Eine Frau, ein Mord - Stefan B. Meyer - E-Book

Eine Frau, ein Mord E-Book

Stefan B Meyer

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Beschreibung

Als Privatermittler Staiger von einer Journalistin ein paar Daten zur sicheren Aufbewahrung erhält, sieht alles nach einem einfachen Job und leicht verdientem Geld aus. Doch dann wird seine Auftraggeberin tot in ihrer Wohnung gefunden und Staiger muss sehr schnell feststellen, dass sich nicht nur die Polizei, sondern auch mehrere zwielichtige Gestalten für ihn und vor allem die Daten interessieren. Hartnäckig beginnt er zu ermitteln und bringt Licht in das Dunkel eines Kriminalfalles, in den mehrere hochranginge Personen aus Justiz und Stadtverwaltung verstrickt sind.Mit Leichtigkeit, Tiefenschärfe und ausgeprägtem Dialogwitz entspinnt Stefan B. Meyer in diesem Kriminalroman Leipziger Charaktere um einen Plot mit mehreren Ebenen ein fesselndes und ungeduldiges Lesevergnügen.

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Seitenzahl: 359

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Stefan B. Meyer

Eine Frau, ein Mord...

Kriminalroman

 

Impressum

„Eine Frau, ein Mord“

Stefan B. Meyer

1. Auflage: November 2022, Stefan B. MeyerAlle Rechte vorbehalten.

© Edition Outbird, Gera

Haeckelstraße 15, 07548 Gera

https://edition-outbird.de

Covergrafik: Yurok / 123RF

Lektorat: Vanessa-Marie Starker, Tristan Rosenkranz

Buchsatz: Danilo Schreiter, Telescope Verlag

Herausgeber: Tristan Rosenkranz

ISBN: 978-3-948887-41-4

Preis: 6,99€

 

Alles Folgende ist erfunden. Wie immer...

Montag

1

Die Wirtin schüttelte die Würfel, dann ließ sie den Becher schwungvoll kreisen und stülpte ihn mit kräftigem Schlag auf den Bierdeckel, sodass der Tresen unter meinem Ellenbogen vibrierte. Sie zwinkerte mir zu, kippte den Becher auf der ihr zugewandten Seite um ein paar Zentimeter nach oben und ließ ihren Kopf zwischen die wohlgerundeten, blanken Schultern rutschen, um die Würfel besser sehen zu können.

»Vierer-Pasch«, sagte sie und setzte dieses diabolische Grinsen auf, das, wie ich fand, besonders verlockend ausfiel, wenn sie log. Sie ließ den Becher los und schob ihn samt Bierdeckel mit den Fingerspitzen langsam auf meine Seite des Tresens. Ihre Nägel waren perfekt manikürt, nicht zu lang und mit einem im Halbdunkel phosphoreszierend leuchtendem giftgelbem Lack versehen.

»Ach, komm!«, antwortete ich. »Du flunkerst doch!«

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, hob sie den Becher vom Deckel und ließ mich die beiden Würfel bestaunen: Zwei Vieren, tatsächlich!

Sie strahlte mich an. »Du bist dran!«

»Hans?«

Es klopfte heftig an die Tür, aber die Region in meinem Hirn, die das registrierte, schien darüber in Apathie verfallen zu sein.

Ich würfelte eine Sechs und eine Fünf. Gar nicht übel. Im Diabolisch-Grinsen konnte ich es mit der Wirtin nicht aufnehmen, also nippte ich unterkühlt an meinem Bier und sagte gelassen: »Fünfundsechzig.«

Sie zögerte nur ganz kurz, bevor sie mir den Becher abnahm und die Würfel schüttelte.

»Hans, bist Du da?«

Die Stimme schien näher gekommen zu sein.

»Einer-Pasch!« Ihre Schultern zuckten bedauernd, ob meiner, ihrer Ansicht nach, offenkundigen Chancenlosigkeit.

»Das will ich sehen!«, sagte ich und hob den Becher vom Deckel. Eine Zwei und eine Drei, kläglich. Mein Punkt.

»Dein Misstrauen enttäuscht mich ein bisschen«, schmollte sie mit vollen, purpurrot geschminkten Lippen, die allein fürs Schmollen geschaffen zu sein schienen. Nebenbei nickte sie einem Gast an einem der Tische zu, der sein leeres Glas in die Höhe streckte.

»Du bist schließlich Wirtin«, entgegnete ich und sah ihr dabei zu, wie sie ein frisches Bier zapfte, einen Wodka-Irgendwas zusammenmischte, anschließend elegant um den Tresen kurvte und die Getränke ablieferte. Von wegen ’Lügen haben kurze Beine’…

»JOHANNES!«

Niemand nannte mich beim vollen Vornamen, mit Ausnahme meiner Mutter, wenn sie sauer war. Ich schlug erschrocken die Augen auf und brauchte einen Moment, bis sich mein Blick soweit geschärft hatte, dass ich die weiße Fläche, die ich sah, als die Decke meines Büros identifizierte. Draußen auf der Karl-Liebknecht-Straße hielt eine Straßenbahn und ich fragte mich, wieso mich neuerdings solch belanglose Alltagsgeräusche wach werden ließen, als sich die Stimme erneut in Erinnerung brachte.

»Ich bin’s, Conny!«

Mir fielen die Augen zu.

Die Wirtin trug ein minzgrünes, hautenges Oberteil, das weit über dem Bauchnabel endete, einen ebenso farbenen Minirock und ihre Hüften schwenkten lässig durch das Gedränge in ihrer kleinen Kaschemme.

»HAL-LO!«

Conny.

Ich lag in voller Montur auf meinem Schreibtisch, einem selbstgezimmerten schlichten Möbelstück aus heimischem Eschenholz, mit einer ein mal zwei Meter messenden Platte. Mühsam quälte ich mich in eine sitzende Position, in meinem Kopf lag eine Litfaßsäule quer, in meinem Mund schmeckte es nach nichts, was man sich freiwillig in den Mund stecken würde und außerdem hatte ich eine Latte.

»Hallo, Conny«, röchelte ich der Frau zu, die hinter mir in der Bürotür stehen musste. Ich rutschte von der Tischkante, drückte meine Hose zurecht und drehte mich gemächlich um.

Conny residierte als Rechtsanwältin zusammen mit ihrem Kollegen und einer gemeinsamen Angestellten im Büro nebenan. Sie stand dort, wo ich sie vermutet hatte. Ihr Lächeln war mindestens so hell, wie die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster hereinfielen, und in jeder Hand hielt sie einen Becher Kaffee. Meine grauen Zellen sprangen wieder an, denn ich glaubte, mich an ein Klopfen zu erinnern und kam so zu der unvermeidlichen Frage, womit sie an die Tür geklopft haben mochte.

Sie schien meinen Gedanken erraten zu haben.

»Dein Auto steht um die Ecke, da dachte ich, ich tret’ mal gegen Deine Tür…« Sie deutete mit der Kinnspitze auf die Becher. »Wie wär’s mit ’nem Kaffee?«

»Aber sicher.« Ich rollte die Isomatte zusammen, die ich als Schlafunterlage auf meinen Schreibtisch gelegt hatte, und räumte sie in den zweitürigen Schrank – einheimische Esche, selbstgebaut. Anschließend legte ich den Terminkalender auf den Tisch, damit es hier wieder halbwegs nach Büroarbeit aussah.

»Hast Du wieder hier übernachtet?«, fragte sie überflüssigerweise.

»So früh schon so scharfsinnig«, antwortete ich und rückte für sie einen meiner beiden billig erstandenen Besucherstühle zurecht. »Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden hier der Detektiv ist.«

»Ganz einfach.« Sie ließ ihr von einem knapp wadenlangen Nadelstreifenrock ummanteltes Hinterteil elegant in den Stuhl gleiten und stellte die Kaffeebecher zwischen uns ab. »Anwälte müssen anscheinend früher aufstehen und können deshalb früher scharfsinnig sein.«

Ich ließ mich in meinen ebenfalls billig erstandenen Drehstuhl sinken und starrte die Kaffeebecher an, die mit Plastikdeckeln verschlossen waren. Becher und Deckel – woran erinnerte mich das? Schlagartig wurde mir bewusst, wovon ich geträumt hatte und wie zur Erinnerung an die durchzechte Nacht schlug die Litfaßsäule hinter meiner Stirn einen Purzelbaum.

Ich riss den Deckel von einem der Becher, trank hastig einen zu großen Schluck Kaffee und verbrühte mir fast den Rachen. Das Fauchen, das mir daraufhin entwich, klang, als hätte man einem alten blinden Zirkuslöwen eine Handvoll Nägel in den hungrigen Rachen geworfen.

»Zigarette?«

Ich ignorierte den Spott und entnahm meiner Schreibtischschublade einen Aschenbecher. Conny kam entweder zu mir, wenn sie was für mich zu tun hatte, oder um eine zu rauchen. Denn ihr Kollege von nebenan gehörte zu jener militanten Sorte von ehemaligen Rauchern, die nun schon beim Klicken eines Feuerzeuges in Deckung gingen.

»Letzte Nacht bin ich im ’Irrenhaus’ versackt«, sagte ich zu ihr. So hieß die Kneipe um die Ecke, in der die Chefin noch persönlich mit ihren Gästen würfelte und nach jeder Runde ein likörartiges Feuerwasser einschenkte, das einen hernach vergessen ließ, wie man in welches Bett gekommen war. Wenigstens hatte ich meine eigene Schlafstätte gefunden, und ich erinnerte mich sogar, dass ich sowieso hier im Büro hatte übernachten wollen.

»Du siehst nicht aus, als sollte man Dich dafür beneiden«, antwortete sie.

Wenn man weit über die Dreißig ist, braucht man keinen Spiegel mehr, um zumindest zu ahnen, wie man nach einem Besäufnis aussieht.

»Danke«, erwiderte ich.

»Keine Ursache.«

Ich mochte Conny. Als ich vor etwa einem Jahr dieses Büro zum ersten Mal als Mieter betreten hatte, kam sie mir aus der benachbarten Tür quasi entgegengeflogen, sie wirkte damals ziemlich genervt, drehte sich um und rief irgendjemandem hinter ihr zu, dass sie jetzt unbedingt, verdammt nochmal, eine rauchen müsse. Woraufhin ich sie einlud, bei mir im Büro zu rauchen, was seitdem zu einem liebgewonnenen Ritual für uns beide geworden war.

Sie zwinkerte mir zu und förderte ein Päckchen Zigaretten zutage. Neben besagtem Rock trug sie eine weiße Bluse und eine dunkle Weste darüber, dazu schwarze, blankpolierte Halbschuhe mit kaum treppenstufenhohen Absätzen. Sie war gekleidet, als hätte sie heute noch einen Termin außerhalb ihres Büros.

»Du siehst aus«, sagte ich, während ich uns Feuer gab, »wie eine sehr blonde Stewardess aus einem sehr blonden Hollywood-Film.«

»Ich muss in knapp einer Stunde am Landgericht Eindruck schinden, und ich fürchte, viel mehr werde ich für meinen Mandanten nicht tun können.«

Ich maß sie von unten nach oben mit einem prüfenden Blick und blieb an ihrem, von strohblonden schulterlangen Locken gerahmten Gesicht hängen, aus dem mich spöttisch helle, smaragdgrüne Augen und ein in dezentem Rosa nachgezogener Mund anstrahlten.

»Wenn der vorsitzende Richter nicht schwul ist«, ließ ich sie wissen, und nippte vorsichtig an meinem Becher, »dann bekommt Dein Schützling nicht mehr als ein paar Tagessätze.«

»Im Saal trage ich eine Robe, hast Du noch nie eine Gerichtsshow gesehen?«

»Nein, aber so lausbubenhaft süß, wie Du lächeln kannst, kriegst Du ihn auch mit Verschleierung rum.«

»Ich arbeite daran.«

»Wirklich?«

Ich wusste, was jetzt kommen würde, und sie wusste, dass ich es wusste. Denn es war schon ein alter Hut – im Grunde beklagte sie sich seit Beginn unserer Bekanntschaft darüber, dass den hiesigen Strafkammern nur Männer vorsaßen.

»Irgendwann wird eine Frau einen Vorsitz bekommen«, sagte sie, diesmal mit bisher nicht gehörtem Trotz.

»Und wird es dann mit dieser Frau Vorsitzenden gerechter bei Gericht?«, antwortete ich routiniert.

Sie biss sich auf die Lippe, was ich als kein gutes Zeichen für die weitere Entwicklung am Landgericht deutete.

»Dann schickst Du Deinen Büropartner«, versuchte ich sie aufzuheitern.

Conny zuckte mit den Schultern. Sie redete oft über ihren Job, aber selten über ihren Kollegen, und die paar Male, die ich bei ihr drüben gewesen war, hatten nicht ausgereicht, um mir mehr als nur einen Eindruck zu verschaffen. Soweit ich es bisher mitbekommen hatte, war Strafrecht nicht das hauptsächliche Betätigungsfeld des Raucherfeindes.

»Irgendwann erzähle ich dir mal die Geschichte von der lesbischen Richterin am Amtsgericht. Wäre Rainer…« - so hieß ihr Kollege - »…dort aufgetreten, hätte es Verletzte gegeben.«

»Warum erzählst Du’s mir nicht jetzt?«

»Weil ich nicht mehr so viel Zeit habe und Du nachher eine Verabredung hast.«

»Aha?« Ich versuchte rasche Bewegungen zu vermeiden. »Und mit wem bin ich verabredet?«

Conny lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und pustete ein Rauchwölkchen in Richtung Zimmerdecke.

»Sie heißt Carmen Holt. Wir haben vor einer Ewigkeit zusammen Abi gemacht. Sie war nie meine beste Freundin, aber wir haben uns seitdem immer mal hier und da getroffen und geplaudert. Gestern Abend hat sie mich angerufen und sie klang ziemlich, naja, mindestens erregt…«

»Warum?«

»Keine Ahnung, soweit ich weiß, ist sie normalerweise kein Mensch, der sich schnell einschüchtern lässt – sie ist recht erfolgreich als freie Journalistin und hat auch schon mit schweren Jungs zu tun gehabt. Hat sogar ein Buch veröffentlicht, soweit ich mich erinnere über Korruption in den Neunzigern bei der Treuhand. Manchmal treffe ich sie auch im Gericht, wenn sie dort beruflich unterwegs ist.«

»Klingt nach einem interessanten Job. Und woran arbeitet sie gerade?«

»Das hat sie mir nicht gesagt.« Conny betrachtete nachdenklich die Glut ihrer Zigarette.

»Wann?«, fragte ich.

Sie hob den Kopf. »Wann was?«

»Wann findet denn meine Verabredung statt?«

»Um Zwölf.«

Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war kurz vor halb elf.

»Im Café in der Buchhandlung in der City.« Sie grinste mich schelmisch an. »Ich dachte mir, das könntest Du finden.«

Ich schickte einen Handkuss über den Tisch und grinste zurück. Sie spielte auf meine Ortsunkundigkeit während unserer ersten Zusammenarbeit an. Aber mittlerweile konnte ich Stadtteile wie Gohlis, Lindenau oder Holzhausen ohne Karte oder Navi finden und ich wusste auch längst, dass man in Leipzig die durchaus überschaubare, von einer ’Ring’ genannten Straßenumrahmung umgebene Innenstadt ’City’ nannte.

»Gut«, erwiderte ich. »Und was will Deine Carmen in der City von mir?«

»Sie hat mich gefragt, ob ich jemanden kenne, den ich für vertrauenswürdig halte und der für sie etwas herausfinden könnte.«

Ich wartete einen Zug lang, aber Conny sprach nicht weiter.

»Na immerhin.«

»Immerhin was?«

»Immerhin hältst Du mich für vertrauenswürdig.«

Sie lachte, drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Sie sagte: »Stimmt. Also enttäusch’ mich nicht!«

»Ist sie denn vertrauenswürdig?«, schob ich hinterher.

Conny breitete die Arme aus und wiegte den Kopf. »Ich glaube schon. Aber spielt das eine Rolle?«

»Ich bin kein Pflichtverteidiger.«

»Aber ich, und deshalb muss ich jetzt…« Sie winkte mir zu und steuerte die Tür an.

»Danke, Conny!«, rief ich ihr nach.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und deutete eine Verneigung an, wie man sie aus Filmen kennt, in denen der Musketier vor seinem König steht. »Immer zu Diensten, wenn es darum geht, der Gerechtigkeit und einem unterbeschäftigten Detektiv zu helfen.«

»Unterbeschäftigt?«, entgegnete ich. »Ich meinte, danke dafür, dass Du mich geweckt hast!«

Sie zeigte mir jenen erhobenen Finger, der nur unter Freunden nicht als Beleidigung gilt, und verschwand im Vorraum. Eine Sekunde später fiel die Eingangstür moderat ins Schloss.

Über zu wenig Beschäftigung konnte ich mich tatsächlich nicht beschweren. Unten neben der Haustür hingen zwei Firmenschilder, die zu mir gehörten, auf dem einen stand mein Name und der Begriff ’Ermittlungen’, auf dem anderen ’H&H Türgestaltung’. Mein alter Bekannter Schommer, für den ich in Dresden des Öfteren schwarz gearbeitet hatte, oder auf dessen Vermittlung hin ich für andere Personen tätig gewesen war, und der schon seit gut zwei Jahrzehnten eine mitteldeutschlandweit operierende Detektei leitete, hatte mir dazu geraten, meine Ermittlertätigkeit zu legalisieren, damit er sich nicht vor diversen Ämtern fürchten musste, wenn ich für ihn in irgendeinem Einkaufsmarkt Tagediebe dingfest machte. Das zweite Schild, das mit der Türgestaltung, war auf meinem eigenen Mist gewachsen und die Sache entwickelte sich seit etwa einem halben Jahr zu meiner Haupteinnahmequelle, auch wenn viele meiner zufriedenen Kunden – und ich hatte bisher nur solche – erst dann ihre Rechnungen bezahlten, wenn ich kurz davor stand, einen professionellen Geldeintreiber zu engagieren. Aber weil ich gestern auf meinen Online-Kontoauszügen eine überraschend pünktlich eingetroffene Zahlung über knapp 3000 Euro registrieren durfte, hatte ich mich spontan zu der abendlichen Feierstunde samt Würfelspiel hinreißen lassen. Und obwohl ich höchstens zwei halbe Liter Pils getrunken hatte, war ich von den alkoholhaltigen Zugaben der mitwürfelnden Wirtin einigermaßen benebelt worden.

In der winzigen, weiß gefliesten Sanitärzelle, die eine Kloschüssel, ein Waschbecken und ein Spiegelschränkchen enthielt, machte ich mich frisch und putzte mir die Zähne. Anschließend eilte ich hinaus über die Straße, kaufte beim gegenüberliegenden Bäcker ein Brötchen mit Salat und Käse und ein Mineralwasser, in der Apotheke nebenan ein Päckchen ASS, kehrte zurück in mein Büro und breitete meine Errungenschaften auf dem Schreibtisch aus. Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass ich bis zu meiner Verabredung noch über eine Stunde Zeit hatte. Zunächst erwog ich, den Computer aus dem Auto zu holen, aber da ich mich auf nichts, als das bevorstehende Treffen konzentrieren konnte oder wollte, schluckte ich stattdessen zwei Tabletten. Dann öffnete ich die Balkontür, stellte meinen Liegestuhl, der zusammengeklappt an der Wand lehnte, draußen auf, legte eine CD in den Radiorekorder, der zu meinem Inventar gehörte, und machte es mir mit dem belegten Brötchen bequem. Mit Aussicht auf St. Petri, die, wie ich irgendwo gelesen hatte, den höchsten Kirchturm der Stadt besaß, und einer knackigen Live-Version von ’Can’t You Hear Me Knocking’, eingespielt vor vielen Jahren von Mick Taylor und Band, genoss ich den zur Neige gehenden Vormittag und die einsetzende Wirkung des letzten wirklich innovativen Medikaments des vorigen Jahrhunderts.

2

Gegen zwölf begab ich mich zu Fuß auf den Weg in die City, die höchstens einen knappen Kilometer von meinem Büro entfernt war. Am Ring donnerten drei tonnenschwere Kipper an mir vorüber, was mich daran erinnerte, dass Leipzig wahrscheinlich bis tief in die nächsten, vermutlich später nicht ’die goldenen’ genannten Zwanzigerjahre hinein eine bewohnte Baustelle bleiben würde. Größenwahn, nicht allein architektonischer Art, gehörte in dieser Stadt zum guten Ton, und mit einem riesigen, zu einem Ereignis umgebauten Bahnhof, der jeder Weltmetropole gut gestanden hätte, einem nützlichen, aber überteuerten S-Bahn-Tunnelbauprojekt und einer nicht jederorts so ganz ernst genommenen Olympiabewerbung hatte man diesbezüglich in den vergangenen Jahrzehnten Maßstäbe gesetzt. Und auch wenn die olympische Vision recht schnell gescheitert war, konnte man nicht sicher sein, ob die städtischen Sportfunktionäre nicht irgendwann – etwa unter dem Motto ’Leipzig Intim’ – die kaum bescheidener ausfallenden Winterspiele ins Auge fassen würden. Hügel, Glatteis und Sprungschanzen kann man schließlich überall errichten und Schneekanonen sehen im Tiefland auch nicht weniger lächerlich aus als in den Bergen.

Der Ort meiner Verabredung befand sich mittendrin im vorsommerlichen Treiben, nur jeweils einen Steinwurf entfernt von so altehrwürdigen Stätten wie Thomaskirche, altem Rathaus und Auerbachs Keller, sowie einem italienischen Lokal, welches Conny nach der Lektüre eines Magazinartikels über die kalabrische ’Ndrangheta’ respektlos ’die Mafiakneipe in der City’ genannt hatte. Am Brunnen auf dem Platz vor der Thomasgasse spielten ein paar barfüßige Kleinkinder, auf den Bänken und Rasenflächen vergnügten sich hungrige Leute aller Altersklassen mit Pommes frites, Burgern, Nuggets, Würstchen und ähnlichen Spezialitäten, und neben einem der unzähligen Klamottenläden am Peterssteinweg saß ein einsamer Gitarrist mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt. Er starrte in Kniehöhe durch das vorbeiziehende Gedränge und gab seine Version von ’All Along The Watchtower’ zum Besten, was in einem relativ flächendeckend mit Überwachungskameras ausgestatteten Areal eine ganz besondere Note bekam.

Die Buchhandlung gehörte zu einer jener Großketten, die von Autokratie bis Zölibat sämtliche Begriffe und Sparten mehr oder weniger abdeckten, aber in denen man selten etwas Besonderes fand. Auf dem Weg in den zweiten Stock nahm ich mir wahllos einen von geschätzten 50 vorhandenen Kochbuchtiteln aus den Stapeln neben der Rolltreppe.

Oben im Café saßen zwei Frauen an einem Tisch am Fenster, die ihre Kaufhaustüten in Reichweite abgestellt hatten, vergnügt plaudernd Kuchen aßen und ihren Schulabschluss sicher nicht zur selben Zeit wie Conny gemacht hatten. Weiterhin ein einsamer Mittvierziger, der dermaßen gelangweilt in einer bunten Tageszeitung blätterte, dass man davon ausgehen konnte, dass der Rest seiner Familie noch irgendwo im Laden unterwegs war.

Ich kaufte mir bei einer freundlichen Tresenhüterin im besten Praktikantinnenalter einen Kaffee und setzte mich anschließend auf eine sofaähnliche Eckbank, von der aus ich diesen Teil der Etage relativ gut im Blick behalten konnte. Es war fünf vor Zwölf und ich begann, in dem Kochbuch zu blättern, das sich aber schon nach den ersten paar Seiten als für mich komplett unbrauchbar herausstellte, denn ich mochte Kochanleitungen nicht, die voraussetzten, dass man von den meisten weltweit bekannten Gewürzen und Kräutern mindestens einen Teelöffel voll vorrätig hatte.

Lange musste ich mich nicht darüber ärgern, denn die Dame, die kurz darauf das Café ansteuerte, schien gut in mein Raster zu passen, auch wenn sie mir ein wenig zu jung vorkam. Sie hatte aschblondes, schulterlanges Haar, trug einen luftigen, dunkelgrauen Hosenanzug, eine zitronengelbe Bluse und braune Halbschuhe mit breiten Absätzen, nur wenig höher als ein Vierzeiler. Sie war gertenschlank und ihren Gang konnte man sportlich nennen.

Undurchsichtig dunkle Brillengläser waren auf mich gerichtet und ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken beim Näherkommen signalisierte mir, dass sie mich als den erkannte, der auf sie wartete. Ich schob das Kochbuch beiseite und wartete, bis sie sich einen Milchkaffee geholt hatte und damit an meinen Tisch trat. In der Tasche, die an einem breiten Schulterriemen hing und ihr gegen die Hüfte drückte, hätte ein Mittelständler locker seine Steuererklärungen der letzten drei Jahre samt allen Belegen untergebracht, und es wäre immer noch genug Platz für die baren Nebeneinkünfte darin geblieben.

»Herr Staiger, nehme ich an?«, sagte sie und ließ dabei eine Augenbraue über den oberen Rand der Brille hervorschauen. Ihre Stimme klang angenehm dunkel, wenn man das geringe Volumen ihres Oberkörpers zum Maßstab nahm.

Ich nickte. »Wenn Sie Carmen Holt sind?«

»Bin ich.« Sie setzte sich auf den Stuhl, der meinem Platz gegenüberstand, und stellte ihre Tasse ab. Die Tasche, die ich ob ihres Formates nicht ’Handtasche’ nennen wollte, hievte sie auf ihren Schoß.

»Wenn Sie auf sowas stehen«, sagte sie und deutete auf das Kochbuch, »dann kann ich ihnen was Besseres empfehlen.«

Ihre Stimme war wirklich eine Wucht, tief und mit einem weichen Vibrato ausgestattet. Ich war mir sicher, dass sie nicht deshalb Schwierigkeiten hatte. Aber ich war mir sicher, dass sie welche hatte.

»Nein«, antwortete ich. »Ich steh nicht auf sowas. Ich hab unterwegs einfach irgendwas in die Hand genommen.«

»Und worauf stehen Sie?«, wollte sie umgehend wissen. Die Augenbraue zuckte wieder nach oben.

»Zum Beispiel auf die Art, wie Sie ihre Augenbraue einsetzen«, antwortete ich. »Allerdings müssten Sie die Sonnenbrille abnehmen, um bei den ’Tagesthemen’ damit durchzukommen.«

Jetzt hob sie beide Brauen gleichzeitig, dann senkte sie den Kopf und kramte aus der Tiefe ihrer Tasche eine Packung Zigaretten hervor, die sie auf den Tisch legte, bevor ihre Hand wieder zwischen dem dunkelbraunen Leder, wahrscheinlich auf der Suche nach Feuerzeug oder Streichhölzern, verschwand. Irgendwann schien sie der interessiert neugierige Blick, mit dem ich ihr dabei zusah, daran zu erinnern, dass in den meisten innerstädtischen Cafés das Rauchen seit geraumer Zeit nicht mehr erlaubt war.

»Scheiße«, entfuhr es ihr lapidar und unter dem Tisch kullerte der sprichwörtliche Groschen, der eben gefallen war, noch ein paar Runden, bevor er umfiel und reglos liegen blieb. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.«

»Sie sagen es«, stimmte ich zu. »Aber wenn Sie mir eine spendieren«, fuhr ich fort, »könnten wir es ja gemeinsam drauf ankommen lassen?«

Ein spontanes, fast hartes Grinsen zog ihre dezent rotbraun geschminkten Lippen in Richtung ihres rechten Ohrläppchens, an dem ein winziger goldener Punkt, der kaum den Durchmesser einer Linse hatte, zwischen den Haarsträhnen hindurchschimmerte. Gern hätte ich einen Blick hinter die Gläser geworfen, aber meine Anspielung von vorhin schien sie zu ignorieren.

»Lieber nicht. Ich hab schon genug Ärger am Hals.«

»Ich nehme an, deshalb sind Sie hier?«, versuchte ich direkt auf den Grund unseres Treffens anzuspielen.

Sie verstaute die Zigaretten wieder, nippte an ihrem Kaffee und tupfte sich danach mit der beigelegten Serviette den Milchschaum von der Oberlippe. Ich wollte eben erwähnen, dass ich nicht ewig Zeit hätte, als sie mit einem meiner Lieblingssätze daherkam.

»Ich hab Sie mir«, begann sie und machte eine Pause, in der ich ein Gähnen unterdrücken musste, da ich wusste, was folgen würde, »ganz anders vorgestellt.«

»Wie denn?«, fragte ich mäßig interessiert. Meine Jeans und das Hemd kamen von der Stange, ich war einigermaßen kurz und manierlich frisiert und meine Bartstoppeln waren höchstens zwei Tage alt. Den gestrigen Absturz hatte ich gut weggesteckt. Hier im Buchladen hätte ich als Tourist oder bücherliebender Taxifahrer ebenso durchgehen können wie ein Investmentbanker in Elternzeit, der mal was anderes lesen wollte als die Zahlen, die die Software von Bloomberg ausspuckte. Oder eben als privater Ermittler, der ein Kochbuch vor sich liegen hatte.

»Naja«, sagte sie zögernd und zuckte mit den leicht wattierten Schulterpartien. »Vielleicht irgendwie älter und…« - sie hielt inne und versuchte anscheinend einen abwertenden Ausdruck zu umschiffen - »…vielleicht nicht ganz so gewöhnlich.«

Ich vermutete einen prüfenden Blick hinter den dunklen Gläsern und nahm mir für ein eventuelles nächstes Mal vor, zumindest dreckige Fingernägel und eine Whiskyfahne mitzubringen.

»Gewöhnlichkeit macht den Job leichter, und ich bin volljährig«, sagte ich. »Aber wenn Sie schon damit anfangen, Conny ist 32 und meinte, sie hätten ihr Abi zusammen gemacht. Sie sehen nicht älter aus als … sagen wir … 28. Und damit will ich Conny keinesfalls zu nahe treten.«

Sie lachte. Nicht laut, nicht fröhlich oder gar überschwänglich, aber doch zumindest so, dass ein paar Fältchen neben der Brille darauf schließen ließen, dass sie die Augen mitlachen ließ. Und es klang so spröde, als hätte sie seit ein paar Tagen nichts getrunken.

»Glauben Sie mir«, erwiderte sie, »ich mache meine Arbeit schon lange genug. Und manchmal wundere ich mich selbst, dass ich noch nicht wie eine verbitterte alte Schachtel aussehe.«

»Wenn Sie mich mal hinter die Brille sehen ließen«, schlug ich vor, »könnte ich Ihnen eventuell sagen, ob da schon Verbitterung zu erkennen ist.«

Sie neigte ihren Kopf leicht zur Seite, stützte den rechten Ellenbogen auf den Tisch und griff mit den Fingerspitzen geziert nach dem Brillenbügel, als würde sie einen Striptanz beginnen. Träge rutschten die Gläser von ihrem Gesicht, mit der anderen Hand strich sie lässig eine Haarsträhne beiseite und klemmte sie hinter das goldbestückte Ohr, dann hoben sich ihre Augenlider so langsam, wie der Vorhang bei einem wahrhaft großartigen Theaterstück. Für jemanden, der gestern, laut Connys Aussage, am Telefon ziemlich aufgeregt geklungen hatte, war sie erstaunlich gelassen.

»Zufrieden?«, fragte sie.

»Tatsächlich«, antwortete ich.

»Tatsächlich was?«

Ihre Augen waren braun und das Drumherum ungeschminkt und nahezu faltenlos. Trotzdem erschien ihr Blick düster, so als hätte sie schon in verschiedene Abgründe geschaut. Ohne Brille wirkte sie älter und vielleicht sogar ein bisschen abgebrüht.

»Tatsächlich keine Spur von Verbitterung. Höchstens ein Anflug von Traurigkeit.«

Sie setzte die Brille wieder auf und lächelte schwach. »Ich brauch jetzt eine Zigarette.«

Auf dem Weg nach unten sortierte ich das Kochbuch wieder ein. Der Gitarrenspieler draußen machte gerade eine Rauchpause, dafür wehten ein paar Fetzen schweren slawischen Akkordeongedudels aus Richtung des alten Rathauses herüber.

Carmen Holt und ich fanden zwischen einer Frau einen Platz auf der steinernen Grünflächenumrandung, die gerade ihrem Jüngsten eine frische Windel anlegte, und zwei essenden Latzhosenträgern, auf deren prallsitzenden T-Shirts der Name jener Baufirma stand, für deren Chef ich vor nicht allzu langer Zeit den Umgang des unterhaltssäumigen Vaters des Kindes seiner noch nicht volljährigen Tochter ermittelt hatte. Die City ist eben auch nur ein Dorf.

Ich ließ mich auf dem von der Sonne erwärmten Stein nieder und meine Gesprächspartnerin tat, nach zögernden Blicken zunächst auf die Sitzfläche, dann auf die uns umgebenden Leute, dasselbe.

»Haben Sie sich heute extra schick gemacht?«, fragte ich in Anspielung auf die Vorsicht, mit der sie ihr von feinem Tuch ummanteltes Gesäß niederließ. »Oder ist das Ihre Alltagskluft?«

Sie steckte sich eine dieser extraleichten, überlangen, dünnen Zigaretten in den Mund, bei deren Konsum man sich schon gern mal einreden konnte, fast schon zu den Nichtrauchern zu gehören. Ich hielt ihr mein brennendes Feuerzeug an die Spitze und schon mit dem ersten gierigen Zug verwandelten sich, dank beigemengter Brandbeschleuniger, die ersten eineinhalb Zentimeter in hellgraue Asche.

»Sie sollten mich mal in Abendgarderobe sehen«, sagte sie sichtlich entspannt ob des Nikotinschubes. Allerdings leistete sie sich dabei nicht einmal die Ahnung eines Lächelns.

Ich zündete mir eine meiner eigenen Zigaretten an. »Ist das so eine Art Einladung?«, fragte ich zurück, in der Hoffnung, sie ein wenig aufzulockern. »Ich sitze nämlich schon in Abendgarderobe vor Ihnen.«

»Das habe ich befürchtet.« Fast wäre einer ihrer Mundwinkel nach oben gezuckt, aber sie beherrschte sich. »Sie können wahrscheinlich doch einige der Klischees erfüllen, die ihrem Berufsstand anhaften.«

»Ich kenne kaum jemanden meines Standes«, antwortete ich. »Aber wenn Sie mich hierher gebeten haben, um mit mir über Ihre Vorstellungen Leute meines Standes betreffend zu plaudern, dann nur zu!«

Im Flachwasser des Planschbrunnens rutschte ein vielleicht 13, 14 Monate altes Mädchen aus und landete auf dem dick gepolsterten Hinterteil, und noch während der Schrecksekunde, in der die Kleine zwischen Loslachen oder Losheulen schwankte, sprang eine Frau auf, stürzte auf sie zu, hob sie aus dem feindlich gesinnten Element und tätschelte ihr den speckigen Babyrücken. Das Gewimmer des Mädchens, das daraufhin einsetzte, ging im allgemeinen Geräuschpegel unter. Heutzutage wollte ich nicht großgezogen werden.

»Hier!« Carmen Holt hielt mir einen braunen DIN-A5-Umschlag hin, den sie eben aus ihrer Tasche geholt haben musste. »Stecken Sie das ein!«, forderte sie.

Ich rührte den Umschlag nicht an.

»Was ist das?«, fragte ich, während der klampfende Barde neben dem Blumenladen seine Pause beendete und ein abenteuerliches Intro anspielte, bei dem ich gespannt war, wohin es führen würde.

»Das ist ein Umschlag…«, begann sie.

»Das sehe ich«, unterbrach ich.

»In dem«, fuhr sie fort, »wichtige Daten stecken, um deren Aufbewahrung ich Sie bitten möchte.«

Aus dem Intro wurde eine schräge Akustikversion von Hendrix’ ’Voodoo Child’ – womöglich hatte mehr als nur Tabak die Rauchpause des Spielers erleuchtet.

»Aufbewahrung?«, fragte ich einigermaßen erstaunt und nahm ihr den Umschlag ab. Er war zugeklebt und unbeschriftet. Ich drehte ihn um und tastete ihn ab, innen drin steckte vermutlich eine CD.

»Ja«, sagte sie lapidar.

»Ist das alles? Sie drücken mir hier eine CD…«

»…DVD...«

»…in die Hand, zur Aufbewahrung?«

»Genau.«

»Und warum? Was sind das für Daten? Bareinzahlungsbelege aus Liechtenstein?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Können Sie nicht?«

»Nein.«

»Aha. Und warum sollte ich die CD…«

»…DVD...«

»…aufbewahren? Können Sie mir das vielleicht sagen?«

»Ja.«

Ich wartete, aber sie legte nicht nach. Sie hatte meine Frage präzise beantwortet, aber ein paar Erläuterungen ihrerseits hielt ich dann doch für angebracht. Um dies zu unterstreichen legte ich den Umschlag zwischen uns auf dem Mäuerchen ab.

»Sie müssen das nicht tun.«

»Ganz recht.«

»Es wäre mir aber wichtig. Die Daten sind bei mir zuhause nicht sicher. Es wurde deswegen schon eingebrochen.«

»Bei Ihnen?«

Sie nickte.

»Aber diese Daten, die haben Sie noch?«

»Die trage ich ständig bei mir.«

»Und Sie sind sicher, dass man wegen dieser Daten bei Ihnen…«

»Absolut. Mein Laptop wurde gestohlen, meine CD-Sammlung und mein PC hat seitdem keine Festplatte mehr.«

»Meiner auch nicht.«

»Was?«

»Mein PC. Hat auch keine Festplatte. Das heißt, er hat eine, aber ich benutze die nicht.«

»Aha?« Der Schwung ihrer Augenbrauen formte ein Fragezeichen.

Ich winkte ab. Die Stunden nach einem ordentlichen Kater machten mich geschwätzig. »Die Polizei haben Sie informiert, nehme ich an.«

»Sicher. Aber zu den Daten gehören auch welche über die Polizei und andere Ermittlungsbehörden.«

»Andere Ermittlungsbehörden?«, wiederholte ich erstaunt, und zählte auf, was mir spontan dazu einfiel: »Verfassungsschutz? Staatsschutz? Staatsanwaltschaft?«

Wieder nickte sie, diesmal mit hart zusammengepressten Lippen, so als wolle sie jegliches weitere Wort unterbinden.

»Haben Sie Informanten dort?«

Nichts als ein verhüllter Blick und ein Stirnrunzeln.

»Und wozu brauchen Sie die Daten? Schreiben Sie brisante Artikel, die irgendwas enthüllen sollen? Irgendeinen Sachsensumpfkram?«

»Brisante Artikel, wie Sie es nennen, wollte mir keine der hiesigen Zeitungen abnehmen. Kurz nachdem ich verschiedene Redaktionen kontaktiert hatte, kam der Einbruch.«

»Wann?«

»Letzten Donnerstag.«

»War es vielleicht zu brisant? Vielleicht zu viele Lokalmatadoren auf der Schattenseite Ihres Artikels?«

»Könnte sein. Ich brauche ein wenig Zeit, um ein paar überregionale Kontakte aufzufrischen. Die Geschichte ist zu gut, um sie im Sande verlaufen zu lassen. Eventuell kann ich ein Buch daraus machen, aber dann werden ein paar Köpfe rollen.«

Ich deutete auf ihre Tasche. »Ist da das Manuskript drin?«

»Welches Manuskript?«

»Ich meine, kann es sein, dass Sie vor dem Einbruch eine kleinere Tasche hatten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich schleppe immer so viel mit mir rum.«

»Na gut. Was macht Sie so sicher, dass die Daten bei mir gut aufgehoben sind?«

»Conny sagte, man könne sich auf Sie verlassen.«

»Und ich soll nichts tun, als den Umschlag für Sie aufbewahren? Vielleicht könnte ich mal in Sachen Einbruch nachhaken?« Ich bildete mir nicht ein, besser als die Polizei ermitteln zu können, aber immerhin meinte Conny vorhin, Carmen Holt suche jemand, der etwas für sie herausfinden könne.

»Nein, nein.«

Ich hob den Umschlag wieder auf, der immer noch zwischen uns lag. Eine kleine Kunststoffscheibe war darin, ein paar Mittelgewichte der Steuerhinterziehung, die auf irgendeiner Abschussliste standen, konnten Liedchen von solch unscheinbaren Datenträgern singen.

»Hier.« Carmen Holt hielt mir zwei gefaltete Hunderter vor die Nase. Für zufällig herschauende Passanten musste es aussehen, als bezahlte eine ungeduldige Edelkokserin ihren Dealer.

»Nehmen Sie schon«, zischte sie. »Ich komme mir langsam komisch vor!«

Ich erleichterte sie und stopfte die Scheine in meine Hemdtasche. Für 200 Euro hätte ich gut einen Halbtag für sie gearbeitet, aber dass ich nur das Schließfach übernehmen sollte, brachte mich darauf, mir einen Tarif dafür ausdenken zu müssen.

»Ich nehme an, Sie wollen keine Quittung«, vermutete ich.

Sie sah mich daraufhin an, als hätte ich vorgeschlagen, mich mit ihr drüben im Brunnen zu verlustieren.

»Spaßvogel, wie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Humorloser Steuerzahler. Meistens.«

Sie stand auf und hielt mir eine schmale Hand zum Abschied entgegen. Ich erhob mich ebenfalls. Obwohl wir die ganze Zeit in der prallen Sonne gesessen hatten, fühlte sich ihre Hand an wie ein feuchter Laubfrosch, der im kalten Morgentau umhergeirrt war.

»Wie erreiche ich Sie?«, wollte ich wissen.

Wieder kramte sie in den Tiefen ihrer Tasche, bis sie eine Visitenkarte zutage förderte.

»Mein Handy ist die meiste Zeit abgeschaltet«, sagte sie und reichte mir die Karte. »Schicken Sie eine SMS, wenn es was zu schicken gibt, oder warten Sie einfach, bis ich mich bei Ihnen melde.«

’Carmen Holt’, ’Journalistin’, darunter besagte Mobiltelefonnummer, mehr war der Karte nicht zu entnehmen. Ich steckte sie zu den zwei Hundertern.

»Wie lange, glauben Sie, soll denn ihr Datenträger bei mir verweilen?«

»Ein paar Tage vielleicht, wie gesagt, ich melde mich bei Ihnen.«

Mit dieser letzten, vagen Aussage ließ sie mich allein. Nach der Andeutung eines Kopfnickens wandte sie sich abrupt ab und entfernte sich in Richtung Marktplatz.

Ich knetete die Finger meiner rechten Hand durch, bis sie sich wieder ein bisschen von dem kalten Handschlag erholt hatten, und sah ihr nach. Ohne sich umzusehen steuerte sie die Marktgalerie an, unter der sich eine Tiefgarage befand, in der sie vermutlich geparkt hatte. Während der unermüdliche Gitarrist ‚Hey Joe‘ nach allen Regeln der Kunst zu einem Old-Chicago-Blues zerzupfte, zögerte ich, mich mit dem frisch anvertrauten Umschlag sofort ins Büro zu begeben. Letztendlich siegte meine Neugier über die Frau, die mich zwar engagiert, aber nur sehr wenig von sich preisgegeben hatte. Ich lief hinüber zur Thomaskirche, in deren Sichtweite die Ausfahrt des Parkhauses lag, lehnte mich dort an eine der steinernen Verstärkungen, die das Gebäude seit mehreren Jahrhunderten stützten, und zündete mir eine Zigarette an. Mit Carmen Holts Umschlag klopfte ich die Beats von ‚All Along The Watchtower‘ auf meinem Oberschenkel, weil der Song als Ohrwurm bei mir hängengeblieben war.

Es war Montagmittag und es kamen gerade mal 14 Autos aus dem City-Untergrund, bevor ich ihr Gesicht hinter der Frontscheibe eines kleinen Renault erkannte. Sie blickte stur geradeaus und sah mich nicht, obwohl ich keine Anstrengungen unternahm, mich zu verbergen, und bog vorn am Ring nach Süden ab. Ich notierte mir das Kennzeichen auf ihrem Umschlag und beeilte mich dann, zurück ins Büro zu kommen. Schließlich war ich alles andere als unterbeschäftigt.

3

Kurz nach halb zwei zog ich den Laptop unter dem Sitz meines um die Ecke geparkten Wagens hervor und ging ins Büro. Conny war unterwegs, wurde aber laut Bürovorsteherin Katrin, einer geschiedenen Endvierzigerin mit zwei fast erwachsenen Kindern, die besser mit Terminen jonglieren konnte als das Auswärtige Amt, noch vor 14 Uhr 30 erwartet.

Im Schreibwarenladen gegenüber besorgte ich eine Packung braune DIN-A5-Umschläge, in der Drogeriekette ein paar Häuser weiter bekam ich CD-Rohlinge. Wieder im Büro, schob ich den USB-Stick, den ich immer in der Hosentasche bei mir trug und auf dem sich ein schlankes, microsoftfreies Betriebssystem befand, in den Laptop, schaltete diesen ein, ließ ihn hochfahren und riss unterdessen den von der Journalistin erhaltenen Umschlag auf.

Carmen Holts DVD enthielt mehrere Ordner mit Fotos, Videos, kopierten Zeitungsausschnitten, etwa eine Handvoll Word-Doc- und Dutzende PDF-Dateien, insgesamt etwas über 600 Megabyte, und ich fragte mich, wieso sie so viel Aufhebens um die Frage DVD oder CD gemacht hatte, denn das hier hätte alles locker auf eine CD gepasst. Wie auch immer, ich zog die Daten auf meinen Stick, machte eine Kopie auf CD, tütete diese ein und verstaute eine der Kopien in meiner Schreibtischschublade.

Unter den E-Mails, die ich anschließend abrief, war eine einzige, die tatsächlich an mich beziehungsweise meine Türgestaltungs-Firma gerichtet war und die, da sie von einem privaten Hausbesitzer kam, Einnahmen in Aussicht stellte, die nicht zwingend auf der steuerlichen Habenseite auftauchen mussten. Ich tippte die Nummer des Hausbesitzers in mein Telefon, schaltete den Computer aus und ließ den USB-Stick in der Hosentasche verschwinden.

Der Mann, den ich an den Apparat bekam, schien angenehm überrascht, dass ich mich so schnell meldete, und wir vereinbarten einen Termin bei ihm im Haus für den morgigen Abend. Danach rief ich Hubert an, meinen Freund und Teilhaber, der zur Zeit an einem für unsere Verhältnisse größeren Auftrag draußen im Leipziger Nordwesten arbeitete, wo auf uns im nächsten Halbjahr etwa 50 aufzuarbeitende Wohnungseingangs- und Haustüren warteten. Hubert schätzte, dass er sich in etwa eineinhalb Stunden auf den Rückweg in die Werkstatt machen würde, um das Material für Morgen in den Bus zu packen. Ich ließ ihn wissen, ich würde dann dort sein und ihm dabei helfen.

Conny kam pünktlich. Kurz nach halb drei stand sie neben mir und lehnte sich an das Geländer des Balkons, um den sie mich beneidete – denn auf ihrer Seite der Etage gab es zwar zwei Zimmer mehr, aber einen Balkon gab es eben nicht. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen und die oberen 3 Knöpfe ihrer Bluse aufgeknöpft, fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar, zündete sich eine Zigarette an und pustete mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung Rauch über den Hinterhof.

Ich reichte ihr meine Wasserflasche und sie griff dankbar zu.

Mit dem Zeigefinger deutete ich auf ihr offenherziges Oberteil, bevor ich fragte: »Und? Hatte sonst noch jemand Argumente vor Gericht?«

»Wüstling!«, antwortete sie und grinste anzüglich, während sie scheinbar geziert ihre Aufschläge vor der Brust zusammenraffte. Dann wurde ihre Miene sachlich, sie hob die Augenbrauen und auf ihrer Stirn faltete sich die Haut.

»Der Junge hat nochmal Glück gehabt, er hat vor drei Monaten die Firma seines Onkels übernommen und scheint sie auch führen zu können. Irgendeine kleine Klitsche für Spezialwerkzeuge, frag mich nicht. Gute Sozialprognose jedenfalls, Du weißt schon. Er wird nie wieder einem Kumpel Gras zustecken, im Grunde kennt er auch niemanden mehr, der überhaupt weiß, was ein Joint ist, blablablah, selbst der Staatsanwalt wollte nicht an einen Rückfall glauben.«

Conny machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber, was erzähle ich hier eigentlich? Sag lieber, wie’s bei dir und Carmen gelaufen ist! Was wollte sie denn?«

Mir ein Kochbuch empfehlen, dachte ich. »Sie hat mir eine DVD zum Aufbewahren gegeben.«

»Bankdaten aus der Schweiz? Oder Caiman-Island-Papers? Bayern-Leaks?«, fragte sie, was im Hinblick auf die immer mal wieder kursierenden Nachrichten naheliegend schien.

»Nein«, antwortete ich. »Und die Schweizer speichern ihre Bankdaten neuerdings nur noch auf UBS-Sticks.«

»Du meinst USB-Sticks?«

»Nein, ich meine U-B-S.«

Sie kicherte, als zum zweiten Mal an diesem Tag in meiner Anwesenheit ein Groschen fiel. Sie kicherte nochmal.

Geschenkt.

»Ich habe mir eben mal kurz Carmens Sachen angeschaut und Kopien gemacht, es sind Textdateien, Kopien und haufenweise Zeitungsartikel, Bilder, Videos und so weiter. Wäre nett, wenn Du ein Exemplar mit zu dir rüber nehmen könntest.«

»Ist das alles? Sie hat dir nur ein paar Daten gegeben?«

»Mehr wollte sie nicht, jedenfalls nicht von mir. Und so richtig aufgeregt schien sie mir auch nicht, obwohl sie erzählt hat, dass letzte Woche bei ihr eingebrochen wurde.«

»Eingebrochen? Was wurde denn gestohlen?«

»Ihre Festplatte, sagt sie. Und sämtliche elektronisch lesbaren Datenträger.«

Conny nickte, als ginge ihr ein Licht auf. »Aha, und die CD…«

»…DVD...«

»…die sie dir gegeben hat, ist sowas wie ein Backup, das sie in Sicherheit bringen will.«

»Schon möglich. Auch wenn die paar hundert MB sicher nicht ihr gesamtes journalistisches Wirken beinhalten.«

»Es muss ihr wichtig sein.«

»Kann schon sein. Mir hat sie jedenfalls nicht viel verraten. Nur so viel, dass keine ortsansässige Zeitung ihren Artikel schreiben wollte und sie deswegen dabei sei, sich anderweitig umzusehen. Und sie hat so eine Andeutung gemacht, die in Richtung Polizei und andere Behörden ging. Aber eben nur eine Andeutung.«

»Hast Du dir ein paar der Dateien genauer angesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

»Wo ist sie denn da reingeraten?«

»Das wollte sie mir nicht verraten. Aber möglicherweise in was ernstes.«

»Und dann willst Du, dass ich eine von diesen DVDs…«

»CDs. Ich hab's auf CD kopiert.«

»…bei mir im Büro aufbewahre? Klingt ja wie ne Drohung!«

»Klar«, sagte ich. »In einer Zeit, in der jeden Morgen die Menge schlechter Nachrichten mit der Anzahl von frischen verkauften Brötchen konkurriert.«

»Brötchen sind leichter verdaulich.«

»Sicher.«

»Und sie schmecken besser.«

»Dir vielleicht. Aber es gibt sie, die Blutgourmets, die sich am Frühstückstisch wohlig zurücklehnen und die blumig bunt dargestellten Geschichten von Nutten im Rathaus oder minderjährigen Zwangsprostituierten nicht nur einfach lesen, sondern genüsslich mitkauen, so als hätte man ihnen frische rohe Mädchenscheibchen aufs knusprige Gebäck gelegt.«

»Du bist ein echter Poet.«

»Ich weiß. Und Du eine echte Banausin.«

»Im Ernst.« Conny trat ihre Kippe an der Stelle aus, an der auch die anderen, von ihr ausgetretenen Kippen der vergangenen Arbeitswoche lagen. »Ich dachte, Carmen hätte einen richtigen Job für Dich.«

»Ich habe einen richtigen Job«, entgegnete ich.

»Ja, klar.« Conny winkte ab, öffnete noch einen Knopf ihrer Bluse und hob die Wasserflasche zum Mund.

Der spitzenbesetzte Rand ihres weißen Büstenhalters kam zum Vorschein und wenn ich ihr jetzt in irgendeiner Bar unbekannterweise gegenübergestanden hätte, wäre ich darauf abgefahren.

»Conny?«, sagte ich. »Könnte es sein, dass Carmen Holt ein bisschen jünger ist als Du?«

Sie schenkte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und die Falte, die sich senkrecht über ihrer Nasenwurzel in die Stirn fraß, stand ihrem ohnehin hübschen Gesicht gut.

»Was?« Das kleine Wort zischte wie ein Sensenhieb über den Balkon.

»Naja, ich meine, Deine Freundin sieht nicht aus wie 32, ehrlich gesagt, nicht mal wie 30.«

»Sie ist nicht meine Freundin!«, giftete sie. »Wir waren nur in einer Klasse. Und wenn sie tatsächlich so viel jünger aussehen sollte, streiche ich sie aus meinem Bekanntenkreis!«

Ich hakte nicht weiter nach, nicht bei diesem Thema.

»Weißt Du, ob sie einen kleinen Renault fährt?«, lenkte ich sie ab.

Sie schob sich eine neue Zigarette in den Mund. »Keine Ahnung«, nuschelte sie.

Wir rauchten und sie erzählte nebenher, dass der Kirchturm in unserem Blickfeld der höchste Kirchturm in der Stadt ist. Ich ließ sie ausreden und erwähnte anschließend, dass ich mir diese Information schon erarbeitet hätte, woraufhin sie mich einen Streber nannte, also fühlte ich mich herausgefordert, ihr zu erklären, dass ein gelernter Architekt sich automatisch nach den herausragenden Gebäuden einer Stadt erkundigt.

Kurz vor drei klopfte Katrin an meine Tür, steckte den Kopf herein und erinnerte Conny, dass in einer viertel Stunde ein Mandant erwartet würde. Conny dankte ihr, stöhnte ob der Bürde des Alltags und knöpfte sich die Bluse zu. Dann stieß sie sich entschlossen vom Balkongeländer ab.

»Na gut«, sagte sie. »Die Pflicht.«

Sie winkte lasch und stakste auf ihren hohen Schuhen los.

»Vergiss die CD nicht!«, rief ich ihr nach.

Sie griff im Vorbeigehen nach dem Umschlag.

»DVD, oder?«, hörte ich sie sagen, kurz bevor die Tür zuschlug.

Ich schraubte die Flasche zu, die Conny offen stehengelassen hatte, trug ihr Business-Jäckchen, das sie beim Kommen achtlos über einen Stuhl geworfen hatte, in ihr Büro hinüber, nahm Carmen Holts Originalumschlag und meinen Laptop vom Schreibtisch und verließ das Haus.

Meine Wohnung und die Werkstatt von H&H-Türgestaltung lagen draußen in Dölitz, etwa 6 Kilometer südlich meines Büros, kurz bevor Leipzig endete und nahtlos in den östlichen Teil von Markkleeberg überging. Die Sonne schien und im Autoradio lief ein Song von Jimmy Cliff. Mit dessen recht fröhlich vorgetragenen Zeilen ’I Can See Clearly Now The Rain Is Gone’ ließ es sich trefflich südwärts fahren.

Dienstag

4

Am Dienstagmorgen frühstückte ich gegen acht mit Hubert im Hof, danach fuhr er zur Baustelle und ich machte einen Abstecher ins Büro. Neue E-Mails gab es keine, dafür war gestern am späten Nachmittag ein Anruf aufgezeichnet worden. Meine ehemalige Freundin Sylvia aus Dresden beklagte sich zunächst, dass ich so schwer zu erreichen sei und empfahl mir zum hundertsten Mal die Anschaffung eines Handys, danach kündigte sie für das kommende Pfingstwochenende einen Besuch in Leipzig an und hoffte, wenn sie denn schon mal da sei, mich zu treffen. Ich besaß zwar mittlerweile längst ein Mobiltelefon, hatte es aber nicht für notwendig gehalten, ihr dies mitzuteilen. Sylvias Anruf erinnerte mich daran, warum es mir unter anderem so leicht gefallen war, aus Dresden wegzugehen.