Ein Weihnachtsmärchen in Kanada - Lara Hill - E-Book

Ein Weihnachtsmärchen in Kanada E-Book

Lara Hill

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Beschreibung

Als Julia sich zu einem Lehreraustausch von Hamburg in die idyllisch gelegene kanadische Kleinstadt Banff aufmacht, erwartet sie vor allem grandiose Natur, den wunderschönen kanadischen Winter und kuschelige Abende vor dem Kamin. Eines hat sie dabei allerdings nicht eingeplant: den unverschämten, aber irgendwie doch auch charmanten Kanadier Josh, der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Und das, obwohl Julia in Hamburg einen festen Freund hat, der ein besonders romantisches Weihnachtsfest plant ...

Eine prickelnde Liebesgeschichte vor der traumhaft winterlichen Kulisse Kanadas! Für alle, die in weihnachtliche Stimmung kommen wollen - und für jeden, der von einem Abenteuer in der Ferne träumt!

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Als Julia sich zu einem Lehreraustausch von Hamburg in die idyllisch gelegene kanadische Kleinstadt Banff aufmacht, erwartet sie vor allem grandiose Natur, den wunderschönen kanadischen Winter und kuschelige Abende vor dem Kamin. Eines hat sie dabei allerdings nicht eingeplant: den unverschämten, aber irgendwie doch auch charmanten Kanadier Josh, der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Und das, obwohl Julia in Hamburg einen festen Freund hat, der ein besonders romantisches Weihnachtsfest plant …

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LARA HILL

EinWeihnachtsmärchenin Kanada

Für Christel.

1.

Weiße, glitzernde Gipfel, die in einen azurblauen Himmel ragen, stille, verschneite Wälder, hellblau schimmerndes Eis auf Seen und Flüssen und irgendwo in dieser unberührten Natur auf einer Lichtung ein kleines Blockhaus, aus dessen Schornstein sich der Rauch einladend in die kristallklare Luft kringelt – Winter in Kanada.

Versunken in ihren Tagtraum von der kanadischen Wildnis lächelte Julia vor sich hin, bis Lars’ Stimme sie ziemlich ruppig ins Hier und Jetzt zurückholte – in das triste Grau der Hamburger City.

»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte ihr Freund. »Wenn es die Côte d’Azur wäre oder die Schweiz, aber nein, es zieht dich in irgendein Kaff mitten in den Rocky Mountains. Und das auch noch im November.«

Julia seufzte lautlos in sich hinein und schwieg, wie sie es bereits seit einer Viertelstunde tat, während Lars seinem Frust immer wieder lautstark Ausdruck verliehen hatte. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie warten musste, bis sich der Orkan, den er über sie hinwegschickte, gelegt hatte. Erst dann würde sie wieder normal mit ihm reden können. So sah sie einfach schweigend in den Oktoberregen, der genauso schnell und hart auf die Windschutzscheibe prasselte wie Lars’ Worte auf sie einprasselten. Das grelle Licht der Autoscheinwerfer auf dem nassen Asphalt erschwerte die Sicht. Um diese Uhrzeit herrschte Rushhour in Hamburg. Stoßstange an Stoßstange drängten sich die Autokolonnen durch die City. Welch ein Kontrast zu der wunderschönen Landschaft, die sie gerade noch vor ihrem inneren Auge gesehen hatte!

Mit verbissener Miene, die Hände so fest ums Lederlenkrad des Sportwagens gelegt, dass die Knöchel an seinen Händen weiß hervorstachen, führte Lars seinen Monolog ungebremst fort. »Ich dachte, wir gehören zusammen. Wir haben gesagt, dass wir uns Weihnachten verloben. Schon vergessen? Das ist in neun Wochen. Und jetzt willst du dich einfach so davonmachen?«

Julia verstand seinen Ausbruch sogar. Zu dumm, dass er, als er sie abgeholt hatte, völlig unvorbereitet das Schreiben vom Kultusministerium in der Diele entdeckt hatte. Ihr Fehler. In den zwei Tagen nach Eintreffen des Briefes hätte sie diesen längst in die Schreibtischschublade legen können oder wenigstens zurück in den Umschlag. Zu spät. Während sie sich im Bad geschminkt hatte, entdeckte Lars die Bewilligung ihres Antrags auf Lehreraustausch, den sie ihm gegenüber bisher nie erwähnt hatte.

»Hast du eigentlich auch etwas dazu zu sagen?«, fauchte er sie von der Seite an. »Warum schweigst du so beharrlich? Kann ich dieses Schweigen als Schuldeingeständnis auslegen?«

Wie bitte? Julia setzte sich aufrecht hin. Von wegen.

»Schuldeingeständnis?«, wiederholte sie mit hochgezogenen Brauen. »So ein Quatsch. Als ich mich vor einem Jahr als Austauschlehrerin für Kanada beworben habe, kannten wir uns noch gar nicht. Ich …«

»Genau«, unterbrach Lars sie hitzig. »Aber heute kennen wir uns. Und lieben uns. Die Sache dürfte damit wohl erledigt sein. Du bist heute in einer anderen Lebensphase als noch vor einem Jahr.«

»Aber mein Traum ist geblieben«, entgegnete sie ruhig. »Und jetzt bietet sich mir die Möglichkeit, mir diesen Traum zu erfüllen.«

»Und ich? Wir?« Lars trat abrupt auf die Bremse, um in letzter Sekunde einen Auffahrunfall zu vermeiden. Beide flogen sie nach vorn, die Sicherheitsgurte rasteten ein. Hinter ihnen erklang entrüstetes Hupen. Ungeachtet all dessen lamentierte Lars weiter: »Hast du dir mal überlegt, was die Leute denken werden? Meine Freunde, der Bekanntenkreis meiner Eltern. Die glauben doch, dass in unserer Beziehung etwas nicht stimmt, wenn du mich jetzt für ein halbes Jahr allein lässt.« Er schüttelte so heftig den Kopf, dass sein stets exakt gezogener, blonder Scheitel aus der Form geriet und ihm ein paar Strähnen in die Stirn fielen.

Julia lächelte. So erinnerte er sie wieder an den Mann, in den sie sich verliebt hatte. Der sportliche, schlanke Typ mit dem vom Wind zerzausten Haar und dem fröhlichen Lachen, dem sie beim Joggen begegnet war, hatte ihr sofort gefallen. Seine witzige und äußerst charmante Art ebenfalls.

»Halt! Moment mal!«, hatte er ihr am Elbufer nachgerufen und einen Schlüsselbund hochgehalten, der nicht ihr gehörte. »Haben Sie das verloren?«

So waren sie ins Gespräch gekommen. Er hatte sie in das Ausflugslokal eingeladen, von dem aus er sie entdeckt hatte. Nur wenige Minuten später hatte er ihr gestanden, dass der Schlüsselbund ihm gehörte.

»Funktioniert dieser Trick immer?«, hatte sie ihn belustigt gefragt.

»Keine Ahnung. Ich habe ihn erst gestern in einem Film gesehen.« Er hatte sie angelächelt, offen, jungenhaft, unbeschwert. »Als ich Sie vorbeilaufen sah, wusste ich, dass ich Sie unbedingt kennenlernen musste. Da fiel mir dieser Trick ein.«

Ja, das war der andere Lars Asbeck, der liebenswerte, stets gut gelaunte, unbeschwerte, unkomplizierte große Junge.

In einer spontanen Geste legte sie ihm jetzt die Hand auf den Schenkel.

»Keine Frau würde so reagieren wie du«, fuhr ihr Freund dessen ungeachtet immer noch wütend fort und fegte ihre Hand weg. »Keine meiner bisherigen Freundinnen hätte die Chance, mich heiraten zu können, derart aufs Spiel gesetzt. Ein halbes Jahr kann lang sein. Vielleicht lerne ich während dieser Zeit eine andere kennen.« Aus schmalen Augen warf er ihr einen herausfordernden Seitenblick zu.

»Das kann sein«, erwiderte sie betont gelassen. Lächelnd hob sie die Schultern. »Aber wenn du jetzt schon an andere Frauen denkst, sind die sechs Monate meiner Abwesenheit als Prüfstein unserer Beziehung vielleicht ganz gut für uns beide.«

Lars’ Schultern fielen herab. Er hatte sein Pulver verschossen, ohne dass sie umgefallen war.

»Julia, steht deine Entscheidung wirklich fest?«, fragte er nun matt. Dabei bedachte er sie mit einem verzweifelten Blick. »Ich will nicht, dass du gehst. Ich liebe dich. Das weißt du. Du aber gibst mir das Gefühl, dass deine Gefühle zu mir nicht mehr so tief sind wie am Anfang unserer Beziehung. Anders kann ich mir nicht erklären, dass du nach Kanada gehen willst.«

Ja, dazu hätte sie einiges sagen können. Aber hier im strömenden Regen bei schlechter Sicht im Stau?

»Fahr bitte mal dort hinten auf das Tankstellengelände«, bat sie ihn kurz entschlossen.

»Wie bitte? Wir sind sowieso schon spät dran. Als Juniorchef kann ich nicht mitten in die Rede meines Vaters platzen.«

»Tu es einfach.« Sie hörte selbst, wie energisch und entschieden sie klang. So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Sie hasste Konfrontationen, und es machte ihr nichts aus – anders als Lars – in Kleinigkeiten nachzugeben. Jetzt jedoch ging es nicht mehr um eine Kleinigkeit, sondern um ihr Leben, ihre Zukunft.

Zu ihrer Überraschung setzte Lars wortlos den Blinker, fuhr an den Tanksäulen vorbei und hielt auf einem Parkplatz zwischen anderen Autos an. Ungeduldig und sichtlich genervt sah er sie an. »Und?«

Sie holte tief Luft. »Bevor du weiterhin deinen Frust über mich ausschüttest, solltest du erst einmal mit dir selbst ins Gericht gehen und dich fragen, warum ich diesen Lehreraustausch gern machen möchte. Nicht nur, um dieses Land kennenzulernen. In der ersten Zeit unserer Beziehung hätte ich das Angebot vielleicht sogar abgelehnt, aber inzwischen glaube ich, dass uns ein bisschen Distanz, ein bisschen Zeit zum Nachdenken, ganz guttun wird.«

»Spinnst du? Das klingt ja so, als wäre ich schuld daran, dass du nach Kanada gehst. Als wolltest du von mir weg. Ich dachte bis heute, dass du mit mir glücklich bist. Bisher war jede meiner Freundinnen mit mir glücklich. Ich war immer derjenige, der Schluss gemacht hat.« Lars’ Miene nahm einen trotzigen Ausdruck an, seine Stimme schraubte sich höher. »Würdest du mir bitte sagen, was dir in unserer Beziehung nicht passt? Was dir fehlt? Was ich falsch mache?«

»Ja, das kann ich«, erwiderte sie sehr ruhig mit gedämpfter Stimme, ganz nach dem Motto Sprich leise, wenn du gehört werden willst. Bei ihren Schülern funktionierte diese Methode. Und Lars kam ihr momentan vor wie ein solcher, wie ein unreifer Junge. Sie hielt den Blick aus seinen hellblauen Augen fest, während sie weitersprach. »Du sagst, du liebst mich. Das glaube ich dir sogar. Nur dass ich in letzter Zeit manchmal das Gefühl habe, dass unsere Auffassungen von Liebe völlig unterschiedlich sind. Dass du nicht mich als Mensch liebst, sondern nur als die Frau, die dir optisch gefällt, die bei all deinen gesellschaftlichen und geschäftlichen Terminen eine gute Figur an deiner Seite macht und sich bis jetzt in die Rolle gefügt hat, die du ihr in deinem Leben zugeschrieben hast. Dass du dich darüber hinaus jedoch nicht für mich interessierst. Nicht für meinen Beruf, nicht für meine Hobbys, meine Träume, meine Gedanken. Solange ich funktioniere, ist die Welt für dich in Ordnung und du liebst mich. Falle ich aus dieser Rolle heraus, wirst du wütend und benimmst dich so wie gerade.«

Sie biss sich auf die Lippe. Noch war sie nicht bereit zu schweigen. Jetzt musste alles raus, was sich in der letzten Zeit immer mehr in ihr aufgestaut hatte, was sie jedoch nicht ausgesprochen hatte, um die gute Stimmung zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. »Lars, ich will um meiner selbst geliebt werden«, fuhr sie eindringlich fort. »Auch dann, wenn ich keine hohen Pumps und die Designerkostümchen trage, die du mir geschenkt hast. Ich will auch geliebt werden, wenn ich abends geschafft bin von der Schule und in alten Joggingklamotten und Socken auf der Couch liege. Außerdem will ich, dass du dich genauso auf mein Leben einstellst wie ich mich bisher auf deins. Dass du mit mir Sport treibst, dass wir zusammen in die Berge fahren, die ich so liebe, dort wandern oder Ski laufen. Ich will eine Beziehung auf Augenhöhe.« Sie verstummte.

Ihr ging nicht nur die Puste aus, sie erkannte auch an Lars’ Gesicht, dass er nichts von dem begriff, was sie ihm gerade gesagt hatte.

»Ich verstehe dich nicht.« Sichtlich hilflos schüttelte er den Kopf. »Ich behandle dich wie eine Königin, trage dich auf Händen, verwöhne dich mit Geschenken, und du …« Er schnappte nach Luft und fügte dann wieder voller Empörung schnaubend hinzu: »Soll ich dir was sagen? Eigentlich hast du mich gar nicht verdient.«

Julia schwankte zwischen einem ungläubigen Lacher und hilflosem Schluchzer. Doch es passierte nichts davon. Stattdessen machte sich in ihr eine grenzenlose Leere breit. Wenn sie gedacht hatte, Lars sei von den Frauen bisher zu sehr verwöhnt worden, um auf ihre Wünsche einzugehen, und sie würde ihn mit der Zeit noch ändern können, erkannte sie nun schlagartig, dass sie mit dieser Hoffnung völlig falschlag. Lars Asbeck war ein verwöhnter Sohn aus reicher Familie, der zum Prinzen erzogen worden war, der keinerlei Selbstzweifel kannte und schon gar keine Probleme. Er war auf der Welt, um Spaß zu haben. Großherzig wie er war, ließ er andere gern an seinem Spaß teilhaben, jedoch nach seinen Spielregeln.

Julia verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fröstelte, obwohl es warm im Auto war. Ihr war zumute, als würde sie ihren Freund gerade zum ersten Mal ungeschminkt sehen. Und das, was sie sah, war nicht nur liebenswert.

Lars schob den Ärmel seines Blazers zurück und warf einen Blick auf seine goldene Uhr.

»Das ist kein Thema für jetzt«, schnitt er energisch das Gespräch ab. »Darüber können wir ein anderes Mal debattieren.« Dann legte er mit quietschenden Reifen einen Kavalierstart hin und fädelte sich wieder in den Frühabendverkehr in Richtung Hafen ein. »Und noch etwas: Ich will nicht, dass du gleich auf der Jubiläumsfeier auch nur ein Wort von diesem Lehreraustausch erwähnst. Zu niemandem.«

Eine unbändige Wut schoss in Julia hoch.

Wen glaubte er denn vor sich zu haben? Irgendeinen seiner Werftarbeiter oder eine seiner Verflossenen, die ihn kritiklos angebetet hatten und denen er den Mund hatte verbieten können? Eigentlich müsste ich an der nächsten Ampel aus dem Wagen springen und dürfte ihn nie mehr wiedersehen, sagte sie sich mit fest aufeinandergepressten Lippen. Aber natürlich würde sie das nicht tun. Sie hatte ihm versprochen, ihn auf die Feier zum hundertjährigen Bestehen der Werft zu begleiten. Sie wusste, wie wichtig es für ihn war, sich mit seiner Partnerin, natürlich einer repräsentablen, in der Öffentlichkeit zu zeigen.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Lars angespannt in ihre Gedanken hinein.

Sie sah ihn an. »Keine Angst, wir machen auf glückliches Paar«, erwiderte sie mit nicht überhörbarem Sarkasmus.

Bis zu ihrer Ankunft im Hafen schwiegen sie beide. Ab und zu warf Julia ihrem Freund, der stur geradeaus blickte, einen verstohlenen Seitenblick zu.

Wollte sie ihn wirklich verlieren? Sie war verliebt in ihn gewesen. Er hatte so viele sympathische Seiten. Anfänglich hatte sie es sogar genossen, von ihm so sehr verwöhnt zu werden, obwohl sie auf materielle Dinge nie viel Wert gelegt hatte. Es war etwas Neues für sie gewesen, das ihrer Eitelkeit geschmeichelt hatte. Ihre Eltern hatten sie dazu erzogen, beständigere Werte im Leben zu schätzen als die, welche ein Haltbarkeitsdatum besaßen. Je näher sie Lars dann kennengelernt hatte, desto mehr belastete sie, dass sie aus zwei völlig unterschiedlichen Welten kamen, ganz abgesehen davon, dass er sich keine Mühe gab, auch an ihrer Welt teilzunehmen. Dass ihr die Verwirklichung ihres Traumes wichtiger war als das Zusammensein mit ihm, sagte doch eigentlich schon alles aus über ihre heutige Einstellung zu ihrer Beziehung.

Sie seufzte in sich hinein.

Als sie vor dem Bürogebäude der Werft ankamen, mutierte Lars wieder zu dem charmanten Kavalier, der sie damals angesprochen hatte. Er half ihr aus dem Sportcabrio, ließ den Schirm aufschnappen, führte sie am Arm auf den Eingang zu und hielt ihr die Tür auf.

»Feuerpause? Komm, Süße, mach nicht so ein Gesicht.« Er lachte sie an, als wäre nichts gewesen, legte den Zeigefinger unter ihr Kinn und küsste sie auf die Wange – um ihren Lippenstift nicht zu ruinieren. Danach reichte er ihr wieder seinen Arm und fragte mit aufmunterndem Blick: »Bereit für den großen Einmarsch?«

Julia nickte, mit einem dicken Knoten im Magen. Obwohl Lars’ machohaftes Verhalten das Adrenalin in ihrem Körper erneut hochschießen ließ, brachte sie es in diesem Moment nicht übers Herz, sich auf dem Absatz umzudrehen und ihm diesen Einmarsch zu vermasseln. So unfair wollte sie nicht sein. Was nach dieser Feier kam, würde man sehen. Eines jedoch stand für sie fest, als sie die Schwelle des Festsaales überschritt: Dieses Mal würde sie nicht nachgeben. Sie würde ihren Traum leben. Wenn Lars seine Einstellung und sein Verhalten nicht änderte, würden sie keine gemeinsame Zukunft haben.

2.

Kurz vor Julias Abreise entschied sich der Spätherbst mit seinen bunten Farben und einer bereits müden Sonne, noch einmal nach Hamburg zurückzukehren, so als wollte er Julia daran erinnern, dass auch ihre Heimat schön war.

An diesem letzten Tag im Oktober genoss Julia die Fahrt durchs Alte Land. Hier war sie auf dem großen Bauernhof ihrer Eltern aufgewachsen, den inzwischen ihre ältere Schwester Corinna übernommen hatte. Sie liebte den Anblick dieser riesigen Marschflächen besonders im Frühjahr, wenn die Obstbäume in voller Blüte standen. Dann schwebte ein leichter, süßer Duft über ihnen, der betörender war als jedes Parfüm. Jetzt roch die Luft nach Laub, feuchter Erde und Vergänglichkeit. Sie roch nach Abschied.

Julias Herz schlug höher, als sie durch die Pappelallee fuhr, die sich als graues Band durch die Landschaft bei Fischbek schlängelte. An deren Ende erwartete sie ihr Elternhaus, ein reich verziertes Fachwerkgebäude mit Reetdach. Hinter ihm erstreckten sich riesige Obstanbauflächen.

»Hi, Schwesterchen«, begrüßte Corinna die Jüngere und schloss sie in die Arme.

Die Agraringenieurin war zehn Jahre älter, mehr als einen Kopf größer und sehr viel kräftiger gebaut als Julia. Corinnas krauses, rotblondes Haar, das sie zu einem dicken Pinsel auf dem Oberkopf zusammengebunden trug, die Stupsnase mit den Sommersprossen, der weich geschnittene Mund und die stets fröhlich blitzenden, blauen Augen verrieten die Herzenswärme, die Lebensfreude und die unerschöpfliche Energie, die in dieser großen Frau steckten. Julia liebte ihre Schwester. Zu ihr hatte sie sogar noch eine engere Bindung als zu ihren Eltern.

»Na, bereit für die große Reise morgen?«, erkundigte sich Corinna, während sie Julia ins Haus zog. »Ich habe im Wintergarten gedeckt. Es gibt Kaffee und Apfelkuchen mit Äpfeln aus eigenem Anbau«, fügte sie mit verschwörerischem Zwinkern hinzu.

»Meine Henkersmahlzeit sozusagen«, scherzte Julia halbherzig. Plötzlich wurde sie traurig. Zu wissen, dass sie ihre Schwester wahrscheinlich sechs Monate lang nicht sehen würde, tat ihr weh.

»Quatsch, du kommst doch wieder«, sagte Corinna betont burschikos. »Spätestens Weihnachten zur Verlobung, oder?«, fragte sie mit argloser Miene. Dabei sprühten ihre Augen Funken.

Julia schwieg, streute Zucker in den Kaffee und rührte in der Tasse herum. Viel zu lange. Corinna verteilte derweil den Kuchen auf die beiden Teller.

»Guten Appetit«, sagte sie aufmunternd und stach beherzt die Gabel in die saftigen Äpfel.

»Guten Appetit.«

»Ist deine kanadische Kollegin inzwischen eingetroffen?«

Julia blickte auf. »Ja, gestern Mittag. Sie heißt Eileen, ist zwei Jahre älter als ich und super nett. Eine Frau wie ein Vulkan. So wie sie aussieht, wird sie meinen Hamburger Kollegen bestimmt den Kopf verdrehen.«

»Ist sie schon bei dir eingezogen?«

»Nein, heute wird sie noch mal bei ihren Bekannten in Hamburg schlafen, sonst könnte Lars ja nicht bei mir übernachten. Ab morgen wird sie dann bei mir wohnen.«

»Weißt du jetzt endlich, wohin genau es dich in Kanada verschlägt?«

»Die High School ist in Banff in der Provinz Alberta. Das habe ich dir ja schon erzählt. Wohnen werde ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Banff. Blackfoot Village heißt es. Es ist eine ehemalige Indianeransiedlung. Eileen wohnt dort in einem riesigen Blockhaus in einem Seitentrakt, aber auch erst seit einem Monat. Sie hat sich erst vor kurzem von ihrem Freund getrennt. Ihre Vermieterin soll sehr nett sein. Stell dir vor: Sie spricht sogar Deutsch, und das Haus liegt traumhaft schön am Ortsrand, mitten in der Natur am Fuße der Rocky Mountains. Wirklich super. Ich kann es kaum erwarten.«

»Hat sich Lars eigentlich inzwischen wieder eingekriegt?«, erkundigte sich Corinna kauend.

»Hmm. Zwei Tage nach dem Firmenjubiläum hat er sich gemeldet. Er war wie ausgewechselt, zeigte plötzlich Verständnis für meine Entscheidung, versicherte mir, wie sehr er mich lieben würde, dass diese sechs Monate seiner Liebe nichts anhaben könnten, dass er mit mir im nächsten Sommer in die Berge fahren will und dass er mich so oft wie möglich in Kanada besuchen wird.«

»Worauf du dich bestimmt jetzt schon total freust«, entgegnete Corinna trocken.

Julia lachte. »Genau. Irgendwie wäre es mir lieber, er käme erst mal nicht. Außerdem passt er überhaupt nicht nach Kanada. Das würde nur Probleme geben.«

»Wie haben eigentlich deine zukünftigen Schwiegereltern reagiert? Oder wissen sie noch gar nicht, dass sie dich bald los sind?«

»Lars hat es ihnen erzählt.« Julia legte die Gabel auf den Teller und lehnte sich seufzend in dem Korbsessel zurück. »Friederike hat mich vorgestern, als wir mit ihnen essen waren, mit Kühle und Distanz gestraft. Schließlich mache ich ihren Sonnenschein gerade unglücklich. Darüberhinaus kratze ich auch noch an ihrem makellosen Image der perfekten Großfamilie. Einige Leute in der Hamburger High Society könnten sich ja jetzt fragen, was Lars Asbeck an sich haben mag, wenn eine junge Frau das Weite sucht, statt alles daran zu setzen, so schnell wie möglich unter die Asbecksche Haube zu kommen. Stimmt da womöglich mit den tollen, unverwundbaren Asbecks irgendetwas nicht, was bis jetzt noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen ist?«

Corinna lachte ihr ungebändigtes Lachen. »Tief im Innern wird die gnädige Frau froh sein, dass die Mesalliance zwischen einer Bauerntochter und dem Spross einer hanseatischen Unternehmerfamilie erst einmal auf Eis gelegt wird. Seien wir ehrlich: Lars’ Eltern sind doch nur so nett zu dir, weil sie dich unter Lars’ bisherigen Freundinnen, seinen drittklassigen Models und namenlosen, zwielichtigen Schauspielerinnen, als Einäugige unter den Blinden einordnen. Du siehst nicht nur klasse aus, sondern bist auch noch intelligent. Und da unsere Eltern uns auch obendrein gute Manieren beigebracht haben, fällt es Gott sei Dank nicht so sehr auf, dass du aus einer einfachen Familie kommst.«

Julia lachte jetzt ebenfalls aus vollem Herzen. Sie liebte den schonungslosen Humor ihrer Schwester.

»Da du gerade unsere Eltern erwähnst … Wie geht es Mama und Papa? Seit einer Woche habe ich nicht mehr mit ihnen telefoniert. Ich hatte einfach so viel im Kopf.«

»Keine Sorge. Den beiden geht es bestens. Wir haben gestern noch miteinander gesprochen. Ich soll dich ganz lieb grüßen.« Corinna leckte die Sahne von der Gabel. »Stell dir vor, Papa will sich zur Bürgermeisterwahl aufstellen lassen. Ehrenamtlich. Und Mama hat mit ein paar Frauen einen Verein gegründet, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Grundschulkindern vorzulesen.«

»Wow. Ich finde es echt super, dass sie sich in ihrer neuen Heimat so engagieren. Und sie vermissen Fischbek überhaupt nicht?«

»Ich glaube nicht. Du darfst nicht vergessen, dass beide ursprünglich aus Brandenburg stammen. Sie kennen dort viele Leute noch von früher. Papa ist damals doch nur nach Hamburg gekommen, weil sein Bruder gestorben war und es niemanden für den Hof hier gab.«

»Den du in den beiden vergangenen Jahren zu einem richtig großen landwirtschaftlichen Betrieb ausgebaut hast.« Julia ließ ihren Blick über die Anbauflächen wandern, die sich an den Wintergarten anschlossen. Dann lächelte sie ihre Schwester voller Liebe an. »Die Eltern können stolz auf dich sein.«

»Ich glaube, das sind sie auch. Stell dir vor, inzwischen habe ich Verträge mit zwei Discounterketten abgeschlossen, deren Filialen ich in Hamburg und Umgebung mit Produkten aus der Region beliefere. Die Städter stehen auf so was.« Mit glänzenden Wangen hielt Corinna inne und sah Julia eindringlich an. »Aber noch mal zu dir und Lars.« Sie griff über den Tisch hinweg und nahm die linke Hand ihrer Schwester in ihre. »Wenn ich mich nicht irre, ist der neu, oder?« Zwinkernd sah sie Julia in die Augen.

Julia seufzte. »Ja, der Ring ist neu. Nagelneu sogar. Lars hat ihn mir gestern Abend geschenkt. Er trägt auch einen.« Sie zog ihre Hand zurück und drehte an dem doppelten Reif. »Leider ist meiner ein bisschen zu weit, aber ich kann ihn ja in Kanada enger machen lassen.«

»Zeig mal.« Corinna fasste das Schmuckstück näher ins Auge. »Ein goldener und ein silberner Ring, fest aneinandergeschweißt. Donnerwetter.«

»Nicht Silber, Platin«, verbesserte Julia sie.

»Natürlich, entschuldige.«

»Die Ringe sollen die enge Verbindung zwischen Lars und mir symbolisieren. Laut Lars.«

»Für wen steht Gold?«

»Für mich natürlich«, kam es Julia über die Lippen wie aus der Pistole geschossen. »Platin ist wertvoller als Gold.«

Beide lachten.

»Sag mal, könntest du mich morgen zum Flughafen bringen?«, wechselte Julia das Thema.

»Klar, kein Problem. Aber warum …?«

»Lars hat einen wichtigen Geschäftstermin«, unterbrach sie ihre Schwester.

»So, so.«

»Mir ist es so ganz lieb. Lars und ich sehen uns noch einmal heute Abend. Und dann …« Sie nickte entschlossen. »Dann ist es auch gut. Irgendwie bin ich schon heute gar nicht mehr richtig hier. Ich habe so viel anderes im Kopf. Und ich bin unheimlich aufgeregt. Ich habe das Gefühl, dass morgen etwas ganz Neues für mich beginnt. Etwas, was bis jetzt noch außerhalb meiner Vorstellungskraft liegt.«

»Ruft dich der Geist der Indianer?«, fragte Corinna mit all ihrer Liebe für ihre kleine Schwester in den Augen. Sie wusste, dass Julia als Kind Indianergeschichten geradezu verschlungen hatte.

»Vielleicht.« Julia lächelte versonnen.

***

Am nächsten Morgen war von einem sonnigen Spätherbst nichts mehr zu sehen. Über Nacht waren von Norden schwarze Wolken herangezogen, und es regnete in Strömen. Dichter Nebel behinderte die Sicht so sehr, dass Corinna den Geländewagen auf Schritttempo abbremsen und zusätzlich die Warnblinkanlage einschalten musste. Das nasskalte Wetter, der dichte Morgenverkehr und die ungeduldigen Hupkonzerte der Frühpendler machten Julia den Abschied aus der Stadt leicht.

»Mach es gut, Kleines, und pass auf dich auf. Wir skypen, okay?« Corinna nahm die Jüngere in die Arme und hielt sie ein paar Sekunden fest an sich gedrückt.

»Machen wir«, erwiderte Julia mit belegter Stimme leise an Corinnas Wange. »Eileen sagte, dass sie in Blackfoot Village Internet haben.«

»Super. Dann kann ja nichts schiefgehen.« Mit diesen Worten ließ Corinna sie los und schwang sich in den Jeep.

Julia war sich sehr sicher, dass ihre Schwester Tränen in den Augen hatte, genau wie sie. Schluss damit, rief sie sich zur Ordnung, nachdem der grüne Geländewagen in den Verkehrsstrom am Flughafen eingetaucht war. Niemand hatte sie gezwungen, heute nach Kanada zu fliegen. Das war allein ihre Entscheidung gewesen.

***

Hinter der Zollkontrolle lag der Warteraum für die Fluggäste nach Calgary. Neugierig sah sich Julia um. Immerhin würde sie mit diesen Menschen hier etwa fünfzehn Stunden an Bord verbringen. Vielleicht würde sie auch mit dem einen oder anderen ins Gespräch kommen.

Sie ließ ihren Blick über die Anwesenden wandern. An einer Person blieb er dann hängen, an einem Mann, den sie um die dreißig schätzte und der auch inmitten der größten Menschenmenge aufgefallen wäre. Er stand an einem der Fenster, durch die man auf das Rollfeld sah. Ungefähr ein Meter neunzig groß, kariertes Flanellhemd. Seine halbhohen Lederstiefel sahen derb und viel getragen aus. Er konnte nur Kanadier sein – ein Mann der Wildnis. Sie betrachtete sein Gesicht. Die klassisch kantigen Züge waren wie von Meisterhand gemeißelt, ein sinnlicher Mund – das Einzige, was sanft und weich an ihm wirkte. Das glatte, dunkle Haar trug er aus der Stirn gekämmt, zum kurzen Zopf im Nacken zusammengefasst. Tief in sich versunken lehnte dieser geradezu unverschämt gut aussehende Typ an der Wand und nahm sie nicht wahr. Er schien niemanden in diesem Raum wahrzunehmen.

Wow. Sie schluckte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so männlichen und zugleich schönen Mann gesehen zu haben. Doch noch mehr als sein Äußeres zog sie seine Ausstrahlung in den Bann. Er strahlte Kraft, Ruhe und Selbstbewusstsein aus. Dieses Selbstbewusstsein besaß nichts Arrogantes. Es ließ vielmehr ahnen, dass er seinen Platz im Leben gefunden hatte. Er wusste, was er wollte und was nicht. Dennoch, so wie er da stand, umgab ihn eine Aura von Einsamkeit, die sie anrührte. Ein einsamer Wolf in den Weiten Kanadas …

Unwillkürlich griff sie sich an die Stirn.

Hallo? Jetzt aber … Sie war kein dreizehnjähriges Mädchen mehr, das Trapper- und Indianergeschichten las, in denen sich der Held stets als einsamer Wolf durch die Story kämpfte, um am Ende nicht nur zu siegen, sondern auch noch eine liebende Gefährtin zu finden. Dieser Mann dort hinten war ganz gewiss kein einsamer Wolf. Er sah viel zu gut aus, als dass es nicht irgendwo mindestens eine Frau gab, die ihn längst eingefangen hatte. Wahrscheinlich wartete diese Frau in Calgary am Flughafen auf ihn, zusammen mit zwei süßen Kindern, die sich auf ihren Papa freuten.

Angenommen, er ist mein Sitznachbar, kam ihr plötzlich in den Sinn. Dabei machte ihr Herz einen ungesunden Sprung. Idiotin, sagte sie sich umgehend. Vergiss nicht, du bist quasi verlobt.

Natürlich saß sie nicht neben ihm, sondern neben zwei Geschäftsmännern, die nach Abflug ihre Laptops auspackten, um zu arbeiten. Ihr war es recht. So hatte sie Ruhe, um in ihre Tagträume abzutauchen, die dem Flieger voraus nach Kanada flogen.

Julia hätte nicht sagen können, wie lange sie schon in der Luft waren, als sie eine Entdeckung machte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: Sie vermisste Lars’ Ring am Finger. Himmel, das konnte nicht sein. Oder etwa doch? Vor dem Abflug war sie noch auf der Toilette gewesen und hatte den Ring vor dem Händewaschen abgenommen. Hatte sie ihn etwa auf der Ablage vor dem Spiegel vergessen?

Ihre Hände flatterten, als sie alle Taschen ihrer Jeans durchsuchte, alle Fächer ihres Rucksacks, der zu ihren Füßen lag. Sie stand auf, quetschte sich an ihren Sitznachbarn vorbei und riss ihren Parka aus der Gepäckklappe. Nichts. Völlig durcheinander ließ sie sich wieder in ihren Sessel fallen. Sie musste es akzeptieren: Sie hatte den Ring nach dem Händewaschen liegenlassen. Wie sollte sie Lars das erklären? Dafür gab es eigentlich nur eine Erklärung: Das Symbol ihrer Beziehung war für sie nicht wichtig genug gewesen. So würde Lars es sehen. Und sie würde kein Argument dagegensetzen können. Man passte auf das auf, was einem wichtig war. Das galt gleichermaßen für Gegenstände wie für Menschen.

3.

Julia wunderte sich, dass sie in dem Mietwagenbüro die einzige Kundin an diesem Vormittag war, obwohl es in der Ankunftshalle nur so von Reisenden wimmelte. Sie ging auf die Rezeption zu. Die junge Angestellte lächelte sie einladend an. Julia öffnete gerade den Mund, um ihr Anliegen vorzubringen, als ein wahrer Riese links neben ihr aus dem Boden wuchs und die Blonde mit der Brille ansprach – so, als wäre sie unsichtbar. Der Kanadier aus dem Flieger, erkannte sie verblüfft. Sein plötzliches Auftauchen, aber noch mehr sein unhöfliches Benehmen verschlugen ihr zunächst die Sprache. Völlig perplex starrte sie ihn von der Seite an. Dann nahm ihr Verstand seine Arbeit wieder auf. Falls ihre elektronische Reservierung nicht geklappt hatte, würde dieser Typ ihr womöglich den letzten Wagen vor der Nase wegschnappen. Schöner Mann hin oder her, nicht mit mir, Mister, sagte sie sich energisch.

»Entschuldigen Sie, aber ich war zuerst dran«, sprach sie ihn auf Englisch an.

Ihr vermeintlicher Kanadier redete weiter, teilte sein Anliegen, sofort einen Mietwagen zu benötigen, der jungen Frau mit tiefer Baritonstimme mit, als hätte er sie nicht gehört, obwohl er so nah neben ihr stand, dass sie seinen Duft einatmete, eine holzig-würzige Note, die so gut zu diesem Naturburschen passte. In dem Moment, als die Blonde hinter der Rezeption, die jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit diesem attraktiven Typen widmete, ihre Finger über die Tastatur fliegen ließ, schoss die Wut in Julia hoch, gepaart mit einer guten Portion Panik, gleich ohne Beförderungsmittel nach Blackfoot Village dazustehen.

»Hören Sie, ich war zuerst hier und habe einen Wagen reserviert«, sagte sie mit energisch klingender Stimme zu der Angestellten, die jetzt von der Tastatur hochblickte. Ein unsicherer Blick hinter den Brillengläsern wanderte zwischen ihr und dem Hünen hin und her.

»Machen Sie weiter«, wies dieser die hilflos wirkende Blondine an, die Julia daraufhin ein entschuldigendes Lächeln zuwarf und sich wieder dem Computer widmete.

»Also …« Voller Empörung schnappte Julia nach Luft. Das Blut schoss ihr in den Kopf. »Das ist ja wirklich krass«, stieß sie hervor.

Da endlich wandte sich Mister Unhöflich ihr zu.

»Sorry, Lady, ich brauche den Wagen so schnell wie möglich.«

Er sah sie nur flüchtig an, drehte sich sofort wieder um und trommelte mit den Fingern auf der Theke herum.

Ich brauche auch einen Wagen so schnell wie möglich, wollte sie schon spontan erwidern, besann sich dann und sagte stattdessen in zuckersüßem Ton:

»Merkwürdig, im Reiseführer stand, dass Höflichkeit in Kanada großgeschrieben wird und sich niemand vordrängelt. Das muss wohl eine sehr alte Ausgabe gewesen sein.«

Der attraktive Kerl reagierte nicht auf ihre spitze Bemerkung. Immer noch mit den Fingern trommelnd wartete er sichtbar ungeduldig darauf, dass er seine Unterlagen in Empfang nehmen konnte.

Unglaublich, dachte Julia mit fliegendem Puls. So rüpelhaft würde sich Lars niemals benehmen. Lars war ein Kavalier wie frau ihn in der heutigen Männergeneration kaum mehr traf. Seine guten Umgangsformen, die in seiner konservativen Familie üblich waren, hatten in einem britischen Internat noch den letzten Schliff bekommen. Ladies first stand bei ihm an erster Stelle.

Besonders wenn es darum geht, klein beizugeben, erinnerte sie eine Stimme in ihr.

Während Julia diese Gedanken durch den Kopf gingen, nahm der Mann neben ihr die Mietwagenpapiere samt Autoschlüssel an sich und verabschiedete sich knapp von der Blonden. Bevor er das Büro verließ, traf sein Blick sie. Und zwar mit voller Wucht. Jetzt konnte sie seine Augen sehen. Sie waren von einem ungewöhnlichen Blau, einem Königsblau, schwarz bewimpert, länglich geschnitten und weit auseinander stehend. Es waren ganz besondere Augen. Sie besaßen etwas Magisches, was an dieser ungewöhnlichen Farbe liegen mochte. Drei, vier Atemzüge lang sahen sie sich an. In den Männeraugen lag der Ausdruck von Distanz und Verschlossenheit.

»Sorry Lady.« Mit dieser mürrisch klingenden Entschuldigung stürmte Mister Unhöflich aus dem Büro.

Diese Stimme. Tief, leicht heiser, mit einem verruchten, ja sexy Unterton, der ihr unter die Haut ging – ob sie wollte oder nicht. Sie blickte immer noch zur Tür, obwohl diese sich schon längst hinter ihm geschlossen hatte.

»What a man«, hörte sie die junge Frau hinter der Theke in schwärmerischem Ton sagen. Dabei blinzelte sie ihr verschwörerisch zu.

Julia schüttelte den Kopf. Eine merkwürdige Begegnung. Und das, nachdem sie gerade erst vor wenigen Minuten kanadischen Boden betreten hatte. Obwohl sie immer noch wütend war, bedauerte sie gleichzeitig, dass sie diesen Typen wahrscheinlich niemals wiedersehen würde.

Idiotisch. Schluss jetzt, sagte sie sich und lächelte die Blonde versöhnlich an, die ihr nun bestätigte, dass ihre Reservierung geklappt hatte.

***

Julia fädelte sich am Flughafen in den Verkehr ein und fuhr in Richtung Trans-Canada-Highway. Ab jetzt lagen noch über einhundert Kilometer vor ihr, bis sie ihr Ziel erreicht haben würde. Sie schaltete das Radio an, aus dem sie der Countrysong See You Again begrüßte. See you again … Und prompt musste sie wieder an diesen attraktiven Typen mit den schlechten Manieren denken. Ob sie ihm noch einmal begegnen würde? Mehr als unwahrscheinlich.

Vergiss ihn, sagte sie sich. Konzentriere dich lieber auf das Land, in das du unbedingt wollest.

Der Highway schnitt sich durch den Banffer Nationalpark, der inmitten der Rocky Mountains lag. Bei der Zufahrt zum Park musste sie kurz anhalten, um ihren Nationalparkpass zu erhalten. Wie sie wusste, war besonders dieser Park, einer von vielen Nationalparks in Kanada, für seine spektakuläre Natur bekannt. Tosende Flüsse, wilde Schluchten, stille Bergseen, riesige Waldgebiete aus Zedern, Fichten und Hemlocktannen, über denen sich die schroffen, schneebedeckten Gipfel der Rockys erhoben. Durch die Sonnenstrahlen sah die Landschaft geradezu verzaubert aus. Alles glitzerte so, als wären Billiarden Kristalle vom Himmel gefallen. Julia konnte gar nicht genug bekommen von der Schönheit dieser ursprünglichen Natur um sich herum. Die Gegend erweckte all die Geschichten wieder zum Leben, die sie als Jugendliche über Kanada verschlungen hatte. Hier hatten früher, bevor weiße Siedler sie verdrängten, die Blackfoot Indianer gelebt, über deren Mystik sie viel gelesen hatte. So fiel ihr jetzt zum Beispiel wieder ein, dass für diesen Stamm alles, was passierte, eine Bedeutung hatte. Und mit einem Mal fragte sie sich mit versonnenem Lächeln, ob es wirklich Zufall war, dass sie ausgerechnet in dieser Gegend eine Stelle als Austauschlehrerin bekommen hatte.

***

Nach etwas mehr als einer Stunde fuhr Julia vom Highway ab und erreichte Banff. Hier war auch ihre Schule. Ihr erster Besuch dort stand für den nächsten Tag auf ihrer Agenda. Jetzt wollte sie erst einmal so schnell wie möglich zu Eileens Wohnung und sich dort einrichten. Noch spürte sie nichts vom Jetlag, aber der konnte ja noch kommen.

Sie folgte dem Hinweisschild nach Blackfoot Village und atmete auf, als sie den Ort endlich erreicht hatte. Das kleine Dorf bestand aus einer Ansammlung von Blockhäusern zu beiden Seiten der Straße. Mit ihren Holzfassaden sahen sie aus wie die Filmkulisse zu einem Western. Kurz vor ihrer Ankunft in ihrem neuen Zuhause begann ihr Herz wieder schneller zu schlagen. Dank Eileens genauer Beschreibung fand sie deren Wohnung auf Anhieb. Nach dem Ortsausgang führte rechterhand ein vom Schnee geräumter Weg auf eine Lichtung zu, auf der ein großes Holzhaus in der Nachmittagssonne badete. Es strahlte einen rauen Holzfällercharme aus und wirkte wie eine Schutzburg inmitten der kanadischen Wildnis. Das sehr viel kleinere Haus, das als Seitentrakt an das große angebaut war, würde für die kommenden sechs Monate ihr Zuhause sein. Zedern und Fichten, deren Äste sich unter der glänzenden Schneelast bogen, standen wie Wächter um die beiden Gebäude herum, vor der Kulisse weißer Gipfel, die in einen fast unwirklich dunkelblauen Himmel ragten.

Julia blinzelte mehrmals. Ja, das war Kanada, wie sie es von Bildern kannte. Sie war tatsächlich in ihrem Traumland angekommen.

Die Luft war klar, trocken und sehr, sehr kalt. Schnell zog sie sich die Kapuze über den Kopf und ging die Treppe zur Veranda des Haupthauses hinauf. Irgendwie machte es einen verlassenen Eindruck. Der Carport war leer. Ob Emily, ihre Vermieterin, gar nicht da war?

Keine Panik, sagte sie sich energisch und klopfte entschlossen an die Holztür.

Nichts. Keine Reaktion, nur Sonne und weiße friedliche Stille um sie herum. Nun gut. Beherzt drückte sie die Klinke runter und stellte überrascht fest, dass die Tür unverschlossen war. Und das in dieser abgelegenen Gegend. Hier konnte sich ja jeder einquartieren.

Die heimelige Wärme, die ihr entgegenschlug, beruhigte sie erst einmal. Das Haus war also bewohnt. Bevor sie eintrat, erinnerte sie sich noch rechtzeitig daran, dass man in diesem Land die Schuhe auszog, wenn man über die Schwelle trat. Schnell schlüpfte sie aus ihren Stiefeln und schloss die Tür hinter sich. Neugierig blickte sie sich um.

Sie befand sich in einem großen, hohen Raum mit Deckenbalken, rustikalen Holzmöbeln, Fellen und Geweihen an den Wänden und einem monumentalen steinernen Kamin, in dem ein einladendes Feuer brannte. In der Mitte des Zimmers stand ein langer Esstisch, mit einer Schale Obst und Nüssen. Neben ihr lagen ein Schlüsselbund und ein weißes Blatt Papier.

»Willkommen in Kanada. Ich musste dringend weg, bin aber spätestens am Abend wieder da. Liebe Grüße, Emily«, stand auf ihm in akkurater Schrift auf Deutsch geschrieben.

Julia seufzte. Schade, aber zumindest hatte sie ihre weite Reise bis hierhin ohne unangenehme Zwischenfälle geschafft. Das war doch schon mal ein Dankeschön an den großen Manitu wert war, dachte sie lächelnd.

***

Eileens Wohnung, in der es ebenfalls einen Kamin gab, besaß die gleiche rustikale Atmosphäre wie Emilys Haus. Wohnaccessoires in klaren Buntstiftfarben brachten genau die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit in den mit schweren Holzmöbeln eingerichteten Raum, die Eileen bei ihrem Kennenlernen ausgestrahlt hatte. Auf dem Tisch stand eine Thermoskanne, und in der Schale lagen Kekse, die, wie ihr herrlicher Duft verriet, erst vor kurzem gebacken worden waren. Ein Willkommensgruß von Emily.

Julia atmete tief durch, trat vor die breite Fensterfront und schob die Vorhänge zurück. Wow! Bei dem Ausblick auf die Berge und verschneiten Wälder breitete sich in ihr ein tiefes Gefühl von Ruhe und Frieden aus, ein Frieden, der von diesem Land selbst ausging, und plötzlich wusste sie, dass sie genau hierhin gehörte, zumindest in dieser Lebensphase.

Ein Motorgeräusch, das die heilige Stille unterbrach, ließ sie aufhorchen. Emily? Kam sie doch schon früher zurück? Sie ging zur Tür. Da sah sie auch schon einen signalroten Pick-up auf das Haus zukommen, hinter dessen Windschutzscheibe sie einen grauen Lockenkopf entdeckte. Er ähnelte dem, den sie auf Eileens Fotos gesehen hatte. Scheinwerfer blendeten zum Gruß zweimal auf. Ja, das konnte nur ihre Vermieterin sein.

Ein paar Sekunden später sprang eine kleine, rundliche Person in grüner Jagdhose, hohen Stiefeln und Lammfelljacke aus dem Wagen.

»Herzlich willkommen.« Emily nahm sie so herzlich in die Arme, als würden sie sich schon lange kennen.

Sie besaß eine tiefe Stimme. Mit ihrem regelmäßig geschnittenen Gesicht, den großen, beseelten braunen Augen und dem weich geschnittenen Mund war sie trotz der Fältchen immer noch sehr attraktiv.

»Ich konnte schon früher kommen«, sprach Emily ein wenig atemlos weiter. »Lass uns erst einmal in deine Wohnung gehen. Dort erzähle ich dir, was passiert ist.«

Als die beiden am Tisch saßen, begann die Ältere:

»Mein Großneffe hatte heute im Kindergarten einen Unfall. Zuerst hörte es sich sehr schlimm an, aber dann gab das Krankenhaus Entwarnung. Er hat eine Gehirnerschütterung und einen Beinbruch.« Emilys tiefbraune Augen füllten sich mit Tränen. »Trotzdem hat er noch Glück im Unglück gehabt. Er hätte sich auch das Genick brechen können. Die Ärzte sind zuversichtlich, dass er vor dem Wochenende wieder nach Hause kann.«

»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Julia betroffen.

Die beiden Frauen schwiegen ein paar Atemzüge lang. Dann zeigte Emily auf die Schale mit Gebäck. »Greif zu. Du hast doch bestimmt Hunger. Die habe ich selbst gebacken. Dieses Jahr habe ich schon früher mit der Weihnachtsbäckerei angefangen als letztes. Timmy, mein Großneffe, kann das Fest kaum erwarten. Und jetzt so etwas. Hoffentlich ist bis Weihnachten wieder alles gut.«

»Man sagt ja, dass Knochenbrüche bei Kindern schneller heilen als bei Erwachsenen. Wie alt ist Timmy denn?«

»Er ist vor kurzem sechs geworden. Timmy ist von der Schule zurückgestellt worden. Er geht erst nächstes Jahr«, antwortete Emily und klang so, als wollte sie dazu nicht mehr sagen. »Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen«, wechselte sie das Thema. »Wir liegen zwar sehr abgelegen von der Zivilisation, aber das ist hier ganz normal. In manchen Gegenden muss man fünfzig Kilometer bis zum nächsten Supermarkt fahren. Da haben wir es schon besser. In Banff bekommt man alles, was man braucht.« Sie lächelte, sichtbar bemüht, fröhlich zu wirken. »Genug geredet. Du musst müde sein. Kann ich dir beim Auspacken helfen?«

»Nein, vielen Dank«, wehrte Julia hastig ab. »Das mache ich allein. So viel Gepäck habe ich nicht. Bücher und Arbeitsmaterialien bekomme ich von der Schule gestellt«, fuhr sie fort. »Und Kleidung kann ich mir hier noch kaufen.«

»Wann wirst du den Mietwagen zurückgeben?«

»Morgen in Banff, bevor ich in die Schule gehe.«

»Wenn du möchtest, kann Bill ihn für dich morgen früh wegbringen. Wir wollen Timmy besuchen.«

Bill? Wer war Bill?

»Dann kannst du gleich morgen mit Eileens Auto in die Schule fahren«, fügte Emily hinzu.

»Das ist eine super Idee«, stimmte Julia ihr zu. »Danke.«

»Also, dann … Solltest du etwas brauchen oder Fragen haben, scheu dich nicht, zu mir zu kommen.«

»Mache ich.« Julia atmete tief durch. Ganz plötzlich machte sich der Jetlag bemerkbar. Sie sehnte sich nach einer Dusche, frischer Kleidung und Schlaf.

»Hinterm Haus liegt genug Holz für diese Woche. Der Kamin heizt die ganze Wohnung, wenn du die Türen offen stehen lässt. Außerdem gibt es auch noch eine elektrische Heizung.«

So viele Türen waren es nicht. Eileens Blockhäuschen bestand aus einem großen Raum, der Ess- und Wohnzimmer sowie eine offene Küche beherbergte. Daneben gab es noch ein kleines Schlafzimmer und ein Bad.

»Bill sorgt fürs Holz«, sprach Emily weiter. »Ich muss ihn nur anrufen, dann macht er die Regale wieder voll.«

»Dabei kann ich ihm helfen«, erwiderte sie.

»Wir sind übrigens morgen Abend bei Bill zum Potluck eingeladen«, teilte ihre Vermieterin ihr mit. »Weißt du, was ein Potluck ist?«

»Eine Einladung, bei der die Gäste ihr Essen und ihre Getränke selbst mitbringen. Manchmal sogar auch Geschirr und Besteck, um dem Gastgeber Arbeit und Aufwand zu ersparen.«

Emily lachte. »Genau. Männer, die allein leben, lieben diese Form der Einladung ganz besonders.«

Aha, Bill lebte also allein. Genauso wie Emily, wie sie von Eileen wusste. Wie alt mochte Bill sein?

»Wo wohnt Bill?«

»Hier in Blackfoot Village, am anderen Ende des Dorfes.« Emily legte ihr zum Abschied die Hand auf den Arm. »Ich glaube, du passt gut hierhin. Übrigens, im Kühlschrank stehen ein Glas selbst gemachte Elchpastete, geräucherter Lachs, ebenfalls selbst gemacht, und Oka-Käse. Kräcker sind im Schrank. Ich denke, das wird erst mal ausreichen, um bis morgen überleben zu können.«

Nachdem sich Julia häuslich eingerichtet, geduscht und einen Imbiss zu sich genommen hatte, mailte sie Corinna und Eileen, dass sie gut angekommen sei. Lars schickte sie eine SMS. Entgegen seines sonstigen Verhaltens antwortete er nicht, was sie wunderte und auch ein wenig enttäuschte. Aber in Deutschland war es ja schon weit nach Mitternacht.

4.

Am nächsten Morgen riss Julia der Klingelton ihres Handys aus dem Schlaf. Benommen sah sie sich um, bis sie begriff, wo sie war und dass jemand sie anrief. Dieser Jemand war Lars, wie ihr Display verriet. Klar, Lars saß durch die Zeitverschiebung bereits seit ein paar Stunden in seinem High-Tech-Büro aus Glas, Chrom und schwarzem Leder im Hamburger Hafen, aufgedreht durch Unmengen Kaffee.

»Ich habe bis jetzt gewartet, wegen der Zeitverschiebung«, legte er sofort los. »Danke für deine SMS, die ich heute Morgen erst gelesen habe. Du, ich habe eine Überraschung für dich. Ich habe gestern mal gegoogelt und ein super Hotel ganz in der Nähe von diesem Banff, oder wie dein Kaff dort heißt, gefunden. Ein Haus der Superior Class am Lake Louise in den Rockys. Chateau Lake Louise heißt diese Nobelherberge. Sie liegt auf fast zweitausend Meter Höhe direkt in der Wildnis. Ich denke, das könnte dir gefallen, Süße. Was sagst du?«

Julia blinzelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Lars’ Sätze prasselten wie Steine auf sie herab und hinterließen ein dumpfes Klopfen in ihrem Kopf.

»Was soll ich dazu sagen?«, erwiderte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

Lars lachte sein unbekümmertes Lachen. »Du willst jetzt bestimmt wissen, wann wir beide dorthin fahren? Also, ich sag es dir. Übernächstes Wochenende jette ich zu dir rüber. Ich habe mir ein paar Tage frei genommen, und du machst in der Schule ein paar Tage krank. Dann gönnen wir uns dort eine schöne Zeit. Ich werde auch mit dir Ski fahren. Versprochen. Was hältst du davon?«

Ein paar Sekunden lang hing Lars’ freudige Erwartungshaltung in dieser unendlich langen Leitung, lauerte dort wie ein Tier im Hinterhalt auf ihre Reaktion. Julia war jetzt hellwach. Wie stellte Lars sich das denn vor? Ein paar Tage krank machen. Das ging ja gar nicht. Sie richtete sich im Bett auf.

»Sag mal, spinnst du?«, fuhr sie ihn empört an. »Ich kann doch nicht so einfach in der Schule fehlen. Zumal ich auf meinen Wunsch hin nur eine halbe Stelle bekommen habe, was sowieso schon eine Ausnahme darstellt. Ich bin an dieser Schule genauso angestellt und muss meine Arbeit leisten wie an dem Gymnasium in Hamburg. Auf krank machen geht ja gar nicht. Und mal einfach so für ein paar Tage hierher fliegen … Das bedeutet fünfzehn Stunden im Flieger und noch fast zwei Stunden Fahrt von Calgary bis Blackfoot Village. Sei mir nicht böse, aber das ist totaler Schwachsinn. Außerdem möchte ich mich hier erst einmal einleben. Und in so einer Nobelherberge würde ich bestimmt keinen Urlaub machen. Ich bin wegen der Natur hier.« Sie verstummte. Sie hatte selbst gehört, wie aggressiv sie geklungen hatte, und bekam prompt ein schlechtes Gewissen. Lars wollte ihr eine Freude machen, auf seine Art. Er ging immer davon aus, dass seine Art auch ihre war.

Sie horchte ins Smartphone. Doch ihr klang nur eisiges Schweigen entgegen. Klar, sie hatte ihn gerade zutiefst verletzt. Irgendwann jedoch sagte er dann im Kleinjungenton:

»Ich dachte, ich würde dir eine Freude machen. Vermisst du mich denn gar nicht? Hast du keine Sehnsucht nach mir?«

Oh Mann!

»Lars, bitte. Wir haben uns doch gerade erst voneinander verabschiedet. Lass mich doch erst einmal hier richtig ankommen. Dann sehen wir weiter.« Unsicher hielt sie inne.

Was konnte sie ihm anbieten? Womit konnte sie ihn trösten? Distanz schafft Nähe, diesen Satz hatte sie mal irgendwo gelesen. Seine Aussage schien bis jetzt jedoch nur auf Lars zuzutreffen. Sie verspürte noch keine Sehnsucht nach ihm. Das mochte an den vielen neuen Eindrücken in diesem fremden Land liegen, die sie beschäftigten und die Lars natürlich nicht hatte.

»Der lange Flug macht mir nichts aus«, beteuerte er in eindringlichem Ton. »Pass auf, ich mache dir einen Kompromissvorschlag: Dann komme ich schon am nächsten Wochenende, aber nur für drei Tage. Von Freitagmorgen bis Sonntagabend. Da du Freitag nur morgens in der Schule bist, haben wir den halben Tag für uns. Samstag und Sonntag hast du ja sowieso frei. Und dieses Hotel … Das muss nicht sein. Ich kann ja bei dir wohnen.«

Du lieber Himmel! Ihr war zumute, als würde ihr der Hals zugeschnürt.

»Nein, Lars, das geht nicht«, entgegnete sie energisch. »Ich meine, dass du jetzt kommst. Das wäre ja in drei Tagen. Wir haben heute Dienstag. Heute Morgen gehe ich zum ersten Mal in die Schule. Dort erfahre ich, wie alles läuft. Morgen beginnt für mich der reguläre Unterricht. Ich muss mich doch erst mal hier akklimatisieren, bevor ich Besuch bekomme. Ich will das Zusammensein mit dir doch auch genießen können. Gib mir ein bisschen Zeit. Vielleicht komme ich ja auch in den Weihnachtsferien nach Deutschland.«

Stille. Drei, vier, fünf Sekunden lang. Dann donnerte es an ihr Ohr: »Habe ich gerade richtig gehört? Vielleicht? Ich dachte, es stünde für uns beide unwiderruflich fest, dass du Weihnachten zu mir kommst und wir uns Heiligabend verloben.«

Ja, für Lars stand dies unwiderruflich fest. Und wie sah das bei ihr aus? Sie konnte sich auch gut vorstellen, das Weihnachtsfest hier in Kanada zu feiern. Eileen blieb schließlich auch in Hamburg. Die Flüge waren viel zu teuer, um ständig hin und her zu jetten. Natürlich würde Lars ihren Flug bezahlen, aber damit machte sie sich schon wieder von ihm abhängig. Und das wollte sie ab jetzt nicht mehr.

»Julia?« Lars’ Stimme klang schneidend.

»Ich bin noch dran, du musst nicht so schreien.« Sie seufzte. »Sei mir bitte nicht böse, aber dieses Gespräch wird mir jetzt einfach zu viel. Ich bin gerade erst durch deinen Anruf wach geworden. Ich brauche dringend einen Kaffee. Danach muss ich unter die Dusche und in die Schule fahren. Ich kann ja schlecht am ersten Tag schon zu spät kommen. Lass uns ein anderes Mal darüber reden.«

Wieder schien die Verbindung zwischen ihnen tot zu sein, bis Lars in dem ihr inzwischen bekannten trotzigen Ton sagte: »Nur eines noch, Süße: Überleg dir genau, was du tust.«

Es klickte an ihrem Ohr. Ihr zukünftiger Verlobter hatte aufgelegt.

Pff … Julia atmete aus. Regungslos, als wäre gerade ein Blizzard über sie hinweggefegt, blieb sie erst einmal auf dem Bett sitzen. Ratlos sah sie zum Fenster hinaus.

Über die sanften Hügel der Prärie im Osten schob sich gerade die Sonne und warf ihre ersten Strahlen aufs Land. Ein neuer Tag begann. Ihr erster richtiger Tag in Kanada, ihrem Traumland. Mit einem Mal musste sie lächeln. Vielleicht sollte sie Lars’ Anruf erst einmal vergessen.

***

Emily und Bill mussten an diesem Morgen sehr früh nach Banff aufgebrochen sein. Als Julia nach draußen in die kalte, klare Luft trat, waren der rote Pick-up und der Mietwagen schon weg. Stattdessen stand ein dunkelgrüner Jeep vor Emilys Haus. Bills Wagen, schlussfolgerte sie und machte sich auf den Weg zur Schule.

Zu dieser frühen Stunde war sie mit nur wenigen anderen Autofahrern allein unterwegs. Erst kurz vor Banff belebte sich die Landstraße, und im Ort selbst herrschte bereits ein reges Treiben. Leute fuhren oder gingen zur Arbeit, Wintersportler befanden sich, die Ski geschultert, im Anmarsch auf die noch jungfräulichen Pisten des dem Stadtzentrum nahe gelegenen Sunshine Village. Banff glich einem Wintersportort, wie man ihn auch in den österreichischen oder schweizer Bergen fand, nur dass hier die Straßen und Bürgersteige breiter, die Fahrzeuge größer und die Gipfel höher waren.

Das Navigationssystem von Eileens Auto führte sie problemlos zur Banff Community High School, die, wie alle Gebäude hier zu sein schienen, nur zweigeschossig war. Welch ein Kontrast zu ihrem Hamburger Gymnasium mit seinen weit über tausend Schülern. Neugierig und guter Dinge betrat Julia die Schule – um sie nach einer Stunde in ebenso guter Laune wieder zu verlassen, mit Arbeitsmaterialien und Stundenplan im Gepäck und dem Nachklang des herzlichen Empfangs ihrer Kollegen im Herzen. Ja, sie konnte zufrieden sein. Auch mit ihrer zukünftigen Arbeitsstätte hatte sie Glück. Was nun?, fragte sie sich. Es war gerade früher Vormittag. Warum nicht den Ort kennenlernen und einen Kaffee trinken? Ab morgen fing für sie der Ernst des Lebens wieder an.

Zuerst schlenderte sie über die Banff Avenue, die breite Hauptstraße, vorbei an den vielen Geschäften, in denen es nicht nur hochwertige Kleidung und Skizubehör zu kaufen gab, sondern auch die typischen Souvenirs wie bedruckte T-Shirts und Ahornsirup, der so typisch für Kanada war. Es gab Restaurants und sogar eine Banff Ave Brewing Company, die die Touristen mit dreistöckigen Riesenburgern und acht Sorten hausgebrautem Craftbeer anlockten. Westernbars boten abends Livemusik an. Für Unterhaltung würde also hier gesorgt sein, falls Lars sie besuchen sollte. Er liebte es, unter Menschen zu sein.

Nach einem dreiviertelstündigen Erkundungsgang in eiskalter Luft ging sie in eines der Cafés und ließ bei Kaffee und Apple Pie die Eindrücke, die sie aus der High School mitgebracht hatte, in aller Ruhe im Geiste Revue passieren. Irgendwann drangen Gesprächsfetzen an ihr Ohr, die sie aufhorchen ließen. Am Nebentisch hatte sich eine Gruppe junger Frauen niedergelassen. Mütter von Kindergartenkindern, wie sie schnell herausfand, die ein großes Problem miteinander verband: Ein Wolf, der seit ein paar Tagen die Gegend unsicher machte.

»Ich lasse meine Kinder nicht mehr nach draußen«, sagte eine aus der Gruppe mit hochroten Wangen in gequältem Ton.

»Merkwürdig, ich habe hier noch keinen Wolf gesehen«, entgegnete eine andere gelassen.

»Hier in den Ort kommt der auch nicht«, erwiderte eine Dritte hörbar spitz. »Außer dir wohnen aber alle von uns am Stadtrand.«

»Es soll eine trächtige Wölfin sein«, wusste eine von ihnen zu erzählen.

»Mein Mann will heute Abend mit dem Bürgermeister darüber reden«, schaltete sich nun eine aufgedonnerte Blondine ein und lehnte sich dabei mit gönnerischer Miene zurück. »Die beiden kennen sich seit der Schulzeit. Mein Mann meint, er könnte da was machen.«

»Wo ein Wolf ist, sind auch andere. Jeder weiß doch, dass sie nur in Rudeln auftreten. Das muss man unterbinden.«

»Dieser hier ist bisher nur allein gesehen worden.«

»Wir wollen keine Wölfe in unserem Ort.«