und sich solidarisch mit Wack erklärten.

Teil der aktuellen Phase der Informationskontrolle über Xinjiang ist eine aktive, aggressivere PR-Kampagne, an der sich auch nicht-chinesische Blogger beteiligen, die scheinbar ahnungslos schöne Landschaften und gutes Essen schildern. Die KPCh organisiert Touren für ausländische Unternehmen, Touristen und Journalisten nach Xinjiang, um ihnen dort eine perfekte Welt vorspielen zu können: Anfang Juli 2021 verkündete das chinesische Wirtschaftsministerium, »in der nahen Zukunft werden ausländische Unternehmer die Region besuchen«. Gao Feng, der Sprecher des Ministeriums sagte der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua: »Sie werden Baumwollfelder und -anlagen besichtigen und (…) die Wahrheit und Fakten respektieren.« Diese Potemkinschen Dörfer werden in den kommenden Jahren der Weltöffentlichkeit vorgespielt werden und so die Meinung prägen – wenn es nach den Plänen des Regimes geht.

Zu der perfekten Scheinwelt, die Peking dort aufgebaut hat, kommt, dass die Umerziehungskampagne langsam abgeschlossen wird. Nach und nach scheinen die Lager nun wieder verkleinert zu werden. »Die chinesische Strategie der kulturellen Auslöschung der Uiguren tritt in eine neue Phase ein«, sagt der Aktivist und Datenforscher Adrian Zenz, der mit seiner akribischen Arbeit einen wichtigen Teil zur Wahrheitsfindung geleistet hat. »Die ersten Lager werden geschlossen. Arbeitsmaßnahmen sollen die Folter und Gehirnwäsche ersetzen.«

Für Journalisten und damit auch für die Weltöffentlichkeit wird es in Zukunft noch schwerer werden, hinter die Fassade zu schauen. Peking will die Verbrechen der vergangenen Jahre möglichst schnell unter den Teppich kehren und sowohl dem eigenen Volk als auch der Weltöffentlichkeit alles als Erfolg verkaufen: Radikale Maßnahmen seien nötig gewesen, um terroristische Elemente zu eliminieren, und nun könne jeder nach dem Pekinger Modell zu Wohlstand gelangen.

Zum Glück wächst inzwischen die Solidarität mit dem Schicksal der Uiguren. Menschenrechtsorganisationen, engagierte Politiker und Kenner der Region weisen vermehrt auf die Missstände hin und fordern westliche Regierungen zum Handeln auf: Das Schicksal der Uiguren muss (ähnlich wie das der Tibeter) in den kommenden Jahren vermehrt auch unser Verhältnis zum Regime in Peking bestimmen. Sonst laufen wir Gefahr, unsere Werte für steigende Absatzzahlen von Automobilkonzernen zu opfern. Indem wir uns zu schweigenden Mitwissern der Verbrechen machen, werden wir dem Regime ähnlicher, als wir es wollen.

Kashgar 2014

»Kashgar bildet die Frontlinie gegen den Terrorismus und benötigt soziale Stabilität.«

Xi Jinping, 2014

In Zentralasien hat man dieses Gefühl, als sei die Sonne klarer, die Erde dem Himmel näher, der Horizont weiter. Vielleicht liegt es an der schieren Ausdehnung der Landmasse, die die Optik verändert. Kashgar ist rund 2000 Kilometer vom Meer entfernt, so weit wie nur wenige Städte der Welt. Vielleicht ist es auch schlicht die Höhe – die heimliche Hauptstadt der Uiguren liegt 1200 Meter über dem Meeresspiegel. Auf jeden Fall schien mir auf dem Weg vom Flughafen in die Altstadt alles, was ich sah, als hätte jemand an meinen Pupillen gedreht und meine Sicht schärfer gestellt. Ich sah Wanderarbeiter aus ganz China Wohnungen für Tausende von Menschen aus dem Boden stampfen. »Kashgar Delevopment Zone« stand in großen Lettern vor einer Baustelle. Daneben ein Bild zweier Wolkenkratzer: Hier sollte das neue Wahrzeichen Kashgars entstehen, zwei 280 Meter hohe Zwillingstürme. Im Jahr 2020, so lautete der Plan, sollten hier eine Million Menschen leben, dreimal so viele wie 2014. Was dort nicht stand, war, dass es sich bei den neuen Bewohnern um Han-Chinesen und nicht um einheimische Uiguren handeln würde.

Ich war mit einem Rechercheauftrag nach Xinjiang gekommen. Die Geschichte ging über Chinas wirtschaftliche Aktivitäten in der Westprovinz. Seit Ende 2011 lebte ich in Shanghai und berichtete für ein deutsches Wirtschaftsmagazin. Ein Großteil meiner Arbeit drehte sich um die Erfolgsgeschichten und manchmal auch Probleme deutscher Unternehmen in China. 2013 war ich zum ersten Mal in der »Autonomen Region Xinjiang« gewesen, weil der deutsche Automobilkonzern Volkswagen gerade ein Werk nahe der Provinzhauptstadt Urumqi eröffnet hatte, von dem sich kein Experte so recht erklären konnte, wie sich das rechnen sollte. Damals war ich nur in Urumqi und der näheren Umgebung gewesen. Die Stadt war nach jahrzehntelanger Siedlungspolitik Pekings kaum mehr von einer der anderen chinesischen Großstädte zu unterscheiden (die sich wiederum alle gleichen). Nach uigurischen Merkmalen musste man in Urumqi suchen, rund 75 Prozent der 3,5 Millionen Bewohner waren Han-Chinesen. Die wenigen westlichen Ausländer, meist junge Englischlehrer, hingen in ihrer Freizeit alle in der Gongyuan Bei Jie, einer Barstraße, herum. Und während auf den breiten Bürgersteigen Uiguren Granatäpfel und Wassermelonen verkauften, standen an jeder Kreuzung Soldaten mit Maschinengewehren. Im Radio hieß es, abgedunkelte Fensterscheiben seien demnächst verboten, die Polizei müsse sofort sehen können, wer sich im Wagen befinde.

Kashgar aber war anders: Die über 2000 Jahre alte Karawanenstadt war 2014 von der Siedlungspolitik Pekings noch halbwegs verschont geblieben – zumindest demographisch: Noch waren 85 Prozent der Einwohner Uiguren. Aber das war, wie gesagt, dabei sich zu ändern.

Ich hatte mir ein kleines, günstiges Hotel mit einfachen Zimmern ausgesucht, das sich an meist westliche Backpacker richtete, von denen im Mai 2014 aber nur wenige hier waren. Ich gab meinen Pass an der Rezeption ab, und legte mich auf das quietschende Bett, um mich auszuruhen. Die Angestellten sandten in der Zwischenzeit die Daten an die zuständige Polizeistation. Das war ein übliches Prozedere für Ausländer in China. Meist war die Sache nach einer Viertelstunde erledigt. Diesmal aber war es anders: Irgendwann klopfte es an meiner Tür. Eine junge Frau, dem Aussehen nach Chinesin, bat mich um Entschuldigung.

»Es tut mir furchtbar leid, aber Sie können hier leider nicht bleiben.«

»Warum?«, fragte ich.

»Es ist wegen Ihres Visums. Mit einem Journalistenvisum dürfen wir Sie leider nicht beherbergen. Es tut mir wirklich furchtbar leid.«

»Aber ich bin hier als Tourist«, log ich.

»Es tut mir wirklich leid.«

Die Frau empfahl mir ein anderes Hotel, von dem sie vermutete, es würde auch Journalisten aufnehmen.

Das Qinibag-Hotel lag am Rande der historischen Altstadt und war ein großer, vielleicht 30 Stockwerke hoher Bau mit einer pompösen, gigantomanischen Lobby, wie sie typisch ist für chinesische Hotels in den Provinzstädten des Landes. Ein Kronleuchter hing von der Decke und die Angestellten trugen Uniformen. Als ich mein Zimmer sah, war ich über den unfreiwilligen Hotelwechsel nicht so unglücklich: Es war groß und ich hatte vom 19. Stock einen großartigen Ausblick über die Stadt. Man konnte gut erkennen, wie sich die historische Altstadt, die 2000 Jahre alten Lehmbauten, von der brutalen Architektur des chinesischen Wirtschaftswunders (die immer gleichen Wolkenkratzer) absetzte.

Abermals verging eine halbe Stunde, dann klingelte mein Zimmertelefon. Dieses Mal bat mich die Angestellte, in die Lobby zu kommen. Dort würden zwei Männer auf mich warten. Es handelte sich um zwei Polizisten, das heißt, zumindest trugen sie Uniformen. Einer von ihnen sah chinesisch aus, der andere eher zentralasiatisch. Beide sprachen ein gutes, fließendes Englisch, was zumindest damals in China noch eher selten war, und waren überaus freundlich. Wieder ging es um das Visum in meinem Pass.

»Sie können hier leider nicht recherchieren, dafür hätten Sie sich vorher anmelden müssen«, sagte der uigurisch aussehende Mann. »Es tut uns wirklich furchtbar leid, aber so sind eben die Gesetze.«

»Was ist, wenn ich nur als Tourist hier bin und gar nicht vorhabe zu berichten?«, fragte ich.

»Wenn das so ist«, sagte der Mann lachend, »dann ist ja alles in Ordnung. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Nach der Unterhaltung hatte ich das Gefühl, dass es allen Beteiligten darum gegangen war, den Schein zu wahren und keinen Ärger zu provozieren. Die Polizisten hatten meine Zusage, und ich wurde vorerst in Ruhe gelassen.

Am Nachmittag ging ich zum ehemaligen britischen Konsulat, einem kleinen Häuschen mit einem Baum davor. Der wenig repräsentative Bau erinnerte an eine Zeit, in der Kashgar einmal im Mittelpunkt eines Konflikts zweier Großmächte gestanden hatte. Ende des 19. Jahrhunderts konkurrierten die beiden Kolonialreiche Großbritannien und Russland darum, wer Zentralasien dominierte. Xinjiang oder »Ostturkestan« war damals eine arme Randprovinz des chinesischen Kaiserreichs, deren Unterhalt kaum weniger kostete, als die Steuereinnahmen einbrachten. Ich aß ein Curry in einem kleinen Café, dessen Namen ich leider vergessen habe. Aber ich erinnere mich noch gut daran, dass ich einen Händler aus Pakistan traf, der mir eine Handvoll Edelsteine zeigte. Die, sagte er, tausche er hier gegen iPhones und dann fahre er wieder über den Karakorum Highway in 4000 Meter Höhe zurück nach Pakistan.

Anschließend machte ich einen Spaziergang durch die Altstadt von Kashgar. Auch 2014 konnte man bereits viel über die brachiale Herrschaft Chinas in der Provinz lesen. Was Kashgar betraf, so ging es vor allem um die systematische Zerstörung der Altstadt. Man war dabei, die jahrtausendealte aus Lehm gebaute Stadt abzureißen, und durch Neubauten zu ersetzen. Man wolle die Stadt erdbebensicher machen, sagte die Regierung – eine Stadt, die wohlgemerkt 2000 Jahre alt ist und schon mehr Erdbeben überstanden hatte als die meisten anderen Städte dieser Welt. Experten sagten, für die chinesischen Behörden seien die verwinkelten Gassen zu schwer zu kontrollieren. Man fürchte, Terroristen könnten hier Unterschlupf finden. Vielleicht war ich von dieser Nachricht auch weniger geschockt, weil ich bereits über drei Jahre in China lebte und wusste, dass dies überall im Land geschehen war und noch immer geschah. Ein Land mit 1,3 Milliarden Menschen beraubte sich systematisch seiner eigenen Geschichte und Identität. Alles musste neu werden. Alles musste gleich werden.

Und so war ich bei meinem Spaziergang, der mich in die Nähe des Hostels führte, von dem ich wenige Stunden zuvor abgewiesen worden war, zunächst etwas verwundert: Die Straßen und Häuser sahen eigentlich nett und irgendwie auch originell aus. Zwei- bis dreistöckige leicht rötliche Gebäude, an deren Fenstern und Türen irgendwie islamisch wirkende Ornamente angebracht waren. Davor grillten Menschen in uigurischer Tracht Fleischspieße und ab und zu stakste ein Esel durchs Bild. Das Ganze war nicht idyllisch, aber doch sehr touristenfreundlich. Alles wirkte fremdartig und exotisch, aber doch sicher, angenehm und komfortabel – ganz so, als spazierte man durch eine Westernstadt mit echten Cowboys.

Die Szenerie aber änderte sich, als ich tiefer in die Stadt hinein wanderte. Neben zahlreichen Ruinen und Baustellen konnte man noch hin und wieder die alten Lehmhäuser sehen. Es waren eigenartig enge, dunkle Gassen, die weder lebendig noch ganz tot wirkten. Die Kleidung spielender Kinder war die einzige Farbquelle inmitten der lehmfarbenen Hauswände. Ich fühlte mich nicht unwohl oder unsicher, aber doch wie ein Fremdkörper, der hier nicht hingehörte, als ob ich Zeuge von etwas wurde, das ich nicht sehen sollte. Später ging ich zur Moschee von Kashgar, wo Soldaten die Betenden kontrollierten. Erst als ich am nächsten Tag mit Mehmet, meinem Übersetzer, sprach, fügte sich das Bild zusammen:

»Das, was du zuerst gesehen hast, ist alles Fassade«, sagte er. »Sie haben die jahrhundertealten Häuser abgerissen und dann nach einem Einheitsstil, den sie ›orientalisch‹ nennen, neu aufgebaut. Es ist alles künstlich und für chinesische Touristen schön hergerichtet.«

»Was ist mit den Menschen passiert?«

»Man hat sie umgesiedelt, dort hinten, wo die Hochhäuser stehen. Sie behaupten, alle hätten sich darüber gefreut, weil sie jetzt mehr Komfort haben. Aber das ist eine Lüge. Die allermeisten von uns wollten nie weg aus ihren alten Häusern. Aber hat man sie gezwungen.«

Mehmet zeigte mir zum Beweis einige Baustellen und Ruinen, in denen der Umgestaltungsprozess beziehungsweise die Zerstörung der Altstadt gerade im Gange war. Die Altstadt von Kashgar war bis dahin bekannt gewesen als »das am besten erhaltene Beispiel einer traditionell islamischen Stadt in Zentralasien«. 2009 hatte Peking mit der Zerstörung



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.