Eine Dame von Welt - Henry James - E-Book

Eine Dame von Welt E-Book

Henry James

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Beschreibung

Eine vergessene große Erzählung vom Meister der weiblichen Psychologie

Die Novelle, Spiegelstück zu Henry James »Daisy Miller«, zählt zu den unterhaltsamsten Werken des profunden Menschenkenners: Eine unerschrockene Amerikanerin mischt die Welt der zugeknöpften europäischen Aristokratie auf, um sich in diesen Kreisen einen Platz zu erkämpfen.

Der reiche Amerikaner Littlemore trifft in einem Pariser Theater auf Mrs. Headway, eine alte Angebetete aus San Diego. Sie bittet ihn, als ihr Fürsprecher den Edelmann Arthur Demesne ihrer »Ehrbarkeit« zu versichern. Littlemore zögert: Sie hat ein skandalträchtiges Leben geführt, eine vorteilhafte Ehe ist ihre einzige Möglichkeit auf gesellschaftliche Anerkennung. Soll er aus alter Verbundenheit lügen? Eine schwierige Frage, denn von nun an zählen Littlemore und Demesne zu den regelmäßigen Gästen im Salon Mrs. Headways. Bestechend frisch erzählt Henry James von einer unerschrockenen Amerikanerin, die die zugeknöpfte Welt der europäischen Aristokratie aufmischt, um sich gegen alle Konventionen ihren Platz zu erkämpfen.

»Dieser Schriftsteller wird Sie nicht mehr aus seinen Fängen lassen, sobald Sie eine Zeile von ihm gelesen haben.« Alexander Cammann, Die Zeit

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Titelinformationen

Informationen zum Buch

Eine vergessene große Erzählung vom Meister der weiblichen Psychologie

Die Novelle, Spiegelstück zu Henry Jamesʼ »Daisy Miller«, zählt zu den unterhaltsamsten Werken des profunden Menschenkenners: Eine unerschrockene Amerikanerin mischt die Welt der zugeknöpften europäischen Aristokratie auf, um sich in diesen Kreisen einen Platz zu erkämpfen.

Der reiche Amerikaner Littlemore trifft in einem Pariser Theater auf Mrs. Headway, eine alte Angebetete aus San Diego. Sie bittet ihn, als ihr Fürsprecher den Edelmann Arthur Demesne ihrer »Ehrbarkeit« zu versichern. Littlemore zögert: Sie hat ein skandalträchtiges Leben geführt, eine vorteilhafte Ehe ist ihre einzige Möglichkeit auf gesellschaftliche Anerkennung. Soll er aus alter Verbundenheit lügen? Eine schwierige Frage, denn von nun an zählen Littlemore und Demesne zu den regelmäßigen Gästen im Salon Mrs. Headways. Bestechend frisch erzählt Henry James von einer unerschrockenen Amerikanerin, die die zugeknöpfte Welt der europäischen Aristokratie aufmischt, um sich gegen alle Konventionen ihren Platz zu erkämpfen.

»Dieser Schriftsteller wird Sie nicht mehr aus seinen Fängen lassen, sobald Sie eine Zeile von ihm gelesen haben.« Alexander Cammann, Die Zeit

Treppenaufgang im Pariser Théâtre-Français, 1850

Henry James

Eine Dame von Welt

Eine Salonerzählung

Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Alexander Pechmann

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Anhang

Henry James: Gelegentlich Paris

Nachwort: Ein Kind des fernen Westens

Anmerkungen

Chronik

Editorische Notiz

Über Henry James

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1

Jenes ehrwürdige Stück Stoff, der Vorhang der Comédie-Française, war am Ende des ersten Akts gefallen, und unsere beiden Amerikaner hatten die Pause genutzt, um das große aufgeheizte Theater zusammen mit den anderen Zuschauern aus den Sperrsitzen zu verlassen. Sie zählten jedoch zu den Ersten, die zurückkamen, und vertrieben sich den Rest der Unterbrechung mit dem Inspizieren des Hauses, das unlängst von seinen historischen Spinnweben befreit und mit Fresken, die Szenen aus klassischen Dramen darstellten, verziert worden war. Im September sind die Besucher im Théâtre-Français vergleichsweise dünn gesät, und an diesem Abend erhob das Drama – L’Aventurière von Émile Augier – nicht den Anspruch, eine Neuheit darzustellen. Viele Logen standen leer, andere wurden von einem Publikum besetzt, das einen provinziellen oder nomadischen Eindruck machte. Alle sind weit entfernt von der Bühne, in deren Nähe unsere Zuschauer saßen; Rupert Waterville indes wusste sogar aus der Ferne gewisse Details zu bewundern. Er liebte es, die Details zu würdigen, und wenn er im Theater war, ging er dieser Leidenschaft ausgiebig nach, indem er ein kleines, aber bemerkenswert starkes Opernglas zu Hilfe nahm. Ihm war durchaus bewusst, dass ein solches Benehmen keineswegs als vornehm gelten konnte und es sich nicht schickte, ein Instrument, das kaum weniger verletzend wirkt als eine doppelläufige Flinte, auf eine Dame zu richten, doch wurde er stets von großer Neugier geplagt und war sich bei diesem antiquierten Bühnenstück – wie er das Meisterwerk eines Akademiemitglieds zu beurteilen beliebte – jedes Mal sicher, genau den Moment abzupassen, da ihn niemand, der ihn kannte, beobachtete. So stand er also mit dem Rücken zur Bühne und nahm eine Loge nach der anderen ins Visier, während einige andere dieselbe Unternehmung noch abgebrühter durchführten.

»Nicht eine schöne Frau darunter«, berichtete er schließlich seinem Freund, eine Beobachtung, die Littlemore, der auf seinem Platz saß und mit gelangweilter Miene den neu aussehenden Vorhang anstarrte, mit vollkommenem Schweigen quittierte. Er schwelgte selten in derlei wandernden Blicken; er hatte viel Zeit in Paris verbracht und aufgehört, sich groß für etwas zu interessieren oder sich gar zu wundern. Er glaubte, die französische Hauptstadt könne ihm keine weiteren Überraschungen bescheren, obwohl sie ihm in früheren Tagen so viele geboten hatte. Waterville befand sich noch im Stadium des Staunens; er brachte ebendieses Gefühl plötzlich zum Ausdruck. »Herrgott!«, rief er, »ich muss mich bei Ihnen entschuldigen – ich muss mich bei ihr entschuldigen – hier ist doch eine Frau, die man …« – er schwieg kurz, als er sie musterte – »… eine Art Schönheit nennen kann!«

»Welcher Art?«, fragte Littlemore abwesend.

»Einer ungewöhnlichen, einer unbeschreiblichen Art.« Littlemore zeigte keine Regung, wurde aber bald darauf erneut angesprochen. »Hören Sie, ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten.«

»Ich habe Ihnen einen Gefallen getan, als ich Sie hierher begleitete«, sagte Littlemore. »Es ist unerträglich heiß, und das Stück gleicht einer Mahlzeit, die vom Küchenmädchen zubereitet wurde. Alle Schauspieler sind die Zweitbesetzung.«

»Beantworten Sie mir nur diese eine Frage: Ist sie ehrbar?«, fuhr Waterville fort, indem er das Epigramm seines Freundes überging.

Littlemore stöhnte, ohne sich umzudrehen. »Sie wollen immer wissen, ob sie ehrbar sind. Was um Himmels willen macht das für einen Unterschied?«

»Ich habe so viele Fehler gemacht – und jedes Vertrauen verloren«, erwiderte der arme Waterville, dem die europäische Zivilisation noch immer schleierhaft war und der sich während der letzten sechs Monate mit Problemen konfrontiert gesehen hatte, von deren Existenz er zuvor nichts geahnt hatte. Wann immer er einer äußerst attraktiven Frau begegnete, stellte sich mit Sicherheit heraus, dass sie derselben Klasse angehörte wie die Heldin des Dramas von Monsieur Augier, und wann immer er seine Aufmerksamkeit einer Dame zuwandte, die eine eher üppige Anziehungskraft zur Schau stellte, entpuppte sie sich mit größter Wahrscheinlichkeit als eine Gräfin. Die Gräfinnen wirkten so oberflächlich und die anderen so vornehm. Littlemore hingegen brauchte nur flüchtig hinzusehen, er irrte sich nie.

»Wenn man sie nur ansieht, macht es vermutlich keinen Unterschied«, konterte Waterville die recht zynische Frage seines Gefährten.

»Sie starren sie alle auf dieselbe Weise an«, fuhr Littlemore fort, der sich immer noch nicht rührte. »Ja, außer wenn ich Ihnen sage, dass eine nicht ehrbar sei – dann starren Sie nicht, sondern gaffen!«

»Ich verspreche Ihnen, die Dame nie wieder anzusehen, sollte Ihr Urteil negativ ausfallen. Ich meine die in der dritten Loge vom Mittelgang mit dem weißen Kleid und den roten Blumen«, fügte er hinzu, als Littlemore langsam aufstand und neben ihn trat. »Der junge Mann lehnt sich vor. Er ist der Grund, weshalb ich an ihr zweifle. Hätten Sie gern das Opernglas?«

Littlemore sah sich ganz entspannt um. »Nein, danke, meine Augen sind gut genug. Der junge Mann ist von hohem Rang«, fuhr er kurz darauf fort.

»Von sehr hohem, aber er ist mehrere Jahre jünger als sie. Warten Sie, bis sie sich umdreht.«

Da drehte sie sich um, offenkundig hatte sie mit der ouvreuse an der Logentür gesprochen, und wandte ihr Gesicht dem Publikum zu – ein reizendes Gesicht mit feinen Zügen, lächelnden Augen, lächelnden Lippen, die Stirn geziert von zarten schwarzen Locken, während an den Ohren Diamanten funkelten, die groß genug waren, um vom anderen Ende des Théâtre-Français gesehen werden zu können. Littlemore betrachtete sie, dann rief er plötzlich: »Geben Sie mir das Opernglas!«

»Sie kennen sie?«, fragte sein Begleiter, als er die kleine Sehhilfe überreichte.

Littlemore antwortete nicht. Er musterte nur schweigend die Dame, dann gab er das Opernglas zurück. »Nein, sie ist nicht ehrbar«, sagte er und ließ sich wieder auf seinem Sitz nieder. Als Waterville stehen blieb, fügte er hinzu: »Bitte setzen Sie sich. Ich glaube, sie hat mich erkannt.«

»Sie wollen also nicht von ihr erkannt werden?«, fuhr Waterville sein Verhör fort und nahm Platz.

Littlemore zögerte. »Ich möchte ihre Beute nicht scheu machen.« In dem Moment ging der entr’acte zu Ende, und der Vorhang hob sich wieder.

Es war Watervilles Vorschlag gewesen, ins Theater zu gehen. Littlemore, der stets dafür war, nichts zu tun, hatte angesichts des milden Abends vorgeschlagen, einfach an einem der Tische vor dem Grand Café ein anständiges Plätzchen am Boulevard zu suchen und zu rauchen. Doch ergötzte der zweite Akt Rupert Waterville sogar noch weniger als der erste, den er schon als beschwerlich empfunden hatte. Er begann sich zu fragen, ob sein Begleiter wohl bis zum Schluss durchhalten würde, eine sinnlose Spekulation, da Littlemores Abneigung, etwas zu tun, ihn sicherlich davon abhalten würde, das Theater wieder zu verlassen, nachdem er es einmal betreten hatte. Waterville fragte sich ferner, was sein Freund über die Dame in der Loge wusste. Er warf Littlemore einige Seitenblicke zu und stellte fest, dass dieser dem Stück keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Er dachte an etwas anderes, er dachte an jene Frau. Als der Vorhang wieder fiel, blieb er auf seinem Platz, ließ auf übliche Weise seine Sitznachbarn durch, die sich an ihm vorbeidrängten und seine Knie – er hatte lange Beine – mit ihren Gliedmaßen streiften. Als die beiden Männer allein in der Reihe der Sperrsitze zurückgeblieben waren, sagte Littlemore: »Ich glaube, ich würde sie trotzdem gern wiedersehen.« Er sprach, als wäre Waterville schon genauestens eingeweiht. Waterville war sich des Gegenteils bewusst, doch da es offenbar einiges in Erfahrung zu bringen gab, meinte er, ein wenig Zurückhaltung könnte nicht schaden. So verzichtete er vorerst auf Fragen, sondern sagte nur:

»Hier, bitte, nehmen Sie das Fernglas.«

Littlemore warf ihm einen gutmütigen, mitfühlenden Blick zu. »Ich will sie gewiss nicht mit diesem garstigen Ding begaffen. Ich möchte mit ihr zusammentreffen – so wie früher.«

»Erzählen Sie mir doch, wie und wo Sie sie damals trafen«, bat Waterville und verabschiedete sich von seiner Zurückhaltung.

»Auf der Hofveranda in San Diego.« Und als sein Gesprächspartner auf diese Information nur mit leerem Blick reagierte, fügte er hinzu: »Kommen Sie mit hinaus an die frische Luft, und ich erzähle Ihnen mehr.«

Sie gingen durch die niedrige schmale Tür, die eher zu einem Kaninchenstall passte als zu einem großen Theater und durch die man von den Sperrsitzen der Comédie zur Lobby gelangte, und da Littlemore voranging, bemerkte sein aufgeweckter Freund hinter ihm, dass dieser zu ebenjener Loge hinaufblickte, für deren Insassen sie sich interessierten. Die Person von größtem Interesse kehrte dem Haus den Rücken, augenscheinlich folgte sie ihrem Begleiter aus der Loge; da sie ihren Umhang jedoch nicht angelegt hatte, würde sie das Theater sicherlich nicht verlassen. Littlemores Verlangen nach frischer Luft führte ihn nicht hinaus auf die Straße; er hatte sich bei Waterville eingehängt, und als sie jene angenehm eisige Treppe erreichten, die ins Foyer führt, ging er schweigend hinauf. Der keineswegs unternehmungslustige Littlemore, so schien es seinem Freund, hatte sich endlich einen Ruck gegeben – er wollte die Dame treffen, die er eben noch so einsilbig abgeurteilt hatte. Der junge Mann verzichtete vorübergehend auf weitere Fragen, und die beiden schlenderten zusammen in den glanzvollen Salon, wo Houdons bewundernswerte Statue von Voltaire und in einem Dutzend Spiegeln deren Abbild von den Besuchern beäugt wurde, die offensichtlich weniger scharfsinnig waren als das Genie, das in den lebendigen Zügen der Bronze seinen Ausdruck fand. Waterville wusste, dass Voltaire geistreich war, er hatte Candide gelesen und schon öfters Gelegenheit gehabt, die Statue zu bewundern. Das Foyer war nicht überfüllt, nur ein Dutzend Grüppchen verteilten sich auf dem polierten Boden, derweil einige andere hinaus auf den Balkon gegangen waren, der über der Place du Palais-Royal aufragt. Die Fenster standen offen, die strahlenden Lichter von Paris ließen den trägen Sommerabend wie einen Jahrestag oder eine Revolution erscheinen; ein Stimmengewirr schien aus den Straßen heraufzudringen, und sogar im Foyer hörte man das gemächliche Klappern der Pferdehufe und das Rumpeln der holprig gelenkten Fiaker auf dem harten, glatten Asphalt. Eine Dame und ein Gentleman standen, den Rücken unseren Freunden zugekehrt, vor dem Bildnis Voltaires; die Dame war in Weiß gekleidet einschließlich eines weißen Huts. Littlemore spürte, was viele Menschen an diesem Ort verspüren, dass die Szenerie so vollkommen zu Paris passte, und er ließ ein rätselhaftes Lachen vernehmen.

»Es ist schon komisch, sie hier zu sehen! Das letzte Mal sah ich sie in New Mexico.«

»New Mexico?«

»In San Diego.«

»Ah, auf der Hofveranda«, schlussfolgerte Waterville. Er wusste nicht genau, wo San Diego lag, denn er hatte zwar nach seiner kürzlichen Beförderung auf einen zweitrangigen Diplomatenposten in London ausführlich die europäische Geographie studiert, dabei aber die seines Heimatlandes vernachlässigt.

Sie hatten nicht laut gesprochen und standen auch nicht dicht bei ihr, doch die Dame in Weiß drehte sich plötzlich um, als hätte sie ihre Worte vernommen. Ihr Blick fiel zunächst auf Waterville, und er las in ihren Augen, dass sie sie nicht deshalb gehört hatte, weil sie deutlich vernehmbar gewesen wären, sondern weil die Dame eine außergewöhnliche Hellhörigkeit an den Tag legte. Er sah kein Zeichen des Wiedererkennens in ihren Augen – ebenso wenig, als sie flüchtig George Littlemore musterte. Doch kurz darauf traf es sie wie ein Blitz, begleitet von zartem Erröten, während ihr anscheinend beständiges Lächeln rasch breiter wurde. Sie hatte sich ganz umgedreht; sie stand mit einem unvermittelt freundlichen Ausdruck und leicht geöffnetem Mund da und streckte in einer fast herrischen Geste ihre Hand in einem bis zum Ellbogen reichenden Abendhandschuh aus. Sie war sogar noch hübscher als aus der Ferne. »Nanu!«, rief sie – so laut, dass sich jeder Anwesende anscheinend persönlich angesprochen fühlte. Waterville staunte; er hatte auch nach der Erwähnung der Hofveranda nicht damit gerechnet, dass sie sich als Amerikanerin herausstellte. Ihr Begleiter wandte sich um, als sie sprach, ein vitaler, schlanker junger Mann im Abendanzug. Er ließ seine Hände in den Taschen. Waterville vermutete, dass er keinesfalls Amerikaner war. Er wirkte – für einen so gut aussehenden geselligen jungen Mann – allzu ernst und bedachte Waterville und Littlemore, obwohl er nicht größer war als sie, mit einem argwöhnischen Blick von oben herab. Dann widmete er sich wieder der Voltaire-Statue, als hätte er längst geahnt, dass die Dame, der er seine Aufwartung machte, Leuten begegnen würde, die ihm unbekannt waren und die kennenzulernen er vielleicht lieber vermieden hätte. Dies mochte Littlemores Vermutung stützen, dass sie nicht ehrbar sei. Der junge Mann zumindest war es – ganz und gar. »Was verschlägt Sie denn hierher?«, fragte die Dame.

»Ich bin schon eine Weile hier«, sagte Littlemore und machte wohlüberlegt einen Schritt auf sie zu, um ihr die Hand zu reichen. Er deutete ein Lächeln an, war aber ernster als sie; er behielt sie im Auge, als ginge eine gewisse Gefahr von ihr aus. Auf die gleiche Weise hätte sich eine gebührend zurückhaltende Person einem prachtvollen, anmutigen Tier genähert, das sich durchaus als bissig erweisen konnte.

»Hier in Paris, meinen Sie?«

»Nein, hier und da – in Europa allgemein.«

»Seltsam, dass ich Ihnen nie begegnet bin.«

»Besser spät als nie!«, erwiderte Littlemore. Sein Lächeln wirkte etwas gezwungen.

»Sie sehen ausgelassen aus«, fuhr die Dame fort.

»Sie ebenfalls – oder sehr bezaubernd, was dasselbe ist«, lachte Littlemore und wünschte sich offenkundig, wirklich entspannt zu sein. Es war, als käme sie ihm von Angesicht zu Angesicht, nachdem so viel Zeit vergangen war, imposanter vor, als er erwartet hatte, da er auf seinem Sperrsitz beschlossen hatte, hinaufzugehen und sie aufzusuchen. Während er sprach, beendete der junge Mann, der sie begleitete, seine Inspektion des Voltaire und sah sich teilnahmslos um, ohne Littlemore oder Waterville eines Blickes zu würdigen.

»Ich möchte Sie mit meinem Freund bekannt machen«, fuhr sie fort. »Sir Arthur Demesne – Mr. Littlemore. Mr. Littlemore – Sir Arthur Demesne. Sir Arthur Demesne ist Engländer – Mr. Littlemore ist ein Landsmann von mir, ein alter Freund. Ich habe ihn seit vielen Jahren nicht gesehen. Zählen wir sie lieber nicht! – Ich bin erstaunt, dass Sie mich erkannt haben«, ergänzte sie, an Littlemore gewandt. »Ich habe mich schrecklich verändert.« All dies wurde mit einer klaren, fröhlichen Stimme gesprochen, die umso vernehmlicher war, weil die Dame mit einer Art zärtlicher Langsamkeit sprach. Um ihre Worte zu würdigen, wechselten die beiden Männer schweigend einen Blick, wobei der Engländer leicht errötete. Er war sich seiner Gefährtin sehr bewusst. »Ich habe Sie erst mit wenig Leuten bekannt gemacht«, bemerkte sie.

»Oh, das macht nichts«, sagte Sir Arthur Demesne.

»Es ist seltsam, Ihnen über den Weg zu laufen!«, rief sie, Littlemore noch immer betrachtend. »Sie haben sich ebenfalls verändert, wie ich sehe.«

»Nicht, was Sie betrifft.«

»Genau das möchte ich herausfinden. Warum stellen Sie mir nicht Ihren Freund vor? Ich merke doch, dass er mich furchtbar gern kennenlernen würde!«

Littlemore ging zu dieser Förmlichkeit über, beschränkte sich aber auf das Notwendigste, indem er kurz zu Rupert Waterville hinübersah und seinen Namen murmelte.

»Sie haben ihm ja gar nicht meinen Namen gesagt«, rief die Dame, derweil Waterville sie höflich begrüßte. »Ich hoffe, Sie haben ihn nicht vergessen!«

Littlemore musterte sie mit einem Blick, der durchdringender gemeint war als jene, die er sich bislang gestattet hatte; in Worten hätte er gesagt: »Ja, nur welchen Namen denn?«

Sie beantwortete die unausgesprochene Frage, indem sie ihre Hand ausstreckte wie zuvor bei Littlemore. »Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Waterville. Ich bin Mrs. Headway – vielleicht haben Sie von mir gehört. Falls Sie je in Amerika gewesen sind, müssen Sie von mir gehört haben. Weniger in New York als in den westlichen Metropolen. Sie sind doch Amerikaner? Nun, dann sind wir alle Landsleute außer Sir Arthur Demesne. Darf ich Ihnen Sir Arthur vorstellen? Sir Arthur Demesne, Mr. Waterville – Mr. Waterville, Sir Arthur Demesne. Sir Arthur Demesne ist Parlamentsabgeordneter. Sieht er nicht jung aus?« Sie wartete die Antwort auf ihre Frage nicht ab, sondern stellte unvermittelt die nächste, während sie ihre Armreifen zurück über ihre langen, losen Handschuhe streifte. »Nun, Mr. Littlemore, was geht Ihnen durch den Kopf?«

Er dachte gerade, dass er ihren Namen tatsächlich vergessen hatte, denn der von ihr genannte sagte ihm nichts. Aber das konnte er ihr kaum mitteilen.

»Ich denke an San Diego.«

»Die Hofveranda im Haus meiner Schwester? Ach, nicht doch, es war grässlich. Sie ist inzwischen fortgezogen. Es sind wohl alle fortgezogen.«

Sir Arthur Demesne zückte seine Taschenuhr in der Manier eines Mannes, der an diesen häuslichen Erinnerungen keinen Anteil nehmen konnte; er schien zugleich allgemein beherrscht und zu einem gewissen Grad eigentümlich schüchtern zu sein. Er sagte etwas in der Art, dass es Zeit sei, die Plätze wieder einzunehmen, doch Mrs. Headway überging seine Bemerkung. Waterville wollte, dass sie blieb; wenn er sie ansah, fühlte er sich, als betrachte er ein bezauberndes Bild. Ihr langes Haar mit den schönen dichten Locken war von einem Schwarz, wie es heute selten geworden ist; ihr Gesicht besaß die Frische einer weißen Blüte; ihr Profil, wenn sie den Kopf drehte, war so rein und makellos wie der Umriss einer Kamee.

»Wissen Sie, es ist das beste Theater«, sagte sie zu Waterville, als wollte sie sich leutselig geben. »Und das ist Voltaire, der berühmte Schriftsteller.«

»Ich liebe die Comédie-Française«, antwortete Waterville lächelnd.

»Ein furchtbar schlechtes Haus, wir haben kein Wort verstanden«, sagte Sir Arthur.

»Ach ja, die Logen«, murmelte Waterville.

»Ich bin ziemlich enttäuscht«, fuhr Mrs. Headway fort. »Aber ich will sehen, was aus der Frau wird.«

»Doña Clorinde? Ach, vermutlich wird sie erschossen, in französischen Stücken werden die Frauen meistens erschossen«, meinte Littlemore.

»Das wird mich an San Diego erinnern!«, rief Mrs. Headway.

»Nicht doch, in San Diego waren es die Frauen, die schossen.«

»Sie scheinen sie nicht erschossen zu haben!«, erwiderte Mrs. Headway keck.

»Nein, aber ich bin von Wunden durchlöchert.«

»Na, das ist ja äußerst bemerkenswert«, fuhr die Dame fort und wandte sich Houdons Statue zu. »Sie ist schön modelliert.«

»Sie lesen wohl Monsieur de Voltaire«, mutmaßte Littlemore.

»Nein, aber ich habe seine gesammelten Werke gekauft.«

»Das ist keine angemessene Lektüre für Damen«, sagte der junge Mann ernst und bot Mrs. Headway den Arm.

»Ach, das hätten Sie mir sagen sollen, bevor ich sie kaufte!«, rief sie mit übertriebener Bestürzung.

»Ich dachte nicht, dass Sie hundertfünfzig Bände kaufen würden.«

»Hundertfünfzig? Ich habe zwei gekauft.«

»Zwei werden Ihnen womöglich nicht schaden«, meinte Littlemore lächelnd.

Sie musterte ihn tadelnd. »Ich weiß, was Sie meinen – dass ich jetzt schon viel zu verdorben bin. Da ich nun einmal verdorben bin, müssen Sie mich auch besuchen.« Und sie rief ihm den Namen ihres Hotels zu, als sie mit ihrem Engländer fortging. Waterville sah dem Letztgenannten mit einem gewissen Interesse nach, hatte er doch in London von ihm gehört und sein Porträt in der Vanity Fair gesehen.

Es war noch nicht Zeit, nach unten zu gehen, obwohl der Gentleman es behauptet hatte, und Littlemore trat mit seinem Freund auf den Balkon des Foyers. »Headway – Headway? Wo zum Teufel hat sie diesen Namen her?«, fragte Littlemore, als sie in die belebte Dämmerung hinabblickten.

»Vermutlich von ihrem Mann«, schlug Waterville vor.

»Von ihrem Mann? Von welchem? Der letzte hieß Beck.«

»Wie viele hatte sie denn?«, erkundigte sich Waterville, der allzu gern erfahren wollte, warum Mrs. Headway nicht ehrbar war.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber es wäre nicht schwierig, es herauszufinden, weil sie wohl alle noch am Leben sind. Sie war Mrs. Beck – Nancy Beck –, als ich sie kannte.«

»Nancy Beck!«, rief Waterville entgeistert. Er dachte an ihr zartes Profil einer römischen Kaiserin. Hier blieb so einiges erklärungsbedürftig.

Littlemore gab ein paar erläuternde Worte von sich, bevor sie zu ihren Plätzen zurückkehrten, musste aber in der Tat einräumen, dass er ihre momentane Situation nicht erhellen konnte. Sie sei eine Erinnerung aus seiner Zeit im Westen, zuletzt habe er sie vor ungefähr sechs Jahren gesehen. Er habe sie gut gekannt und sei ihr an verschiedenen Orten begegnet; sie habe ihre Kreise hauptsächlich im Südwesten gezogen. Dabei blieben ihre Unternehmungen unbestimmt außer in der Hinsicht, dass sie ausschließlich gesellschaftlicher Natur gewesen wären. Angeblich hatte sie einen Mann gehabt, einen Philadelphus Beck, Herausgeber einer demokratischen Zeitung, des Dakota Sentinel; Littlemore hatte den Gatten jedoch nie gesehen – das Paar lebte getrennt –, und in San Diego hatte der Eindruck geherrscht, die Ehe von Mr. und Mrs. Beck sei am Ende. Er erinnerte sich nun, später von ihrer Scheidung gehört zu haben. Sie sei leicht mit Scheidungen durchgekommen, da sie vor Gericht so einnehmend wirke. Sie sei schon ein- oder zweimal damit durchgekommen bei Männern, deren Namen ihm entfallen seien, und gerüchtehalber seien auch diese Fälle nicht die ersten gewesen. Sie sei wieder und wieder geschieden gewesen! Als er sie zum ersten Mal in Kalifornien traf, habe sie sich Mrs. Grenville genannt, und man hätte ihm gegenüber angedeutet, dass dieser Name nicht durch Heirat erworben, sondern der ihrer Eltern war, nachdem eine unglückliche Beziehung in die Brüche gegangen war. Sie hätte diese Erlebnisse hinter sich – ihre Beziehungen wären allesamt glücklos verlaufen – und ein halbes Dutzend Namen obendrein. Sie sei eine bezaubernde Frau gewesen, insbesondere für New Mexico, aber zu oft geschieden, was die Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen auf eine harte Probe stellte; wahrscheinlich habe sie mehr Ehemänner abgewiesen als geheiratet.

In San Diego hätte sie bei ihrer Schwester gewohnt, deren jetziger Gatte (auch sie hatte eine Scheidung hinter sich) als wichtigster Mann der Stadt eine Bank leitete (mit Hilfe des Revolvers) und Nancy während ihrer ehelosen Zeiten immer ein Dach über dem Kopf bot. Nancy hatte jung begonnen, sie musste inzwischen siebenunddreißig sein. Das sei alles, was er meine, wenn er sie als nicht ehrbar bezeichne. Die Chronologie war ein ziemliches Durcheinander; zumindest hatte ihm ihre Schwester einmal erzählt, dass sie eines Winters selbst nicht mehr gewusst hätte, wer gerade Nancys Mann sei. Sie habe es hauptsächlich auf Redakteure abgesehen gehabt – sie schätzte den Beruf des Journalisten. Alle müssen furchtbare Rüpel gewesen sein, denn ihre eigene Liebenswürdigkeit stehe außer Frage. Man wusste nur zu gut, dass alles, was sie getan habe, reiner Selbstschutz gewesen sei. Kurzum, sie habe gewisse Dinge getan, das sei des Pudels Kern! Sie sei sehr hübsch, gutmütig und gescheit und so ziemlich die beste Gesellschaft in jenen Breiten – ein echtes Kind des fernen Westens, eine Blume der Pazifikküste, ungebildet, keck, grob, aber voller Schneid und Feuer, ausgestattet mit natürlicher Intelligenz und einem sprunghaften, willkürlichen guten Geschmack. Sie hatte immer gesagt, sie wolle nur eine Chance bekommen – offensichtlich hatte sie eine gefunden. Es gab eine Zeit, da hätte er nicht gewusst, wie er ohne sie im Leben hätte zurechtkommen sollen. Er betrieb eine Rinderfarm, zu der San Diego die nächstgelegene Stadt war, und er ritt damals hin, um sie zu besuchen. Manchmal blieb er eine Woche dort, während deren er sie jeden Abend besuchte. Es sei schrecklich heiß gewesen, sie hätten auf der hinteren Veranda gesessen. Sie sei immer genauso attraktiv und fast ebenso gut gekleidet gewesen wie jetzt, als sie beide sie getroffen hatten. Was ihr Aussehen angehe, hätte sie binnen einer Stunde von jener staubigen alten Ansiedlung in die Stadt an der Seine versetzt werden können.

»Einige dieser Frauen aus dem Westen sind großartig«, sagte Littlemore. »Sie brauchen nur eine Chance wie sie.«

Er sei nicht in sie verliebt gewesen – zwischen ihnen habe es dergleichen nie gegeben. Es hätte natürlich sein können, aber es sei einfach nie dazu gekommen. Headway sei offenkundig Becks Nachfolger, vielleicht habe es zwischendurch auch noch andere gegeben. Sie habe keiner »Gesellschaft« angehört und nur einen lokalen Ruf genossen (die Zeitungen – die anderen Redakteure, mit denen sie nicht verheiratet war – hätten sie »die elegante und kultivierte Mrs. Beck« genannt), obschon »lokal« in dieser ausgedehnten Zivilisation ein sehr großes Gebiet umspannt. Vom Osten habe sie keine Ahnung gehabt und sei, soviel er wusste, damals noch nie in New York gewesen. In diesen sechs Jahren hätte allerdings einiges geschehen können, sie habe ohne Zweifel »Karriere« gemacht. Der Westen ließ uns alles zukommen (aus Littlemore sprach der New Yorker), zweifellos werde er uns schließlich unsere brillanten Frauen schicken. Diese kleine Frau habe freilich größere Ambitionen als New York gehabt; sogar damals habe sie an Paris gedacht und das auch gesagt, obwohl die Stadt für sie unerreichbar schien; auf diese Weise sei sie in New Mexico herumgekommen. Sie habe ihren Ehrgeiz, ihre Ahnungen gehabt; sie habe gewusst, dass sie für Höheres bestimmt sei. Bereits in San Diego habe sie sich ihren Sir Arthur ausgemalt; hin und wieder sei ein umherstreifender Engländer in ihren Bannkreis geraten, nicht allesamt Baronets und Parlamentsabgeordnete, aber für gewöhnlich eine willkommene Abwechslung von den Zeitungsleuten. Er sei neugierig, was sie mit ihrem jüngsten Fang anstellen werde. Sie machte ihn sicherlich glücklich – falls er zu diesem Gefühl überhaupt fähig sei, wovon man nicht ohne weiteres ausgehen könne. Sie sehe ungemein prächtig aus; Headway habe wahrscheinlich eine stattliche Summe angehäuft, eine Leistung, die keine der anderen erreicht habe. Sie sei nicht käuflich – er sei sicher, dass sie nicht käuflich gewesen sei.