Eine charmante Person - Eckart von Naso - E-Book

Eine charmante Person E-Book

Eckart von Naso

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Beschreibung

Eine Liebesgeschichte, die jeder von uns erlebt haben könnte – im Eisenbahncoupé zwischen Le Havre und Paris angesponnen – weitet sich zu Schicksalen seltsamer Art. Auf mancherlei Umwegen, die über den Gesellschaftsskandal, sogar in das Irrenhaus führen, münden sie schließlich in die Unsterblichkeit, die ein deutscher Dichter vor hundert Jahren seiner letzten Geliebten verleiht. So lernen wir auch Heinrich Heine in den Monaten seines verlöschenden Daseins kennen und fünf Frauennamen, die ihn geheimnisvoll umspielen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Eckart von Naso

Eine charmante Person

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Inhalt

Für Annemay Schlusnus die [...]Camilla 1881Margot 1847Madame De V. 1852Mouche 1855Elise 1856Heinrich Heine, Briefe von [...]

Für Annemay Schlusnus die Wegbereiterin und Wegbegleiterin der ‹Charmanten Person›

Camilla 1881

Mietkutschen und Equipagen fuhren in langer Reihe am Konzerthaus vor – es war in der Wintersaison 1881 – Scharen eleganter Besucher strömten über die Treppe ins Vestibül, an Plakaten vorüber, die den Namen eines jungen Sängers zeigten. Sein Stern ging eben über Paris auf, wie er in Wien und Berlin aufgegangen war. Mantillen und Dekolletés, Fräcke und Uniformen verloren sich jetzt im Innern des Hauses, nur der vorsichtige Schritt der zu spät Kommenden und das Gemurmel der Garderobefrauen blieb in den Foyers zurück. Dann schlug ein Gong an, es wurde still. Gedämpftes Klavierspiel klang auf, eine Stimme sang, die bald zu den bekanntesten gehören sollte.

Es verging eine Zeit, da rauschte Beifall auf, die Türen zum Vestibül wurden geöffnet, das Publikum, eine sich teilende Flutwelle, strömte aus Rang und Parkett in die Wandelgänge zurück, im Ohr noch die Verzauberung, die Heines ‹Dichterliebe› in der Musik von Robert Schumann bewirkt hatte.

Alexandre Dumas fils, berühmter Romancier und Verfasser so erfolgreicher Theaterstücke wie ‹Kameliendame› und ‹Demi-monde›, promenierte das Foyer entlang, begleitet von dem jungen Komponisten Alfred Bruneau, der für den ‹Figaro› die Musikkritiken schrieb. Immer wieder mußten beide grüßen. Denn die große Familie der Journalisten, Schriftsteller, Maler und Musiker von Paris war zum Debut des Sängers erschienen.

«Ich beneide Sie nicht», sagte Dumas.

Bruneau sah fragend auf.

«Es ist leicht, ja manchmal geradezu ein Vergnügen, zornige Kritiken zu schreiben, aber schwerer, zu loben. Ich weiß es aus Erfahrung.»

«In diesem Falle aber –» wollte Bruneau erwidern.

«In jedem Falle, mon cher», fiel der andere ihm ins Wort.

«Wer lobt, ist vor Superlativen nicht sicher. Sie schaden dem Künstler wie dem Kritiker. Der Künstler wird eitel, der Kritiker verliert die maßvolle Objektivität, die ihm ziemt.»

Bruneau wollte etwas sagen, doch Dumas fuhr schon fort: «Dieser Sänger ist noch sehr jung, zu jung vielleicht – nicht für Heine, nicht für Schumann, aber für die ‹Dichterliebe›. Wir werden seine Entwicklung abwarten müssen.» Damit war der junge Sänger für ihn abgetan. Jetzt interessierte ihn nur mehr das Publikum.

Sie waren am Ende des Wandelganges angelangt und setzten sich dort auf eines der kleinen Plüschsofas. Im Gesumm der Stimmen, da Wortfetzen der Kritik an ihrem Ohr vorüberflogen und immer wieder der Name des Künstlers deutlich wurde, gingen Alexandres Gedanken in die Vergangenheit zurück. «Mein Vater hat ihn kurz vor seinem Tode gesehen. Er hatte keinen Körper mehr, er war nur noch Geist. Aber wie leuchtete dieser Geist noch an der Schwelle einer anderen Welt.»

«Heinrich Heine?»

Dumas nickte schweigend. Dann sagte er: «Das ist an fünfundzwanzig Jahre her, mein Vater hat es mir oft erzählt. Wie er es mir aber erzählte, ist mir unvergeßlich geblieben. Denn er war Heines Freund.»

Der junge Bruneau hatte respektvoll zugehört. Jetzt sprach er seine eigenen Gedanken aus. «Ich glaube Heine und Schumann haben sich nie gekannt – merkwürdig zu denken. Aber sie sind im selben Jahr gestorben.»

Eine scharfe, hohe Stimme machte diese letzten Worte des Komponisten undeutlich. «Der neumodische Druckknopf hat sich bei mir nicht bewährt. Ich bin wieder zu Haken und Öse übergegangen. Aber sehen Sie dort.» Die zwei Damen, die, nach der neuesten Mode gekleidet, nebeneinander standen, unterbrachen ihr Geplauder und blickten in dieselbe Richtung. «Sehen Sie nur, der Herzog von Montmorency und Madame de Hauteville. Sie trägt schon wieder ein neues Bracelet. Der Herzog ruiniert sich für sie. Dabei ist sie nicht einmal hübsch.»

«Apart, meine Liebe.»

«Vielleicht hat sie Reize, die uns verborgen bleiben.»

«Und wie hat Ihnen eigentlich der Sänger gefallen?»

Die andere zuckte die Achseln. «Ich verstehe nicht viel davon. In Konzerte gehe ich nicht nur wegen der Musik. Ich liebe gesellschaftliche Ereignisse.»

Zwei Kürassieroffiziere grüßten und traten hinzu. So kühn und sicher sie in ihren kleidsamen Uniformen wirkten, so wenig sicher fühlten sie sich in dem ihnen fremden Kreis von Kunst und Musik. Die weißen Schultern der Damen, ihr Parfüm und Geschwätz gaben den Offizieren die Sicherheit zurück. Sogleich fingen auch sie an zu lästern.

«Zu viel Berühmtheiten», sagte der eine, «zu wenig wirkliche Vornehmheit, wie wir sie», er verbeugte sich vor den Damen, «bei Ihnen finden dürfen.»

Der andere sekundierte, indem er mit einem Rümpfen der Nase das Pincenez elegant an der schwarzen Seidenschnur fallen ließ. «Die Gesellschaft der Dritten Republik läßt überhaupt zu wünschen übrig, aber –»

Der erste fiel ein: «– man hatte dem Regiment Karten geschickt. Wir, als die jüngsten, mußten antreten.»

«Auch ein Konzert geht vorüber. Vielleicht haben wir die Ehre, den Abend mit Ihnen, meine Damen, bei Véfour beschließen zu dürfen?»

Sie gingen jetzt allesamt weiter. Bruchstücke anderer Unterhaltungen schwirrten.

«Finden Sie nicht auch», rief ein junger Elegant, «die Romantik der ‹Dichterliebe› wirkt schon recht angejahrt. Man sollte sie nicht mehr singen.»

«Immer», entgegnete ein Älterer, «sollte man sie singen. Dabei verstehe ich den deutschen Text kaum. Trotzdem finde ich den Gleichklang von Sprache und Musik genial. Und was wichtiger ist, er geht mir ans Herz.»

Einer der nouveau-riches, die an Baugrundstücken verdient hatten, blieb stehen und hielt einen Entgegenkommenden an. «Wissen Sie das Neueste? Der Gotthardtunnel, von dem wir kürzlich sprachen, ist endlich fertiggeworden. Ich habe es in den Gazetten gelesen. Neun Jahre hat man daran gebaut.»

Der andere lachte. «Am Kölner Dom, der auch endlich fertig ist, hat man sogar sechshundert Jahre gebaut.»

«Was Sie nicht sagen! Dafür ist der Dom auch höher.» Sein Lachen klang etwas albern.

Der andere gab zurück: «Aber der Tunnel ist länger. Denken Sie, 15 Kilometer lang nichts als Felsen und schwarze Nacht! Als Fachmann muß ich sagen: eine Leistung!»

Den Wandelgang herauf näherten sich langsam zwei Menschen, eine Dame und ein Herr. Der Herr überragte sie um Haupteslänge und schien in der ruhigen Festigkeit seines Wesens ihr Gegenteil zu sein. Es ging eine reizende Lebendigkeit von ihr aus, nicht nur, weil sie klein, schmal und zierlich war. Auch blieb es schwer, auf ihr Lebensalter zu schließen. Denn etwas wie die liebenswürdige oder auch sinnliche Grazie des Rokoko bestimmte die Beweglichkeit von Antlitz und Figur und ließ sie jünger erscheinen, als sie es wohl in Wirklichkeit war.

Dumas blickte den beiden aufmerksam entgegen. «Da kommt», sagte er zu Bruneau, «ein interessantes Paar. Sie kennen Hippolyte Taine?»

«Ich habe seine Vorträge über Philosophie der Kunst gehört. Ich habe die Schriften dieses großen Positivisten gelesen, sogar seine ‹littérature anglaise›. Ein Satz hat mir damals besonderen Eindruck gemacht: Tugend und Laster sind Produkte wie Zucker und Vitriol.»

Dumas lachte. «Er muß alle Dinge auf die Spitze treiben. Kennen Sie die Dame neben ihm?»

«Ja, es ist Camilla Selden. Ihre Studie über Mendelssohn habe ich mit Begeisterung gelesen.»

«Taine, der unbestechliche Kunstrichter, schätzt ihr Talent fast über Gebühr. Er lernte sie zwei Jahre nach Heines Tod kennen. Was sie heute ist, hat er aus ihr gemacht – eine Schriftstellerin von Ruf, trotzdem eine charmante Person.»

In diesem Augenblick war das Paar, langsam schreitend, und manchmal den Schritt verhaltend, um Vorübergehende zu grüßen, zum Ende des Wandelganges gelangt. Sogleich erhob sich Dumas und schritt auf Camilla zu, küßte ihr die Hand und begrüßte auch Taine, dessen geistvolles Gesicht mit dem spitz geschnittenen Vollbart Gelassenheit, sogar Güte verriet, die man in dem scharfen Kritiker der Zeit kaum vermutet hätte.

Dumas, wieder zu Camilla gewandt, machte ihr eines jener üblichen Komplimente, das hier sogar ehrlich war. «Ich hatte lange nicht das Vergnügen, Sie zu sehen, Madame. Nun scheint es mir, Sie sind, im Gegensatz zu uns anderen, um einige Jahre verjüngt.»

Die Selden warf mit einem graziösen Schwung die Schleppe zurück, wobei für einen Moment der kleine Stiefel sichtbar wurde. So stand sie leicht und frei vor dem berühmten Sohn des berühmten Vaters, in ihrem Tournürekleid aus hellgrauer Seide mit den fraisefarbenen Volants, und der Cul de Paris hob noch die Zierlichkeit ihrer Gestalt. Sie lachte und sah den Meister mit ihren blauen, zugleich klugen und lustigen Augen an. «Verjüngt? Sie sind reizend, lieber Dumas fils! Fast so reizend wie Ihr Papa, den ich noch gekannt habe. Aber leider, der Kalender spricht gegen Sie.»

«Dann», lachte er, «sollte man alle Kalender abschaffen.» Er ergriff leicht Bruneaus Arm, der sich bescheiden zurückhielt, und zog den Komponisten in das Gespräch. «Sie sind Madame Selden vorgestellt?»

«Ich habe die Ehre, sie zu kennen. Aber Madame wird sich meiner nicht mehr erinnern.»

«Doch, ich erinnere mich. Sie haben den Römerpreis für Musik bekommen, und ich war im Conservatoire unter den Gratulanten. Dafür haben Sie mir so verständig geschrieben, als mein Musikerroman ‹Daniel Vlady› herauskam.»

Bruneau errötete vor Freude. «Madame entsinnt sich meiner wirklich.»

Taines ruhige Stimme griff jetzt ein. Immer war es sein Stolz, vom Werk der Camilla Selden zu sprechen. «Sie hat manches Achtbare geschrieben. Der große Griff aber war Charlotte Brontë, die englische Pastorentochter, die aus der puritanischen Enge in die Welt der Leidenschaften ausbricht. Das ist modern. Das ist die Emanzipation der Frau von heute.»

«Ja», sagte Dumas, «die Welt der Wirklichkeit, nicht im Goldschnitt gesehen. Ich habe den Essay gelesen. Wie hieß er doch?»

«‹L’esprit des femmes de notre temps›. Dort hat sie auch über Rahel Varnhagen von Ense und ihren berühmten Berliner Salon geschrieben.»

Inzwischen waren die Kürassieroffiziere mit den beiden Damen zur Saaltür zurückgekehrt.

Ein schöner, junger Mann mit dunklem Schnurrbart und kleiner Fliege am Kinn kam jetzt den Wandelgang herauf.

«Was für einen merkwürdigen Rock der Mann mit den traurigen Augen trägt! Es scheint mir ein Frack, für den der Stoff nicht gereicht hat!»

«Nicht reichen sollte», belehrte sie einer der Offiziere. «Ein Smoking, wie man ihn nennt, die neueste Londoner Création.» Die andere fuhr herum. «Aber das ist doch Guy de Maupassant, der Unwiderstehliche. Er schreibt so köstlich schlüpfrige Geschichten.»

«Seit ich», warf die erste ein, «Zolas ‹Nana› gelesen habe, kann ich auf diesem Gebiet mitreden. Aber ich muß schon sagen, wir sind zu einem Gipfel der Anstößigkeit gelangt.»

«Anstößig? Zola vielleicht – Maupassant nicht. Wie können Sie die elegante Feder des Novellisten mit der harten Faust des Romanciers vergleichen, dem jede liebenswürdige Geschmeidigkeit fehlt.» Sie ließ eine Spannungspause eintreten, dann die Stimme dämpfend: «Er schöpft seine Novellen aus eigenen intimen Erfahrungen.»

Der einunddreißigjährige Dichter konnte nicht ahnen, welchen Stoff zu angeregter Pausenunterhaltung er bot. Langsam steuerte er auf die Gruppe um die Selden zu. «Manchmal», rief Camilla, «freut es einen, wenn die Konzertpause sich in die Länge zieht. Man trifft die nettesten Menschen.»

Maupassant beugte sich über ihre Hand. «Wie charmant Sie wieder sind!»

«Charmant und voller Geist», warf Taine schnell und ernsthaft ein.

«Meine lieben Herren», wehrte sie heiter ab, und wieder bekam die Schleppe einen kleinen Tritt. «Es wird euch nicht gelingen, mich eitel zu machen. Ich weiß zu genau, wie ich mit mir dran bin. Die George Sand bin ich nicht. Camilla Selden soll mir genügen.» Dabei wendete sie sich dem schmalen Herrn zu, der – ein Kavalier alter österreichischer Schule – der Gesandtschaft angehörte und in der Pariser Gesellschaft allgemein beliebt war. Nach einigen verbindlichen Worten fragte sie, wie nebenbei, ob er etwas vom Ergehen des Dichters Alfred Meißner gehört habe.

Der Gesandtschaftsrat gab bereitwillige, sogar interessierte Auskunft. «Unser neuer Lenau, wie wir ihn manchmal nennen, ein Meister der Form und der Besten einer im heutigen Österreich, steht vor der Verleihung des Adels durch Seine Majestät den Kaiser Franz Joseph.» Sich lebhaft unterbrechend, fragte er noch: «Sollte Madame ihn persönlich kennen?»

So ruhig wie sie gefragt und zugehört hatte, antwortete sie. «In meiner Jugend kannte ich ihn. Wir waren Freunde. Lebt er eigentlich noch in Prag?»

«Nein, er lebt am Bodensee – in Bregenz.»

Das Gespräch wurde unterbrochen. Die Gruppe setzte sich langsam in Bewegung und löste sich dadurch auf. Dumas hatte den Gesandtschaftsrat wegen einer Aufführung der ‹Demimonde› in Wien angesprochen.

Der Österreicher lächelte zuvorkommend. «Das Stück ist reizend. Mehr noch als das Stück bewundere ich seinen Autor», er verbeugte sich leicht vor Dumas, «der einen so treffenden Begriff wie demi-monde prägen konnte. Die ‹Halbwelt› wird sich bei diesem Einfall geschmeichelt fühlen!»

In einem gewissen Abstand folgten Camilla und Maupassant nach, jetzt schon fast allein, denn viele der Besucher hatten inzwischen ihre Plätze wieder eingenommen.

«Ich kenne Sie heiterer, mein Freund.»

«Sie, verehrte Camille, kommen aus einer schöneren, romantischen Welt. Wir aber –! Wenn der große Taine recht hat und der Mensch nur noch aus Milieu und Vererbung gemacht wird, dann lebt unsere vermeintliche Freiheit in einer recht öden Kaserne des Geistes.»

Camilla unterbrach ihn lebhaft. «Sie dürfen Ihre Melancholie nicht zu weit treiben, Maupassant. Gerade haben Sie doch dem Geist die hübschesten Häuser gebaut, sogar ein Haus wie das ‹Maison Tellier› ist dabei.»

Er aber ging noch nicht auf ihren Ton ein. Er blieb in sich gekehrt. «Auch Erfolge schützen einen nicht vor der Finsternis, die, wie eine Fledermaus, über uns allen hängt.» Er schwieg und sagte noch: «Wieder ist einer der großen Europäer, der großen Dichter gestorben. Dostojewskij ist tot, das Prunkbegräbnis nützt ihm nichts mehr. Er ist in das Dunkel seiner Figuren eingegangen und wie eine Ratte tot.»

«Warum quält es Sie?» fragte Camilla mit weicher Stimme. «Das Natürliche ist doch niemals schrecklich.»

«Sie haben recht, ich weiß es wie Sie. Manchmal aber überfallen mich diese sonderbaren Zustände, dann wird es Nacht in meinem Gehirn.» Er sah sie von der Seite an. «Sie aber sind so ausgeglichen, so heiter, so ganz in sich gelöst. Wie machen Sie das nur?»

Sie lachte leicht auf. «Vielleicht liegt es an den zwei Jahrzehnten, die ich älter bin als Sie.»

Maupassant schüttelte den Kopf. «Es gibt Menschen, bei denen die Jahre nicht zählen. Sie, Camilla, gehören dazu. Vielleicht ist es Ihre glückliche Natur.»

«Glückliche Naturen», sagte sie ernsthaft, «müssen nicht immer glücklich sein.» Da er sie verwundert ansah, fuhr sie fort: «Es hat sonderbare Stufen in meinem Leben gegeben, der Weg war nicht eben, aber es war mein eigenstes Leben und mein eigenster Weg – ich hätte ihn mit niemandem tauschen wollen.»

Maupassant überlegte. «Überdies sind Sie beneidenswert fleißig, ich bin es nicht. Was also wird man als nächstes von Ihnen lesen dürfen?»

Sie zögerte. «Erinnerungen vielleicht, von denen ich aber noch nicht weiß, ob ich sie überhaupt veröffentlichen werde.» Leiser schloß sie: «Ein kleines Buch über den Dichter der ‹Dichterliebe›.»

Sein überraschter Blick streifte sie schnell. Ein eigentümlicher, schwer zu erklärender Ausdruck lag über ihrem Gesicht. Er wollte etwas sagen, da aber klang der Gong, der die Pause beendete. Er erinnerte sich jetzt des Geheimnisses, das diese Frau umgab. Vielleicht war sie wirklich die nahezu legendäre Gestalt –?

Von ihrem Ausdruck bewegt, nahm er behutsam ihren Arm und führte sie in den Saal, dessen Tür sich hinter ihnen schloß.

Margot 1847

Im August anno 1847, ein Jahr vor der Pariser Februarrevolution, die den Bürgerkönig Louis Philippe verjagte, die Zweite Republik ausrief und einen Wirbel von Revolutionen in ganz Europa verursachte – stieg in Le Havre ein friedlich Reisender in den Zug nach Paris.

In dem Abteil, das er nach einigem Suchen gewählt hatte, saß ein junges Mädchen allein. Sie mochte kaum älter als achtzehn Jahre sein. Neben ihr auf dem Polster lagen Schirm und Pompadour. Größeres Gepäck schien sie nicht mitzuführen.

Der Reisende grüßte zurückhaltend und in guter Form, obwohl er sich insgeheim sein Entzücken eingestand, einem so reizenden Geschöpf begegnet zu sein. Der Rock des Mädchens, in hellblau mit weißen Längsstreifen, fiel bauschig bis zur Erde, während der Schoß des enganliegenden, dunkelblauen Jäckchens die Taille so schmal erscheinen ließ, daß zwei Männerhände sie hätten umspannen können.

Da er noch den angenehmsten Gedanken solcher Art nachhing, legte er Umhang und Reisetasche ab, wollte sich setzen, setzte sich aber nicht, weil eine gewisse Befangenheit ihn hinderte, ihr in dem engen Coupé so unmittelbar gegenüber zu sitzen. Er trat ans Fenster, als wollte er noch einmal auf den Bahnsteig hinausschauen, und stand dort, dem Fräulein abgewandt, lang und schlank mit hoher Stirn und einem schmalen Gesicht, das von dunklen Haaren und einer modischen Bartfraise gerahmt wurde, wie er sich auch sonst nach der Mode des Tages trug: das Beinkleid war kariert, die Weste bunt, der Rock streng auf Figur gearbeitet.

Während er so mit seiner Aufmerksamkeit draußen zu sein schien, in Wirklichkeit aber seine Phantasie im Coupé zurückblieb, warf ihm das Mädchen einen kurzen, prüfenden Blick zu, wobei sie überlegte, welche Art von Beruf er wohl ausüben könne.

In diesem Augenblick ließ der Bahnhofsvorsteher ein trillerndes Pfeifen hören, die Lokomotive auf hohen Rädern antwortete gellend, indes sie erschreckend zischende Dampfwolken aus ihrem überlangen, dünnen Schornstein entsandte. Der Zug ruckte an, so daß der Reisende ins Wanken geriet und sich in den Sitz am Fenster rettete, während er über sein Ungemach lachen mußte.

Das Mädchen ihm gegenüber ließ sich von seinem Lachen anstecken. Sie hatte ihre Füße in den kleinen blauen Stiefelchen gegen die Bank gestemmt, auf welcher der Fremde jetzt Platz genommen hatte, und fragte plötzlich, ohne aber die Füße von der Bank zu nehmen, ob er sich durch ihre Stellung belästigt fühle.

Der Herr im taillierten Rock horchte verwundert der Stimme nach, die so unvermutet zu ihm gesprochen hatte, und fand sie angenehm, von gewinnendem Klang. Dann beeilte er sich zu sagen, daß sie jede nur mögliche Bequemlichkeit wahrnehmen möge.

«Mercy, Monsieur», sagte sie. «Die Reise bis Paris ist lang.» Sie löste die Bänder ihres Strohhutes, der nach Art eines Häubchens geflochten war, und eine Fülle dunkelblonder Locken ringelte sich jetzt um ihr bewegliches Gesicht, dem der zierliche Aufwärtsschwung der Nase, wie ihn die Bilder mancher Renaissance-Frauen zeigen, einen Anhauch von Kühnheit und Drolerie gab.

Mit einem Rest von Befangenheit sagte er, um die Unterhaltung nicht abbrechen zu lassen: «Ich fahre auch nach Paris.»

«Dann werden wir uns vertragen müssen.»

«An mir, Madame, soll es nicht fehlen.»

«Mademoiselle.»

«Oh – Mademoiselle.»

«Übrigens», rief das Mädchen, «sprechen Sie das Französische wie ein Österreicher aus.»

Er horchte verwundert auf. «Ich bin tatsächlich Österreicher. Welch musikalisches Ohr Sie haben müssen.»

Sie bewegte abwehrend die Schulter. «Ich singe ein bißchen und spiele Klavier. Das ist alles. Aber jetzt können Sie deutsch mit mir sprechen, ich bin Deutsche.»

«Unmöglich! Ihr Französisch ist über jeden Zweifel erhaben. Und Ihr Deutsch, wie ich eben höre, hat sogar einen kleinen Akzent.»

«Das kommt, ich lebe seit vielen Jahren in Paris.»

«Ich war nur ein knappes Jahr in Paris, um mich in meiner Medizin und der Nationalökonomie zu vervollkommnen.» Da er seine anfängliche Befangenheit jetzt abgelegt hatte, glaubte er die Zeit gekommen, sich vorzustellen. Er richtete sich gerade auf und verbeugte sich höflich. «Ich habe bisher versäumt, Ihnen meinen Namen zu nennen. Aber eigentlich habe ich keinen Namen – noch habe ich ihn nicht.»

«Noch haben Sie ihn nicht? Sie machen mich neugierig. Wer sind Sie?»

«Doktor der Medizin seit einem Jahr, ebensolange Verfasser eines Bändchens Gedichte. Ich kann nicht sagen: ich bin Alfred Meißner, ich heiße so.»

«Aber das ist eine gute, schöne Sache, wenn einer Gedichte schreiben kann. Sind sie gedruckt?»

Er lächelte und nickte.

«Schon Doktor und schon Poet. Sie sind doch noch sehr jung.» «So jung nicht mehr – fünfundzwanzig Jahre.»

Das Mädchen lachte. «Jung genug für einen doppelten Beruf. Haben Sie die Gedichte bei sich?» Und da er verneinte, fragte sie weiter: «Wovon handeln sie? Von der Liebe vielleicht?» Das Gesicht des jungen Mannes war jetzt ernst, ein Schatten lag über Augen und Stirn. «Von der Liebe auch, doch anders und seltener als Sie wohl denken.» Ein Schweigen entstand, während dessen das Mädchen ihm forschend ins Gesicht sah. Dann fuhr er fort: «Es sind Kampfgedichte, Menschheitsgedichte, wenn ich das große Wort dafür setzen darf; sie rebellieren gegen Unterdrückung und Zwang, gegen den ‹Übermut der Ämter›, wie es Hamlet genannt hat; sie wollen den Armen und Erniedrigten helfen. Es sind Schlachtgesänge von Freiheit und Sozialismus in der Art der ‹Weber› von Heinrich Heine.»

«Heine sagen Sie?»

«Kennen Sie ihn?»

«Das ‹Buch der Lieder› in einer Prachtausgabe, die mir meine Mutter geschenkt hat, ist das Erlebnis meiner frühesten Jugend gewesen und ist es heute noch.» Jetzt richtete auch sie sich aus ihrer bequemen Stellung auf, wobei sie die Stiefelchen von der gegenüberliegenden Bank nahm, und ganz belebt fuhr sie fort. «Ich liebe seine Lieder und singe sie, ich liebe auch Schubert und Schumann, weil sie mit der Musik seiner Verse noch einmal musiziert haben.»

«Dann wissen Sie schon viel von ihm.»

«Wissen Sie mehr? Kennen Sie ihn näher?»

«Ich bin auch seinetwegen nach Paris gekommen, ich mußte ihn kennenlernen.»

Hier tauchte vor dem Türfenster das Gesicht des Kondukteurs auf, der sich mit akrobatischer Turnkunst den Zug entlang von Trittbrett zu Trittbrett schwang. Er öffnete die Tür, trat ein, grüßte, kontrollierte die Billette und verschwand.

Das Mädchen hatte es kaum erwarten können, mehr von ihrem Gegenüber zu erfahren. Als sie jetzt wieder allein waren, rief sie: «Welcher Einfall des Schicksals hat Sie in diesen Zug geführt! Erzählen Sie! Erzählen Sie mir viel von Heine!»

«Ja, ich war bei ihm. Er wußte von mir, er hatte einige meiner Gedichte gelesen. Aber es war mir angenehm, daß ich ihm einen Brief von Heinrich Laube überbringen durfte. So kam ich nicht ohne Grund. Es war vor einem halben Jahr – am 10. Februar nachmittags. Ich kletterte drei Holzstiegen in der Rue Faubourg Poissonnière 46 aufwärts mit klopfendem Herzen, das können Sie mir glauben, und zog die grünseidene Klingelschnur. Seine Frau öffnete mir, sie ist noch jugendlich, recht korpulent, mit einem hübschen Gesicht. Sogleich wehrte sie ab: Monsieur Einé sei sorti. ‹Non pas sorti›, rief eine Stimme dagegen. Das war Heine. Dann kam er selbst. Ich sah ihn.»

«Wie sieht er aus?» fragte das Mädchen aufgeregt.

«Eher jung als alt, wenn Sie wissen, daß er im Dezember seinen fünfzigsten Geburtstag begeht. Sie wissen wohl auch, daß ihn ein Schlagfluß betroffen hat. Davon blieb sein linkes Auge geschlossen. Wenn er etwas genau ansehen will – das Lid ist gelähmt – hebt er es mit einem Finger seiner Hand. Es ist eine wunderzarte Hand. Sein Gesicht –»

«Man kennt es von Bildern und Zeichnungen.»

«Er ist schöner, als ich es nach Bildern vermutete, sehr edel, von der hohen, blassen Stirn angefangen bis zu den feinen Linien von Nase und Mund. Der Bart, schon angegraut, umschattet Lippe und Kinn. Das Haupthaar aber ist voll und dunkelblond. Das Schönste an ihm ist sein Lächeln. Es erhellt die Schwermut, die über sein Antlitz gebreitet ist, mit einem geradezu dämonischen Reiz.»

«Wie sprach er mit Ihnen?»

«Er sprühte von Leben und Witz. Die Quelle seiner Energien scheint unerschöpflich. Lachend erklärte er, warum seine Frau Mathilde – ma biche, wie er sie nennt – mir anfangs den Eintritt habe verweigern wollen. Sie habe mich gleich als Deutschen erkannt. Woran? fragte ich staunend. An den Kleidern, den Stiefeln, antwortete man mir. Und Heine meinte dazu: deutsche Stiefel sähen fast immer so aus, als hätte sie noch Hans Sachs verfertigt.»

Das Mädchen lachte. Flüchtig musterte sie den Reisegefährten wieder vom Kopf bis zu den Füßen und warf heiter ein, inzwischen scheine er sich der französischen Mode angepaßt zu haben.

«Warum aber, fragte ich Frau Mathilde noch, sei man den Deutschen im Hause des deutschen Dichters nicht wohlgesinnt? Die deutsche Landsmannschaft, erwiderte Heine, die ihn in Paris aufsuche, sei oftmals zweifelhafter Natur. Nun aber schenke ihm ein ehrenhafter Landsmann, dessen Name ihm bekannt sei, die Ehre seines Besuches. Er hieße ihn mit Freuden willkommen. So zog er mich liebenswürdig in sein Arbeitszimmer, eine der drei kleinen Stuben, die es nicht wert sind, einen Heinrich Heine zu beherbergen. Als ich dann neben ihm saß und wir ein langes und breites schwatzten, wie Heine sich ausdrückte, mußte ich an die Fabel vom Löwen und der Maus denken, die der König der Tiere in seiner Mähne spielen läßt.»

Er schwieg. Und eine Zeitlang dauerte das Schweigen an. Nur das Rattern und Stoßen des Zuges war zu hören. Es hatte sich aber zwischen Mädchen und Mann etwas geändert. Um sie her der Raum war erfüllt vom Bild eines Menschen, den beide liebten. Und da sie sich einem dritten geeint fühlten, einte der dritte sie beide.

«Sie haben mir», unterbrach sie das Schweigen, «von Heine erzählt. Und da wir gerade bei den Poeten sind» – sie rückte der Mitte zu und sah ihm in die Augen – «Sollen Sie jetzt etwas mehr von sich selber erzählen.»

«‹Ich bin ein deutscher Dichter / Bekannt im deutschen Land / Nennt man die besten Namen / Wird auch der meine genannt›.» Er lachte. «Leider trifft für mich nur die erste Heinesche Verszeile zu. In Wirklichkeit ist wenig von mir zu berichten. Ich bin im böhmischen Teplitz geboren, der Sohn eines Badearztes. Meine Mutter ist Schottin. Als ich klein war, sang sie mir die Lieder ihrer Heimat vor, das war meine erste Begegnung mit der Poesie. Ich habe in Prag und Wien studiert. Prag ist das große Geheimnis einer Stadt. In Leipzig war ich mit dem Theaterdirektor Heinrich Laube befreundet. Dann kam ich nach Paris. Morgen aber ist meine Zeit hier abgelaufen. Da verlasse ich la belle France und kehre nach Österreich zurück.»

Die Bremsen knirschten. Der Rückstoß der Maschine warf die jungen Leute nahezu gegeneinander. Dann hielt der Zug in Rouen. Sie lauschten den Rufen der Gepäckträger und Kondukteure, den Stimmen der Reisenden, die aus- und einstiegen, dem Scharren ihrer Füße auf dem Perron – besorgt beide, es werde ein Fremder zusteigen und die Atmosphäre ihrer Gemeinsamkeit stören. Aber sie blieben allein und der Zug fuhr an.

«Jetzt», begann das Mädchen von neuem, «möchte ich noch wissen – und ich bin sehr neugierig, verzeihen Sie mir – warum Sie nach Le Havre gekommen sind?»

«Aus keinem anderen Grunde als dem, vom Meer Abschied zu nehmen. Und auch diese Liebe teile ich mit meinem großen Freund Heine, der ganz gesund nur am Meer ist.» Er unterbrach sich. «Ich habe Ihnen, mein Fräulein, jetzt alle Ihre Fragen beantwortet. Erlauben Sie auch mir, neugierig zu sein. Sie sind eine Deutsche, die in Paris lebt. Mehr weiß ich nicht.»

Einen Augenblick verschloß sich ihr Gesicht. «Es genügt.»

«Gar nicht genügt es mir. Aber die Reise ist lang. Vielleicht werden Sie später mitteilsamer sein.»

«Das glaube ich nicht.»

«Wenn Sie von sich selbst nicht sprechen wollen, darf ich wohl das eine erfahren: was hatten Sie in Le Havre zu tun?» Überraschend schnell, ohne Zögern kam die Antwort: «Ich habe meinen Adoptivvater ans Schiff begleitet. Er fährt nach Amerika, einer Erbschaft wegen.» Sie ging über sein Erstaunen weg und schloß: «Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich mitgefahren, reisen macht mir Freude. Ich bin schon viel gereist und von meinen Adoptiveltern überhaupt recht freizügig erzogen.»

«Adoptiveltern sagten Sie?»

«Ja», gab sie rasch zurück. «Ich habe meine richtigen Eltern nicht gekannt.» Mit einem Sprung gleichsam verließ sie das familiäre Thema und ging auf allgemeine Erlebnisse über, mit einer Sicherheit des Geistes, die man dieser Achtzehnjährigen kaum zugetraut hätte. Sie sprach über das Gefühl der Fremdheit, das der Zurückbleibende empfindet, wenn das Schiff vom Hafen ablegt, wie umgekehrt der Passagier den Zurückbleibenden schon als das Wesen einer anderen fremdgewordenen Welt betrachtet. So auch ginge es dem deutschen Kleinstädter in Paris, dem Pariser wiederum in einer deutschen Kleinstadt. «Ich bin», warf sie ein, «in Torgau geboren. Jetzt bin ich Pariserin, aber die Sehnsucht nach Deutschland bleibt, mag man in Frankreich oder Amerika leben.»

In Louviers hielt der Zug. Eine schnelle, nachsommerliche Dämmerung brach herein. Wieder erschien der Kondukteur, um die Deckenlampe zu entzünden. Der junge Mann sah das Mädchen an, und sie verstanden sich schon so gut, daß sie seine unausgesprochene Frage mit einem heiteren Nicken beantwortete. Daraufhin entnahm Meißner seiner Börse ein Geldstück und reichte es dem Kondukteur. «Es wäre freundlich, wenn Sie dafür sorgen wollten, daß bis Paris kein Reisender zusteigt.» Der Beamte war Franzose genug, diesen Wunsch so berechtigt zu finden, daß er ihm ohne Lächeln als etwas Selbstverständliches zustimmte, dankte und das Coupé verließ.

Zwischen dem silbrig verglimmenden Himmelslicht vor den Fenstern und der kleinen rötlichen Flamme über ihnen, fuhren sie jetzt durch die müde gewordene Landschaft, wie in ein verzaubertes Helldunkel eingehüllt, und die mancherlei Spannungen ihrer Gespräche hatten sich in einer Stille gelöst, die von einem merkwürdig sehnsüchtigen und schmerzlichen Glück erfüllt war.

Auf einmal sagte das Mädchen: «Es wird langsam kühl.» Dabei legte sie die Füße in den blauen Stiefelchen wieder auf die Bank.

Meißner griff sofort nach seinem Plaid. Es war schottisch kariert, wie es die Mode liebte. Behutsam breitete er die Decke über ihre Füße und hüllte sie ein.

«Danke.»

Nach einer Zeit kam wieder ihre Stimme zu ihm. «Setzen Sie sich doch neben mich. Dann können wir die Decke um uns beide legen.»

Er tat es und tat es nur zu gern. So, leicht aneinander gelehnt, war ihnen eine Stunde und wieder eine Stunde der Gemeinsamkeit beschieden, die sie in ihrer wunderbaren Nähe und zugleich in ihrer wunderbaren Ferne als das unbegreifliche Geschenk einer Reise empfanden. Sie hatte an einem Küstenort begonnen und endete in einem traumhaften Ungefähr.

Als um Mitternacht die Gaslichter des Pariser Nordbahnhofs vor ihnen auftauchten, fühlten sie beide den gleichen Schmerz. «Paris», sagte der Mann, «wir müssen uns trennen. Aber weil ich an Sie denken will, wie Sie wirklich sind, nicht nur an das Phantom einer Reise, müssen Sie mir sagen, wer Sie sind.»

Sie schüttelte den Kopf. «Wenn Sie in Paris bleiben würden, vielleicht. Da Sie morgen abreisen, und wir uns niemals wiedersehen werden – nein.»

«Den Namen, sehr liebes Mädchen, den Namen, ich bitte Sie darum.»

Einen Augenblick überlegte sie. «Margot», rief sie dann heiter. «Wenn Sie an mich denken wollen, denken Sie die zwei Silben Margot.»

«Aber Margot, das ist eine Feder im Wind, ein Stern im Weltenraum. Wie kann ich eine namenlose Margot wiederfinden?»

Es geschah etwas, das er nicht erwartet hätte. Sie zog einen schmalen Goldreif mit einem grünen Stein vom Finger und hielt ihm den Ring hin. «Tragen Sie ihn, wenn Sie an Margot denken wollen. Er ist nicht kostbar, aber er kommt von mir.» Sie beugte sich vor, hob sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn ganz schnell und leicht auf den Mund.

Da er betroffen war und vom Erlebnis des Mädchens bewegt, eilte sie vor ihm aus dem Coupé und war im nächsten Augenblick in der Menge verschwunden.

*

AM SCHÖPFUNGSTAGE ward dem Weib geboten,

Auch den zu lieben, der das Herz ihr bricht.

Den kargen, klugen, lauernden Despoten,

Der innerst kalt von seinen Gluten spricht.

Du dreimal-weiblich Herz! dein ganzes Leben

Ein Irregehn nach Liebe war es nur;

Du liebtest viel, drum sei dir viel vergeben,

Du sprachst zum Schöpfer durch die Kreatur:

Daß du dich oft getäuscht in jenen Göttern,

Für die der Weihrauch deiner Brust gebrannt,

Das mußte sein – du durftest sie zerschmettern,

Weil sie dein Herz zuletzt zu schwach befand.

 

Du kamst zu spät! Mit Tränen möcht ich’s klagen,

Daß dies Jahrhundert dich zu spät gebar.

Auf Missolunghi hört es auf zu schlagen,

Das einz’ge Herz, das deiner würdig war!

Und eines Tag’s wirst du dem Himmel sagen:

Die Erd’ ist warm, wo trag ich hin mein Weh? –

Und rufen wird’s: Siehst du die Gletscher ragen?

Man kann noch sterben unter Eis und Schnee!

Wie Dolche sich ins Herz, ins warme, graben,

so gräbt sich schmerzlich dir die Wahrheit ein:

Daß groß sein heiße: keinen Nächsten haben,

Und daß es traurig sei, so groß zu sein.

Das Mädchen, das sich Margot genannt hatte, ließ das kleine Buch sinken. Sie saß auf einer Bank im Garten der Tuilerien, und einer jener späten Augusttage, die einmal noch im Verscheiden das Verlangen des Frühlings heraufführen, war um sie her. Gleich am Morgen hatte sie den deutschen Buchhändler aufgesucht und, indem sie sich nach den Neuerscheinungen des Herbstes erkundigte, wie nebenbei nach einem jungen österreichischen Dichter mit Namen Meißner gefragt. Der Buchhändler zog sogleich einen schmalen Band aus dem Regal. Dies sei, sagte er, die zweite Auflage seiner gesammelten Gedichte. Der junge Mann sei ungewöhnlich – indem er das Wort auseinander zog, wiederholte er es, ungewöhnlich – talentiert und habe die Aufmerksamkeit Heinrich Heines und der besten Köpfe von Paris bereits auf sich gezogen. Von Alfred Meißner sei noch viel zu erwarten.

Das Mädchen las in dem Buch. Dabei sah sie das Coupé des Zuges vor sich und sie beide, ihn und sie selbst, in das schottische Plaid gehüllt. Sie war jetzt an das Gedicht gelangt, das die Überschrift trug: George Sand. Der Buchhändler sah es. Und obwohl er das Fräulein nicht kannte, begann er eifrig auf sie einzureden. «Dieses Gedicht an die Dichterin mit dem männlichen Pseudonym ist eines der schönsten. In der vorletzten Strophe erkennt man unter ihren Liebhabern Alfred de Musset und Frédéric Chopin, im letzten Vers trauert der Poet um Lord Byron. Stellen Sie sich vor, wie sehr dieses Gedicht die Pariser Gesellschaft erregen mußte.»

Aber die Gedanken des Mädchens nahmen einen anderen Weg. Miteins war der Reisegefährte aus der Wirklichkeit einer Eisenbahnfahrt in die unwirkliche Sphäre der Dichter und Deuter gerückt, die den Schicksalen der Menschen nachgehen und ihnen erst im Wort die gültige Dauer verleihen. Ja, meinte das Mädchen in gespieltem Gleichmut, sie kaufe das Buch und werde sich weiterhin nach Alfred Meißner oder anderen neuen Schriftstellern und Büchern erkundigen. Damit verließ sie den Buchladen, und jetzt saß sie auf der Bank im Garten der Tuilerien, auf der sie oftmals gesessen hatte, munter um sich blickend, manchmal träumend, manchmal wie heute in ein Buch vertieft.

Was sie an dem Gedicht für die George Sand überraschte, ja bewegte, waren die beiden Schlußzeilen: «Daß groß sein heiße: keinen Nächsten haben / Und daß es traurig sei, so groß zu sein.» Dieser Fünfundzwanzigjährige hatte für menschliche Größe ein Gefühl, das aus ihm selber gewachsen schien. Vielleicht war auch er groß. Vielleicht würde es ihm gegeben sein, die Kleinheit der Tage immer wieder in den großen Stunden der Poesie zu überwinden. Sie selbst aber, das Mädchen Margot, wollte die Größe nicht, sie brauchte den ‹Nächsten› und in ihm, mit ihm zusammen die Lebendigkeit des bunten Daseins, mochte es sich in der Tiefe oder an den Oberflächen abspielen.

Sie sprang auf, weil sie die äußere Bewegung brauchte, um über die innere Herr zu werden. Zum ersten Mal, während sie die spätsommerlich duftenden Anlagen durchschritt, überlegte sie, ob sie den jungen Mann Alfred Meißner eigentlich lieben könne oder ob es nur die Verliebtheit auch der körperlichen Nähe gewesen war, die sie gestern gespürt hatte. Heute, noch beim Aufwachen, war dieses leichte, frohe und ein bißchen sinnverwirrende Gefühl in ihr gewesen, das sie vor sich selber als ‹summendes Nacherlebnis› zu bezeichnen pflegte. Es war ihr nicht neu. Aber etwas Neues, Nie-Erlebtes war hinzugekommen: daß sie einem Menschen und am anderen Tage seinem größeren Abbild begegnet war. Es machte sie unruhig und erfüllte sie gleichzeitig mit einer gewissen Scheu. Das war nicht mehr nur er und sie, das Mädchen Margot. Das waren die fremden Gestalten seines Werkes, die sich jetzt zwischen sie und ihn stellen und sie von dem Mann trennen wollten, der ihr gestern noch so nahe gewesen war.

*

Zwanzig Monate später, im blühenden Monat April 1849, da Paris von einem unvergleichlichen Frühling überglänzt wurde, saß der deutsche Poet und Doktor der Medizin Alfred Meißner in seinem Zimmer im Hotel Britannique, frühstückte und war eben dabei, sich in die Gazetten zu vertiefen, als ihm eine Dame gemeldet wurde, die ihn zu sprechen wünsche.

Meißner, einigermaßen erstaunt, da er in Paris keinerlei Damenbekanntschaften gemacht hatte, bat den Garçon gleichwohl, die Dame hereinzuführen.

Es verging eine Zeit, dann wirbelte etwas Hellschimmerndes, graziös Lebendiges ins Zimmer und fiel dem jungen Manne lachend um den Hals.

Der überraschende Auftritt war so vollkommen gelungen, daß es dem mit solcher Zärtlichkeit Überfallenen die Sprache verschlug, bis er sich fassen und der Dame ins Gesicht sehen konnte, woraufhin er zwischen Zweifel und Beglückung fragend und immer noch ungläubig ausrief: «Margot?» und zum andern Mal «Margot!»

Sie hatte sich von ihm gelöst, klein, zierlich und strahlend stand sie vor ihm. «Ja wirklich! Ihre Margot ist wieder da.» Jetzt flogen die Fragen auf, wie Vögel, denen man die Tür ihres Käfigs geöffnet hat. Woher sie wisse, daß er wieder in Paris sei? Von wem sie sein Quartier erfahren habe?

Es gebe, erwiderte sie heiter und hockte sich auf der Lehne eines Sessels nieder, indes er vorgebeugt neben ihr stand und es kaum fassen konnte, daß der Nordbahnhof nicht der Abschied für immer gewesen sein sollte – es gebe, meinte sie, den deutschen Buchhändler, den auch er, Meißner, aufgesucht habe. Von ihm hätte sie seine Adresse erfahren.

«Warum haben Sie ihn denn nach mir gefragt?»

Das Mädchen Margot antwortete nicht gleich. Sie fuhr fort, ihn anzusehen. Dann, mit der Ehrlichkeit ihrer Natur, sagte sie: «Ich habe viel an Sie gedacht. Und plötzlich hatte ich Sehnsucht, Ihnen zu schreiben. Da erfuhr ich, daß Sie schon seit Januar in Paris sind, mit irgendeinem Auftrag eines Frankfurter Verlegers. Ich erfuhr auch, wo Sie wohnen und freute mich über die Maßen.» Sie nahm seine Hand und betrachtete sie. «Oder hätte ich mich nicht freuen sollen? Sie tragen meinen Ring nicht mehr, den ich Ihnen beim Abschied gegeben habe.»

Verlegen hielt er seine andere Hand hoch. «Oh, Margot, er hat nicht gepaßt. Das ist der einzige Grund. Sogar für den kleinen Finger war er zu klein. Aber ich trage ihn bei mir, wohl aufgehoben in meinem Portefeuille.»

«Es ist so wichtig nicht. Sie sind wieder da, das genügt. Aber es gibt soviel, was sich in zwanzig Monaten angesammelt hat, worüber wir sprechen müssen. So oft habe ich mir gewünscht, mit Ihnen zu sprechen wie im Zuge zwischen Le Havre und Paris.» Sie sprang auf. «Kommen Sie, Alfred Meißner, der Sie die gleichen Anfangsbuchstaben haben wie Alfred Musset, der in Ihrem George Sand-Gedicht zu erkennen ist.» Da er sie verwundert ansah, sprach sie lebhaft weiter. «Sogar Ihren Gedichtband kenne ich. Ich kenne Ihre komischen böhmischen Sansculotten aus Ihrem ‹Ziska›. Ich kenne –» Sie unterbrach sich. «Aber jetzt hält es mich im Zimmer nicht mehr. Draußen ist ein so herrlicher Frühling, wie er nur in Paris sein kann. Wir nehmen einen Mietwagen am Gare de l’Est und fahren in den Garten der Tuilerien. Dann fangen wir an zu sprechen und dinieren hübsch und sprechen weiter, ganz wie es uns gefällt.»

Von dem Wasserfall in Wort und Gebärde überrauscht, doch im Innersten beseligt, konnte er gerade noch Zylinderhut, Handschuhe und Stöckchen ergreifen, ehe das Mädchen ihn mit sich fortzog. Noch während sie in die Sonne des Cour de Commerce hinaustraten, rief er: «Das scheint mir ein Glückstag besonderer Art zu sein.»

Nebeneinander, munter schwatzend, mit schnellen, fröhlichen Schritten liefen sie dem Gare de l’Est entgegen. Aber ehe sie noch den Bahnhof erreicht hatten, verlangsamte Meißner seinen Schritt an einer Omnibus-Haltestelle des Boulevard de Strasbourg.

«Was ist?» fragte sie.

Meißner, etwas zögernd, gab zu bedenken, ob die Fahrt vom Ostbahnhof bis zu den Tuilerien für einen Mietwagen nicht zu weit wäre.

«Zu weit? Aber mit einem Mietwagen kann man durch ganz Paris fahren.»

Er nickte. Trotzdem würde er den Omnibus vorziehen.

«Nein», sagte sie bestimmt. «Omnibus nicht. Warum denn keinen Mietwagen?»

Er war stehengeblieben. Einen Moment sah er sie bekümmert an: «Ach, Margot, es hat von jeher zum guten Ton der Poeten gehört, daß es ihnen an Geld fehlt. Außerdem haben Sie mich vorhin wie ein Wirbelwind aus dem Haus geweht. Jetzt habe ich wahrscheinlich nicht genug Geld bei mir.»

Das Mädchen Margot lachte laut auf. «Wunderbar und stilvoll dazu. Natürlich lade ich Sie ein.» Mit gespieltem Hochmut setzte sie hinzu. «Ich kann es mir leisten. Das hätten Sie wohl nicht geglaubt.»

Eigentlich erst in diesem Augenblick entdeckte er, daß sie sich um vieles eleganter trug als damals auf der Reise; daß sie anders und modischer frisiert war; daß überhaupt eine – zunächst kaum merkliche – Veränderung an ihr geschehen sein mußte, die aus dem jungen Mädchen eine junge Dame gemacht hatte. Aber die schöne Klarheit ihrer Züge war dieselbe geblieben wie der nahezu kindliche Reiz, den sie nach Antlitz und Gestalt ausstrahlte.

«Ihnen», rief er vergnügt, «glaube ich alles, selbst wenn Sie mir erzählten, daß Sie eine Tochter von Rothschild sind.»

Einträchtig jetzt und beschwingt gingen sie weiter, dem Bahnhofsplatz zu, wo Margot unter den Mietwagen eine Kutsche mit zwei Schimmeln wählte. Lachend stiegen sie ein.

*

«Hier», sagte sie, «habe ich immer gesessen, wenn ich an Sie dachte. Hier auf dieser Bank habe ich Ihre Gedichte gelesen. Und manchmal denke ich: nirgendwo in Paris ist der Frühling so süß wie hier im Garten der Tuilerien, wenn die kleinen Knaben ihre Schiffchen im Bassin schwimmen lassen und die Bonnen den vorüberspazierenden Herren schöne Augen machen. Wissen Sie, wie es mir hier geht? Ich genieße den Frühling doppelt – ja zweimal zugleich, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung. Denn seit Kinderzeiten habe ich eine ganz bestimmte, sehnsüchtige, schmerzlich beglückende Vorstellung vom Frühling, selbst wenn ich mitten im Winter an ihn denke. Vielleicht ist es eine Sache des Lichtes oder der lauen Luft, ein Geruch wie von frischer Farbe ist dabei und die bunten Streifen der Markisen vor den Fenstern und den Balkons. Irgendwo muß auch ein Klavier spielen, aber nicht zu nah. Und die Schiffchen der Knaben kreisen im lauen Wind.» Sie unterbrach sich. «Ist das alles sehr dumm?»

«Ganz dumm, kleines Mädchen Margot.» Er hatte ihre Schulter umfaßt und strich sanft über ihren Arm.

«Eigentlich möchte ich jetzt die ganze Welt umarmen.»

«Mit wem könnten Sie einen besseren Anfang machen als mit mir?»

Sie lenkte ab. Zur Kastanie emporblickend, sagte sie: «Es schneit.»

Es waren zwei wilde Tauben, die, als sie schweren Flügelschlages aufflogen, Blüten vom Baum wirbelten. Helle Kinderstimmen hielten sich in der leichten Luft. Und von den Champs Elysées herüber klang das Summen der großen Städte, das niemals abreißt: Rollen der Räder und Hufschlag der Pferde, Schritte der Menschen, die sich in der Monotonie der Geräusche verlieren.

«Merkwürdig ist das», sagte sie, «wir treffen uns im Zuge, ich weiß alles von Ihnen, auch das Dunkle, Große Ihrer Gedichte. Sie wissen nichts von mir. So habe ich es gewollt, so will ich es noch. Zwanzig Monate vergehen. Auf einmal ist es, als wäre die Zeit nicht gewesen. Wir sitzen nebeneinander, wie damals, nur das schottische Plaid fehlt. Heute brauchen wir es nicht.» Plötzlich fiel ihr der andere ein, von dem sie im Zuge gesprochen hatten. «Aber sagen Sie mir schnell, was ist mit Heine? Man sagt, er sei sehr krank.»

Er nahm seinen Arm von ihrer Schulter. «Heute», sagte er, «kann ich Ihnen nicht von Heine erzählen, ich will Sie und mich nicht traurig machen – morgen vielleicht. Bewahren wir uns den Glanz dieses Tages. Wir nehmen jetzt ein Frühstück im Freien. Es soll hübsch und froh sein und auch ein bißchen feierlich, weil Sie zu mir gekommen sind und ich Ihnen danken muß.» Aufspringend rief er noch: «Wenn aber mein Geld nicht reichen sollte, hilft Margot mir aus?»

*

Es ging schon auf den Nachmittag, sie hatten leicht und angenehm auf Pariser Art gegessen, später noch den Kaffee genommen, den der Österreicher nicht missen wollte. Er sah nach der Uhr. «Sie werden mir nicht zürnen, wenn ich jetzt aufbreche. Wie fast jeden Tag gehe ich gegen 4 Uhr zu Heine. Er ist so an meine Besuche gewöhnt, daß es ihn schmerzen würde, wenn ich einmal nicht käme.»

Sie erhob sich sofort. «Das ist selbstverständlich, ich verstehe es gut. Und wann höre ich von Ihnen – und ihm?»

«Morgen zur gleichen Zeit wie heute, wo es Ihnen beliebt.»

«Gut, dann hole ich Sie wieder im Hotel ab.»

«Können Sie», fragte er zögernd, «jederzeit zu mir kommen? Hält Sie niemand und nichts?» Es war eine Frage, die über den Augenblick hinaus der immer noch rätselhaften Person des Mädchens Margot galt.

Ohne sich zu besinnen, sagte sie mit einem entschlossenen Gesicht: «Ich werde kommen, so oft es mir möglich ist.» Auf den zweiten Teil der Frage war sie nicht eingegangen.

Am Place de la Concorde ging sie auf einen Mietwagen zu: «Dieser Einspänner genügt für die Rückfahrt, jetzt eilt es mir nicht mehr.» Begierig lauschte Meißner, um zu hören, welches Ziel sie dem Kutscher angäbe. Das Mädchen hob ihren Rock ein wenig an und sprang graziös in den Wagen. Während sie sich in das Polster fallen ließ, rief sie dem Kutscher zu: «Nur immer geradeaus!» Schon trabte der Braune an. Mit listigem Lachen zurückwinkend, verschwand das Gefährt im Gewoge der Champs Elysées seinen Blicken.

Zweifelnd beglückt blieb er zurück. Woher kam sie? Aus einem Elternhaus, von einem Geliebten, von einem Ehemann vielleicht? Auch heute hatte er es nicht erfahren können. Ärgerlich schnippte er mit dem Finger. Trotzdem war sie eine charmante Person! Nachdenklich ging er weiter, bestieg dann einen Omnibus und fuhr zur Rue d’Amsterdam Nr. 50, wo Heine jetzt wohnte.

*

Am nächsten Vormittag fuhr das Mädchen Margot beim Hotel Britannique vor. Wie gestern öffnete ihr die Besitzerin, Madame Perrot, eine dürre, mürrische Engländerin, deren Nasenfärbung auf scharfe Getränke deutete, und wies stumm nach oben, wo Meißner bereits auf der Treppe erschien und das Mädchen eilig in sein Zimmer zog.

Während sie die Regentropfen von ihrem Tuch abschwenkte, das sie mantelartig umhüllt hatte, und ihr Häubchen ausschüttelte, sagte sie heiter: «Natürlich regnet es heute. Schöne Tage wie gestern wiederholen sich nicht so schnell. Der April ist launenhaft.» Nach einem Blick in den Spiegel, der so bescheiden war wie das Zimmer selbst, setzte sie sich auf einen der beiden Stühle und fragte besorgt: «Wie fanden Sie ihn gestern vor?»

«Gar nicht gut. Ich lief – noch im glücklichsten Überschwang unseres gemeinsamen Vormittags – die zwei Stiegen hinauf. Aber als mir die Kreolin, seine Bedienerin, geöffnet hatte und ich an seinem Lager saß, dem Schmerzenslager des Hiob, sagte er etwas Seltsames: Es müsse ein Fluch über den deutschen Dichtern sein, daß sie im Wahnsinn oder durch Selbstmord endeten. Und er nannte einige Namen, denen das schwarze Los gefallen war: Lenz, Lenau, Hölderlin, Kleist. Er aber werde nicht vorzeitig gehen, er bleibe bis zuletzt für seine Frau und manche Arbeit, die noch zu tun sei.»

«Und womit», fragte sie, «beschäftigt er sich, wenn er nicht mehr aufstehen kann?»

«Bisher hat er sich von seiner Frau Alexander Dumas’ Romane vorlesen lassen, um seinen Spaß an den Phantasien des alten Märchenerzählers zu haben. Ich erzähle ihm meist aus Zeitungen und Revuen, die ich lese. Dann sprechen wir über Politik und Literatur, über Freunde und Feinde, deren er mehr hat, als irgendein Dichter seiner Zeit.

«Warum eigentlich?»

«Ich traue es mir mit meinen siebenundzwanzig Jahren nicht zu, in den Streit der Meinungen um Heinrich Heine einzugreifen. Ich weiß nur, was wenige wissen: er hat das gütigste Herz. Und was viele wissen: er ist einer der größten deutschen Poeten und ein großer europäischer Kopf. Sein Gehirn ist bei allem Leiden wunderbar klar geblieben, und sein Witz – manchmal Skorpion, doch immer geistreich – funkelt.»

«Es wäre schön, wenn Sie aufschreiben könnten, was er mit Ihnen spricht.»

Er sah sie erstaunt an. «Einmal habe ich wirklich daran gedacht, sein Eckermann zu werden. Aber er spricht seine Sätze nicht wie der Olympier aus dem Fenster und gleich für die Allgemeinheit bestimmt. Er spricht sie nur für mich, er vertraut mir viel an. Es käme mir wie ein Bruch solchen Vertrauens vor, unsere Gespräche herauszugeben. Außerdem schreibt er selbst, was er herausgeben will.»

«Kann er denn noch schreiben?»

«Nur sehr mühsam, denn das eine Auge ist erblindet und seine Hand unsicher. Mit dem anderen Auge, wie Sie wissen, kann er nur sehen, wenn er das Lid mit dem Finger hebt. Er ist wirklich der unglückselige Atlas seines Jugendgedichtes, die ganze Welt der Schmerzen muß er tragen. Kaum einen Augenblick ist er von wütenden Schmerzen frei. Sogar das Sprechen wird ihm schwer, weil die Lippen den Dienst versagen. Aber was dieser kranke Mund spricht, ist auf der Goldwaage des Geistes gewogen.»

«Wie kann er es aushalten, Monate, vielleicht Jahre, gelähmt in einem Bett zu liegen?»

«Er liegt nicht in einem Bett. Er liegt auf einem halben Dutzend Matratzen, die er sich übereinander aufgeschichtet hat. Das nennt er seine ‹Matratzengruft›.»

«Trägt er den Bart noch spitz zugeschnitten? Sieht er noch so schön aus, wie Sie es mir damals auf der Reise erzählt haben?»

«Wenn Geist Schönheit bleibt, ist er heute noch mit seinem ergrauten Bart schön, obzwar zum Skelett abgemagert, ein Schatten seiner selbst. Allmählich auch der Schrecken für seine Besucher, die sich immer seltener bei ihm einfinden.»

«Und wovon lebt er?»

«Das ist das Schlimmste: er hat kaum noch Geld. Die neue Regierung hat ihm den Ehrensold gestrichen, den er mit anderen emigrierten Dichtern, wie dem großen polnischen Revolutionär Mikiewicz, bezog. Und seine Einnahmen sind mit seiner Arbeitskraft fast ganz zurückgegangen.»

Es war das weibliche Geschöpf, das diese letzte Frage tat: «Aber er hat doch eine Frau. Kann sie nicht helfen?»

«Vielleicht bleibt es der tiefste Trost des Trostlosen, daß sie weiterlebt, als wäre er gesund. Sie ist weder mitleidig noch weich. Sie ist der bloße naturhafte Instinkt einer Frau, für die es weder Nerven, noch Probleme, noch Katastrophen gibt. Solange sie atmet, ist die Welt im Lot. Und wie sie nie eine Zeile des Dichters Heine gelesen hat, so bedeutet ihr seine Krankheit nur eine Etappe zwischen gestern und morgen. Aber er liebt sie so, wie sie ist mit unbegreiflicher Leidenschaft – daß ‹süße, dicke Kind›.»

*

Madame Perrot indes war von Tag zu Tag mürrischer geworden, wenn sie die junge Dame die Treppe ihres Hotels hinaufeilen sah. Meißner fürchtete, daß diese Treppe einmal der Schauplatz eines unliebsamen Auftrittes zwischen Margot und der Rotnasigen sein würde, so schlug er dem Mädchen vor, ihre Zusammenkünfte in andere Bezirke der großen Stadt zu verlegen, zumal er ihr diese häßliche Gegend nicht länger zumuten wollte. Zuweilen wunderte er sich, daß ihn das Mädchen überhaupt in diesem entlegenen Quartier von Paris aufsuchte. Oder war ihr die Entlegenheit gerade recht? Nach kurzem Zögern ging sie auf seinen Vorschlag ein, wie sie denn bei allen Unternehmungen eine so heitere und natürliche Willigkeit zeigte, daß der junge Poet nicht an den Tag denken mochte, da die Pariser Zeit abgelaufen sein würde und er wieder in die Heimat zurückkehren mußte. Diese Zeit schien ihm eine der glücklichsten seines Lebens zu sein. Die schmerzlichen Besuche bei Heine, die ihm so lieb und wert geworden waren, daß er sie nicht mehr missen mochte, fanden im Zusammensein mit dem Mädchen Margot ihren tröstlichen Ausgleich. Das Mädchen selbst – ihm gleichsam vom Himmel gefallen – fesselte ihn immer von neuem durch Heiterkeit und Geist. Und die ‹revolutionären Studien›, die er für den Frankfurter Verleger zu schreiben hatte, füllten nicht nur die noch übrige Zeit aus, sondern er konnte, wenn auch bescheiden, von dem Vorschuß sogar in Paris leben und Margot dann und wann einladen.

Inzwischen hatte der Mai vollen Einzug gehalten und an einem dieser blauen Tage fuhren sie mit der Stadtbahn nach Auteuil. Dort sprang ihnen, schon auf dem Bahnhof ein Plakat in die Augen, das mehrere Pferderennen für den Nachmittag ankündigte. Margot hatte plötzlich und aus einer Laune heraus den Wunsch, dabei zu sein.

Meißner, etwas zögernd, da er sich den Ausflug anders gedacht hatte, ließ sich gleichwohl umstimmen. Ob sie den Pferden und der Kunst des Reitens zugetan sei?

Verwundert sah sie ihn an. «Aber ich reite doch selbst mit Passion.» Sie wollte noch etwas sagen, sagte es nicht und lächelte ihm nur zu.

Da war, dachte Meißner, wieder etwas von jenem Unbekannten, das dieses Mädchen umgab. «Man weiß von Ihnen so vieles nicht. Wollen Sie es mir nicht doch sagen?»

Sie schüttelte den Kopf. «Man muß nicht zuviel wissen wollen. Nehmen Sie mich, wie ich bin.» Damit hing sie sich in seinen Arm.

Später wanderten sie im Strom der Besucher zum Rennplatz hinaus. Es tauchten jetzt, von Paris kommend, neben ihnen Reiter und Kutschen auf. Viererzüge wurden an langen Leinen gefahren, sogar eine englische Mailcoach fand sich dazu, von Grauschimmeln gezogen, von einem Herrn in grauem Zylinder kutschiert. Sie trug in Wölkchen von rosafarbenen, blauen und gelben Volants die Fracht schöner, sehr eleganter Frauen, die sich mit kleinen Schirmen gegen die Maisonne schützten. Dann und wann, auch um der Coach Platz zu schaffen, stießen Lakaien auf dem erhöhten Rücksitz ins Horn. Der Zug der Menschen und Gefährte riß nicht ab.

«Gefällt es Ihnen?» fragte das Mädchen mit geröteten Wangen.

«Es ist für mich eine fremde Welt.»

«Aber sie ist aufregend.»