Der chinesische (Alb)Traum - Philipp Mattheis - E-Book

Der chinesische (Alb)Traum E-Book

Philipp Mattheis

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Beschreibung

Der Kampf der Supermächte

Spätestens 2030 soll China an den USA vorbeiziehen und die größte Volkswirtschaft der Welt sein. Entlang der Neuen Seidenstraße baut China überall dort seine Macht aus, wo der Westen sich zurückgezogen hat. Während die USA zwar in vielen Bereichen noch einen großen Technologie-Vorsprung haben, stehen die größten Produktionskapazitäten der Welt mittlerweile in China. Während Washington die Kontrolle über den Rohstoff des 20. Jahrhunderts, das Erdöl, hat, herrscht China über seltene Erden, die für die Energiegewinnung des 21. Jahrhunderts notwendig sind. Sogar dem Konzept des „American Dream“ hat Peking mit dem „chinesischen Traum“ etwas entgegensetzt: ein geordnetes Leben in materiellen Wohlstand - allerdings ohne Meinungsfreiheit und politische Teilhabe.

Der Journalist und langjährige China-Korrespondenten Philipp Mattheis führt uns zu den Konfliktlinien zwischen den beiden Supermächten: Nach Taiwan, Südkorea, Singapur bis in den Kongo, wo sich ein heißer Krieg entzünden könnte. Und in die Welt der Satelliten, Halbleiter und Datenströme, wo längst ein kalter Krieg im Gange ist. "Der chinesische Albtraum" stellt die Frage, ob dieser Wettstreit des 21. Jahrhunderts auch friedlich gelöst werden kann, und was die Rivalität zwischen USA und China für kleinere Länder, nicht zuletzt für Deutschland bedeutet. Denn nur wenige Staaten profitieren so enorm vom Aufstieg Chinas wie Deutschland und seine Autoindustrie. Wie sollte Deutschland sich in diesem Konflikt zwischen Ost und West positionieren?

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

»Kleinere, aber in der Summe nicht unwichtige Spieler in diesem Theater sind die Staaten des Globalen Südens, von denen die meisten eine koloniale Vergangenheit haben, die im kollektiven Bewusstsein als ›demütigend‹ eingespeichert ist.

Für viele dieser Staaten ist der ›chinesische Traum‹ attraktiv. Er verspricht wirtschaftliche Prosperität ohne Abhängigkeiten. Wie schnell daraus ein Albtraum aus Überwachung und autoritärer Herrschaft werden kann, ist weder den Eliten noch der breiten Masse in diesen Ländern bewusst. Aus Frustration gegenüber den gebrochenen Versprechen des liberalen Westens scheint der autoritäre Osten attraktiver. Das ist auch einer der Gründe, weshalb die meisten Staaten des Globalen Südens zwar die russische Invasion der Ukraine verurteilen, sich aber den Sanktionen gegen Moskau nicht anschließen wollen.«

Autor

Philipp Mattheis, geboren 1979, hat Philosophie studiert und die Deutsche Journalistenschule besucht. Seit 2011 arbeitete er als Auslandskorrespondent für verschiedene deutsche Medien, darunter den Stern, Capital und die WirtschaftsWoche. Von 2011 bis 2016 und 2019 bis 2021 lebte er in Shanghai, von 2016 bis 2019 berichtete er aus Istanbul über die Türkei und den Nahen Osten. Aktuell ist er München-Korrespondent der WirtschaftsWoche. Mattheis ist Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien Die dreckige Seidenstraße.

www.philippmattheis.com

Außerdem von Philipp Mattheis im Programm

Die dreckige Seidenstraße

Philipp Mattheis

Der chinesische (Alb)Traum

Wie aus Chinas Aufstieg die größte geopolitische Herausforderung für den Westen wurde

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Originalausgabe November 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Volker Kühn

Karten: Sabine Timmann

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

IJ ∙ CF

ISBN 978-3-641-31563-4V001

www.goldmann-verlag.de

Vorwort: Boheme und Überwachungskameras

Als ich 2011 nach Shanghai zog, verbrachte ich die ersten Monate fast jeden Tag in einer Bar namens »YY«. Ich war auf der Suche nach Kontakten, Bekanntschaften und Freunden. Das Holz dort war dunkel, die Luft dick. An den Wänden hingen Porträts von Mao Zedong und andere, halbwegs ironisch gebrochene Propaganda-Kunst aus der jüngeren Geschichte Chinas: meist Arbeiter und Soldaten, die eine rote Fahne hissten. Gleichzeitig verströmte der Ort etwas vom Flair des alten Shanghai der Zwanziger- und Dreißigerjahre, als die Stadt wegen ihrer Bordelle, Opiumhöhlen und Freizügigkeit berüchtigt war.

Während seiner besten Tage konnte man im YY die Zeit vergessen, denn der Laden schloss nie. So spülte die Stadt zu jeder möglichen und unmöglichen Tages- und Nachtzeit Menschen in die Bar und wieder hinaus. Manchmal platzte die Bar um Mitternacht aus allen Nähten, zwei Stunden später saßen nur noch zwei besoffene Franzosen darin, und um fünf Uhr tanzten auf einmal Russinnen auf den Tischen. Das YY war wie Shanghai selbst: die Versicherung, an einem Ort zu sein, an dem die Welt sich schneller drehte als irgendwo anders. Nur, wo alles in Bewegung ist, ist auch alles möglich: Großes, Unvorstellbares, Magisches.

Ich kam als freier Journalist nach Shanghai, ich hatte vage Hoffnungen und die Mischung aus Optimismus und Naivität, ohne die ein solcher Schritt niemals möglich gewesen wäre. Im YY traf ich Lazar, einen Bulgaren aus Wien, der einen bulgarischen Kung-Fu-Film als Kunstprojekt in China vermarkten wollte. Da war Jean-Baptiste, kurz JB, der sein Geld als Zauberer verdiente und im YY ganze Tische unterhielt. Jeden Abend um 19 Uhr kam Bradley, ein hagerer Amerikaner, und trank immer genau drei Jameson-Whiskeys. Oft war da Kathryn, eine Künstlerin aus Texas, die Gehirne berühmter Personen malte, manchmal Paul, der immer betrunken war, und Eddy und Linda, das vielleicht schönste Ehepaar Shanghais.

Von den großen Glasfenstern blickte man auf die Platanen der Nanchang Lu hinab, einer kleinen, vergessenen Straße in der ehemaligen Französischen Konzession. Am schönsten war es in den schwülen Sommermonaten, als die Dächer der Bäume dicht waren und die Luft zum Schneiden dick. Das Leben draußen auf der Nanchang Lu hörte nie auf. Irgendwo schlürfte immer jemand eine Nudelsuppe oder kaufte eine Packung »Double Happiness«-Zigaretten.

Drinnen schildkrötete der Besitzer Kenny zwischen den Tischen hindurch, ließ sich von seinen Gästen auf die Schulter klopfen und Joints anbieten. Er stammte aus Hongkong und hatte das YY Mitte der Neunzigerjahre eröffnet – in Shanghai war das damals schon eine Ewigkeit her. Unterhaltungen mit Kenny glichen oft dem Anhören eines Orakels. Im Winter trug Kenny schwarze Rollkragenpullover, im Sommer weiße Hüte. Seine Sätze klangen wirr zu Beginn, doch mit der Zeit erschloss sich ein komplexes, manchmal bizarres Gedankengebäude. In lichten Momenten erzählte er von der Flucht seiner Familie 1949 nach Hongkong und von der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste 1989. Das war es, was wir, die Künstler aus Texas, die Glücksritter aus Bulgarien und Bonvivants aus Frankreich, gern hörten. Kennys Geschichten gaben uns das Gefühl, Teil eines historischen Prozesses zu sein, vielleicht sogar des größten, den es je gegeben hatte: der Öffnung Chinas.

Was wir damals nicht wussten: Wir waren 2011 bereits die letzten Ausläufer der Boheme Shanghais. Es war etwa in diesen Jahren, in denen es in China begann zu kippen. Die Bohemiens, oder diejenigen, die sich dafür hielten, waren in den vielleicht freiesten Jahren, die dieses Land je kannte, nach Shanghai gekommen. Alles schien neu, alles schien möglich, alles schien auf charmante Weise wahnsinnig. Als die große Finanzkrise 2009 Tausende von Jobs vernichtete und die Chancen einer ganzen Generation im Westen trübte, war Shanghai für viele junge Amerikaner und Europäer eine der besten Optionen. Auf der anderen Flussseite, in Pudong, wurde gerade der dritte und höchste Turm der Stadt gebaut. Jede Woche eröffnete eine neue Bar, ein neues Restaurant, ein neuer Club. Das Lebensgefühl schwankte jeden Tag aufs Neue: Mal fühlte man sich am Puls der Zeit, mal am Ende der Welt.

Damals lebten in Shanghai 23 Millionen Chinesen und 150 000 Ausländer, von denen wiederum die meisten Koreaner und Japaner waren. Viele der rund 50 000 Europäer waren von großen internationalen Firmen hierhergeschickt worden, gelockt mit einem dicken Expat-Paket: eine Villa am Stadtrand, Auslandszuschlag, Fahrer, Hausangestellte. Die chinesische Wirtschaft wuchs damals um zehn Prozent im Jahr – während der Westen vor einem selbst verursachten Scherbenhaufen stand. Die Auswüchse des amerikanischen Finanzkapitalismus hatten eine ganze Generation desillusioniert.

Wer in der Statistik nicht auftauchte, sind Tausende moderner Glücksritter, jung, abenteuerlustig und auf der Suche nach Erfolg, Freiheit und sich selbst: Designer, Schriftsteller, Künstler, Musiker, freie Journalisten. Die meisten von ihnen besaßen ein Touristenvisum, das sie alle drei Monate erneuerten. Dafür genügte damals ein Flug nach Hongkong. Man gab seinen Pass gleich noch am Flughafen einer darauf spezialisierten Agentur, soff sich zwei Tage durch die Bars von Soho und holte den Pass eine Stunde vor dem Rückflug wieder am Flughafen ab.

Das Leben in Shanghai war günstig. Jede Boheme braucht ein Fundament, auf dem sie gedeihen kann, sei es wohlgelitten oder parasitär. Alte, baufällige, aber charmante Wohnungen gab es in der ehemaligen Französischen Konzession für einige Hundert Euro im Monat. Im Winter pfiff der oft beißende Wind Shanghais durch die Ritzen der 100 Jahre alten Häuser, im Sommer plagten Schimmel und Kakerlaken die Bewohner. Dafür lebte man in den besten Tagen aber auch einen ostasiatischen Traum aus vielversprechenden Begegnungen, die einem suggerierten, Glück und Reichtum, Abenteuer und Liebe seien immer nur eine Straßenecke weit entfernt.

Über Politik wurde selten gesprochen, denn die wundersamen Sitten und Eigenheiten des chinesischen Alltags absorbierten die meisten Gedanken. Und selbst wenn man sich darüber einig war, dass eine kommunistische Kaderpartei nicht die ideale Regierungsform für das 21. Jahrhundert war, so war ein anderer Gedanke viel wichtiger: Die Welt war gerade dabei zusammenzuwachsen. Diese Erkenntnis war weniger geopolitischen und sozioökonomischen Analysen geschuldet als praktischer Erfahrung: Entfernungen schrumpften, weil Flugverbindungen entstanden. Und auch wenn man sich damals die Flugtickets vielleicht nur zweimal im Jahr leisten konnte, so war es doch kaum zehn Jahre her, dass das Internet globale Kommunikation ermöglicht hatte.

Nur wenige achteten damals, Anfang 2012, auf die Ereignisse in der Stadt Chongqing, wo Bo Xilai, heißester Anwärter auf das höchste Staatsamt, innerhalb weniger Wochen entmachtet und verhaftet wurde.

Einige Monate später schloss das YY, zumindest die Bar im Erdgeschoss. Kenny hatte sich mit den Vermietern gestritten. Auch gab es Gerüchte, wonach der Polizeichef, der von Kenny monatliche »Geschenke« erhielt, die Preise erhöht hatte, die Kenny nicht zu zahlen bereit war.

Das YY zog eine Etage tiefer in den Keller. Die Einrichtung dort war noch immer stilvoll, trotzdem war die Atmosphäre nicht die alte. Wenige Monate später kam es zu einer Drogenrazzia. Ein paar ausländische Gäste wurden festgenommen, aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Das YY blieb zwar nur ein paar Tage geschlossen, doch der Imageschaden war groß. Viele der alten Gäste mieden die Bar nun. Nur noch selten landete ich selbst im YY, auch weil ich inzwischen gefunden hatte, wonach ich suchte: ein kleines, wenn auch flüchtiges Netzwerk, Kollegen und eine Aufgabe. Meist bot sich mir ein morbides Bild. Da saß Kenny, nicht nur von seiner alten Bar, sondern auch von seiner Frau getrennt, mit vier, fünf Freunden in einem sonst menschenleeren Keller, und orakelte vor sich hin.

Die Boheme trocknete nun langsam aus. Zu teuer wurde die Stadt, um für eine längere Zeit mal nichts oder alles zu probieren. Die charmant-kaputten Wohnungen wurden renoviert und möbliert. Bald kostete Shanghai zwar noch nicht so viel wie Paris, war aber schon teurer als München.

Kurze Zeit später musste die Stadt verlassen, wer keine Festanstellung bei einem Unternehmen hatte. China hatte die Visa-Regelungen verschärft. Bald hatten selbst Praktikanten Schwierigkeiten, eines zu bekommen. Der französische Zauberer kehrte in seine Heimat zurück, die amerikanische Künstlerin zog nach Leipzig, Paul starb am Alkohol, von bulgarischen Kung-Fu-Filmen weiß die Welt noch immer nichts. Die Hälfte der Gäste des YY waren weitergezogen in eine andere »In-Stadt«: New York, Berlin, Barcelona. China war noch immer angesagt, aber nicht mehr bei Künstlern und Bohemiens, sondern bei Autokonzernen, Unternehmensberatern und Digitalisierungsspezialisten. In dieser Zwischenphase von 2012 bis 2016 verbrachte ich die meiste Zeit in Shanghai. Ich war inzwischen als Korrespondent eines deutschen Wirtschaftsmagazins mit einem Journalistenvisum ausgestattet. Die Zeit der Öffnung war noch zu spüren, und sie nährte die Gegenwart. Es war doch immer besser geworden, erzählten die, die schon seit 20 oder 30 Jahren im Land lebten. Zwei Schritte vorwärts, einer zurück. Die neue Zeit, die der Kontrolle und aggressiven Außenpolitik, hatte noch nicht begonnen. Shanghai lebte von seinem Ruf und hatte genug davon auf Lager.

Anfang 2012, als sich die Boheme Shanghais im YY traf, war der Untergang der Sowjetunion schon Geschichte und gefühlt weit weg. »Globalisierung« war zwar ein geflügeltes Wort, der Begriff »unipolare Weltordnung« allerdings noch nicht in Mode. Sie alle aber wussten und spürten, dass die Welt zusammenwuchs. Ein Flugticket Frankfurt–Shanghai war für 500 Euro zu haben, wenn man etwas Glück und nichts dagegen hatte, mit Aeroflot über Moskau zu fliegen. Nahezu wöchentlich öffneten im Umkreis von Shanghai Unternehmen aus Deutschland, Frankreich, Italien und den USA eine Zweigstelle. Wer als Ausländer halbwegs Mandarin sprach, war selten länger als zwei Wochen auf der Suche nach einem Job. Ob es wirklich stimmte, dass chinesische Unternehmen gegen ein stattliches Gehalt Westler fürs Nichtstun anheuerten, nur um der Firma internationales Flair einzuhauchen, konnte ich nie herausfinden. Geschichten über solche Engagements kursierten aber ständig.

Aus heutiger Sicht erscheint es unwirklich, dass das Ende des Kalten Krieges und damit auch der multipolaren Welt, in der sich zwei Supermächte gegenübergestanden hatten, »erst« 22 Jahre her waren. In China wirkten die Ereignisse vom 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens noch nach, aber die Kommunistische Partei Chinas gab sich alle Mühe, die Erinnerungen daran auszulöschen und nach vorn zu blicken. Es funktionierte scheinbar.

Das definitive Ende der sorglosen Zeit kam mit der Covid-Politik 2021. Wer einmal eine »Quarantäne-Einrichtung« für Tausende von Menschen von innen gesehen hatte, war traumatisiert für Monate. Im Frühjahr 2022 begann der Lockdown in Shanghai. Zunächst sollte er nur wenige Tage gelten, aber daraus wurden drei Monate. Ich hatte China Ende 2020 verlassen, auch weil ich befürchtet hatte, dass ein halb totalitärer Staat früher oder später so auf ein Virus reagieren würde.

In diesen Jahren kippte auch im Westen das Verhältnis zu China, in erster Linie davon handelt dieses Buch. China war lange verklärt worden. In den Jahren von 2012 bis 2018 waren die deutsche Wirtschaft und Politik vor allem damit beschäftigt, die Verhältnisse im Land zu beschönigen. Dabei wiesen Journalisten auch damals schon auf die Menschenrechtsverletzungen an der uigurischen und tibetischen Minderheit hin, ebenso auf den immer autoritärer werdenden Kurs unter Xi Jinping. Doch das änderte nichts. Die Abhängigkeit vor allem der deutschen Wirtschaft vom chinesischen Markt nahm immer weiter zu.

Heute, im Frühjahr 2024, scheint das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen: China-Kritik ist en vogue. Besonders innerhalb der Regierungspartei der Grünen gibt es zahlreiche Stimmen, die eine noch stärkere Entkopplung vom chinesischen Markt wünschen. »De-Risking« und »De-Coupling« sind Begriffe, die in den vergangenen Jahren Eingang in das ökonomische Mainstream-Vokabular gefunden haben. Während »De-Risking« das Suchen nach strategischen Alternativen zum chinesischen Markt bezeichnet, will das »De-Coupling« eine radikale Abkehr von der Volksrepublik.

Auch die Stimmung innerhalb Chinas gegenüber dem Westen hat sich gedreht. Selbstkritische Stimmen sind verstummt oder mundtot gemacht worden. Mein Vermieter in Shanghai, ein junger Chinese, der mehrere Jahre in Berlin studiert hatte, schickte mir Ende 2019, als ich gerade nach China zurückgekehrt war, ungefragt Videoaufnahmen, die die Brutalität der Demonstranten in Hongkong belegen sollten. Ich dachte mir, vielleicht in einem Anflug westlicher Hybris: Jemand, der lange Zeit im freien Westen gelebt hat, müsse doch immuner gegen solche Propaganda sein.

Vieles in diesem Buch dreht sich um die vermeintlich ganz großen Dinge: um Geopolitik und den Wettkampf der Supermächte, um Energie und Rohstoffe, um strategische Expansion. Die Zusammenhänge zu verstehen, ist wichtig, um nicht in der Hektik der Tagespolitik und nach Klicks heischenden Schlagzeilen das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.

Am Ende aber dreht es sich auch immer wieder um Menschen, die von diesen Entwicklungen betroffen sind. In Kriegen und Konflikten versuchen Regierungen stets, ihre Bürger davon zu überzeugen, sich für das große Ganze zu opfern: die Nation, die Freiheit, die Zukunft. Auf der richtigen Seite zu stehen, erscheint mit einem Mal überaus wichtig, und der Zweck scheint alle Mittel zu heiligen.

Dem entgegenwirken können nur persönliche Erfahrungen, Begegnungen und Empathie. Deswegen versuche ich in diesem Buch, wann immer es mir möglich war, die großen Zusammenhänge und geopolitischen Entwicklungen anhand einzelner Menschen zu erzählen. Viele von ihnen haben sich nie für Politik oder Wirtschaft interessiert – trotzdem wirken die großen Veränderungen auf ihr Leben.

1. Zeit der Hoffnung

»Der Westen ist drei Täuschungen aufgesessen.«

Wu’er Kaix, Studentenführer während der Tiananmen-Proteste

Der deutsche Geschäftsmann auf Durchreise in Taiwans Hauptstadt Taipeh rauft sich die Haare. »Man muss etwas gegen dieses China-Bashing unternehmen«, sagt er. »Es kann doch nicht sein, dass man nun das ganze Land heruntermacht, ohne auch die Vorteile zu sehen!«

Mehr als 30 Jahre hat er in China verbracht. Er kam 1989, machte ein Praktikum bei einem chinesischen Motorenhersteller in Ningbo, schloss Aufträge für einen großen deutschen Autobauer ab, übernahm die Geschäftsführung eines Mittelständlers, kaufte Anteile und verkaufte sie für das Zwanzigfache. Eigentlich hat er ausgesorgt. Ende 2019 war er bereits mit seiner Frau nach Mauritius gezogen, wo er einen Alterswohnsitz gekauft hatte. Vor einem Jahr aber rief ihn ein alter Freund und Geschäftspartner an, ob er nicht Lust hätte, einen Betrieb in Tianjin aufzubauen: einen Zulieferer für Chinas boomende Flugzeugindustrie. »Ich konnte nicht einfach Nein sagen. Und jetzt wohne ich wieder in China und baue noch ein Unternehmen auf«, sagt er. Gerade erst sei er von einem Treffen mit dem Airbus-CEO in Tianjin zurückgekommen. »Der ist auch vom Bodensee wie ich«, sagt er. »Wir haben erst mal zwei Stunden geschwätzt. Das Vertragliche haben wir dann innerhalb von fünf Minuten beim Abendessen geklärt.«

Der Manager, Anfang 60, gehört zur Pioniergeneration jener Westler, die mit dem Aufstieg Chinas nur Positives verbinden. Der Öffnung des größten Marktes der Welt verdanken sie Karriere, Wohlstand und Ansehen. Sie haben hautnah miterlebt, wie Hunderte Millionen von Menschen langsam der Armut entkamen – und sie konnten sogar mithelfen, indem sie Fabriken in China bauten. Werke, in denen deutsche Sicherheitsstandards galten, in denen zwar nicht deutsche, aber doch vergleichsweise hohe Löhne gezahlt wurden und in denen es mehr Urlaubstage gab als bei chinesischen Unternehmen. Sie haben Karrieren ermöglicht und gefördert und zur Völkerverständigung beigetragen. Ihr Leben spielte sich zwischen Werkshallen, Abendessen mit chinesischen Funktionären und Veranstaltungen der Auslandskammer ab. Jedes Jahr schien besser zu werden als das vorangegangene: Mehr Ausländer kamen nach China, die Unternehmen fuhren noch mehr Gewinne ein, und China wurde noch etwas moderner. Manchmal sogar freier.

Heute allerdings sehen diese Pioniere ihre Lebensleistung davonschwimmen. Die Debatte um China ist geprägt von Begriffen wie De-Risking, De-Coupling, multipolare Weltordnung und Kalter Krieg 2.0. Manchmal ist gar vom Dritten Weltkrieg die Rede. 2025 rechne er mit einem handfesten Krieg zwischen den USA und China, erklärte Miki Minihan, Vier-Sterne-General der US Airforce, Anfang 2023.1 Wirtschaftlich und ideologisch tragen die beiden Mächte ihren Konflikt längst aus. Im Oktober 2022 verhängte die US-Regierung unter Joe Biden ein Chip-Embargo. Damit soll die zweitgrößte Volkswirtschaft von modernster Technologie abgeschnitten werden. Seit der russischen Invasion in der Ukraine denken auch in Deutschland viele kritisch über die intensiven Geschäfte mit dem Regime in Peking nach. Ist man von China nicht noch abhängiger, als man es von der russischen Energie war? Einen »Diktator« nannte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock den chinesischen Präsidenten Xi Jinping im September 2023 – sehr zur Empörung der chinesischen Führung.2

Gleichzeitig ist Taiwan ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Das vermeintlich »freie China« werde bedroht vom übermächtigen Nachbarn, dem dunklen Festland – so sehen es viele in den westlichen Hauptstädten 2023.

»Was die Leute in Deutschland nicht verstehen, ist doch, dass die allermeisten Chinesen ihrer Partei einfach dankbar sind. Sie hat sie aus der Armut geführt«, erklärt mir der deutsche Geschäftsführer in Taiwan. Die Schuld für Chinas schlechtes Image gibt er in den folgenden Minuten mal der Presse, die ein viel zu negatives Bild des Landes zeichne, mal den Politikern, die nichts von Wirtschaft und erst recht nichts von China verstünden. Immer wieder klingt er verzweifelt. »Und jetzt sind wir doch auf einem falschen Weg, wenn wir die Konfrontation mit China suchen.«

Ob der deutsche Geschäftsmann recht hat mit seiner Behauptung, dass die allermeisten Chinesen der Partei dankbar sind, lässt sich nicht überprüfen. Wie auch? Verlässliche Umfragen gibt es in China nicht, und selbst wenn sie es gäbe: Wie frei äußern sich Menschen im paranoiden Klima eines mit Überwachungskameras gespickten Landes? Einem Land, in dem Dissidenten ebenso einfach für Monate verschwinden wie Geschäftsmänner mit zu großem Erfolg und Minister mit fragwürdigem Privatleben? Einem Staat, der in den vergangenen Jahren ein hypermodernes Überwachungssystem für Millionen Menschen geschaffen hat, deren Pech es ist, nicht dem Mehrheitsvolk der Han-Chinesen anzugehören, sondern den Minderheiten der Tibeter oder Uiguren? Ein Regime, das jedes Jahr mehr für Rüstung ausgibt und das der demokratischen Insel Taiwan, die es als abtrünnige Provinz betrachtet, ganz offen mit einer militärischen Invasion droht?

Vor allem aber ist da die Frage, wie es dazu kommen konnte. Wann wurde aus dem chinesischen Traum, den Xi Jinping 2014 noch propagierte, eine Bedrohung für die internationale Ordnung? Den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, ist schwierig. War es US-Präsident Donald Trump, der 2018 gegen die unfairen Handelspraktiken vorging, an denen sich der Westen jahrelang nicht gestört hatte? Oder kam die Wende mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong 2019? Waren es die rigorosen Lockdowns 2021, die Unternehmen ihre Abhängigkeit von China bewusst machten? Oder kam die Wende erst im Februar 2022, als Russlands Angriff auf die Ukraine im Westen die Sorge nährte, China könne genauso mit Taiwan verfahren?

Und welchen Anteil haben der Westen und insbesondere die USA selbst daran, dass aus dem chinesischen Traum ein Albtraum wurde? Hätten sie Konflikte vermeiden müssen, statt die Konfrontation zu suchen?

Ein Teil der Antwort liegt einige Jahre und Kilometer vom Taiwan im Jahr 2023 entfernt in der chinesischen Stadt Chengdu. Sie ist eine der zahlreichen Metropolen im Inneren Chinas, von denen die meisten im Westen nie gehört haben. Knapp 20 Millionen Menschen leben hier. Chengdu ist die Hauptstadt der Provinz Sichuan, einer geografisch durch Berge abgeschlossenen Region, die sich eng an das tibetische Hochplateau schmiegt. Anfang der 2010er-Jahre war der Aufschwung Chinas von den Küstenstädten Shanghai und Shenzhen langsam ins Inland geschwappt. Hier traf ich im Frühjahr 2012 drei Familien aus der »neuen Mittelschicht«.

Wentao Wang, damals 34, hält ihre acht Monate alte Tochter auf dem Arm, als sie von ihrem Leben erzählt. Wie in China üblich hatten ihre Eltern und die ihres Mannes ihr Erspartes zusammengelegt und dem Paar eine Eigentumswohnung im 15. Stock eines Hochhauses gekauft. Das Wohnzimmer ist stilvoll in erdfarbenen Tönen gehalten. Das Zentrum des Raumes bildet wie in den meisten Ländern der Erde ein Flachbildfernseher. Neben dem Balkon befindet sich ein kleines Arbeitszimmer mit zwei Computern. Ihr Mann, ein Flugzeugingenieur, brät in der Küche Djiaozi, eine Art chinesische Ravioli, während Wentao erzählt. Die Lehrerin verdient etwa 4500 Renminbi im Monat, ihr Mann das Doppelte. Umgerechnet verfügen sie damit über ein Haushaltseinkommen von fast 2000 Euro im Monat. Nicht viel, aber auch nicht wenig in einem Land, in dem ein Restaurantbesuch damals selten mehr als zehn Euro kostet. Die Familie ist mit allem ausgestattet, was zu einer Mittelschichtsexistenz gehört: Waschmaschine, Computer, Geschirrspüler. »Als ich 1994 aus der Provinz in die Stadt kam, gab es noch kaum Hochhäuser und Autos. Die meisten Leute fuhren Fahrrad«, erinnert Wentao sich. »Was ich noch gern hätte? Eine Kamera, um mehr Bilder von meiner Tochter zu machen«, sagt sie. »Und in den Urlaub würde ich gern fahren, nach Europa oder Thailand.« Dann klingelt ihr iPhone, und sie verabredet sich mit einer Freundin zum Mittagessen.

Im Kommunistischen Manifest aus dem Jahr 1848 heißt es: »Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.« Von einer Mittelschicht ist bei Marx keine Rede, weshalb manche in ihr eine »historische Anomalie« erkennen. Schließlich waren die meisten Menschen, die je auf der Erde gelebt haben, arm. So diagnostiziert Marx den Klassenkampf, den Konflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen den Besitzern und Sklaven, zwischen Arm und Reich, an dessen Ende die klassenlose Gesellschaft stehe.

Doch in den industrialisierten Staaten der westlichen Welt kam es anders, und auch im China vor Xi Jinpings Machtantritt schien es anders zu kommen. Die Löhne stiegen, die arbeitende Bevölkerung wurde nicht ärmer, sondern reicher. 2011 waren die Löhne im Schnitt um 20 Prozent gestiegen. Menschen wie Wentao Wang, die 1990 von einem Kühlschrank träumten, besaßen 2012 Waschmaschinen, Smartphones und Autos. In China war eine Schicht von Menschen entstanden, die im Jahr zwischen 2000 und 5000 Dollar verdienen. Das war nach westlichen Maßstäben immer noch wenig, in China aber ermöglichte es ein Leben, wo früher nur Überleben möglich war. Zwischen 230 und 250 Millionen Menschen zählten nach dieser Definition damals schon zur neuen chinesischen Mittelschicht. Das weckte vor allem bei westlichen Unternehmen gewaltige Fantasien. Man extrapolierte, überschlug und rechnete: Spätestens 2025 werde die neue Mitte nochmals auf mindestens das Doppelte wachsen – 500 Millionen Menschen mit einem mittleren Einkommen und hohem Bildungsstandard, die in Städten leben würden – prognostizierte die Unternehmensberatung McKinsey 2006.3 Denn das war der zweite große Trend in China: die Urbanisierung. 2011 lebten in China zum ersten Mal mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Heute ist es die überwiegende Mehrheit, rund 900 Millionen.

Und drittens würde diese neue Mittelschicht vor allem im noch nicht so hoch entwickelten Binnenland Chinas entstehen. Die Zeiten, in denen China die Werkbank der Welt war, als Wanderarbeiter in stickigen Fabriken zu Hungerlöhnen Kugelschreiber zusammenschraubten und T-Shirts nähten, waren 2012 noch nicht vollkommen vorüber, doch sie näherten sich dem Ende. Die Regierung beschloss damals im zwölften Fünfjahresplan, der ein Konzept für die wirtschaftliche Entwicklung darstellte, die investitionsgetriebene Exportwirtschaft zu einem technologisierten Binnenmarkt umzubauen: weg von der billigen Produktion für die Welt, hin zu mehr Konsum. Das war ein Problem für Firmen, die auf billige Arbeitskräfte angewiesen waren – aber eine gewaltige Chance für all die westlichen Unternehmen, die ihre Produkte verkaufen konnten. Und zu letzteren zählten vor allem deutsche Autobauer, französische Luxusartikelhersteller und japanische Unterhaltungselektronikproduzenten.

Die Fastfood-Kette KFC hatte 2012 gefühlt an jeder dritten Kreuzung in Shanghai eine Filiale eröffnet. In jeder Provinzhauptstadt leuchteten in bester Lage die Blingbling-Marken Gucci und Louis Vuitton. Und natürlich richteten sich deutsche Autobauer seit Jahren an wohlhabendere Chinesen. »Die stetig wachsende Mittelschicht in China bedeutet eine weiter steigende Nachfrage nach Mobilität, verbunden mit dem Wunsch nach einem eigenen Auto«, hieß es damals aus der VW-Zentrale in Peking. »China ist bereits der größte Automobilmarkt für den Volkswagen-Konzern.« Mit über 50 000 Mitarbeitern zählte VW zu den größten internationalen Unternehmen des Landes. 2011 hatte der Konzern eine Produktion in Chengdu eröffnet. Kurz darauf gab das Unternehmen bekannt, ein Werk in Urumuqi, in der westlichsten chinesischen Provinz Xinjiang, errichten zu wollen. Von der Diskriminierung der muslimischen Volksgruppe der Uiguren muss die Konzernleitung damals schon gewusst haben, das horrende Lagersystem, in dem später Millionen von Menschen gefoltert, gequält und gehirngewaschen wurden, gab es aber noch nicht. Als Berichte über die Lager an die Öffentlichkeit kamen, leugnete Peking deren Existenz zunächst. Später sprach man euphemistisch von »Ausbildungszentren«.

Volkswagen aber störte auch die systematische Diskriminierung damals nicht: Es regierten das Prinzip Hoffnung und ein ans Naive grenzender Optimismus: Langsam, aber sicher werde sich in China alles zum Besseren wandeln. Die neue Mittelschicht schien all das zu bestätigen und zu rechtfertigen.

Denn auch Politiker, Staatstheoretiker und Soziologen waren der Meinung, mit der gut verdienenden neuen Schicht werde der Druck auf die Machthaber in Peking steigen. Denn eine Mittelschicht wirke mäßigend. Radikale Politik sei mit Familien nicht zu machen. Die Bedürfnisse würden sich verschieben und gemäß der Masslow-Pyramide auf die Gesellschaft ausstrahlen. Diesem sozialpsychologischen Modell zufolge treten mit wachsendem Wohlstand nicht materielle Wünsche in den Vordergrund: erst der Kühlschrank, dann Bildung und Freiheit. War dies nicht der Weg gewesen, den Europa nach zwei Weltkriegen genommen hatte? Aus Gesellschaften, die von radikalen Bewegungen wie Kommunismus und Faschismus geprägt waren, wurden gemäßigte Sozialdemokratien, die um Solidarität und Ausgleich bemüht waren. Etwas später – und mit noch weiter gestiegenem Wohlstand – kamen dann Forderungen nach Umweltschutz und Lebensmittelsicherheit hinzu, die sich in der Bewegung der Grünen ausdrückten. Und warum sollte China nicht auch diesen Weg gehen? Westliche Produkte mit ihrem Lifestyle-Appeal würden dabei nur helfen und nebenbei die Bilanzen deutscher Unternehmen dicker werden lassen.

Genau diese Entwicklung schien sich in China 2012 live und im Zeitraffer beobachten zu lassen. Bittere Armut war den meisten Chinesen noch eindrücklich bekannt. Jetzt aber waren viele zu einem bescheidenen Wohlstand gekommen, und andere Bedürfnisse schienen wichtiger zu werden: In der kleinen Wohnung der Familie Liu in Chengdu leben drei Generationen unter einem Dach. Der Großvater, 83, war Soldat der Volksarmee, bevor er in einem staatlichen Stahlwerk Arbeit fand. Seine Sicht der Vergangenheit ist noch parteikonform. »Mein Leben besserte sich nach 1949«, sagt er mit klarer Stimme. »Endlich hatten wir genug zu essen. Anfang der Achtzigerjahre wurde es nochmals besser.« Das war die Zeit, in der die ersten marktwirtschaftlichen Reformen unter Deng Xiaoping zu greifen begannen und China sich der Welt öffnete.

Sein Enkel Chris ist 13 Jahre alt. Hunger kennt er anders als sein Vater und Großvater schon nicht mehr. Er musste nie »Bitterkeit essen«, wie es die Chinesen nennen. Wochenlang hat er seinen Vater bearbeitet und ihm immer wieder erklärt, warum er unbedingt ein iPad brauche. Schließlich gab der Vater seinen Widerstand auf. Gerade hat Chris zwar kein eigenes, aber immerhin ein Familien-iPad, auf dem er täglich auf Weibo surft. Der Kurznachrichtendienst ist eine Art Mischung aus Facebook und Twitter. Zensur gibt es auch 2012 in China schon, ist aber noch nicht ganz ausgefeilt. Erst zwei Jahre zuvor hat der amerikanische Konzern Google China verlassen. Bis dahin hatte auch das Silicon Valley China als Chance gesehen.

»Ausländische Firmen haben riesige Chancen, wenn sie sich richtig positionieren«, erzählt mir wenig später Edvard Tse in Shanghai, damals CEO von Booz, einer Unternehmensberatung, die ausländischen Firmen half, im chinesischen Markt Fuß zu fassen. Der gebürtige Hongkong-Chinese hat in den USA studiert und bewegt sich mühelos zwischen beiden Kulturen, wie so viele High Performer der chinesischen Businesswelt. »Diese Entwicklung wird China von Grund auf verändern«, prophezeit er. »Mit steigenden Einkommen werden mehr Chinesen ins Ausland reisen und ihre Kinder auf ausländische Schulen und Universitäten schicken. Sie werden mehr in Kontakt mit anderen Ideen kommen und so aufgeschlossener werden.« Die meisten der 300 Millionen Weibo-User sind 2012 jung, gebildet und Teil der neuen Mittelschicht. »Sie üben Druck auf die Regierung aus mit ihren Bedürfnissen und ihrer Art des Protests.«

Ein sanfter, unpolitischer Protest. Familien mit mittleren Einkommen haben einen stabilisierenden Einfluss auf Gesellschaften. Der Familienvater, der sich gerade ein iPad geleistet hat und jeden Monat Geld für die Ausbildung seines Sohnes spart, geht nicht auf die Straße und wirft Brandsätze. »Diese Menschen wollen Veränderung, aber mit ihnen ist mit Sicherheit keine Revolution zu machen«, sagt Unternehmensberater Tse. »Deshalb irren die Experten, die glauben, in China könnte es zu etwas Ähnlichem wie dem Arabischen Frühling kommen. Eine Revolution wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden.« Stattdessen werde es zu sanften Veränderungen kommen. Vielleicht demokratisiere sich die Partei von innen heraus, mutmaßt er, vielleicht gebe es in ein paar Jahren nicht mehr nur einen Kandidaten für bestimmte Ämter. Auf jeden Fall entwickle sich China zu einem großen, höchst ausdifferenzierten und anspruchsvollen Markt, der sowohl für das Land selbst als auch für das Ausland ein wichtiger Wachstumsmotor sein werde.

Risse im Weltbild der ausländischen Unternehmen und Berater gab es auch Anfang der 2010er-Jahre. Aber sie waren so klein, dass man sie als Kuriositäten abtun konnte. Beispielhaft dafür steht der deutsche Hersteller Bosch Siemens Haushaltsgeräte. Er war seit den Neunzigern auf dem Markt aktiv und hatte früh die neue Mittelschicht als Konsumenten wahrgenommen. Zwölf Prozent Marktanteil hatte die Firma 2012 im Bereich Kühlschränke. Der Kundenservice erstreckte sich auch auf entlegene Bergregionen in Yunnan. Es gab Vertriebsniederlassungen in den großen Städten Zentralchinas wie Chengdu und Chongqing, aber auch in Xinjiang im äußersten Westen des Landes. Roland Gerke, der China-Chef des Unternehmens, begleitete den Kundendienst regelmäßig, um sich ein Bild von den Familien zu machen, in deren Wohnungen ein Kühlschrank des deutschen Herstellers stand.

Den Zorn chinesischer Konsumenten, angestachelt von der Regierung, bekam die Firma Bosch Siemens 2011 trotzdem zu spüren. Der Blogger Luo Yanghoa hatte sich über die schlecht schließende Tür seines Siemens-Kühlschranks beschwert. Auch wenn das Problem wohl eher auf zu rabiates Türschließen seitens der Besitzer zurückzuführen war, fand der Blogger schnell Gleichgesinnte. Für die deutsche Firma entwickelte sich daraus ein Shitstorm, der damit endete, dass der Blogger vor die Konzernzentrale in Peking zog, dort einen Kühlschrank zertrümmerte und China-Chef Roland Gerke sich per Videobotschaft entschuldigen musste.

Bei der zierlichen Bing Luomei ist ein solches Verhalten schwer vorstellbar. »Materielle Wünsche habe ich momentan keine. Ich bin zufrieden, wie es ist«, sagt Bing. »Wir haben ja alles, was wir brauchen: Computer, Mikrowelle, iPad, ein Auto.« Sie lebt mit ihrem zwölfjährigen Sohn, ihrem Mann und ihren Eltern in einer Vierzimmerwohnung. »Meine Großmutter war noch eine ›Kurzfüßlerin‹«, erzählt sie. So nennt man Frauen, denen man im Kaiserreich die Füße gebunden und verstümmelt hatte – eine grausame Mode, beruhend auf einem Schönheitsideal, das sich über Jahrhunderte hielt. Ihr Vater war Soldat und arbeitete in den 1990er-Jahren in einem Stahlunternehmen. Die 43-Jährige hat 2012 gerade ihr eigenes Unternehmen gegründet, eine kleine Online-Firma, die mit Metallprodukten handelt. Jack Ma hatte mit seinem Unternehmen Alibaba um das Jahr 2010 ein E-Commerce-Fieber in China ausgelöst. Plötzlich begannen Hunderte Millionen von Chinesen online Produkte zu kaufen und zu verkaufen.

Sorgen bereiten Bing eher immaterielle Dinge: die grassierende Umweltverschmutzung etwa, außerdem die Lebensmittelskandale, von denen immer wieder die Rede war. »Früher, Anfang der Neunziger, gab es in Chengdu nicht so viele Hochhäuser, dafür war das Leben entspannter, der Verkehr nicht so stark, die Luft besser«, erzählt sie. Auch die hohe Lernbelastung ihres Sohnes sei ein Problem. Trotzdem zahlen sie 70 000 Renminbi, rund 9000 Euro, im Jahr für Chris’ Privatschule, auf der zum Beispiel englische Muttersprachler unterrichten. Vor Kurzem hat sich Bing zum Christentum bekehrt, da sie moralische Werte zunehmend vermisst hat.

Kurz bevor ich diese Menschen im Frühjahr 2012 interviewte, kam es in China zu einem Ereignis, über das damals kaum einer sprach. Die Chinesen mieden das Thema vermutlich aus Furcht, viele ausländische Experten dürften die Vorgänge ignoriert haben, weil sie sich nicht in das Bild eines sich öffnenden Landes mit prosperierender Wirtschaft einfügten. Nur in den Politikteilen westlicher Tageszeitungen fand die Geschichte statt, wenn auch mit geringer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, was an den vielen unbekannten chinesischen Namen gelegen haben könnte.

Die Geschichte spielte wenige Hundert Kilometer von Chengdu entfernt in Chongqing, das mit 40 Millionen Einwohnern als größte Stadt der Welt gilt (wobei im tatsächlichen Stadtgebiet etwas weniger Menschen leben). Dort hatte sich Bo Xilai, Parteichef der regierungsunmittelbaren Metropole, als brutaler Verbrechensbekämpfer einen Ruf erworben. Als Sohn eines Revolutionärs der ersten Stunde galt er als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Staatspräsident Hu Jintao. Seine Politik kam im Volk gut an, da er die maoistische Vergangenheit beschwor und sich für soziale Gleichheit aussprach. Dann allerdings wurde im November 2011 ein Geschäftsmann namens Neil Heywood in seinem Hotelzimmer tot aufgefunden. Der Brite hatte geschäftlich mit Bo Xilais Frau zu tun gehabt. Was von November 2011 bis März 2012 geschah, ist bis heute unklar. Die Ereignisse aber kamen ins Rollen, als die rechte Hand von Bo Xilai, sein Polizeichef, ins US



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