In Dingenskirchen - Philipp Mattheis - E-Book

In Dingenskirchen E-Book

Philipp Mattheis

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Als ich zum ersten Mal im Fernsehen eine lila Kuh sah, wunderte ich mich. Im Gegensatz zu Stadtkindern, die so ein Tier noch nie gesehen hatte, wusste ich wohl, dass Kühe weiß-braun und nicht weiß-lila sind. Früh war mir klar: Milch kommt von der Kuh, und erst nachdem sie in der Kuh war, landet sie im Supermarkt. Stadtkinder, die anderer Meinung waren, lachte ich aus. Am Nachmittag trafen wir uns auf einer Wiese. Wir versteckten uns in Sträuchern, kletterten auf Bäume und robbten durch das noch hohe Gras. Samstagvormittag wuschen die Väter ihr Auto, am Nachmittag mähten sie den Rasen. Nie wäre einer von uns kleinen Dingenskirchnern auf den Gedanken gekommen, das Dorf könnte eines Tages zu klein, zu miefig, zu uncool werden. Jedes Kind sollte wissen, wie eine grüne Haselnuss schmeckt und wie sich Moos unter nackten Füßen anfühlt. Eine Kindheit auf dem Land ist so gut wie ein Haus am Meer. Danke, Mama, danke, Papa, dafür. Doch eines Tages hörte ich auf, grüne Haselnüsse zu essen. Das ganze Schlamassel begann.» Mit viel Witz erzählt Philipp Mattheis von seiner Jugend in Dingenskirchen, vom aussichtslosen Flirten mit der Dorfschönheit, von Randale an der Bushaltestelle, Saufgelagen hinter der Scheune und von der Sehnsucht nach der großen, weiten Welt – pointiert, sarkastisch und manchmal auch ein bisschen wehmütig.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2011

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Philipp Mattheis

In Dingenskirchen

Geschichten vom Arsch der Welt

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

«Die unbekannten Partien ...PrologDer VogelkäfigVogel süß-sauerDie blaue MatteWarten auf LukiWe will rock PfarrheimpartyDer Mann aus den AchtzigernAls die Matte abhobEndstation ÖzcanFink geht in den WaldBob Marley im Bimskofener ForstLeberkäse und DorfschlampenDas Weißbier- und ColafestKann er so arbeiten?Schlafende Kühe weckt man nichtBombes VersprechungenEin Marterl mehrDer GiftlerErnte 23 und BlutwurstMexiko, rückwärts eingeparktSonntagsfahrerOut of NowhereEPILOGFinkDer Gritschneder Marcel aka «La Bombe»JürgenVreniDer Kreithmayer SchorschDer Gerlinger SeppIngridÖzcanIch
[zur Inhaltsübersicht]

«Die unbekannten Partien sind vorerst vor allem eines: große Versprechungen.»

München – Geheimnisse einer Stadt. (Michael Althen, Dominik Graf)

[zur Inhaltsübersicht]

Prolog

Ich weiß, wie eine grüne Haselnuss schmeckt. Sie ist weicher und feuchter als eine reife Nuss. Kaut man auf ihr herum, entwickelt sich langsam ein Aroma, das an Seife erinnert. Eine unreife Haselnuss schmeckt nicht gut, aber sie ist auf der Skala der in Deutschland wild wachsenden Pflanzen noch im Bereich des Essbaren. Ich habe viele grüne Haselnüsse gegessen. Die Sträucher wuchsen an einer Hecke hinter unserem Haus. Wir Kinder pflückten schon im September die kleinen Nüsse, öffneten sie mit einem Stein und mampften, bis uns schlecht wurde.

Wir aßen einige Pflanzen, die gemeinhin nicht gerade als genießbar gelten: Kleeblätter zum Beispiel, Gänseblümchen (wobei die Stiele an Karotten erinnern und es ja heute eine ganze Menge Salate mit Gänseblümchen geben soll) und ein gezacktes grünes Kraut, dessen Name ich nicht kenne. Wir aßen Sauerampfer und saugten die kleinen weißen Blüten der Taubnessel aus, die mit ein bisschen Phantasie nach Honig schmecken. Im Sommer verliefen wir uns in Maisfeldern, schälten die jungen Kolben aus den papierartigen Blättern und aßen sie, obwohl sie nicht schmeckten. Manchmal schnitten wir uns an den scharfen Kanten der Blätter die Unterarme auf, aber das störte uns nicht. Wir rannten durch Wiesen, wo uns der Löwenzahn bis an die Knie reichte. Wir pflückten die dottergelben Blumen und überreichten den Strauß stolz unserer Mutter. Die freute sich gerührt und verbarg ihre Sorge darüber, dass wir Kinder unsere Hosen schon wieder mit Löwenzahnsaft versaut hatten.

Ich weiß, welches Holz sich am besten dafür eignet, einen Bogen zu basteln, Eibe nämlich, und dass es Eiben gar nicht so oft gibt. Einen Kilometer hinter dem Haus meiner Eltern begann der Wald. Wir bauten Baumhäuser aus herumliegenden Ästen, die sich stets als instabiler als gedacht erwiesen. Und liefen davon, wenn wir glaubten: Dahinten kommt der Förster. Die feinen, toten Äste auf dem mit Tannennadeln übersäten Waldboden knacksten unter unseren Schritten.

Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn nackte Füße auf Moos treten. Es kitzelt ein wenig, aber davon einmal abgesehen, ist Moos die perfekte Gehunterlage für einen Menschenfuß.

Als ich zum ersten Mal im Fernsehen eine lila Kuh sah, wunderte ich mich. Im Gegensatz zu Stadtkindern, die so ein Tier noch nie gesehen hatten, wusste ich wohl, dass Kühe weiß-braun und nicht weiß-lila sind. Mein Vater schickte mich abends zum Bauernhof am Ende der Straße. Früh war mir klar: Milch kommt von der Kuh, und erst nachdem sie in der Kuh war, landet sie im Supermarkt. Stadtkinder, die anderer Meinung waren, lachte ich aus.

Mein Schulweg führte mich an einer großen Wiese vorbei, die immer frisch geodelt, also mit Kuhscheiße besprenkelt war. Da der Weg über die Wiese aber viel kürzer war, als über die Teerstraßen außen herum zu laufen, nahm ich den direkten Weg. Als ich im Klassenzimmer ankam, rümpfte meine Klassenlehrerin Frau Holder die Nase, aber mehr auch nicht, denn irgendjemand von uns 30 Kindern stank immer nach Kuhscheiße.

Am Nachmittag, nach Erledigung der Hausaufgaben, trafen wir uns auf einer anderen, im besten Fall nichtgeodelten, Wiese und bewaffneten uns mit Holzstöcken, von denen der eine entfernt an ein Schwert erinnerte, der andere mit etwas Phantasie ein Gewehr hätte sein können, und spielten. Wir versteckten uns in Sträuchern, kletterten auf Bäume und robbten durch das noch hohe Gras. Im Spätsommer mähte der Bauer die Wiese. Zurück blieben kleine Grasstoppeln, die schmerzten, wenn man barfuß auf ihnen lief, aber auch Berge von Gras, die wir in die Höhe warfen oder unter denen wir uns versteckten. Unser Herrschaftsbereich war riesig: Dingenskirchen ist ein Straßendorf, das heißt, es erstreckt sich über fast drei Kilometer an einer ehemaligen Bundesstraße entlang, ist aber bei weitem nicht so breit. Überall zwischen den Doppelhaushälften, Reihenhäusern und alten Bauernhöfen lagen kleine und größere Wiesen. An manchen Straßenecken gab es Misthaufen, die, mit Kinderaugen gesehen, so groß waren wie die Pyramiden von Gizeh. Aus den Ställen ertönten stetig gewaltige, lethargische Muhrufe. Sie kamen tief aus den Leibern großer, mächtiger, aber sehr sanfter Tiere. Katzen strichen im Sommer über den warmen Teer, Schäferhunde bellten hinter Gartentoren. Von März bis Oktober war immer von irgendwoher das Geräusch eines Rasenmähers zu hören. Samstagvormittags wuschen die Väter ihre Autos, am Nachmittag mähten sie den Rasen. Allerdings nie am Sonntag, denn es ist verboten, am Sonntag den Rasen zu mähen.

Hielten wir uns abseits der Hauptstraße, war unser Bewegungsradius durch nichts eingeschränkt. Die größten Teile des Dorfes waren verkehrsberuhigte Zonen, von Autos drohte nur wenig Gefahr. Fremde Menschen gab es nicht, und selbst wenn sich der kleine Gerlinger Sepp doch einmal im Kolping-Ring verlaufen sollte, las ihn früher oder später die Frau Bierlwimmer oder die Frau Riedl auf und brachte den Jungen zurück zu seiner Mutter. Die Menschen in Dingenskirchen kannten sich, denn sie trafen sich sonntags in der Kirche, unter der Woche beim Metzger und abends im Sportlerheim – und sie passten aufeinander auf. Die Eltern ließen ihre Kinder am Nachmittag nach draußen, sie streiften durch den Ort, trafen sich beim Drehkarussell hinter dem Kindergarten und drehten, bis allen schlecht geworden war.

Nie wäre einer von uns kleinen Dingenskirchnern auf den Gedanken gekommen, das Dorf könnte eines Tages zu klein, zu miefig, zu uncool werden.

Jedes Kind sollte wissen, wie eine grüne Haselnuss schmeckt, und wie sich Moos unter nackten Füßen anfühlt. Diese Empfindungen brennen sich unauslöschlich ein und werden ein Leben lang nicht vergessen. Wir Menschen leben ja noch nicht so lange in Städten, eigentlich sind wir ja alle Landeier, und eine Kindheit auf dem Land ist so gut wie ein Haus am Meer.

Danke, Mama, danke, Papa, dafür.

Doch eines Tages hörte ich auf, grüne Haselnüsse zu essen. Das ganze Schlamassel begann.

[zur Inhaltsübersicht]

Der Vogelkäfig

Frau Deimel führte uns in ein Zimmer mit gelben Wänden. Sie zeigte auf drei mit orangenem Stoff bezogene Stühle und forderte uns auf, uns dort hinzusetzen. Dann sagte sie in sanftem Bairisch: «Der Herr Bürgermeister kimmt glei’.» Wir lehnten unsere Skateboards neben uns an die Stühle und setzten uns. Die Skateboards, das war uns wichtig, sollte der Bürgermeister unbedingt sehen. Mir fiel auf, dass an einer der Rollen ein Stück Kuhmist klebte. Kurz überlegte ich, es noch zu entfernen, bevor der Bürgermeister kam. Aber dann würde mir ja der Kuhmist zwischen den Fingernägeln kleben, und Kuhmist zwischen den Fingernägeln war ja noch viel blöder als Kuhmist an Skateboard-Rollen.

Auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters stapelten sich ein paar Akten, ein Leitz-Ordner lag aufgeschlagen in der einen Ecke sowie ein Locher in der anderen Ecke. Außerdem stand da noch eine halbelektronische Schreibmaschine. Hinter dem Schreibtisch hingen Gardinen, sie waren hellgrün und verstaubt. Ich dachte mir, was das für eine komische Zeit gewesen sein müsse, in der Menschen die Farben Orange und Hellgrün für eine gute Kombination gehalten hatten.

Frau Deimel ging und ließ die Tür hinter sich offen. Auf dem Gang hörten wir noch ihre Tippelschritte, und dann wurde es still, unangenehm still. Fink sagte nichts, Schmidi sagte nichts, und ich sagte auch nichts. Ich kannte Frau Deimel schon seit Jahren, und Frau Deimel kannte mich seit dem Kindergarten. Frau Deimel war immer freundlich, und vielleicht, das stellte ich mir gerade in diesem Moment vor, hätte sie, wäre sie Metzgerin, mir als Kind auch immer eine Wiener geschenkt. So hatte es die Metzgerin von Dingenskirchen nämlich immer getan, wenn ich mit meiner Oma oder meiner Mama zum Einkaufen gegangen war.

Metzgerinnen auf dem Land machen das so: Sie schenken kleinen Kindern eine Wiener. Sie fragen dann immer die Begleitperson, nie das Kind selbst, ob es schon in den Kindergarten gehe oder ob es sich auf die Schule freue. Die antwortet dann mit einer netten Floskel, von wegen, ja, sehr freut sich das Kind schon. Sie blickt kurz auf das Kind hinab und sagt zu ihm: Gell, freust dich schon. Das Kind nickt. Sag danke, sagt die Begleitperson, und das Kind sagt danke. Brav, sagt die Begleitperson, und die Metzgerin lächelt. Während das Kind die Wiener mampft, unterhalten sich Metzgerin und Begleitperson über den neuesten Dorftratsch, zum Beispiel, dass es das Kind vom Bierlwimmer wahrscheinlich nicht auf das Gymnasium schaffe. Ja mei, der Bierlwimmer, sagt die eine, und dann sagt die andere, dass das ja eigentlich schon absehbar gewesen sei, weil der Bierlwimmer selbst ja auch nicht besonders helle sei und sein Kind ja schon im Kindergarten wegen seiner Blödheit aufgefallen sei. Oder sie unterhalten sich über den Fischer, der ja jetzt seine Frau verlassen habe wegen «der vom Hellinger». Die Hellinger, sagt die Metzgerin, sei ja schon sehr freundlich, aber die Fischerin, die sei ja nun ganz alleine. Ja mei, sagt die Begleitperson dann, aber nicht dieses Ist-mir-egal-Ja-mei im gelangweilten Ton, sondern das Ach-die-Arme-Ja-mei im sanften, mitfühlenden Ton. Dann gehen die Begleitperson und das Kind zum Bäcker, wo sich die Konversation wiederholt.

 

An all das musste ich denken, während wir in diesem gelben Raum mit den hellgrünen Gardinen auf den orangenen Stühlen saßen und auf den Bürgermeister warteten. Diese Gedanken trugen nicht gerade dazu bei, mich besser zu fühlen. Im Gegenteil: Wegen Frau Deimel, meiner Oma, der Metzgerin und der Wiener fühlte ich mich mies wie jemand, der gerade dabei ist, es sich mit all den Leuten zu verscherzen, die es gut mit einem meinen. Frau Deimel, die Metzgerin, unsere Mütter und Omas und alle anderen aus Dingenskirchen hatten Dutzende Wiener und viel Aufmerksamkeit in uns investiert, und wir hatten es ihnen mit blinder Zerstörungswut gedankt.

Ich sah Fink an, aber Fink blickte auf die Lampe mit dem grünen Blechschirm über ihm. Vielleicht ging es Fink genauso, vielleicht sogar noch viel schlimmer als mir. Denn Fink war eigentlich nicht so der aggressive Typ. Daran änderte auch die Glatze nichts, die er sich vor zwei Wochen hatte rasieren lassen. In der Grundschule war er immer davongerannt, wenn es eine Rauferei gab, und im Kindergarten, daran musste ich jetzt auch noch denken, war er weinend zur Kindergärtnerin gelaufen, wenn ihm der zwei Jahre ältere Gerlinger Sepp oder der Bierlwimmer Tom seine Lego-Burg zerstört hatten. Fink hatte sich da zu was hinreißen lassen.

Ich sah Schmidi an, er hatte sein Baseball-Cap nicht abgesetzt. Im Gegenteil – er hatte es noch tiefer ins Gesicht gezogen: Schmidi hatte seinen Angry-Young-Man-Blick drauf, diesen Ihr-kapiert-gar-nix-und-lasst-mich-verdammt-nochmal-in-Ruhe-ihr-Motherfucker-Blick, den er immer aufsetzte, wenn es irgendwie um Erwachsene ging. Das gab mir ein bisschen Sicherheit, denn wenn Schmidi jetzt auch noch eingebrochen wäre, dann hätte ich mit Sicherheit losheulen müssen, sobald der Bürgermeister erschien. «Es tut mir so leid, Herr Bürgermeister!», hätte ich geschrien. «Wir werden uns ändern, wir werden eine Therapie machen, ein Antiaggressionstraining oder so was, und wir werden wertvolle Mitglieder dieses Dorfes werden. Und den Vogelkäfig werden wir selbstverständlich ersetzen, und wenn wir unser Taschengeld für Jahre verpfänden müssen! Nur bitte, bitte, holen Sie nicht die Polizei!»

Aber Schmidi brach nicht ein, und ich war ihm so dankbar für diesen Ihr-kapiert-gar-nix-und-lasst-mich-verdammt-nochmal-in-Ruhe-ihr-Motherfucker-Blick. Dann entdeckte ich rechts von mir die Karte. Sie hing grün und groß wie eine Leinwand an der gelben Wand. Darauf waren Quadranten, Striche, Linien verzeichnet, und ab und an bohrte sich eine Pinnnadel mit rotem Kopf durch das Papier. Ich erkannte darauf den Bimskofener Forst, dann Dingenskirchen selbst und schließlich die Autobahn, die nach München führte. Die Pinnnadeln mit den roten Köpfen steckten wild verstreut in dem Waldgebiet, aber …

 

«Wann kommt der Motherfucker endlich?»

 

Hatte Schmidi gerade wirklich Motherfucker gesagt? Hatte Schmidi gerade den Bürgermeister, zwar in dessen Abwesenheit, aber doch in dessen Büro, einen Motherfucker genannt? Motherfucker! Gott, das war so cool! Ja, jetzt wusste ich es, wir würden aus dieser blöden, letztlich doch nichtigen Vogelkäfiggeschichte herauskommen! Schmidi würde Fink und mich da wieder herausbringen, genauso wie er uns hineingebracht hatte. Wir würden uns auf keinen Fall entschuldigen. Wir würden ihm ganz klar sagen, dass die Zerstörung des Vogelkäfigs ein Akt der Verzweiflung gewesen war, mit dem wir, die Jugendlichen aus Dingenskirchen, auf unsere hoffnungslose Lage aufmerksam machen wollten. Wir würden dem Bürgermeister ins Gesicht sagen, dass wir dieses blöde Ding nur zerstört hätten, weil es in Dingenskirchen keine Halfpipe zum Skaten gab. Dass ich nach einem halben Jahr Üben noch immer keinen einzigen Trick konnte, sondern nur geradeaus fahren konnte. Aber das lag nur daran, weil es in Dingenskirchen nämlich auch keine coolen Skater gab, die mir einen Trick beibringen konnten, weil überhaupt alles voller Bauern war. Dass Dingenskirchen keinen S-Bahn-Anschluss hatte und wir deswegen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren und dass die Mädchen in Dingenskirchen alle Landpomeranzen waren, die 14-Jährige ohne Führerschein und ohne Golf GTI nicht mit dem Arsch anschauten. Dass es in Dingenskirchen zu viele Bauern gab, die uns mit ihrer Dumpfheit tyrannisierten, und dass es überhaupt verdammt oft nach Kuhmist roch. Und dass er mal froh sein könne, dass in Dingenskirchen nicht bald die Revolution ausbrach angesichts dieser lebensunwürdigen Bedingungen für Jugendliche. All das würden wir drei, Fink, Schmidi und ich, ihm endlich einmal sagen!

Es kam dann aber doch ganz anders.

 

Der Bürgermeister war an und für sich ein freundlicher Mensch. Ich kannte ihn schon so lange, wie ich Frau Deimel kannte, und der Bürgermeister kannte Fink, Schmidi und mich mindestens ebenso lange. Er war bei der CSU, aber das sind auf dem Land in Bayern fast alle. Es sind so viele bei der CSU, dass es unter ihnen zwangsläufig auch nette, lustige und gar nicht so arg konservative Leute geben muss. Er war Mitte 40, hatte eine etwas zu lange Nase, weshalb er mich an Pinocchio erinnerte. Wann immer ich ihn sah, trug er Anzüge in Beige- oder Brauntönen. Irgendwie passte das zu der komischen Orange-Hellgrün-Gelb-Kombination seiner Zimmereinrichtung. Der Bürgermeister lächelte viel. Er hatte gelächelt, als meine Eltern das Haus in Dingenskirchen gebaut hatten. Ein junges, optimistisches Paar aus der Stadt, das seine Brut im Grünen großziehen wollte, wie so viele Paare, die es Anfang der Achtziger aus der Stadt ins Umland zog und die die eingesessenen Dingenskirchner mit einer Mischung aus Bewunderung und Abfälligkeit «G’studierte» nannten. Der Bürgermeister hatte beim Weltspartag gelächelt, als alle Kinder von Dingenskirchen, die der Eingesessenen und die der «G’studierten», ihr Sparschwein zur Raiffeisenbank oder zur Sparkasse gebracht hatten (auf dem Land gibt es nur diese zwei Banken). Und er hatte gelächelt, als Dingenskirchen sein 500-jähriges Bestehen gefeiert hatte und er auf dem Pausenhof der Grundschule eine Rede gehalten hatte.

Bloß heute, an diesem Märznachmittag lächelte er nicht. Der Bürgermeister setzte sich hinter seinen Schreibtisch, schob die Akten beiseite, legte eine Klarsichtfolie mit einem Papier vor sich und sah uns an. Unangenehm lang sah er uns an, so lange, dass ich nervös wurde und an der Rolle meines Skateboards herumspielte.

«Also, Buam», sagte er. «Das ist alles eine sehr unschöne Angelegenheit. Das macht mir keinen Spaß, jetzt hier also dazusitzen mit euch.»

Er zog das Papier aus der Klarsichtfolie und las vor:

«In der Nacht vom 3. auf den 4. März wurde das Vogelgehege nahe der Fahrradgarage auf dem Gelände der Adolf-Kolping-Grundschule Dingenskirchen schwer beschädigt. In dem drei mal drei mal vier Meter großen Drahtgitternetz des Käfigs befanden sich in einer Höhe von 20 bis 100 Zentimeter mehrere faustgroße Löcher. Es ist von einer mutwilligen Beschädigung auszugehen. Hätten sich zum Tatzeitpunkt Vögel in dem Gehege befunden, wäre es diesen ein Leichtes gewesen, aus dem Gehege zu entwischen. Aufgrund der kalten Jahreszeit befanden sich allerdings keine Tiere darin. Die Anwohnerin Gerlinde Girmer konnte beobachten, dass sich kurz vor der Tat etwa drei vermummte Gestalten nahe der Fahrradgarage befunden hatten und dort Zigaretten geraucht hatten. Ihrer Aussage nach waren es dieselben Personen, die gegen 20.00 Uhr begannen, grundlos auf das Drahtgitter einzutreten. Die Anwohnerin sei aufgrund des Gejohles und Geschreis der Personen aufmerksam gemacht worden. Gemäß ihrer Aussage verließen die Täter den Tatort wenige Minuten später mit Rollbrettern, was auf dem gepflasterten Untergrund des Pausenhofs abermals zu einer nicht unerheblichen Lärmbelästigung führte. Die Anwohnerin verständigte noch in derselben Nacht den Hausmeister Wachtl. Der Sachschaden beläuft sich auf 43,80 Mark.»

Der Bürgermeister schob das Blatt Papier wieder in die Klarsichtfolie zurück und legte es auf den Leitz-Ordner. Fink hatte die Arme verschränkt und blickte zu Boden. Sein linker Fuß wippelte. Ich sah wieder auf die Landkarte mit den roten Pinnnadeln. Wenn man die Nadeln mit einer unsichtbaren Schnur verband, ergab sich daraus vielleicht ein Muster. Ein Gesicht oder so was oder ein Marihuanablatt oder ein Anarchy-A oder … auf jeden Fall irgendwas, was meine Gedanken von dieser blöden Vogelkäfiggeschichte ablenken konnte.

Schmidi setzte plötzlich sein Cap ab, und seine Locken standen wirr in alle Richtungen ab. «Herr Bürgermeister», sagte Schmidi. Aber der Bürgermeister deutete Schmidi mit der Hand, jetzt erst mal nicht zu sprechen.

«Ich frage mich», sagte er, «warum macht’s ihr so etwas? Ich frage mich das ganz ehrlich, weil ich es nämlich nicht verstehe.»

Auf der Landkarte zeichnete sich so etwas wie eine Bierflasche ab: Da oben bei Dingenskirchen war der Flaschenhals, und wenn man die zwei Punkte von Bimskofen mit dazunahm, dazu nochmals zwei Pinnnadeln im Wald, dann ergab das eine schräg liegende Augustiner-Bierflasche.

«Ihr habt hier in Dingenskirchen alles, was man sich wünschen kann: Es gibt den Tennisverein, den Fußballverein, den Schützenverein, den Burschenverein, wir haben einen Schachclub, einen Tischtennisclub, Aerobic kann man machen, Mountain-Bike-Fahren, im Wald spazieren, joggen, es gibt die Kolping-Jugend, den Kegelverein, im Wald kann man Pilze suchen, Judo gibt’s auch. Engagieren könnt’s ihr euch. Die Leute in Dingenskirchen, die freuen sich doch über junge Leute wie euch. Als ich ein junger Bub war, gab’s das alles nicht. Mein Gott, was wäre ich froh gewesen, hätte es damals so viele Angebote gegeben! Und was macht’s ihr daraus? Zigaretten rauchen und den Vogelkäfig kaputt treten! Was meint ihr, wie sich der alte Wachtl dafür eingesetzt hat, dass die Grundschule diesen Vogelkäfig bekommt. Das war nicht einfach, und dann haben wir es aber doch durchgebracht auf der Gemeindeversammlung, weil wir uns gesagt haben: So ein Vogelgehege ist gut für die Kinder und für die Jugendlichen in Dingenskirchen.»

Ich suchte weiter nach einem Muster, die Bierflasche war gar nicht schlecht. Wenn man die beiden Nadeln der Waldwirtschaft mit der am unteren Ende verband, könnten das vielleicht Brüste sein?

«Und du, Michael», er nannte Schmidi plötzlich Michael, das irritierte, «du, Michael, spielst auch super Fußball. Warum brauchst du denn da so einen Blödsinn machen? Was sagt denn deine Mutter dazu?»

Michael und Mutter, das war keine gute Kombination. Dieses Doppel-M war die Geheimwaffe gegen den Ihr-kapiert-gar-nix-und-lasst-mich-verdammt-nochmal-in-Ruhe-ihr-Motherfucker-Blick. Das Doppel-M zerbröselte Schmidis Wutkulisse. Es ließ ihn zusammenschrumpfen zu einem kleinen Jungen, dem die Metzgerin eine Wiener schenkt. Schmidi grummelte plötzlich etwas, das nach «Mmjaaa» klang. Und dann sagte er es. Schmidi, der den Fink aufgezogen hatte, weil er nicht mittreten wollte gegen das Drahtgitter, während Schmidi schon längst wie ein Berserker Löcher mit seinen Stahlkappen-Doc-Martens’ in den Vogelkäfig hämmerte und dabei immer wieder «Scheißkaff! Scheißkaff!» schrie. Schmidi, der mir auf die Schulter geklopft hatte, als wir in der Fahrradgarage Zigaretten geraucht hatten, damit ich endlich mal Lunge rauchte, anstatt nur zu paffen. Schmidi, der zwei Jahre älter war als Fink und ich, und der als Einziger von uns schon mal Sex gehabt hatte, auch wenn es nur die mollige Reitinger Silvia auf dem Weißbier- und Colafest in Bimskofen gewesen war. Schmidi, der noch vor zwei Minuten den Bürgermeister einen Motherfucker genannt hatte, sagte plötzlich:

«Es tut uns leid.»

O Gott, das war alles so uncool. Ich drehte die Rolle meines Skateboards.

«Das war alles eine blöde Idee», sagte Schmidi. «Mir ist die Zigarette durch das Gitter gefallen, und dann wollte ich die rausholen wegen den Vögeln, weil ich mir nicht sicher war, ob nicht doch einer da drinnen war. Deswegen mussten wir ein Loch in das Gitter treten, damit die Vögel nicht verbrennen. Und dann ist das irgendwie ausgeartet.»

«Irgendwie ausgeartet», wiederholte Fink.

«Ja, das ist dann irgendwie ausgeartet», sagte ich.

«Irgendwie ausgeartet?», wiederholte der Bürgermeister, und dann war es wieder unangenehm still. «Wenn es einem nicht gutgeht, das ist ja manchmal ganz normal in eurem Alter, dann macht doch Sport oder irgendetwas. Ihr könnt auch zu mir kommen, wenn ihr Vorschläge habt, wir können das alles besprechen. Aber macht doch in Herrgotts Namen nicht einfach etwas kaputt!»

«Wir brauchen a Halfpipe oder a Ramp», sagte Fink plötzlich.

«Was?»

«Ja, wir brauchen eine Ramp», sagte Schmidi.

«Was soll das sein, eine Ramp?»

«Für unsere Skateboards», sagte ich.

«Ei-ne Ram-pe», sagte Fink, «damit wir fahren können. Hier in Dingenskirchen liang überall Steine rum oder Kuhmist. Wir kenna hier ned richtig fahren, weil die Rollen von de Boards blockieren.»

«Ihr wollt also eine Rampe für eure Rollbretter?»

«Hm», sagten wir einstimmig.

«Und einen S-Bahn-Anschluss», sagte ich.

«Einen S-Bahn-Anschluss?»

«Ein Jugendzentrum wär a cool, aber ein cooles, ned so a schwules wie der Raum von der Kolping-Jugend», sagte Fink.

«Discos gibt es hier auch nicht», sagte Schmidi.

Der Bürgermeister sagte nichts. Er lehnte sich nach vorne, faltete die Hände auf dem Schreibtisch, und kurz sank sein Kopf hinunter. Er seufzte.

«Ihr wollt mir also erzählen, dass ihr einen Vogelkäfig kaputt gemacht habt, weil es in Dingenskirchen kein Jugendzentrum, keine S-Bahn, keine Rollbrettrampe und keine Disco gibt.»

So hätten wir es vielleicht nicht ausgedrückt, aber an den Worten des Bürgermeisters war etwas dran. Wenn er es so sah, hatte er irgendwie recht.

«Buam, so geht das nicht. Wir haben eine ausgezeichnete Busverbindung nach Hofning, wo eine S-Bahn-Station ist. Der Bus fährt sechs Mal am Tag, und zur Not kann man die sechs Kilometer auch mal mit dem Fahrrad fahren. Haben wir früher auch gemacht. Aber bloß weil ein paar 14-Jährige sich wie Wandalen aufführen, berufen wir hier keine Gemeindesitzung ein, um euch eine S-Bahn-Station zu bauen. Bei euch hakt’s doch wohl?»

Den letzten Satz hatte der Bürgermeister geschrien. Ich sah jetzt doch wieder auf die Karte mit den roten Pinnnadeln, aber ich fand nicht mal mehr die Bierflasche wieder. Das ergab alles keinen Sinn.

«Wir moana ja bloß …», sagte Fink, «… uns ist eben sehr langweilig gewesen, und dann war dieser Käfig da, der is ja auch leer g’wesen. Wenn da Vögel drin gewesen wären, hätten wir das nicht gemacht. Sicher nicht.»

«Sicher nicht», sagte Schmidi.

«Sicher nicht», sagte ich.

Der Bürgermeister seufzte schon wieder. Das klang nicht gut.

«Ich mache euch jetzt ein letztes Angebot: Wir lassen die Polizei aus dem Spiel. Ihr entschuldigt euch beim Hausmeister Wachtl, und ihr ersetzt den Schaden natürlich. Dafür will ich, dass so etwas nie wieder vorkommt. Ihr könnt in diesem Dorf so viele tolle Sachen machen. Niemand muss hier irgendetwas kaputt machen. Verstanden?»

Wir nickten.

«Gut, dann Hand drauf.»

Jeder von uns musste dem Bürgermeister die Hand schütteln. Sie fühlte sich an wie ein Stück Schmirgelpapier, das man mit Flüssigseife eingerieben hatte. Er sagte etwas wie «Raus mit euch». Das sollte jovial klingen. Wir nahmen unsere Skateboards und standen auf. Kurz vor Verlassen drehte ich mich noch einmal um und fragte: «Herr Bürgermeister, die roten Pinnnadeln auf der Karte, was bedeuten die?»

«Sau-Abschüsse», sagte er.

 

Wir verließen das Gemeindehaus und fuhren schweigend auf unseren Skateboards die Hauptstraße entlang Richtung Fahrradgarage. Da stand er, der große Vogelkäfig mit nix drin außer einem alten Stück Holz. Hausmeister Wachtl hatte das Drahtgitter repariert.

Schmidi zog eine Marlboro Medium aus seiner Bomberjacke und zündete sie an.

«Der Bürgermeister ist doch ein Motherfucker.»

«Der war doch ganz nett», sagte Fink. Er begutachtete den silbern glänzenden, neuen Draht.

«Er checkt gar nichts», sagte Schmidi. «Er hat keine Ahnung, wie wir hier leben.»

«Aber er hätte auch die Polizei holen können, dann hätten wir jetzt vui mehr Ärger.»

Schmidi zog an seiner Marlboro Medium und versuchte, Ringe zu machen, was ihm aber nicht gelang.

«Okay, dann ist der Bürgermeister vielleicht kein Motherfucker. Aber dafür ist die Girmerin eine Bitch. Die hat den ganzen Tag nichts zu tun, sitzt am Fenster und spielt den Blockwart. Fuck you!»

Schmidi machte einen Stinkefinger in Richtung des Hauses, in dem die Girmerin wohnte. Ihr Grundstück grenzte an den Pausenhof der Grundschule.

«Ja, die Girmerin is a blede Sau», sagte Fink. «Also, eine Bitch, meine ich.»

Fink fiel immer wieder ins Bairische zurück, was ihn selbst am meisten nervte. Er gab sich große Mühe, wenn er mit Schmidi zusammen war, keinen Dialekt zu sprechen, und weil er sich so anstrengte, klang sein Hochdeutsch immer etwas hölzern und überkorrekt.

«Und jetzt? Was machen wir jetzt? Wir sollten wohl nicht mehr so viel hier am Pausenhof abhängen.»

«Vielleicht ist die Hochsprungmatte schon draußen», sagte Schmidi.

Der Pausenhof der Grundschule war gepflastert. Die Rollen klackerten auf den Furchen der Steine. Ich kratzte mich an der Backe und spürte, wie an meinem Gesicht etwas hängen blieb. Es war Kuhmist. Das war alles Scheiße.

[zur Inhaltsübersicht]

Vogel süß-sauer

Mittagsbuffel 6,90 DM», stand auf der Tafel mit Kreide geschrieben. Irgendein Spaßvogel hatte die Haken des «t» verwischt und daraus ein «l» gemacht. Mein Vater hatte die ganze Autofahrt von Dingenskirchen nach Hofning nicht gesprochen. Er öffnete die Tür, und wir standen in einem langen gefliesten Flur, wie es ihn in oberbayerischen Bauern- und Wirtshäusern oft gibt. Links von dem Flur führte eine Tür in den Raum, der einst eine Stube gewesen war. Jetzt standen dort Bambus-Sträucher aus Plastik und golden lackierte Tiere, die an Löwen erinnerten. In der Ecke plätscherte ein Springbrunnen. Es roch nach Räucherstäbchen.

Wir waren die einzigen Gäste. Eine schiefe Flötenmusik dudelte vor sich hin. Ein chinesischer Kellner kam, reichte uns zwei Speisekarten und ging wieder, ohne ein Wort zu sagen. Mein Vater schlug die Karte auf, schlug sie wieder zu und sagte: «Wir nehmen ja eh das Buffet.»

Er faltete die Hände und sah aus dem Fenster. Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen und sah ebenfalls aus dem Fenster.

«Der goldene Affe» war das einzige chinesische Restaurant im Landkreis. Es lief schlecht, wann immer ich an ihm vorbeiging und einen Blick hineinwarf, war es leer. Nur abends saß dort ab und zu eine Familie, die wohl der Meinung war, sich «mal etwas Exotisches leisten» zu müssen. In Hofning gab es außerdem noch ein italienisches Restaurant, in dem immer, wann immer man es betrat, italienische Schlager von Toto Cutugno und Eros Ramazzotti liefen, und einen Griechen, dessen Speisekarte völlig überflüssig war, da jeder Gast stets Gyros bestellte. Der Besitzer des italienischen Restaurants wechselte alle drei Jahre aus unbekannten Gründen, was der Gast nur daran merkte, dass das «Roma» nun nicht mehr «Roma», sondern «Salerno» und später «Napoli» hieß. Der Besitzer des griechischen Restaurants blieb immer derselbe.

Der chinesische Kellner kam wieder, mein Vater sagte «Wir nehmen das Buffet», woraufhin der Kellner auf einen langgezogenen Tisch deutete, auf dem vier rechteckige silberne Behälter standen. Ich füllte eine Schüssel mit einer schleimigen Suppe, in der weiße Flocken schwammen, und schaufelte anschließend einen Teller voll mit Stücken gebackener Ente.

«Willst du kein Gemüse?», fragte mein Vater.

Ich schüttelte den Kopf.

Ich war der Meinung, dass wir uns dieses Gespräch sparen konnten. Es war vollkommen überflüssig. Er würde sagen: «Junge, einfach so Sachen kaputt machen, das geht nicht.» Und ich würde sagen: «Klar, mir tut das wirklich leid.» Er würde sagen: «Okay.»

Wir setzten uns. Ich nahm einen Löffel Schleimsuppe und beschloss, sie nicht aufzuessen. Mein Vater aß Salat und Reis.

Wir kauten, schluckten und schwiegen. Ich nahm ein Stück gebackene Ente in die Hand, in der Erwartung, dass mein Vater mich darum bitten würde, Messer und Gabel zu benutzen. Er sagte nichts. Ich legte den Kopf in meine aufgestützte Hand, tauchte ein Stück Ente in eine süß-saure Sauce und stellte mir vor, es wäre ein Chicken McNugget. Ein McDonald’s in Hofning wäre das Allerbeste, was uns passieren könnte. Ein McDonald’s, das wäre besser als ein Jugendzentrum. So ein Laden wäre ein Treffpunkt und ein Fenster zur Welt. Auf dem Parkplatz davor könnten wir skaten, dann einen Cheeseburger essen und die Gurkenscheiben an die Glasscheibe werfen. Die Gurkenscheiben würden dort kleben bleiben.

«Welche Vögel kennst du?», fragte mein Vater.

Ich zuckte mit den Schultern.

«Welche Vögel kennst du? Sag ein paar Namen, los.»

Ich kaute auf einem Stück Entenknorpel herum.

«Spatz.»

«Ist das alles?»

«Amsel.»

«Ja, und welche noch?»

«Drossel, Fink und Star.»

«Welche noch?»

«Mann, was soll das denn?», fragte ich und schluckte den Knorpel herunter.

«Okay, Papagei, Adler, Kakadu.»

Mein Vater schaufelte seinen gebratenen Reis von einem Ende des Tellers zum anderen.

«Taube?»

«Natürlich kenne ich Tauben.»

«Was ist mit Meisen?»

«Sind das die mit der gelben Brust?»

«Und was ist mit dem Specht?»

«Der, der so viel Lärm macht, weil er immer gegen einen Baum hämmert.»

Er schaufelte den Reis wieder zurück und nahm einen Bissen.

«Ist die Ente gut?»

«Ist auch ein Vogel.»

«Das meine ich nicht. Ich wollte wissen, ob sie gut schmeckt.»

«Passt schon», sagte ich und tauchte ein weiteres Stück in die süß-saure Sauce. Chicken McNuggets waren 100 Prozent knorpelfrei. Pommes frites schmeckten auch nicht so gleichmäßig und armselig wie Reis.

«Wusstest du, dass die Herzschlagfrequenz eines Sperlings bei 900 liegt? Es gibt noch mehr interessante Fakten über Vögel: Zugvögel zum Beispiel haben einen Magnetsinn, mit dem sie sich auf ihren langen Reisen orientieren. Manche Arten besitzen im Schnabel eigene magnetische Teilchen. Diese reagieren auf das Magnetfeld der Erde. Wie ein eingebauter Kompass! Mit einem Unterschied: Sie bestimmen die Richtung nicht, indem sie zwischen Nord- und Südpol unterscheiden, sondern indem sie die Inklination des Erdmagnetfeldes erkennen. Andere wiederum haben einen Magnetsinn im rechten Auge – dort bilden sich mit dem einfallenden Licht sogenannte Radikal-Paare. Diese reagieren auf das Erdmagnetfeld. Vieles ist noch nicht erforscht, aber man weiß, dass es diesen Sinn gibt. Zugvögeln gelingt es so, sich über Tausende Kilometer zu orientieren – von hier bis nach Afrika.»

Ich tunkte ein weiteres Stück gebackener Ente in die süß-saure Sauce und schob es langsam in den Mund.

«Vögel sind die Tiere, von denen es die meisten Arten gibt – zumindest unter Landwirbeltieren. Es sind über 10 000. Das muss man sich mal vorstellen: Dir sind gerade einmal zehn eingefallen. Der kleinste ist der Zwergkolibri mit nur fünf Zentimetern, der schwerste ist der Strauß. Manche Vögel sind vielleicht nicht einmal entdeckt. Wer weiß das schon. Leider werden es aber immer weniger. Wenn wir nichts dagegen tun, werden bis zum Jahr 2100 zehn Prozent aller Vogelarten ausgestorben sein.»

«Krass», sagte ich mit vollem Mund.

Ich schluckte das Stück Ente herunter, ohne es ausreichend zerkaut zu haben, wodurch meine Speiseröhre schmerzte. Es war in solchen Situationen besser, nichts zu sagen, weil sich aus meinem Widerspruch erst recht etwas ergab, was einer Moralpredigt beziehungsweise einem Anschiss nahekam. Noch war die Situation erträglich, nicht angenehm, aber aushaltbar.

«Papa, ich …»

«Vögel und Menschen – das ist auch ein interessantes Thema. Die Familie der ‹Honiganzeiger› zum Beispiel ist höchst raffiniert. Der Vogel macht den Menschen durch lautes Rufen auf sich aufmerksam, fliegt dann ein Stück und wartet darauf, dass man ihm folgt. So führt er den Menschen zu einem Bienennest, dass dieser dann ‹für ihn› plündert. Der Mensch kriegt also den Honig, und der Vogel frisst die verbleibenden Insekten.»

«Das ist alles wirklich blöd gelaufen …»

«Der Honiganzeiger legt seine Eier übrigens wie der Kuckuck immer in fremde Nester. Das ist doch …»

«Wir wollten das nicht mit dem Käfig.»

«… interessant!» Er wurde lauter. «Das ist doch faszinierend!»

«Es war blöd, okay?», sagte ich lauter.

«Vögel sind doch unglaublich interessante Tiere!», schrie er durch das Lokal. Der chinesische Kellner in der Ecke blickte auf.

«Ich mache so was nicht wieder, okay?», schrie ich zurück.

«Verdammt!»

 

Wir schwiegen. Er aß seinen Reis jetzt schneller, kaute hektisch wie ein Kaninchen. Ich bestellte bei dem Chinesen ein Glas Spezi und trank in einem Zug die Hälfte aus. Ich wartete darauf, dass er mir erzählte, wie lange sein Schulweg gewesen war, dass er die drei Kilometer jeden Tag hatte gehen müssen, auch im Winter. Dass die aus Schlesien vertriebene Familie arm gewesen und es ein Privileg gewesen sei, auf das Gymnasium zu gehen. Dass es zum Geburtstag keine Playstation, sondern ein Buch mit Vogelbildern und -namen gab, und dass er erst wegen dieses Buches sich entschlossen habe, Biologie zu studieren. Dass er nicht und keiner seiner Freunde auch nur auf den Gedanken gekommen war, etwas «nur so, aus Langeweile» zu zerstören.

Ich wartete darauf, während ich den Spezi schneller leerte, als es mir guttat, und sich in meinem Magen etwas Gewaltiges zusammenbraute. Aber es kam nichts dergleichen. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Ja, danke, jetzt ist es mir klar. Von nun wird alles anders werden? Jetzt, durch deine Erzählungen von damals, ist die Langeweile auf einmal verschwunden?

In einer gewissen Weise beneidete ich ihn. Ich glaubte, damals sei all das einfacher gewesen. Nicht leichter, aber weniger kompliziert.

Auf seinem Teller war kein einziges Reiskorn mehr. Er tupfte sich die Lippen mit einer rosa Stoffserviette ab und winkte dem chinesischen Kellner. Ein junges Mädchen kam und räumte die Teller ab. Der Kellner sagte etwas auf Chinesisch zu ihr, es klang nicht freundlich, sie murrte und verschwand.

Mein Vater bezahlte die Rechnung, und wir stiegen ins Auto.

 

Nach der Tankstelle bogen wir auf die Straße nach Dingenskirchen und passierten das Schild «Bimskofen 10 Kilometer», obwohl eigentlich Dingenskirchen der nächste Ort war und nur sechs Kilometer entfernt lag. Grund hierfür war ein Streit zwischen den Gemeinden. Vor etwa 20 Jahren war ein Bauer namens Kreithmayer beim Pflügen seines Feldes auf ein rostbraunes, nicht besonders ansehnliches, becherartiges Gefäß gestoßen. Dem Kreithmayer wäre der Fund erst gar nicht weiter aufgefallen, wäre das Ding nicht wie durch ein Wunder durch den Pflug in die Höhe geschleudert worden (es hatte sich wohl zwischen einem Stein und der Schare eingeklemmt und war so unter Spannung geraten). Das Gefäß flog also wie von Geisterhand geschleudert auf die angrenzende Kuhweide und zwar direkt auf den Kopf einer Kuh. Der Kreithmayer vernahm das Muhen wohl, stoppte den Traktor und sah nach dem Teufelsding. Auf den ersten Blick war da nichts als Rost, Erde und Lehm. Doch als der Kreithmayer mit seinen rauen Fingern ein wenig daran rieb, erkannte er Buchstaben, deren Sinn er aber nicht zu enträtseln wusste. Da ihn das Gekritzel am ehesten an etwas Lateinisches erinnerte, beschloss er, sicherheitshalber den Pfarrer zu informieren. Der Vorgänger des aus Polen stammenden und doch recht milden Pfarrers Stanislaus war ein Jesuit namens Adolf Kirchberg, ein zu Zornesausbrüchen neigender, stiernackiger Priester. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Teufelsding wohl um den 1743 aus der Kirche von Hofning verlorenen gegangenen Messbecher handelte. Als das bekannt wurde, forderte der Pfarrer von Hofning diesen umgehend von Pfarrer Kirchberg zurück. Der aber führte an, dass das Ding nun einmal auf dem Acker des Kreithmayer gefunden worden war, der zwar zwischen Hofning und Dingenskirchen lag, aber trotzdem eindeutig zum Gemeindegebiet von Dingenskirchen gehöre und deswegen nun rechtmäßig dort zu verbleiben habe.

«Mir doch wurscht, wem des Glump gehört», war alles, was der Kreithmayer dazu sagte.

Die Bürgermeister von Dingenskirchen und Hofning schalteten sich ein, doch scheiterte jeder Vermittlungsversuch der weltlichen Herrschaften am aufbrausenden Temperament des Jesuitenpfarrers. Am Ende hatten sich auch die Bürgermeister von Hofning und Dingenskirchen so zerstritten, dass sie die jeweiligen Ortsnamen am Ende des Ortsschilds strichen und mit dem jeweils darauf folgenden Ort ersetzten.

Als Pfarrer Stanislaus Anfang der achtziger Jahre sein Amt antrat, war die Zahl der Kirchgänger bereits enorm gesunken. Ein ehrgeiziger Landesentwicklungsplan der Regierung, der vorsah, aus all den kleinen alten Bauerndörfern einen veritablen Speckgürtel zu machen, sorgte für einen steten Zustrom nichtbayerischer, also fremder Familien. Durch den Zuzug protestantischer, muslimischer und nichtgläubiger Familien und einer Anpassung des Lehrplans an «dä Zeitgeist», wie Pfarrer Stanislaus es missbilligend nannte, war außerdem das Bedürfnis nach katholischem Religionsunterricht stark zurückgegangen. Kurzum – das Problem mit dem Messbecher erledigte sich von selbst, denn die Gemeinden wurden kurzerhand zusammengelegt und nun von Pfarrer Stanislaus und einem Aushilfsdiakon betreut. Der Messbecher stand seitdem wieder in der Kirche von Hofning, die er 1743 unter ungeklärten Umständen verlassen hatte. Der Streit war beigelegt. Trotzdem aber hielt es keiner der Gemeinderäte von Hofning für notwendig, ein neues Schild anfertigen zu lassen. Und in Dingenskirchen hieß es: Solange die in Hofning nicht ihr Schild austauschen, machen wir auch nix.

[zur Inhaltsübersicht]

Die blaue Matte

Wie ein Meer lag sie vor uns: tief, weich und ozeanblau. Still sprach sie die Einladung an uns aus: Lasst euch hineinfallen, lasst euch treiben und kehrt in einen frühkindlichen Zustand zurück, in dem alles bei weitem aufregender gewesen ist als im unendlich langweiligen Jetzt. Wenn wir auf ihr lagen, blickten wir von einem fliegenden Teppich hinab auf das ganze ländliche Elend. Vor uns erstreckte sich der rote Basketballplatz. Er war von drei Seiten mit hohem Gitterzaun umgeben. Dahinter, lediglich durch ein Aluminiumstangen-Konstrukt getrennt, begannen die Weiten des Fußballplatzes, der kein Ende zu nehmen schien. Denn an den Dingenskirchener Fußballplatz schlossen sich die Felder und Äcker der Landwirte an, und so wechselten sich das Grün der Wiesen und Maisfelder mit dem Braun der Äcker ab, bis irgendwo Bimskofen begann. Dingenskirchen endete dort, wo auch der Fußballplatz endete. Dahinter war das Land mit all seiner Urtümlichkeit, seinem Mais und seiner Ödnis und der ganzen Kuhscheiße.