Seydlitz - Eckart von Naso - E-Book

Seydlitz E-Book

Eckart von Naso

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Beschreibung

Seydlitz ist nicht nur der große Reiterführer des Schlesischen Krieges, sondern auch der General, der als Freund König Friedrichs II. seinen eigenen Kopf gegen den Absolutismus der preußischen Monarchie zu behaupten weiß. Eckart von Naso zeichnet Friedrich den Großen und Seydlitz, die beiden so verwandten und gleichzeitig so verschiedenen Männer, mit großer psychologischer Einfühlungsgabe ohne falsche Verklärung. Farbig und spannend ist der unvergleichliche Aufstieg Seydlitz' vom einfachen Pagen am Hofe des tollkühnen Markgrafen von Brandenburg-Schwedt bis in den engsten Kreis um den König. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Eckart von Naso

Seydlitz

Roman eines Reiters

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Inhalt

AuftaktErster Teil: SchwedtZweiter Teil: Krieg und FriedenDritter Teil: Zerfall

Auftakt

Ein Europäer von Geschmack und Kultur, deutsch erzogen, kam gegen das Jahr 1932 nach Berlin, um Preußen zu suchen. Dabei ergab es sich, daß ihn seine Vorstellung von Preußentum im Stich ließ.

Es waren Pikkoloflöten und Trommeln. Es war ein dreispitziger Hut, ein Krückstock und ein König, dessen Augen im Film leuchteten. Es waren Generäle mit Zöpfen, blanke Grenadiermützen, die über eine Operettenbühne marschierten. Im Hintergrund stand eine Mühle und drehte sich im Dreivierteltakt. Das – und noch einiges andere, was mit Pflicht, Akkuratesse und Sauberkeit zu tun hatte, hielt er für Preußen. Übrigens fand er es nirgend in Berlin.

Im Vorüberfahren bemerkte er am Ausgang Unter den Linden das Schwedter Palais, die »Kommode«, das Zeughaus und das Schloß. Allesamt hatten sie Stil. Was er suchte oder zu suchen glaubte, hatten sie nicht. Der Kurfürst auf der Langen Brücke imponierte ihm gewaltig – doch hatte er mit Preußen wenig zu tun. Er war barock, romantisch und brandenburgisch – eher deutsch als preußisch.

Somit glaubte er, Berlin im Kopf zu haben, verzichtete auf weitere Entdeckungen (das Brandenburger Tor kannte er zur Genüge) und fuhr zu seinem Hotel zurück.

Am Wilhelmsplatz hielt er an. Mitten im Zentrum einer Sechsmillionenstadt, begrünt und still, von einer abseitigen Ruhe, die durch die Klingelkonstruktion der roten und grünen Ampeln nicht gestört wurde, schien dieser Platz eines Blickes wert.

Der Blick fiel auf ein lebensgroßes Standbild. Er trat näher. Es war der Husarengeneral von Zieten, in Bronze gegossen nach dem Schadowschen Marmor. Der Europäer überlegte. Zieten war ein Begriff, nicht weniger und nicht mehr: friderizianisch, beweglich und verschlagen, im Alter schläfrig.

Der Europäer ging weiter. Ein zweites Bronzebild hielt – jetzt an der Schmalseite – Wache. Er las: Feldmarschall von Keith. Da er noch in seinen Historienerinnerungen nachsuchte (und den Schottengeneral nicht fand), verwechselte er ihn prompt mit jenem Pagen Keith, der die Jugend eines Kronprinzen gebüßt hatte. Es schien ihm verwunderlich, daß er es noch zu Rang und Alter gebracht haben sollte.

An der nächsten Ecke der Schmalseite erhob sich schon eine dritte Figur: das Standbild des Generalleutnants von Winterfeld. Ein eigentümliches Gefühl von Ehrfurcht und Vertrautheit befiel den Europäer. Das war ein magischer und zugleich ein unbegreiflich schweigsamer Kreis mitten in dieser schreiend banalen Stadt. Einfache Bronzen standen hier, halb von Bäumen bedeckt, und jede einzelne war eine Leistung, ein Name, ein Mann.

Der Reisende ging schneller. Etwas an diesen Bronzen, die kein Mensch mehr ansah, erregte ihn. Die Verkehrsampel wechselte ihr Licht, die Klingel schlug an, Automobile ließen ihre Motoren arbeiten und hupten, eilige Fußgänger strebten von einer Straßenseite zur anderen.

Der Europäer stand vor der Bronze des Fürsten Leopold von Dessau, Generalfeldmarschall, und das aufreizend kühne Bärtchen der unbewegten Figur wurde ihm zur lebendigen Gegenwart.

Er beschleunigte seinen Schritt. Vor dem einstigen Johanniterpalais, an der Ecke der Wilhelmstraße, hob der Feldmarschall Graf Schwerin die Fahne, die er vor hundertsechsundsiebenzig Jahren mit seinem Blut getränkt hatte, als er über dem zerfetzten Seidentuch vor Prag zusammenbrach.

Es war merkwürdig genug: der kühne Gentleman, der fünf Erdteile bereist hatte, entsann sich plötzlich der vergessenen Begebenheiten, Daten und Jahre. Die Tatsache dieses Platzes kam als Erlebnis über ihn.

Ein letztes Mal ging er weiter, der stillsten, ganz abgelegenen Ecke entgegen, und las den Namen, der die kriegerische Offenbarung eines Reiters bedeutet: General der Kavallerie von Seydlitz. Er sah einen schmalen Küraß und darüber das metallische Gesicht, dessen Augen umschleiert waren, weil sie die Schatten von Roßbach und von Zorndorf bewahrten. Er sah den wundervollen Mund, der den Frauen gefiel und den die Frauen verdarben. Über die Jahrhunderte blieb die Erscheinung des Reiters Seydlitz jung, karg, ebenmäßig und knabenhaft, in sich selber ruhend wie die Bronze nach dem Marmor von Tassaert.

Der magische Kreis schloß bei ihm ab.

Mit fremdem Blick streifte der Europäer den »Kaiserhof«. Er dachte nicht mehr, daß es Zeit zum Lunchen sei. Mitten in Berlin, dort wo es niemand vermuten konnte, hatte er Preußen gefunden.

Erster Teil: Schwedt

Der Markgraf von Schwedt, mit dem Körper einer stählernen Gerte, stand unruhig am Fenster. Bei jeder Bewegung klingelten leise die silbernen Kettensporen. Das war auch das einzige, was an den Chef eines Kürassierregiments erinnerte. Sonst sah er, in seiner braunen Wildlederweste mit Seidenärmeln, nicht viel anders aus als ein Polospieler des 20. Jahrhunderts.

Hinter ihm im Zimmer wurde Lateinstunde abgehalten. Der Pfarrer des Dorfes Wildenbruch, ehemaliger Student der Philosophie, führte den Pagen Seydlitz in die Kriegsfahrten des Bellum Gallicum ein.

Wenn der Page gefragt wurde, antwortete er langsam, sehr genau, aber umständlich, während seine hellen, etwas schläfrigen Augen an dem Rücken des Markgrafen hingen. Der Markgraf war von einer unbegreiflichen Wachheit, elastisch und immer federnd. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er dazwischenfuhr.

Der Bau der Rheinbrücke war die Anfechtung. Die Tatsache dieser militärischen Pionierarbeit erfreute den Pagen. Aber die Vokabeln fehlten. Trotzdem ging die Anfechtung vorüber.

Der Markgraf riß das Fenster auf. Unten, am schmiedeeisernen Gitter, standen Gaffer wie jeden Tag und starrten in den Schloßhof, der von allerlei Getier wimmelte. »Ihr sollt nach Hause gehen und fleißig sein, hört Ihr wohl. Man darf keine Zeit vergeuden.«

Das Fenster flog zu. Der Markgraf sprach weiter, als wäre sein Publikum noch die Straße. »Ja, Ihr müßt fleißig und rasch sein. Schnelligkeit ist mehr wert als alle Wissenschaft. Man lernt nicht, um etwas zu wissen, sondern um den Kopf geschmeidig zu machen, wie man reitet, um den Körper geschmeidig zu machen. An sich ist kein Ding wichtig.«

Der Magister war verstummt. So unterbrach der Herr schon seit Jahren die Stunde. Seine Pagen sollten etwas lernen. Aber wenn er, der Pfarrer, mitten im Dozieren war, kam der Herr und störte alles mit seinem Geschwätz.

Die Augen des Knaben hingen mit einer ablehnenden Bewunderung an dem Markgrafen, der den Folianten ergriffen hatte und sich jetzt gleichfalls in den Bau der Rheinbrücke vertiefte. »Seht Ihr wohl«, sagte er beim Lesen, »er war immer fleißig, er hat die Zeit nicht vertrödelt.«

Der Pfarrer war aus Bauernblut, ohne Furcht und zuzeiten aufsässig, weil er sich seines Herrn im Himmel sicher wußte. »Aber wir vertrödeln sie, Euer Hoheit, wenn wir philosophieren, statt zu arbeiten.«

»Schweig Er nur, Hochwürden«, meinte der Markgraf gutgelaunt und klappte das Buch zu. »Er ist zwar klüger im Einzelnen, aber vom Ganzen verstehe ich mehr. Er hat es nur im Kopf – ich habe es in den Fingerspitzen.« Und er fuhr fort, dem Julier einen Nachruf zu halten. »Dieser Cäsar wurde nicht fett, darum konnte er Bücher schreiben. Man muß immer an den Körper denken. Da darf kein Lot Fleisch zuviel sein, sonst wird man träge.« Dabei ging er auf und ab und ließ den Reitstock schwippen. Vor dem Pagen blieb er stehen. »Er sagt ja gar nichts, Liberbaro. Tu Er doch Seinen Mund auf.«

»Ich bin nicht gefragt worden, Euer Hoheit.«

»Darauf muß man nicht warten. Sonst verliert man die Zeit. Sie rast vorüber, man muß sie einholen und festhalten.« Er ging der Tür zu. »Die Maulfaulheit wird Er sich abgewöhnen, dafür sorgen die Demoiselles. Die schlenkrigen Glieder werden Ihm die Pferde abgewöhnen, dafür sorge ich. Und der Herr Pfarrer«, schloß er mit einer eleganten Schwenkung seines Reitstockes, »wird Ihm einen neuen gewissen Geist geben. Das kann nicht schaden.« Er kam noch einmal zurück. »Ich lasse Ihn rufen, Page. Solange präpariere Er das Bellum Gallicum. Ich höre Ihn vielleicht ab.«

Es wurde regelrecht still im Zimmer, als der Markgraf gegangen war. Dieser Fünfunddreißigjährige rasselte wie eine Schlittenschelle, obwohl er niemals laut sprach. Seine bloße Gegenwart verursachte Unruhe und Getön.

Der Page Seydlitz sah den Pfarrer an. »Seine Hoheit ist wunderlich. Ich verstehe ihn manchmal nicht.«

»Darin wären Sie nicht der erste, Baron. Auch die Majestät von Preußen, sein Schwiegervater, der sich gut auf Soldaten versteht, weiß nichts mit der Hoheit anzufangen. Der Herr ist wie ein Aal mit glänzender Haut. Er schlüpft durch jedes Netz – auch durch das des Königs, und häufiger durch das der armen Frau Markgräfin. Er ist hochmütig und adlig. Ich möchte ihm für mein Leben gern was am Zeuge flicken. Aber er hat seine Art, und man muß sich ducken.«

»Es muß sich keiner ducken«, meinte der Page ruhig.

»Nicht aus Furcht – weil man ihn gern haben muß. Er hat den Zauber der Unbeständigen und Treulosen.« Der Magister klappte, wieder grollend, den Folianten auf. »Er muß mir auch noch das Buch zuschlagen. Dabei behauptet er, daß die Zeit kostbar ist.« Sie fingen an, sich von neuem in den Cäsar zu vertiefen, bis ein Bedienter erschien, um den Pagen zum Markgrafen in den Schloßhof zu rufen.

 

Der Hof des Renaissancebaues, mit seinem Rasengrund in die beiden schön gegliederten Seitenflügel eingeschlossen, glich einer Menagerie. Er lebte von unzähligem Getier, das hier zwischen Kugelbäumen und Festons geradezu paradiesisch beieinander wohnte. Es gab Elche und Füchse, Hirsche, Rehe und sogar ein paar junge Wildschweine. Ein gezähmter Jaguar sonnte sich faul unter den brüderlichen Kreaturen, und mitten zwischen ihnen, auf schaukelnden Gestellen, hockten Affen, langgeschwänzt, einen Fuß in der Kette, da auf ihr häusliches Wesen kein rechter Verlaß war.

Der Markgraf stand ironisch lächelnd vor dem Portal der Mittelfront und tippte dem Pagen Seydlitz mit dem Reitstock in die Seite: »Das Paradies auf Erden«, sagte er, »es ist nur unter Tieren möglich. Sie haben keine préventions.« Und nach einer Weile: »Er ist jetzt drei Tage hier. Wie gefällt es Ihm?«

Der fast vierzehnjährige Freiherr von Seydlitz antwortete, es gefiele ihm gut, er wäre Seiner Hoheit dankbar.

»Ach«, meinte der Markgraf, »sei Er lieber nicht dankbar. Das führt zu nichts.« Und er ging weiter, indem er jedes Tier, das ihm in den Weg lief, gutgelaunt mit seinem Reitstock beklopfte. Vor der Tür des linken Seitenflügels fütterte der Kammerjunker von Trotha ein paar Damhirsche. Die Hofdame Isa von Chalezac sah ihm dabei zu. Sie grüßten beide herüber, ließen sich aber in ihrer Beschäftigung nicht stören.

»Die Chalezac«, murmelte der Markgraf, »ist schon eine rechte Wetterfahne.« Sie standen jetzt vor dem durchbrochenen Gittertor mit den brandenburgischen Adlern, und vor ihnen dehnte sich, von einer vierfachen Reihe Kastanien umsäumt, in neunzig Metern Breite die Schloßfreiheit, die, schnurgrade auslaufend, erst eine knappe Meile weiter von dem Lustschloß Monplaisir begrenzt wurde.

Spielerische Kavalierhäuser wurden hinter der zweiten Kastanienreihe sichtbar.

Der Markgraf sah achtlos diese Ausmaße von Versailles, die sich in eine uckermärkische Landschaft verirrt hatten. Seine Gedanken gaben sich keinen Augenblick hin. »Er hat eine vernünftige Natur, Page. Er spricht zwar wenig, aber Er scheint manches zu sehen. Es gefällt mir auch, daß Er sich von dem Bunten und Neuen nicht düpieren läßt.«

Der Page, nicht gewohnt, daß man alles, was einem durch den Kopf ging, auch aussprechen konnte, hörte verwundert zu. Der Markgraf merkte es. »Er muß sich daran gewöhnen, ich bin geschwätzig wie ein Weib.« Dabei sah er sich, eine Falte zwischen den Brauen, nach der Hofdame um. »Glaube Er mir, ich kenne die Frauen gut. Es ist besser, sie schwatzen alles heraus, sonst werden sie leicht bitter.« Und in einer etwas merkwürdigen Gedankenverbindung setzte er hinzu: »Übrigens wird Er heute abend der Markgräfin präsentiert werden, sie kommt von Monplaisir zurück.«

Jetzt gingen sie außen an dem Gitter des Hofes entlang, der Stadtseite zu, bis an ein kleines Tor, das von der Straße her in den Park führte. Dieser Park zog sich in einem gleichmäßigen Rechteck um die rückwärtige Front des Schlosses und endete in einem geraden Laubengange, der an der Oderböschung entlang führte. In hundertfältiger Blendung spiegelte sich die Maisonne im Wasser, das breit und ruhig vorüberzog.

Hier im Park, neben dem kleinen Tor, lag, von Bäumen verdeckt, die Reitbahn. Der Markgraf blieb stehen. »Er wird jetzt wieder vom Stallmeister Seine Lektion bekommen. Sie ist mir so wichtig wie die des Pfarrers. Er muß die Hohe Schule lernen, sonst wird Ihm nie ein Pferd gehorchen. Das ist wie das Abc. Aber in den nächsten Tagen werde ich Ihn im Gelände vornehmen. Da muß Er Sein Examen ablegen – nicht, ob Er die hohe Reitkunst beherrscht, das dauert zwanzig Jahre und mehr, sondern ob Er das Herz hat, das ich in Ihm vermute. Und jetzt sei Er fleißig, Männer und Frauen müssen bei mir fleißig sein. Ich reite inzwischen auf die Jagd.«

 

Die Reitbahn war ziemlich langgestreckt, doch nicht hoch. Durch die verstaubten Fenster kam die Sonne in breiten, zitternden Lichtbalken, die Stäubchen tanzten in der Luft.

Inmitten des Hufschlages stand der Stallmeister Riedinger, ein alter Rochow-Kürassier, und gab seine Kommandos ab. Das war sein tägliches Brot, im Schlaf noch kommandierte er die Schulen Guerrinières und des Herzogs von Newcastle »auf der Erde« und »über der Erde«. Er ritt und beherrschte das Hohe Spanische Reit-Zeremoniell der Piaffe und Courbette, der Levade, Ballotade und Kapriole. Diesmal machten ihm die Stunden Vergnügen. Er pfiff zu den Bewegungen des Pferdes den Takt.

»Der Page hat einen guten Sitz«, lobte er dann und wann, »einen leichten, angeborenen Sitz. Das kann man nicht machen, das kommt von Gott und Mutterleibe her, wie das Gefühl in der Hand und unterm Hosenleder.«

Jetzt legte er eine Pause ein und äugte hinter dem Junker her. Der saß und sah nichts anderes als den Ausschnitt der Welt zwischen zwei spielenden Pferdeohren.

Er denkt noch an die Gäule und weiter an nichts, vermerkte der Stallmeister in seinem Langschädel, der dem eines Pferdes nicht unähnlich schien. Es war gewöhnlich die erste Station, wenn einer zur Reiterei ging. Dann kamen die Mädchen an die Reihe, das dachte er wie der Markgraf, sein Herr. Zuletzt kam der Wein. Der Stallmeister Riedinger war schon bei der letzten Station angelangt.

Er folgte langsam, auf seinen ausgebogenen Kavalleristenbeinen, dem Zirkel, den jetzt der Wallach am gelösten Zügel beschrieb. In der Stille der besonnten Reitbahn war nur der dumpfe Ton der Tritte zu hören – und dann und wann das Schnauben des Pferdes.

»Der Page«, begann der Stallmeister schlau, »heißt Friedrich Wilhelm wie der Markgraf von Schwedt und der König von Preußen. Das gibt eine Mischung.«

»Der Name macht es nicht.«

»Aber die Mischung macht es, das ist wie Champagnerwein mit schwerem Roten aus Burgund.«

»Er denkt immer an das Trinken.«

»Und der Page denkt immer an die Pferde wie Sein Herr Vater, der Rittmeister bei den Kürassieren in Schwedt.«

»Der Vater ist tot.«

»Leider ist er tot. Wer keinen Wein trinkt, lebt nicht lange.«

Seydlitz zog einen Silbergroschen aus seiner Montur. »Er leidet sehr am Durst.«

»Der Page«, meinte der Stallmeister und kassierte den täglichen Ehrensold ein, »hat noch den Hochmut der jungen Herren, die sich auf vier Pferdebeine verlassen. Aber Fleisch und Bein ist nicht gar so viel wert, es läßt einen frühzeitig im Stich.« Er blieb vor sich hinmurmelnd stehen. »Es war ein Name aus der Bibel, er fällt mir nicht mehr ein.« Seydlitz, schon ungeduldig, beugte sich über das Pferd. »Daniel hieß des Pagen Vater, es kommt mir wieder. Er ist tot, er ist in die Löwengrube gefahren und war doch ein guter Kürassier.«

»Der Vater«, sagte Seydlitz pedantisch, »war auch Dragoner in Calcar am Rhein. In Calcar bin ich geboren.«

Der Stallmeister schüttelte den Kopf. »Was ist Calcar? Calcar kenne ich nicht. Schwedt kenne ich, und Kürassiere sind die Reiter des Königs.« In seinem Gesicht zogen sich die Falten zusammen. »Dragoner«, sagte er noch, »das ist nicht viel besser als Infanterie, das ist wie Husaren und Kroaten.«

Die Unterhaltung, da ihr Zweck erfüllt schien, war zu Ende. Die Lektion begann von neuem.

 

Der Page führte den Wallach selbst in das Stallgebäude zurück. Es war eine Flucht von Stallungen, die, hoch und luftig gewölbt, Hunderten von Rassepferden Platz gaben. Sie standen dort in Boxen und Ständen, auf täglich erneuerter Streu, und das Geräusch ihrer mahlenden Kiefer erfüllte die Luft mit Wohlbehagen. Seydlitz atmete das scharfe Aroma der Pferdeleiber ein, er ging an den Ständen entlang, entzückt vom Schnitt dieser Körper und ihrem vielfach verschiedenen Haar. Es gab Reihen von ostpreußischen Rappen und Araberschimmeln, von braunen Holsteinern und hellen englischen Schweißfüchsen. Andere waren getigert und merkwürdig punktiert. Es gab isabellfarbene und Hunter von einem fast violetten Rot. Der Markgraf liebte die absonderlichen Farben und Musterungen. Es gab schwarze Schimmel, die ihr Albinentum nur durch kaum merkbare weiße Flecke verrieten, Apfelschimmel und türkische Schecken mit dem Fischauge, das glotzend und wie erblindet sich von der Lebendigkeit des anderen unterschied. Allen diesen Pferden waren die Schweife nicht kupiert. Aber den edelsten waren sie eingeflochten wie die Mähnen, und Seydlitz freute sich an dem Spiel dieser Schweife, während er weiterging, um in das Schloß zurückzukehren. Draußen im Park blieb er plötzlich stehen.

An der Rückfront des Schlosses führte von beiden Seiten eine Rampe zum Saal des ersten Stockwerkes empor. Auf dieser Rampe, die breit war und mit Rasen gepolstert, galoppierte jetzt eben der wilde Jäger herauf. Es war der Irrsinn zu Pferde.

Der Markgraf ritt mit den Hunden voran, und eine Kavalkade von Offizieren und Jägern folgte. Die Türen standen offen. Er galoppierte in den Saal hinein, ließ dort die Hunde blaffen, exerzierte die Jagdgesellschaft zu Pferde auf dem Parkett, befahl den Eßtisch zwischen die Türflügel, sprang über den schon gedeckten Tisch, daß die Gläser klirrten, auf die Plattform zurück, einer nach dem anderen hinter ihm her – und jagte auf der anderen Seite der Rampe weiter, den Ställen zu.

Die Stimmen näherten sich wieder, der Markgraf, jetzt zu Fuß, tauchte vor dem Pagen auf.

»War Er auch fleißig beim Stallmeister?«

Seydlitz bejahte.

»Dann will ich Ihm zur Belohnung meine Vögel zeigen.«

Er ging voran. Der Hohlraum unter der Rampe war eingegattert. Dahinter lebte in allen Farben des Regenbogens eine märchenhafte, aber mißtönende Welt. Die vierbeinige Menagerie der Hoffront wurde durch die gefiederte der Oderfront noch übertroffen.

Der Knabe Seydlitz betrachtete andächtig die schreienden und bunten Papageien, die sich, böse blickend, überschlugen, die Pfauen und persischen Goldfasanen, merkwürdig kropfige Tauben von Übersee, chinesische Hühner und grüne, zärtliche Sittiche. Die ganze Volière flog und kreischte durcheinander, sie stolzierte am Boden und ließ ihre Räder spielen, während die Maisonne diesen Tuschbogen der Natur noch farbiger machte, indem sie ihn in ihr Licht einbezog.

»Eine tolle Welt«, kommentierte der Markgraf, »toller, als wir es jemals fertigbringen. Wir haben in unserem Landstrich die Farbe nicht. Es bleibt alles immer lau und grau.« Er tippte nach seiner Gewohnheit den Pagen an. »Er ist doch jetzt in Freienwalde zu Hause? Da lebt Seine madame mère? Gut. Tue Er Freienwalde in einen Topf und Schwedt dazu, und schüttle Er den Topf so kräftig Er will, es wird doch nichts anderes herausfallen als Wälder und Wiesen und Sand, etwas Wasser und viel mehr Langeweile. Deshalb, versteht Er, deshalb, wegen der tödlichen Langeweile tue ich das – und das andere, worüber die Leute die Köpfe schütteln. Aber es ist eine flüchtige Medizin – und die Arbeit ist eine bessere. Er wird bei mir noch vielerlei lernen, Gutes und Schlechtes. Halte Er sich vor allem nur an den Fleiß. Und jetzt wollen wir frühstücken.«

 

Das Zimmer des Pagen lag im Seitenflügel, wo auch die Adjutanten, Kammerjunker und Hofdamen wohnten. Es war hell, hoch und ländlich wie dieses ganze heitere und geheimnislose Schloß. Und so merkwürdige Liebesgeschichten und Kabalen sich täglich dort abspielten, so blieb, wie in den Zügen eines von Haus aus sauberen Menschen, kein Hauch von Wüstheit in seinen adligen Linien zurück. Dieses Schwedt war brandenburgisch bis unter das Dach. Nur die bezaubernde Holzarchitektur der frei hinschwingenden Treppen machte eine Ausnahme. Sie war nicht brandenburgisch und gar nicht preußisch – sie war deutsch: zugleich romantisch und melodienreich wie die Riemenschneiderschen Plastiken, wie die Ornamente am Naumburger Dom.

Der Page Seydlitz stand vor dem Spiegel und zupfte an den Jabots seiner Uniform. Im Grunde wenig eitel, war er von außerordentlicher Sorgfalt in der Pflege seines Körpers und seiner Kleidung.

Er hörte einen Wagen vorfahren und sah aus dem Fenster. Von den Trittbrettern der vierspännig gefahrenen Galakutsche sprangen zwei Mohren an die Stufen vor. Die Markgräfin stieg aus.

Draußen lief schon ein Furier die Gänge entlang. Nach dem Eintreffen der Markgräfin begann die Abendtafel in kurzem. Seydlitz begegnete vor der Tür dem Kammerjunker von Trotha, der scheinbar die Schlaufe für seinen Galanteriedegen nicht fand. In Wahrheit war er nervös, weil Isa von Chalezac sich wieder verspätete. Er schien dreist genug, dem Markgrafen dieses außergewöhnlich schöne Hoffräulein streitig zu machen.

Isa erschien, aber nicht allein. Der Adjutant des Markgrafen, ein Rittmeister der Rochow-Kürassiere, begleitete sie. Und während sie jetzt zusammen in den Mittelbau des Schlosses hinübergingen, achtete das Fräulein weder auf Trotha noch auf den Rittmeister, sondern auf den neuen Pagen, dessen Unschuld sie reizte.

Immer mehr Herren und Damen des Hofes fanden sich dazu. Draußen fuhren Wagen vor. Landständige von den Gütern erschienen mit ihren Frauen. An den beiden Riesentableaus japanischen Ursprungs vorüber kamen sie die Holztreppe herauf und versammelten sich im Vorraum, der zum Saal führte.

Dann sprangen in dem erprobten Mechanismus dieses Hofes zwei Türenpaare zugleich auf. Von links erschienen die Gastgeber, geradeaus öffnete sich der Saal, seine Kerzen und Lichtkronen wurden sichtbar.

Der Markgraf, mit einem Lächeln, als mache er sich über alle Welt lustig, führte Sophie Dorothee an der Hand: ein junger, frivoler Aristokrat, den die Laune treibt, eine mütterliche, etwas strenge Erzieherin auszuzeichnen.

In dem Augenblick, da er nach einem flüchtigen Rundgang die Schwelle des viereckigen, zu hohen und gleichförmigen Saales überschritt, begann ein verstecktes Kammerorchester zu spielen, Lakaien rückten die Stühle ab, deren Seide ein helles, silberfädiges Blau zeigte. Man setzte sich, nach strenger Rangordnung, zu Tisch. Es war in schmaler Hufeisenform gedeckt, so daß der Markgraf und Sophie Dorothee als einzige in Front saßen. Am äußersten Ende fand der Page seinen Platz, der nur bei den kleinen Mahlzeiten den Herrn persönlich bediente.

Mit diesem Saal schien eine merkwürdige Veränderung vorgegangen, seit die wilde Jägerei der Mittagsstunden ihn verlassen hatte. Jetzt herrschte ein beklommenes Schweigen, und die Hofmusizi mühten sich anfangs vergebens, mit ihren Menuetten und Sarabanden der steinernen Tafelrunde Funken zu entlocken.

Der Markgraf sah Sophie Dorothee flüchtig an. Er wußte wohl, daß von ihrer bloßen Gegenwart die Lähmung ausging. Ihn störte es nicht. Voller Einfälle, wenn er die befangenen Gesichter an der Tafel streifte, überließ er sich der Einsamkeit seines hochmütigen Vergnügens. Der Wein war stark genug, auch die Tatsache einer unfrohen Markgräfin zu überwinden.

Er täuschte sich nicht. Langsam begann ein Schleier zu fallen. Die Korrektheit der Haltung löste sich, und während die Stimmen anschwollen, neigten sich über strohfarbenen Kürassierkolletts und den geschnürten Seidenkleidern der Damen die Köpfe, gepudert und schmal toupiert, zueinander.

Der Markgraf, immer lufthungrig, ließ die Türen öffnen. Von der Oder herüber kam ein leichter Wind, er machte die Kerzen flackern. Schon war die Tafel ein Spiel von Schatten und Licht, phantastisch in seiner Unruhe, wie das andere zwischen Männern und Frauen. Friedrich Wilhelm von Schwedt griff eben in eine Bonbonnière, zielte und warf der Chalezac ein zärtliches Geschoß zu. Die Hofdame fing es auf und lächelte zurück. Andere Paare folgten dem Beispiel, eine heitere Schlacht war schon im Gange.

Nur zwei Menschen im Saal blieben unberührt: die Markgräfin und der Page Seydlitz. Sophie Dorothee litt unter ihrem Mann, den Menschen, den Lichtern und der Musik. Sie war von Natur nicht fähig, sich der Heiterkeit einer Stunde zu überlassen. Der Page wiederum bewies seinen vierzehnjährigen Takt, der ihm verbot, die Grenze der Erwachsenen zu überschreiten. Da er so gut wie keinen Wein trank, kam die Nüchternheit seinem Betragen zugute.

Der Blick der Markgräfin streifte ihn. Zum erstenmal an diesem Abend wandte sie sich dem Gemahl zu. Friedrich Wilhelm, sogleich aufmerksam, beantwortete ihre Frage und winkte Seydlitz heran.

In einer plötzlichen Stille, da gerade auch das Orchester schwieg, ging der Page die Tafel entlang, zum Markgrafen hin. Die Haltung war ihm angeboren. Die Sicherheit kam aus einer bei jungen Jahren erstaunlichen Sparsamkeit des Gefühls: unauffällig das Richtige zu tun, ohne sich an ein Empfinden hinzugeben, sei es Freude, Scham, Verlegenheit oder Schmerz.

Er stand vor dem Markgrafen, der, als Chef eines Regimentes, zunächst einmal den Sitz der Pagenuniform musterte. Sie saß korrekt, es war nichts auszusetzen. Dann beugte er sich zu Sophie Dorothee: »Euer Liebden, dies ist der neue Page.« Aber als Seydlitz sich jetzt näherte, wandte der Markgraf sich wieder ab. Er wußte, daß Sophie Dorothees Befangenheit wuchs, wenn er zuhörte. Also begann er, wie vorher, die Erwählten mit gut gezielten Bonbonwürfen auszuzeichnen.

Die Markgräfin sagte, und ihr verkniffener Mund wurde sanft, wenn sie sprach: »Wie alt ist Er denn?«

»Vierzehn gewesen, am 3. Februar.«

»So, so«, meinte sie freundlich und schien nachzudenken. »Übrigens kenne ich Seine Mutter gut, die geborene von Ihlow.« Sie setzte leiser hinzu: »Ich wundere mich fast, daß sie Ihn an den Hof gelassen hat.«

»Als der Brief Seiner Hoheit kam, hat sie sich mit Gott und ihrem Gewissen beraten. Dann hat sie es doch getan. Aber nicht gern.«

Sophie Dorothee lachte, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Sowohl der Markgraf wie die Tafelrunde bemerkten es verwundert.

»Woher weiß Er denn das?«

»Sie hat es mir erzählt.«

»Spricht sie so mit Ihm? Das ist schön. Aber Er selbst – hat Er denn Lust an den Hof gehabt?«

»Ja, Euer Hoheit, wegen des Reitens.«

Die Markgräfin, noch immer erheitert, nickte. »Da kann Er freilich etwas lernen. Aber sonst«, schloß sie, und ihre melancholischen Augen paßten schlecht zu ihrem Lächeln, »wäre es besser, Er lernt nicht alles, was Er hier sehen wird.«

Seydlitz wußte nicht, was er darauf antworten sollte, und schwieg.

»Er erinnert mich«, sagte sie noch, »an meinen Bruder, den Kronprinzen. Es ist keine Ähnlichkeit, aber eine affinité. Ich glaube, Er wird ihm später begegnen.« Sie reichte ihm die Hand zum Kuß. »Jetzt gehe Er nur wieder zur Tafel. Mit vierzehn Jahren hat man Hunger.«

Als Seydlitz an seinen Platz zurückkehrte, hatte sich unmerklich etwas geändert. Er wußte es nicht – die anderen wußten es. Mit diesem Pagen würden sie zu rechnen haben. Der Handkuß und das Lachen der Markgräfin hatte ihn vor den Augen der Hofgesellschaft bestätigt.

 

Der Markgraf Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt, Enkelsohn des Großen Kurfürsten und der holsteinischen Dorothee, Schwiegersohn des Königs von Preußen und Friedrichs, des Kronprinzen, Schwager, im Volksmund kurz der »tolle Markgraf« geheißen, hatte ein ausgezeichnetes Mittel, das Herz eines Reiters zu erproben. Er setzte den Examinanden einfach auf ein ungerittenes Pferd. Gerade, daß er noch den Trensenzügel zuließ. Sonst gab es weder Sattel noch Decke, von Bügeln ganz zu schweigen.

An jenem Maimorgen – es war ein paar Tage nach der Rückkehr der Markgräfin – hielt er zu Pferd auf den Oderwiesen, jenseits des Schlosses, von seiner reiterlichen Tafelrunde umgeben, und freute sich auf das Examen des neuen Pagen wie auf eine spannende Sensation. Übrigens gab es wie bei einer ernsthaften Doktorprüfung mehrere Stufen und Grade, die erworben sein wollten. Es kam vor, daß man die eine bestand und in der anderen durchfiel. Versagte man aber völlig, so konnte kein fehlerfreies Extemporale in den gelehrten Wissenschaften die reiterlichen Nullpunkte ausgleichen, und der Page wurde einfach cum infamia nach Hause geschickt.

Der Knabe Seydlitz stand, nicht weit entfernt, mitten in der Sonne, und wartete wie sein Herr. Er hatte in der Frühe kurz und bündig gebetet, daß diese Prüfung mit Anstand vorübergehen möchte, weil er dem Namen Seydlitz, dem weiland Rittmeister Daniel, der Freienwalder Mutter und sich selber keine Unehre machen durfte. Dann hatte er ehrlich gefrühstückt – und mehr war im Augenblick kaum zu tun. Furcht hatte er nicht. Seine Muskeln, noch im Wachstum, waren gleichwohl fest und gefügig. Also mußte man das Weitere abwarten.

Es näherte sich schon. Zwei Bereiter führten einen jungen Schimmelhengst heran, der wenig Neigung zu verspüren schien, sich seinerseits an dem Examen zu beteiligen. Er stieg und keilte, daß die Stalleute Mühe hatten, ihn überhaupt von der Stelle zu bringen.

Der Page beobachtete diesen Tanz mit einer sachlichen Aufmerksamkeit, die ihn nahezu vergessen ließ, daß gerade er ausersehen war, den Schimmel in die Anfangsgründe seiner Bestimmung als Reittier einzuführen.

Der Markgraf ließ seine Augen gespannt zwischen Seydlitz und dem Schimmel hin und her gehen. Der Schimmel hieß Mohamed und war vom Profeten aus der Fatme gezogen. Er kannte jedes Pferd seiner Zucht. Dieses gefiel ihm. Und das Gesicht des Pagen gefiel ihm auch.

Die Stalleute waren jetzt herangekommen. Seydlitz trat zu ihnen, griff behutsam in die Trense, und die Bereiter zogen sich zurück.

Es gibt ein angeborenes Gefühl für Kreaturen. Man kann es nicht lernen, es stammt aus einer natürlichen Verbundenheit zwischen Mensch und Tier – und je einfacher der Mensch ist, um so unmittelbarer wirkt das Naturgefühl sich aus. Der Page merkte zunächst einmal, daß der Schimmel ein empfindliches Maul besaß und die Stalleute, mit ihren praktikablen Griffen, ihm weh getan hatten.

Daraufhin strich er dem Pferd die Nüstern und ließ den Zügel nach. Der Schimmel hielt einen Augenblick still, zitternd zwar, doch er hielt. Seydlitz führte ihn ein paar Schritte an, legte ihm die Hände auf den Hals und versuchte sich unbemerkt auf seinen Rücken zu schmuggeln.

Der Schimmel paßte auf. Sofort wurde er wieder tobsüchtig. Er sprang zur Seite und keilte, er wieherte und stieg. Seydlitz hielt den Zügel fest und ging achtsam mit.

Plötzlich saß er oben.

Aber der Schädel eines Pferdes pflegt härter zu sein als der Schädel auch des standhaftesten Pagen. Mohamed schlug mit dem Kopf nach hinten, und Seydlitz, halb ohnmächtig vor Schmerz, hörte die Engel im Himmel singen. Er glitt wieder vom Rücken des Schimmels, und seine Kiefer waren wie tot und gelähmt. Er fühlte keine Zähne mehr. Das Blut stürzte ihm aus der Nase.

In diesem Stadium des Zweikampfes gab keiner der Zuschauer einen Pfennig für den Sieg des Prüflings. Aber sie hatten die Verbissenheit dieses schläfrigen Jungen unterschätzt.

Seydlitz fand sich neben dem Pferd auf der Erde wieder, aber den Zügel hatte er festgehalten.

»Er schwitzt schon Wasser und Blut«, triumphierte der Markgraf.

Dem Pagen lief in der Tat das Wasser aus den Augen, aber nicht vor Schmerz. Mit der rasenden Wut eines Knaben, der sich vor Erwachsenen gedemütigt sieht, versuchte er es immer von neuem. Und während er schwitzend und blutend dem Schimmel beizukommen suchte, wurde er kalt. Er gab nicht nach, und wenn es bis zum anderen Morgen dauern sollte. Er riß auch dem Pferd nicht ins Maul. Er wartete und paßte auf. Und in einem unbewachten Augenblick saß er zum zweiten Male oben.

Aber jetzt sah er sich vor. In der gleichen Sekunde, in der seine Schenkel zufaßten, warf er schon den Kopf zurück und zog die Trense an.

Der Schimmel Mohamed stand erschrocken wie ein Lamm, wobei er bis in die Fasern seiner Haut bebte. Dann schüttelte er sich, wollte sich hinwerfen – aber es gelang ihm nicht mehr – er machte einen wahren Hechtsprung und raste ab.

Einmal im Galopp, hatte Seydlitz schon so gut wie gewonnen. Sitzen konnte er, das war sein Erbteil vom Vater her. Ein galoppierendes Pferd, selbst wenn es unversehens buckelte, ausschlug und zur Seite bog, brachte ihn sobald nicht zur Erde. Dafür hatte er die Knie und die Schenkel. Und er hatte noch ein anderes: das war das Geheimnis des Reiters. Er überwand das natürliche Mißtrauen der Kreatur, es verband sich, durch die Körper hindurch, mit der Art des anderen Geschöpfes.

Der Schimmel war losgejagt wie blind und taub. Der Page hatte ihn laufen lassen, weil die Wiese weit war und er, mit einer unbewußten Liebe, den Schrecken und Zorn des Tieres verstand. Der Hengst tobte sich aus, er sprang, was im Wege stand, Gräben und Hecken. Dann wurde er langsamer, der anfangs straffe Zügel lockerte sich leicht. Es war nicht notwendig, zu gehorchen – der Zügel gab unmerklich den Weg. Es war auch nicht notwendig, die Last vom Rücken abzuwerfen. Sie schmerzte nicht und trug sich selbst.

Dreißig Minuten später stieß Seydlitz wieder auf die markgräfliche Kavalkade, die langsamer gefolgt war. Er sprang vor der Hoheit vom Pferd – und beide, Page wie Schimmel, dampften. Aber sie hatten getan, was von ihnen verlangt war.

Der Markgraf lachte und sagte nur: »Hat Er noch Seine Zähne im Mund?«

Seydlitz fühlte seinen geschwollenen Kiefer ab: »Es scheint so, Euer Hoheit.«

»Dann verdient Er, daß ich Ihm den Mohamed schenke – denn Er hat den härtesten Schädel der Welt.«

Seydlitz, dem der Schweiß über das Gesicht lief, errötete noch stärker – doch jetzt aus Freude. Er antwortete: »Ich danke Euer Hoheit.« Und damit war die Angelegenheit zunächst für beide Teile erledigt.

Der Schimmel Mohamed, arabischer Abstammung, zeigte die Merkmale seiner Rasse: den kleinen Kopf und den schönen Schweif, der bis zur Erde reichte. Das war das erste von hundert Pferden, die Seydlitz besaß. Keines hat ihn glücklicher gemacht, auch jener berühmte »Tiger« nicht, den der König ihm im bösen Jahre 60 schickte.

Übrigens war der Schimmel klein, schmal, schnell und wendig. Vielleicht stammt von ihm die Vorliebe des späteren Kürassiergenerals für »Husarenpferde«, die er – gegen alle Tradition – ein Leben hindurch bevorzugte.

 

Es begannen mit diesem Tage die denkwürdigen fünf Lehrjahre, wie sie ein Schüler selten an sich erfahren hat. Sie schufen das Vorbild des preußischen Menschen mit seinen Merkmalen der Kargheit und des Pflichtgefühls durch die entgegengesetzten, weil die ausschweifendsten Mittel.

Der Schwedter Markgraf war verschwenderisch – und fleißig nur aus Unruhe des Temperamentes. Er erkannte kein Maß als recht außer dem eigenen. Darum kannte er auch keine Mäßigung. Er verbrauchte sich und andere unaufhörlich – nicht um einer Sache zu dienen, sondern dem Trieb.

Nur die Haltung des Grandseigneurs bewahrte ihn davor, ein Wüstling zu sein, wie ihn seine fast unerschöpfliche körperliche Energie vor dem Sybaritentum anderer Duodezfürsten bewahrte. Charakter war bei ihm eine Angelegenheit des Körpers – nicht der Moral. Und wenn er sich durch Pferde und Frauen hindurchhetzte, ohne einen Funken seiner Geschmeidigkeit einzubüßen, so war hier die Sinnenlust nur Mittel zum Zweck, sich gegen die übermäßig auf ihn eindrängende Fülle des Lebens zur Wehr zu setzen. Alles in allem schien dieser Markgraf, der nicht einmal ein guter Soldat, nur ein verwegener Reiter war, als Lehrmeister so ungeeignet wie möglich. Es gab keinen besseren Lehrmeister, den Knaben Seydlitz zu erziehen.

Hier begegneten sich zwei fremde Arten: die verschlossene und die immer geöffnete, die spröde und die biegsame, und glichen sich aus: Wenn es sich um Pferde und Gefahren handelte, wurde die Nüchternheit des Knaben Phantasie, wie umgekehrt die ewige Wandelbarkeit des Markgrafen eindeutig und unbeirrbar wurde.

Aber sie verschmolzen nicht. Seydlitz gab sich auch der stärkeren Persönlichkeit des Schwedter Friedrich Wilhelm nicht hin. Als er sich fünf Jahre später aus der gefährlichen Atmosphäre des Hofes loslöste, erwies es sich, daß er nicht anders fortging, als er gekommen war.

 

Es gab im Schwedter Schloß einen beglückenden Raum. Das war das Turmzimmer der Markgräfin im ersten Stock. Rund und so weit geräumig, daß es nicht bedrückte, war es von oben bis unten getäfelt. Längliche Spiegel, in das Holz eingelassen, unterbrachen die Eintönigkeit der braunen Maserung, und die drei Fenster im vorderen Halbrund gaben den Blick auf die Oder frei.

Der Page, mit einem Auftrage des Markgrafen zur Fürstin geschickt, stand verwundert in diesem Raum, der ihm vertrauter schien als das ganze Schloß.

Nur ein einziges Möbelstück bemerkte man, wenn man eintrat. Das war der Nähtisch. Davor saß Sophie Dorothee und arbeitete. Der Page verneigte sich, richtete seinen Auftrag aus und wollte sich zurückziehen.

»Bleib Er doch«, meinte die Markgräfin. »Erzähle Er mir etwas. Ich bekomme selten Besuch.« Sie schien hier eine andere als bei den Mahlzeiten und in Gesellschaft.

Der Knabe wußte nicht, wie er beginnen sollte. Wiederum durfte er nicht stumm bleiben. So berichtete er von dem Schimmel Mohamed, den Seine Hoheit ihm geschenkt hätte. Den Grund verschwieg er.

»Da muß der Markgraf gute Laune gehabt haben.« Sie blickte aus dem Fenster. Die Oder floß breit und ruhig, eine Hügelreihe säumte den Horizont. »Das«, sagte sie, »ist meine Welt. Sie ist nicht allzuweit – wie dieser Turm, aber für mich weit genug. Hier braucht ein einzelner Mensch keine Furcht zu haben. Hier verliert er sich nicht. Und der Turm ist hoch, man kann atmen.«

Seydlitz folgte ihrem Blick, er starrte die kreisrunde, ganz bunte Decke an, die in der Tat auffallend hoch lag.

»Gefällt Ihm das?« Und da er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Aber das ist etwas sehr Kostbares. Das ist Meißner Porzellan, ein Geschenk des Dresdner Vetters.« Sie arbeitete weiter. »Es gibt so viele schöne und kostbare Dinge – davon wird Er hier freilich nicht viel erfahren. Das Leben, muß Er wissen, besteht nicht nur aus Reiten und Jagen.« Und sie setzte nach einer Weile hinzu: »Er sollte meinen Bruder Fritz kennen.«

Der Page hörte aufmerksam, doch wie stets etwas schläfrig zu.

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte die Markgräfin – und sprach mehr zu sich, wie Menschen, die viel allein sind – »Er ist 1721 geboren und der Kronprinz 1712. Das ist die Umkehrung der Zahlen 1 und 2. Zahlen, weiß Er, haben eine Vorbestimmung. Von Archimedes und Pythagoras angefangen, ist auf ihnen das Fundament der Welt aufgebaut. Die 9 liegt dazwischen, sie verbindet und trennt. Man hält sie für eine beglückende Zahl. Sie ist die letzte geschlossene Einheit der dezimalen Reihe. Das alles wird einmal bedeutungsvoll.«

»Euer Hoheit«, antwortete der Page ehrlich, »davon verstehe ich kein Wort.«

»Ich kann es mir denken.« Sie sah das ernste immer noch ein wenig ausdruckslose Gesicht des Knaben und schien belustigt: »Ich ennuyiere Ihn. Aber das kommt, wenn einem so selten jemand zuhört.«

»Die Hofdamen –«, begann er ungeschickt, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Ach, geh Er mir mit den Hofdamen«, unterbrach sie ihn schnell, »im besten Falle sind es Gänse.« Sie sah, ohne es zu wissen, aus dem Fenster. Im zweiten Stockwerk, seitlich des Turmes, lief eine schmale Brücke vom Mittelfenster der Seitenfront zur kleinen Tür eines Erkers. »Die Hofdamen sind nichts nutz. Nur die Schwerin mag angehen.«

Es entstand ein Schweigen. Seydlitz, in dem Gefühl, die Markgräfin gekränkt zu haben, stand mitten im Turm festgenagelt und wagte nicht, sich zu entfernen.

»Er denkt wohl, ich bin böse?« sagte Sophie Dorothee nach einer Weile.

»Ja, Euer Hoheit.«

»Ich bin es auch, aber nicht auf Ihn.« Und sie setzte hinzu: »Häßliche Frauen, das wird Er noch merken, sind immer böse. Die schönen haben es leichter.«

»Euer Hoheit sind nicht häßlich.«

Sophie Dorothee hatte plötzlich einen bezaubernden Ausdruck in den Augen. »Es nützt einem nichts, daß man die Tochter des Königs von Preußen ist. Jede Chalezac beschämt einen. Aber Er ist ein kleiner Kavalier, und dafür danke ich Ihm sehr.«

Seydlitz wurde rot. »Ich bin ungeschickt.«

»Ach«, meinte die Markgräfin sanft, »ich wünschte allen Männern, sie wären so ungeschickt wie Er. Es tut einem manchmal ganz wohl. Die Höflichkeit, muß Er wissen, die nicht von Herzen kommt, bringt einen Menschen langsam ins Grab.«

»Euer Hoheit haben doch alles, was Sie sich wünschen können.« Und er setzte mit der Wichtigkeit eines Kindes hinzu: »Das Schloß in Schwedt und Monplaisir, die ganze Markgrafschaft und alle Pferde.«

Sophie Dorothee lachte leicht. »Was tue ich schon mit Pferden und einem Schloß? Ich kann nur in einem Zimmer wohnen. Ich reite auch nicht so gut wie Er und – der Markgraf. Wenn man zuviel hat, wünscht man sich nichts mehr. Und was man sich wünscht, bekommt man nicht.«

»Was wünschen sich Euer Hoheit noch?«

»Das kann ich Ihm nicht alles erzählen. Er ist noch jung. Wenn Er an Seine Mutter denkt, wird Er es wissen.«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Aber Er selbst ist doch das Beispiel und der Beweis.«

Seydlitz überlegte angestrengt, er verstand es nicht.

»Man muß Ihm alles genau erklären. Er ist der Beweis, daß Seine Mutter mitten im Leben stand, eine tüchtige, feste Frau, und das Beispiel für ein Kind aus einer richtigen Ehe.«

Der Page sagte unvermittelt – und wußte selbst nicht, wie sehr er den Zusammenhang begriff: »Aber der Herr Markgraf ist das Wunder von einem großen Herrn.«

Sophie Dorothee war betroffen und sprach doch weiter. »Zu sehr. Das verträgt man nicht für viele Jahre.« Sie reichte ihm die Hand. Als er sie küssen wollte, fuhr sie ihm über das Haar. »Er hat noch die Wärme der Haut wie die Kinder. Ich hätte gern einen Sohn gehabt. – Und jetzt«, fuhr sie heiter fort, »lasse Er sich nur von Seinem schönen Markgrafen weiter in die Mysterien der Pferde einführen und vergesse Er, so schnell es geht, daß es noch andere gibt.«

Als Seydlitz, nach dem Zeremoniell rückwärts gehend, den Turm verließ, begegnete er draußen im Flur dem Kammerjunker von Trotha.

»Wie war es in der Rosenlaube?« fragte dieser. Trotha war gut zu leiden, wenn auch ein etwas fader Spaßmacher, der hier nach der Dichterregel der Lateiner das pars pro toto-Prinzip verwandte, indem er Rosenlaube gleich Sophie Dorothee setzte. Denn eigentlich war die »Rosenlaube« das Schlafzimmer der Markgräfin, so genannt nach einer kostbaren Ledertapete mit eingepunzten Rosen. Und es gab im Leben der Sophie Dorothee kaum einen größeren Hohn, als die blühende Bezeichnung eines Raumes, der zwischen Spiegeln und Rosengewinden nur die Einsamkeit einer klösterlichen Frau behütete.

»Ich war im Turmzimmer«, wehrte Seydlitz ab.

»Das will ich wohl meinen. Übrigens eine Dame voller Witz. Für andere versteht sie sich sogar auf die utilités der Liebe.«

Der Page schloß sich sogleich zu. Alle Arten von Klatsch waren ihm verhaßt.

»Es gibt da eine kleine Brücke, das Volk von Schwedt mit seinen dreihundert romantischen Köpfen hat sie die ‚Liebesbrücke‘ getauft.«

Seydlitz wurde jetzt, wenn auch wider Willen, aufmerksam. »Ihre Hoheit«, fuhr Trotha fort, »hat sie dem Markgrafen als surprise anbauen lassen – vom Mittelfenster des zweiten Stockwerkes bis zum Erker, wo die Hofdame vom Dienst zu wohnen pflegt.« Trotha lachte albern. »Sie hat ein gutes Herz, die Dame Sophie Dorothee. Die Brücke ist bequemer. Früher ritt Seine Hoheit immer auf einem Plättbrett hinüber. Wie leicht hätte er einmal abstürzen können, wenn er nicht ein so exquisiter Reiter wäre – auf Plättbrettern wie auf Pferden.«

Der Page wurde rot. Denn er entsann sich des Blickes, mit dem die Markgräfin vom Turmzimmer aus die steinerne Brücke angesehen hatte. Dieser Blick war großartig: resigniert und voller Verachtung. »Ich bin nicht neugierig«, sagte Seydlitz nur.

»Das ist für einen Pagen wichtig.« Und um vieles kühler setzte Trotha hinzu: »Seine Hoheit wünschen auszureiten.«

Seydlitz folgte ihm, die Treppen hinab. Seine Gedanken waren noch im Turmzimmer der Sophie Dorothee.

 

Die mehlige Kappe des Müllers auf dem Heinersdorfer Windmühlenhügel wurde in der Bodenluke sichtbar. Von Schwedt her näherte sich der Markgraf mit seiner Kavalkade.

Das Gesicht des Müllers war aufsässig und roh. Die Zähne standen schief, von den Lippen entblößt. »Wer das Geld hat«, knurrte er, »kann sich einen guten Tag machen.«

Neben ihm tauchte ein zweiter Kopf auf, so bestaubt, daß man nicht wissen konnte, ob er einem Mann oder einer Frau gehörte. »Sei still, Mehlwurm, ich bin dein Geld.«

Der Müller rührte sich nicht, so starrte er, auf seine Arme gebückt, den Reitern entgegen. »Sie wissen nicht, wie das ist, wenn einem das Messer am Halse sitzt, und die Tochter ist der letzte Notgroschen im Haus. Das wissen die nicht auf ihren dicken Pferden.«

»Es ist ein Neuer dabei«, zeigte die Tochter, weil die Reiter schon zu erkennen waren.

»Du bist wie die. Ich weiß nicht, wo ich am Ersten die Pacht hernehmen soll.«

»Wart’s ab«, meinte die Tochter und grinste.

»Abwarten – das könnte euch passen.«

Trotzdem zog der Müller die Kappe vom Kopf, kriecherisch und verbissen, als der Markgraf zur Luke hinaufsah. Der Schwedter Herr hob den Reitstock. »Die Mehlwürmer«, rief er und drohte. »Ihr habt wohl nichts zu tun?«

»Soviel wie Euer Gnaden nicht«, antwortete der Müller frech. »Euer Gnaden haben immer zu reiten.«

»Halt Er nur Sein Maul, wenn wir Ihm die Ehre erweisen. Er ist mir noch die Pacht schuldig.«

»Schuldig?« schrie der Müller. »Es ist keiner schuldig, Euer Gnaden, nur das Geld ist schuld, weil es knapp ist.« Das nächste verschluckte er, aber er dachte es. Er kannte sie, bis auf den einen, den Neuen, kannte er sie nur zu gut.

Da war der tolle Markgraf selbst und Trotha, der ihm die Weiber zutrieb. Da war der Hofjägermeister und der Oberhoffurier, der auch vom vielen Reiten nicht mager wurde. Da waren die Offiziere der Schwedter Eskadron, und einer war aus Belgrad dabei und einer aus Schlesien. Denn überall gab es Rochowsche, sie lagen in vielen Garnisonen verstreut. Nur der von Rochow selber ließ sich selten beim Schwedter Herrn blicken. Ja, er kannte sie, die Jagows und Arnims von den Gütern, die Kammerherren und Stallmeister von Rang, die jetzt, hinter dem Markgrafen her, den Hügel heraufgaloppiert waren.

»Tochter«, sagte der Müller leise und stieß das Mädchen in die Seite.

»Was ist?«

»Wenn sie wieder durch die Flügel reiten, stellen wir das Getriebe um. Dann müssen sie den Hals brechen.«

»Sie brechen ihren Hals nicht, aber du steckst deinen in die Schlinge.«

Der Müller spuckte aus.

»Siehst du wohl«, sagte die Tochter, »du tust es nicht, du hast Angst.«

»Ja, ich habe Angst – und die Wut dazu.« Er hing jetzt aus der Luke heraus und lauerte bösartig auf das reiterliche Schauspiel.

Die Herren hatten auf dem Hügel einen Zirkel angelegt, auf dem sie ein letztes Mal ihre Pferde in die Hand arbeiteten. Neben ihnen kreisten, regelmäßig und drohend, die Flügel.

»Das war mein Gesellenstück, Seydlitz«, rief der Markgraf. »Sehe Er sich an, wie wir jetzt den Don Quijote spielen und gegen Windmühlen kämpfen. Später kann Er es nachmachen.«

Seydlitz sah die mächtigen Flügel sich drehen, und immer vergingen zwei Sekunden, bis einer in seinem Schwung lotrecht zum Erdboden stand. Mit einem plötzlichen, aber ruhigen Satz jagte der Markgraf sein Pferd in die unbarmherzige Drehung hinein, dort wo zwei Sekunden lang die flüchtige Öffnung zwischen Flügel und Flügel klaffte. Dann wandte er sich zurück und ließ die Eskorte an sich vorüber.

Einer nach dem anderen tat es ihm nach. Es war ein Spiel mit dem Tod. Wessen Pferd hier fehltrat, wer sich versäumte, flog mit dem nachstoßenden Flügelbalken in die Luft und wieder zur Erde, um nicht mehr aufzustehen.

Vierzehnmal sah es der Page und dachte, daß er es schon jetzt ebenso gut können müßte wie Trotha oder der beleibte Furier. Je ruhiger man anritt, um so sicherer war der Erfolg. Man mußte fertig sein, wenn der Balken senkrecht stand und eben weiter rotierte. Warum sollte er allein zusehen, wenn die anderen ritten? Und er setzte den Schimmel in Galopp.

»Ist Er wahnsinnig?« rief der Markgraf.

Es war schon zu spät. Mohamed galoppierte an, und Seydlitz gab ihm die Sporen. Etwas wie ein bestürzter Aufschrei wurde hörbar. Aber der Schimmel war vernünftiger als sein Reiter und machte nicht mit. Er sprang zur Seite und stieg, noch bevor er in die Nähe der Flügel gelangt war. Auch das Mädchen in der Bodenluke hatte geschrien. Unten war der Markgraf zur Stelle, zum erstenmal sah der Page sein zorniges Gesicht. »Ist Er wahnsinnig?« wiederholte er. »Auf Seinem ungerittenen Schinder riskiert Er den Kopf!«

Seydlitz gelang es, trotz seiner sanften Hand, kaum, den Schimmel zu beruhigen. Dabei dachte er verwundert: Der Markgraf hat ein Herz, sonst wäre er nicht zornig. Jetzt gerade muß ich es versuchen. Und während Mohamed keilte und stieg, und sich wie ein Kreisel auf der Hinterhand drehte, antwortete er: »Euer Hoheit werden mich als einzigen nicht beschämen.«

»Gut«, sagte der Markgraf und glitt schon von seinem großen Braunen, »hier ist mein Pferd.«

Auch Seydlitz stieg ab, gab Mohamed einem Stallmeister, saß wieder auf, fühlte den beherrschten Wallach Seiner Hoheit unter sich, ritt an und galoppierte durch den Flügel hindurch, als wäre es keine Sache, um die sich ein Aufsehen lohnte. Dann sprang er aus dem Sattel und führte dem Markgrafen den Braunen zu.

Der Schwedter überlegte, sagte aber nichts. Er jagte schon weiter, drüben den Hügel abwärts, die andern hinter ihm her. Seydlitz wollte ebenfalls folgen – doch der Schimmel wollte nicht. Er hatte den Teufel und ging nicht vom Fleck. Man mußte Geduld haben und nicht nachgeben.

Zunächst freilich nutzte auch die Geduld nichts. Mohamed überschlug sich, und der Page rutschte noch eben aus dem Sattel. Die Mühlenstiege knarrte, vorsichtig näherte sich der Müller und hielt die Tochter am Arm. »Den«, sagte er an ihrem mehligen Ohr, »haben wir fest.«

Seydlitz, mit dem Pferde beschäftigt, achtete nicht darauf. Er wandte ihnen den Rücken zu. Eine Stimme faßte ihn, häßlich, aber nicht laut. »Herr Junker!«

Seydlitz drehte sich um, auch Mohamed spitzte nervös die Ohren.

Der Müller trat einen Schritt vor. »Der Junker reitet ein wildes Pferd.«

»Es wird schon wieder zahm werden.«

»Da ist nicht zu spaßen, weil man den Hals brechen kann.«

»Den Hals kann man auch auf einer Hühnerstiege brechen.«

»Wenn man hin ist«, meinte der Müller, »nützt einem kein Adel und kein Geld.«

»Was soll das?«

»Der Junker hat Geld, ich habe keins.«

»Geld?« fragte Seydlitz verwundert. Sinn und Begriff des Geldes waren ihm fremd. Es war das Selbstverständliche wie Essen und Trinken. Man sprach nicht darüber, man wertete es nicht.

»Es ist nichts, wenn man es hat, aber eine schwere Not, wenn man es nicht hat.«

»Er verdient doch am Mehl.«

»Nicht genug für die Pacht, die der Herr Markgraf mir abverlangt.«

»Was geht mich Seine Pacht an?« fragte Seydlitz ablehnend, weil ihm das Gesicht des Müllers mißfiel.

»Es geht die Herren nichts an, wenn die Canaille krepiert. Die Herren haben satt, sie zählen ihre Taler nicht.« Die Stimme, schmeichlerisch beherrscht, wurde gemein. »Die Herren wissen nicht, wie das ist, wenn man Tag und Nacht daran denken muß, und es ist kein Geld mehr im Haus. Das ist eine andere Not, als durch Windmühlen reiten und sich mit Gäulen abschinden.«

Seydlitz hatte schon den Fuß im Bügel. Er zog den Fuß zurück. Etwas im Ton des Müllers machte ihn stutzig.

»Er denkt wohl, ich bin reich?«

»Der Junker hat noch immer reichlich, was uns fehlt.«

Zum erstenmal dämmerte es dem Pagen, daß neben der Welt, die er kannte, noch eine andere Welt sein mußte, die er nicht kannte. Dort wurde das Geld, das man achtlos im Schweinslederbeutel trug, zu einer bewegenden Ursache, einem grausamen Trieb. Der Page verstand es nicht. Seine Welt schien festgefügt: dem Staat, der Ordnung, dem Gesetz verbunden. Es war die Welt der Herrenkaste und ihre Wirklichkeit. Dahinter aber, so spürte er, begann eine andere, besessene Wirklichkeit – der chaotische Kampf, die Lebensangst der Kreatur, zu sein. Ein merkwürdiger Eishauch blies dem fünfzehnjährigen Jungen ins Gesicht – und glitt von ihm ab.

Eher widerwillig als mitleidig fragte er: »Was macht die Pacht aus?«

Der Müller kroch in sich zusammen. »Zehn Dukaten, junger Herr, nur zehn Dukaten.« Und indem er die Tochter am Arm ergriff, fuhr er schleimig fort: »Wir wollen nichts umsonst, wir rechnen mit dem Pfennig. Das ist meine Tochter. Wenn sie den Mehlstaub abwäscht, kann sie dem Junker gefallen.«

Der Page errötete und wandte sich ab. Ein Ekel saß ihm im Hals. »Ich habe fünf Dukaten bei mir. Die will ich Ihm lassen. Hier. Jetzt mache Er Platz. Der Schimmel keilt.«

Ohne sich weiter um den Müller zu kümmern, stieg er auf – Mohamed hatte sich inzwischen beruhigt – und ritt los, dorthin, wo weit voraus die Kavalkade des Markgrafen noch eben sichtbar war.