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Drei Provinzdamen und eine ganz besondere Geschäftsidee "Eine ganz heiße Nummer" von Andrea Sixt jetzt als eBook bei dotbooks. Der Himmel ist blau, das Wetter gut, die Stimmung aber auf dem Tiefpunkt: Das kleine Marienzell im Bayerischen Wald geht wirtschaftlich den Bach runter. Auch der kleine Lebensmittelladen von Waltraud, Maria und Lena steht kurz vor der Pleite – und während die Freundinnen sich schon auf eine Karriere als Langzeitarbeitslose einstellen, bekommt Maria auch noch einen Anruf. Einen schmutzigen Anruf, um genau zu sein. Der Kerl ist eindeutig falsch verbunden – und will Unaussprechliches von ihr hören. Doch das bringt Maria auf die Idee, selbst einen erotischen Telefonservice zu starten. Und natürlich müssen Waltraud und Lena mitmachen. So schwer kann das doch nicht sein, das bisschen Stöhnen … Aber werden sich die drei bei dieser ganz heißen Nummer vielleicht doch die Finger verbrennen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: "Eine ganz heiße Nummer" von Andrea Sixt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 457
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Über dieses Buch:
Der Himmel ist blau, das Wetter gut, die Stimmung aber auf dem Tiefpunkt: Das kleine Marienzell im Bayerischen Wald geht wirtschaftlich den Bach runter. Auch der kleine Lebensmittelladen von Waltraud, Maria und Lena steht kurz vor der Pleite – und während die Freundinnen sich schon auf eine Karriere als Langzeitarbeitslose einstellen, bekommt Maria auch noch einen Anruf. Einen schmutzigen Anruf, um genau zu sein. Der Kerl ist eindeutig falsch verbunden – und will Unaussprechliches von ihr hören. Doch das bringt Maria auf die Idee, selbst einen erotischen Telefonservice zu starten. Und natürlich müssen Waltraud und Lena mitmachen. So schwer kann das doch nicht sein, das bisschen Stöhnen … Aber werden sich die drei bei dieser ganz heißen Nummer vielleicht doch die Finger verbrennen?
Über die Autorin:
Andrea Sixt, geboren in Regensburg, studierte in München und arbeitete in Monaco, leitete ein Unternehmen für Haustechnik und beschloss schließlich, sich dem zu widmen, was ihr wirklich Spaß macht: dem Schreiben. Den Beginn ihrer neuen Karriere startete sie mit dem Kinoerfolg „Workaholic“, an dem sie als Autorin beteiligt war. Inzwischen hat Andrea Sixt zahlreiche Romane veröffentlicht. „Eine ganz heiße Nummer“ wurde erfolgreich verfilmt und ist nun auch als Theaterstück ein Publikumsrenner.
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Neuausgabe Februar 2015
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Andrea Sixt und Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Motivs von Thinkstockphoto/istock
ISBN 978-3-95824-140-4
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Andrea Sixt
Eine ganz heiße Nummer
Roman
dotbooks.
Kalt und ungemütlich war es – für diese Jahreszeit, es war Mitte Mai, viel zu kalt. Die Glocken der Kirche schlugen drei Mal. Es war Viertel vor sieben.
Maria quälte sich in ihrem Bett. Ihre Glieder waren schwer vor Müdigkeit. Sie war jetzt fünfundvierzig, und sie merkte jede Minute Schlaf, die sie wieder einmal verpasst hatte. Ihr Körper herrschte in letzter Zeit immer häufiger über ihren Geist, der ihr jetzt zuflüsterte, dass es eigentlich Zeit wäre, aufzustehen, Tina, ihre Tochter, zu wecken, ihrem alten Vater das Frühstück ans Bett zu bringen und dann hinüber in den Laden zu gehen. Maria drehte sich unter der warmen Daunendecke noch einmal auf die andere Seite, den Blick nun zu den gefütterten Vorhängen, die das Tageslicht durch einen schmalen Spalt hereinließen. Noch fünf Minuten, sagte sie sich. Nur fünf Minuten.
Sie schloss die Augen, doch ihre Gedanken ließen sie nicht in Ruhe. Sie kreisten um ihr Gehalt, das noch immer nicht auf ihrem Konto war, obwohl heute schon der Zehnte, nein, der Elfte war, und um den schlechten Umsatz der letzten Monate.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Grübeleien. Ihre Hand tastete zum Nachttisch, und sie überlegte, wer sie um diese Zeit wohl anrief. Vielleicht Katharina? Oder Waltraud?
»Hallo?«
Keine Antwort.
»Hallo?«
Zuerst vernahm sie nur ein leises Stöhnen. Verwundert lauschte sie in den Hörer. Im ersten Moment schoss ihr Lena in den Kopf, die sicher wieder einmal wie so oft unter Liebeskummer litt. Das Stöhnen nahm zu, es war eindeutig nicht Lena, und dann hörte Maria die belegte Stimme eines Unbekannten: »Du, ich hab ein Riesending, und mit dem werde ich dich gleich beglücken.«
Maria drückte das Gespräch augenblicklich weg, setzte sich auf und verharrte einen Moment konsterniert. Was für ein Schwein! Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so einen Anruf bekam. Sie überlegte, was wohl dazu geführt haben könnte, dass dieser der Stimme nach nicht mehr ganz junge Typ am heutigen Morgen ausgerechnet ihre Nummer gewählt hatte, und schrieb es letztendlich dem Zufall zu. Nach wie vor schlug ihr das Herz im Hals, und ihre Füße glühten unter den Daunen. Sie holte tief Luft, ein Mal, zwei Mal, dann schlug sie die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett.
Na, der Tag fängt heute ja schon mal gut an, dachte sie missmutig.
Sie zupfte ihr langes Nachthemd, das sich wie ein Schneckenhaus um ihren Körper gelegt hatte, wieder auseinander, tapste dann, noch immer verwundert über diese Dreistigkeit, zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück. Sie schauderte, als sie vor dem offenen Fenster stand, durch das der kalte Wind hereinblies. Während sie ihre Bettdecke aufschüttelte, dachte sie, dass die Eisheiligen diesmal schon ziemlich lange dauerten, und sie hoffte, dass dies nun endlich die ›Kalte Sophie‹ war, die den krönenden Abschluss bildete.
Ein tiefer Seufzer entschlüpfte ihr, als sie das Bettzeug glatt strich, und sie vergaß den Anrufer und dachte an Manfred, ihren Mann, mit dem sie dieses Bett die letzten achtzehn Jahre geteilt hatte. Ihre Schlafstätte, denn mehr war es für sie heutzutage nicht mehr, war viel zu breit für nur eine Bettdecke und ein einzelnes Kissen, trotzdem hatte sie Manfreds Bettzeug noch an jenem Tag in seinem Kleiderschrank verstaut, an dem er denselben ausgeräumt hatte. Sie war nicht der Typ, der sich etwas vormachte. Das nur zur Hälfte bestückte Bett zeigte ihr nun schon gleich beim Aufwachen ganz deutlich, dass Manfred eben nicht mehr ihr Mann war. Das heißt, juristisch betrachtet war er es noch, aber in Wirklichkeit schon lange nicht mehr.
Auf dem Weg zum Bad klopfte Maria zwei Mal kurz an die Tür zum Zimmer ihrer Tochter, drückte die alte versilberte Klinke herunter und schob den leicht vergilbten Lichtschalter an der Wand nach oben. »Guten Morgen! Aufstehen!«, rief sie durch den offenen Spalt mit einer Heiterkeit, die ihr Herz schon lange nicht mehr verspürte. Es war die List der Gewohnheit, die sie jeden Morgen fröhlich einen neuen Tag ankündigen ließ. Heute war es jedoch anders. Heute durchflutete das Tageslicht bereits Tinas Raum.
»Du bist schon auf?«, wunderte Maria sich nur kurz, und dann, nachdem das übliche, knapp genuschelte »Morgen« zurückkam, wanderten ihre Gedanken wieder zu Manfred.
Ein halbes Jahr war es jetzt her, dass er sie wegen Sybille, einer Reparaturannahme-Tussi in einer Opel-Vertretung, verlassen hatte. Angeblich hatte die Affäre bereits vor drei Jahren angefangen. Damals hatte er dort seinen Vectra reparieren lassen und sein angekratztes Selbstwertgefühl gleich mit. Sybille hatte dafür gesorgt, dass er, der gerade seine Stelle in einer großen Spedition in Deggendorf verloren hatte, einen nagelneuen Job bekam: als aufstrebender Superverkäufer in jenem Autohaus.
Jetzt war Sybille schwanger, und Manfred stand natürlich zu dem Kind. Das war für ihn Ehrensache – der Betrug an Maria nicht. Manfred trieb nun die Scheidung unerbittlich voran. Da zählte nichts, auch nicht die lange Zeit, in der Maria immer nur eines im Sinn gehabt hatte: ihn glücklich zu machen.
Jahrelang hatte sie ihn verwöhnt. Die ganze Palette der Promiköche wie Schubeck und Biolek hatte sie rauf und runter gekocht, und das, obwohl sie es anfangs gehasst hatte. Es fiel ihr auch nicht leicht, sie musste sich jedes Gericht mühevoll aus den Büchern erarbeiten und sich präzise an die Angaben halten, damit es gelang. Und auf einmal, nachdem sie sich langsam von den Köchen freigekocht und Spaß am Improvisieren gefunden hatte, genau in diesem Moment hatte Manfred angefangen, von Sushi und Sashimi zu schwärmen – da hatte sie dann schon vermutet, dass irgendetwas nicht stimmte. Endgültige Gewissheit hatte sie in den letzten Monaten erhalten, als er jede Berührung, jede Zärtlichkeit, die sie ihm schenken wollte, abgeblockt hatte. Nur auf ihr Drängen hin hatte er schließlich die Wahrheit eingestanden. Das war der Anfang vom Ende gewesen.
Maria stand inzwischen unter der Dusche. Das warme Wasser tat ihrem verspannten Nacken gut. Sie verrieb die nach Mandeln duftende Duschcreme über ihre schweren, aber immer noch festen Brüste, über ihren Bauch, der sich ein klein wenig wölbte, und über den zarten Bereich zwischen ihren Beinen; all das tat sie mit der Nachlässigkeit einer Frau, die ihrem Körper keine besondere Beachtung schenkte.
Das lag wohl mit daran, dass ihr Manfred nie zu den Liebhabern gehört hatte, die eine Frau groß verwöhnten, doch das hatte Maria nicht weiter schlimm gefunden. Über die vielen Jahre war es für sie völlig normal geworden, sich ausschließlich auf ihn zu konzentrieren. So wenig, wie sie ihren Körper wahrnahm, so selbstverständlich und bereitwillig nahm sie seinen in sich auf. Sie kannte jede Faser seiner Haut, kannte jede Facette seines Geruchs, kannte jedes Zucken seiner Muskeln. Sie kannte seine erogenen Zonen und die Worte, die ihn erregten, wusste, wie sie seine Erregung steigern, sie verlängern und sie zur Explosion bringen konnte. Mit der Zeit kannte sie seinen Körper besser als den ihren. In seinem Orgasmus fand sie ihren Höhepunkt. Und auch wenn der ihre nur in ihrem Kopf stattfand, so war sie doch jedes Mal glücklich, ihm so viel gegeben zu haben, und ihre Erschöpfung kam der seinen gleich.
Das war nun alles vorbei. Manfred war nach Regensburg in die Großstadt gezogen, und sie saß hier im alten, renovierbedürftigen Haus ihrer Eltern, das viel zu groß war für sie drei, für Tina, ihren alten Vater und sie.
Das neue Familienleben spielte sich hauptsächlich in der großen Wohnküche ab, in der sie an diesem Morgen zu ihrer Überraschung auf einen mit Milch, Cornflakes und Müsli gedeckten Frühstückstisch stieß. Sogar eine Schale mit geputzten Erdbeeren und einem klein geschnittenen Apfel fand sich neben der Milchkanne, und die Servietten, an die sie ihre Tochter normalerweise immer erinnern musste, lagen fein säuberlich gefaltet neben den beiden Gedecken. Maria war zum zweiten Mal am heutigen Morgen perplex.
»Das ist ja toll! Was ist denn passiert?«, fragte sie Tina, die zur Krönung des Ganzen statt des üblichen Instantkaffees Jacobs Besten aufbrühte, dessen würziger Duft sich im Nu im ganzen Haus ausbreitete. »Ist heute Muttertag?«
»Opa habe ich sein Frühstück schon nach oben gebracht«, meinte Tina mit geschäftiger Ernsthaftigkeit und ohne aufzublicken.
Maria blieb überrascht am Tisch stehen. »Heute ist doch nicht Muttertag«, sagte sie und musterte das Mädchen. Fünfzehn war Tina jetzt und – bei aller ihr möglichen Objektivität – verdammt hübsch. Sie hatte das dunkle, dichte Haar ihres Vaters und die hellen blauen Augen der Mutter. Dazu die zarte Haut und eine unverschämt knackige Figur. Maria konnte sich überhaupt nicht satt sehen an ihr. Sie musste sich zwingen, den Blick abzuwenden. Und zum tausendsten Mal sagte sie sich, dass sie auf Tina verdammt aufpassen musste.
»Ich kann dich doch auch mal verwöhnen«, meinte Tina und drehte sich um. Ihre Verlegenheit schrieb Maria gerührt dem Umstand zu, dass ihre Tochter bisher jede Art von Arbeit im Haushalt als völlig uncool abgetan hatte. Uncool war ein Modewort, das Maria übrigens ziemlich oft hörte, denn uncool war für Tina so ziemlich alles, was sich hier im Haus abspielte.
Während Maria, die es nicht ertrug, einfach nur untätig herumzustehen, den Honig aus dem Regal nahm und ihn auf den Tisch stellte, betrachtete sie das Mädchen heimlich und voller Glück. Die Trennung und die vorangegangenen Auseinandersetzungen hatten Tina für ihr Alter frühzeitig erwachsen werden lassen. Sie war ganz bestimmt keine Träumerin, sondern hatte einen analytischen Verstand, der ihr im Leben sicher eine Menge Enttäuschungen ersparen würde. Ihr selbst, Maria, mangelte es leider daran.
»Setz dich doch.«
Maria nahm auf einem Stuhl Platz und fing langsam an, die unerwartete Aufmerksamkeit an diesem Morgen zu genießen.
Tina brachte die Kaffeekanne, setzte sich ihr gegenüber und schenkte ihrer Mutter den heißen Kaffee in die handbemalte Tasse. Die ihre hatte sie bereits mit Ovomaltine gefüllt.
»Vielen Dank«, sagte Maria. »Das ist vielleicht eine Überraschung! Wirklich schön.«
Dem dankbaren Lächeln ihrer Mutter wich Tina aus und konzentrierte sich auf ihren Teller, in den sie eine Ladung Cornflakes kippte.
Während ihre Tochter ihre Flakes schweigend löffelte und sie selbst ihren Teller mit Getreide und ein wenig Obst füllte, überkam Maria plötzlich eine unangenehme Vorahnung. Irgendetwas stimmte nicht! Sie befreite sich jedoch sofort von ihrem gut geschulten Misstrauen, und in der Hoffnung, dass ihr Gefühl sie getäuscht hatte, schwieg auch sie und kaute ihr Müsli mit den gezuckerten Erdbeeren und den fein geschnittenen Apfelstückchen.
Irgendwann fing Tina an, wie nebenbei zu erzählen: »Papa hat jetzt eine neue Wohnung gefunden. Mitten in der Altstadt, im vierten Stock, mit Blick auf den Dom. Die muss total cool sein.«
Die beiden hatten wohl gestern Abend telefoniert, während sie beim Treffen vom Katholischen Frauenbund gewesen war, schoss es Maria durch den Kopf. Als sie dann gegen zehn nach Hause gekommen war, hatte Tina schon geschlafen.
»Mein Zimmer hat sogar einen kleinen Balkon – er geht auf einen Innenhof hinaus. Das ganze Haus ist völlig neu renoviert.«
»Schön«, meinte Maria trocken; sie wollte davon nichts hören. Sie hätte sich Manfred am liebsten in irgendeinem feuchten Kellerloch gewünscht, wo er mit seiner Tusnelda ruhig verschimmeln konnte. Na ja, wenigstens scheint er sich um seine Tochter zu kümmern, dachte sie und sammelte sich. Auch wenn es ihr schwerfiel: Sie durfte ihren Frust nicht an Tina auslassen.
»Ist es denn schon eingerichtet? Brauchst du vielleicht noch was?«, fragte sie freundlich nach. Schließlich hatten sie genug Bauernmöbel herumstehen, die die Landwirte aus dem Umland ihrem Vater für wenig Geld überlassen hatten, als der noch beim Brandversicherungsamt tätig gewesen war. Es waren einige schöne Stücke darunter. »Du kannst dir gern einen Schrank aussuchen, oder willst du vielleicht auch eine Truhe?«
In den Augen ihrer Tochter entdeckte sie eine Mischung aus Schuld und Besorgnis, und sie erschrak. Tina lächelte entschuldigend, und bevor sie nun zu sprechen anfing, wusste Maria schon, dass ihr Leben nun ein zweites Mal innerhalb eines halben Jahres aus den Fugen geraten und sich ihre düstere Vorahnung erfüllen würde.
»Ich möchte zu Papa ziehen, nach Regensburg. Gleich am Ende dieses Schuljahres.«
Maria fühlte einen stechenden Schmerz. Sie schluckte, spürte die Trockenheit in ihrer Kehle. »Aha.« Mehr brachte sie nicht heraus.
»Es ist ja nicht gegen dich, Mami. Nur versteh doch, das Leben ist so langweilig hier! Es ist nichts los. Ich kann mich in der Stadt viel besser entwickeln. Da gibt es viel mehr Möglichkeiten. Das verstehst du doch? Mami?«
Maria nickte. Am Ende des Schuljahres, das bedeutete, in nur sieben Wochen.
»Nicht traurig sein! An den Wochenenden komm ich dann immer zu dir. Na ja vielleicht nicht an jedem, aber sooft es geht.«
Maria hörte längst nicht mehr zu. Alles reduzierte sich in ihr nur auf die eine erschütternde Tatsache: Ihr Kind wollte sie jetzt verlassen. So einfach, so schnell konnte es gehen. Ein einziger Satz veränderte ein ganzes Leben. Und obwohl sie immer damit gerechnet hatte, dass Tina nach der Schule wegziehen würde, traf sie diese Nachricht nun, drei Jahre zu früh, völlig unvorbereitet und mit voller Wucht.
»Und was ist mit der Schule? Wie stellst du dir das vor?«, hörte sie sich wie von ganz weit her fragen.
»Mami, damit habe ich doch kein Problem.«
Sie hatte recht. Das Gymnasium, das mit dem Schulbus ungefähr fünfunddreißig Minuten entfernt lag, absolvierte sie mit links.
»Bist du damit denn einverstanden?«, wollte Tina wissen.
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss den Laden aufsperren. Und du musst zum Bus. Lass uns heute Abend darüber reden.«
»Mami, bitte.«
Der flehenden Miene ihrer Tochter hatte sie nur noch wenig, eigentlich gar nichts entgegenzusetzen. Tina sah es ihr an.
»Du bist ein Schatz, Mami! Ich wusste doch, dass du mich verstehst.« Tina drückte ihr einen Kuss auf die Wange, so frisch und leicht, dass Maria den jungen Körper am liebsten festgehalten hätte, um einen Hauch dieser jugendlichen Lebensfreude auf sich übergehen zu lassen.
Stattdessen erhob sie sich schwer. Mechanisch räumte sie den Tisch ab, während Tina nach oben rannte, um ihre Schultasche zu holen. Regensburg, die Hauptstadt der Oberpfalz, zog die Leute aus dem Wald genauso magisch an wie früher der Wilde Westen die Goldsucher. Mit »Wald« meinte Maria den Bayerischen Wald. Schlicht und einfach »Wald« nannten ihn die Einheimischen, deren Leben in der rauen Gegend ebenso schlicht und einfach verlief. Selbst die Häuser waren schlicht und einfach und bar jeder Verzierung, hier in dem Tausend-Seelen-Dorf zwischen der Rusel, einer kurvenreichen Bergstrecke, und dem Arber, dem höchsten Berg der Umgebung. Viel hatte dieses Kaff wirklich nicht zu bieten. Maria seufzte. Sie konnte ihre Tochter gut verstehen. Es tat nur so verdammt weh.
Nachdem Tina sich auf den Schulweg gemacht hatte, stieg Maria das eine Stockwerk zu ihrem Vater hinauf, der um diese Zeit immer noch im Bett lag. Jetzt, im Alter, stand er meist erst gegen Mittag auf. Sie sah ihn an. Er hatte die Augen geschlossen, und bei jedem Atemzug entwich ein feiner Pfeifton seinen schmalen, eingefallenen Lippen. Maria war froh, dass er schlief, ihr war jetzt nicht nach Reden zumute. Unter seinem Kopfkissen spitzte das farbig glänzende Blatt eines Magazins hervor. Maria wollte aufräumen und zog daran, doch er hielt es mit einer Hand fest.
»Das dachte ich mir schon, dass du meine Zeitschrift klaust«, sagte er in einem kratzigen Bariton, ohne die Augen zu öffnen.
»Guten Morgen. Ich wollte sie nur zur Seite legen, damit du bequemer liegst.«
»Was bin ich?«, kam es umgehend vom Kissen zurück.
Maria gab auf. Sie war nicht in der Stimmung, ihre Worte noch mal lauter zu wiederholen. Sie nahm den leeren Teller und die leere Tasse vom Nachttisch und ging damit zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Außerdem interessieren mich deine nackten Weiber nicht. Es ist lächerlich, du in deinem Alter! Da rührt sich doch sowieso nichts mehr.« Und es war ihr egal, ob er sie nun hörte oder nicht.
»Man kann nie wissen«, krächzte der alte Mann ihr hinterher.
Er hatte nicht unrecht. Es ging ihm tatsächlich immer besser. Wacher war er, hatte keine Verdauungsprobleme mehr, und selbst die Rückenschmerzen waren verschwunden – dank Akupunktur, Massagen und Qigong. Maria gab einen Großteil ihres Gehaltes dafür aus und freute sich über die sichtbaren Erfolge. Heute aber konnte sie das gar nicht aufheitern. Heute war ein Scheißtag. Heute hätte sie einfach nur heulen können.
Unten im Flur suchte sie in ihrer Handtasche nach der Liste mit den Lebensmitteln, die sie aus dem Geschäft mit nach Hause genommen hatte, ohne zu bezahlen. Sie fand sie nicht, und sie überlegte, wo sie den Zettel gestern hingelegt hatte, ob in die Ladenkasse oder in ihre Schürze. Es wollte ihr nicht einfallen. Ihr Kopf fühlte sich einfach viel zu schwer an, um nachzudenken. Und so ließ sie es sein. Sie würde sowieso als Erste im Laden stehen, denn an zwei Tagen in der Woche sperrte sie den Laden auf, pünktlich um acht. Heute war Freitag, und heute war sie an der Reihe. Zum Glück gab es den Laden und ihre Freundinnen. Die hatten sie damals, vor einem halben Jahr, als Manfred gegangen war, aufgefangen, während sich die Dorfbewohner hinter ihrem Rücken die Mäuler zerrissen hatten. Ihre Freundinnen würden sie auch heute auffangen.
Die Wolken hingen so tief am Himmel, dass alles grau in grau wirkte, nur in der geräumigen Küche des Bungalows, an dem Maria vorbeihastete, schafften bunte Frühlingsfarben eine sommerliche Stimmung und eilten so dem Wetter voraus.
Durch das große Fenster konnte man Katharina am gedeckten Frühstückstisch sitzen sehen und gegenüber von ihr Peter, ihren Mann. Gerade legte er die Bayerische Ostmark, eine Tageszeitung der Region, zur Seite. Katharina betrachtete seine Gesichtszüge, die beiden senkrechten Falten, die sich im Laufe der letzten zehn Jahre noch tiefer zwischen seinen Augenbrauen eingegraben hatten. Angespannt war er. Sie sah ihm zu, wie er hastig das von ihr selbst gebackene Brot mit der von ihr ebenfalls selbst eingekochten Erdbeermarmelade hinunterschlang, und der Gedanke, dass er gleich wieder aus dem Haus musste, dämpfte ihre Freude an den von ihr liebevoll zusammengestellten vielen kleinen Extras im Haus, für die niemand außer Katharina ein Auge hatte.
Am liebsten hätte sie Peter ständig um sich gehabt. Auch heute, nach mehr als zehn Jahren Ehe, fiel ihr die Trennung noch genauso schwer wie am ersten Tag, als sie beide sich Hals über Kopf ineinander verliebt hatten und sie ihm in seinen Heimatort gefolgt war.
Katharina hob die feine Teekanne aus weißem China-Porzellan, um ihm noch etwas von dem besonders aromatischen Earl Grey, den sie letzte Woche in einem Naturkostladen in Deggendorf entdeckt hatte, nachzuschenken, doch er winkte ab.
»Nein danke. Ich muss los.«
Die ganze Woche war er schon unterwegs gewesen, und jetzt musste er auch gleich wieder weg!, klagte Katharina still. Laut meinte sie: »Immer diese Vielfliegerei. Was die dir alles zumuten! Also, gesund ist das nicht. Ich habe gelesen, dass man sich bei einem Flug nach Mallorca schon mehr Strahlenbelastung zumutet als bei einer Röntgenaufnahme.« Sie selbst konnte das Fliegen seit ein paar Jahren gar nicht mehr vertragen. Der zehnstündige Flug in die Karibik im letzten Winter war für ihre Stirnhöhlen eine wahre Zerreißprobe gewesen, auf die sie – bei aller Liebe zu Sonne, Strand und Meer – gern verzichtete.
»Ist ja nur Kurzstrecke«, entgegnete Peter und kippte im Stehen noch den letzten Schluck Tee aus der Tasse hinunter. Mit der feinen Batist-Serviette mit dem apfelgrünen Rand, den Katharina passend zu den Kissen angenäht hatte, wischte er sich flüchtig über die Lippen. »So ist das nun mal. Ich wäre auch lieber bei dir. Das kannst du mir glauben. Ich komme übrigens ziemlich spät zurück. Mit der letzten Maschine. Und bis ich dann hier bin, ist es bestimmt nach Mitternacht. Warte bitte nicht auf mich.«
Katharina sah, wie er die Serviette nachlässig auf den Tisch warf und nicht in den schönen silbernen Serviettenring mit dem eingravierten geschwungenen P schob. Sie beherrschte ihren Drang, aufzustehen und ihn zu umarmen. Stattdessen faltete sie die Serviette, zwang sich zu einem Lächeln und sprang über ihren Schatten, indem sie ihm uneigennützig vorschlug: »Wenn es so spät wird – ist es da nicht angenehmer für dich, du bleibst über Nacht?«
»Die Firma zahlt mir das Hotel nicht. Morgen ist Samstag.«
»Wie? Sie zahlen dir das nicht? Wie kleinlich!«
Er war schließlich der beste Verkäufer des Jahres gewesen. Der letzte Urlaub, der sie in die Karibik nach St. Martin geführt hatte, war von der Firma komplett bezahlt worden, sozusagen als Prämie, weil Peter so viele Computer verkauft hatte. Im vorangegangenen Jahr hatte er deshalb ziemlich viel Geld verdient, was sich allerdings gleich null auf ihr Leben ausgewirkt hatte.
Peter sparte nämlich für eine in weiter Ferne liegende, nicht absehbare Zukunft. Er hatte eine beträchtliche Summe für viele Jahre fest angelegt, da man ja nie wissen konnte, was noch alles passieren würde. Das restliche Geld, ein Notgroschen, lag auf einem Sparbuch, zu dem Katharina zwar Zugriff hatte, den sie aber nie ohne Peters Einverständnis nutzte.
Katharina begann, den Tisch abzuräumen, was für den Hund der Startschuss war, sich von seiner Decke zu erheben und zu ihr zu trotten. Lenny war ein Mischlingshund mit einem Fell wie Milch und Honig. In kluger Voraussicht hatte er diesen Moment abgewartet, und so schleckte er genüsslich die Leberwurst von dem Brot, das sich sein Frauchen mit ihm teilte, während Katharina die Teller in die Spülmaschine schichtete.
»Du brühst den Tee aber schon zwei Mal auf, nicht?«, meinte Peter, als er sah, dass sie den Teefilter ausleerte. »Vielleicht kann man ihn ja auch drei Mal verwenden. Ich würde das mal ausprobieren, Schatz.«
Katharina nickte und seufzte leise. Wenn Peter erst wüsste, wie viel so ein Teebeutel kostete! Doch diesen kleinen Luxus leistete sie sich ganz still und heimlich. Zum Glück fragte er danach nicht. Sie konnte so schlecht lügen.
»Ich komme gleich mit raus«, sagte sie, als er sich daranmachte, das Haus zu verlassen, und schnappte sich ihren modischen Kurzmantel und die Hundeleine.
»Ich habe es aber eilig«, meinte er, doch Lennys freudiges Gebell übertönte Peters Worte.
Katharina begleitete ihn noch bis zur Garage, die an den eingeschossigen Flachbau aus Holz mit der großen Glasfront anschloss. Dass Peter dieses Haus mehr oder weniger aus Containern auf einem geerbten Grundstück hatte errichten lassen, konnte man längst nicht mehr erkennen. Dank Katharina. Mit viel Liebe zum Detail hatte sie die Bepflanzung um das Haus herum vorangetrieben, sodass es heute eher wie ein Designerhaus anmutete.
Als Peter den Wagen rückwärts ins Freie rangierte, hielt sie Lenny, der aufgeregt mit dem Schwanz wedelte und genau wie sie am liebsten mitgefahren wäre, ganz straff an der Leine. Sie winkte dem silberfarbenen Wagen so lange nach, bis er um die Kurve bog und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Ein bisschen traurig war sie. Peter war sicher nicht aufgefallen, dass sie sich nicht geküsst hatten. Für einen Moment fühlte sie eine Leere in sich, die gefährlich war, denn sie gab ihrer Angst Raum. Der Angst vor der Einsamkeit.
Schnell schloss sie das Garagentor, dabei musste sie aufpassen, dass sich der Schlauch des Tanks nicht verhedderte. In dem ausrangierten Heizölbehälter hatte Peter billiges Rapsöl gelagert, das er zu einem Spezialpreis von einem Bauern bekommen hatte. Er hatte seinen Audi vor Kurzem erst so einstellen lassen, dass er ihn mit Diesel sowie mit Rapsöl fahren konnte. Letzteres benutzte er immer dann, wenn er privat unterwegs war. In vier Jahren würde sich die Investition amortisiert haben, hatte er ausgerechnet.
Katharina machte sich mit Lenny auf den Weg, die schmale Straße hinunter zum Laden. Sie war heilfroh, dass sie diesen Job hatte, wenn auch nur auf Vierhundert-Euro-Basis. Nicht dass sie ihn aus finanziellen Gründen nötig gehabt hätte. Überhaupt nicht. Sie brauchte ihn für ihre Seele. Katharina hatte sich das Leben hier ganz anders vorgestellt – mit Kindern. Doch sie wurde nicht schwanger. Und weil Peter keinen großen Wert auf Kinder legte, denn Kinder kosteten, bis sie erwachsen waren, ein ganzes Haus (das hatte Peter ausgerechnet), hatte auch sie sich im Laufe der Jahre damit arrangiert. Aber ohne den Laden – und mit ihm Maria, Lena und Waltraud – hätte sie in diesem Kaff nicht überlebt.
Als sie an der großen Kreuzung am Kiosk vorbeikam, überlegte sie kurz, ob sie sich vielleicht ein neues Einrichtungsjournal kaufen sollte, ließ es dann aber doch sein. Gleichzeitig ärgerte sie sich über ihr Zögern. Die vier Euro fünfzig ein Mal im Monat müsste sie sich doch auch ohne schlechtes Gewissen leisten können.
Es fing an, leicht zu nieseln, und Katharina legte nun einen Schritt zu. Unterwegs grüßte sie ein paar Einheimische und hielt für jeden auch noch so grantigen Hinterwäldler ein freundliches Wort bereit. Niemand hätte der schlanken, hochgewachsenen Frau in dem beigefarbenen Kurzmantel angesehen, dass sie sich so verdammt einsam fühlte.
Es war acht Uhr dreißig, als Katharina die Glastür des Geschäfts öffnete und mit dem hellen Dreiklang der baumelnden Glöckchen eintrat.
»Bin nur ich«, sagte sie, und es klang schon fast entschuldigend, da sie aus Marias Gesichtsausdruck ableitete, dass sie bis jetzt wohl noch kein einziger Kunde beehrt hatte. Mit muffiger Miene hatte sich Maria auch schon wieder den Packungen italienischer Nudeln zugewandt und sortierte nun die Penne und Makkaroni weiter hinten, dafür die Spaghetti ganz vorne in ein Regal. »Einen schönen guten Morgen«, meinte Katharina mit betonter Heiterkeit. Sie konnte nicht anders, sie fühlte sich einfach immer verantwortlich für die Stimmung um sich herum.
»Entschuldige. Guten Morgen. Wie geht es euch denn?«, fragte Maria daraufhin, umarmte Katharina flüchtig und kraulte Lenny, den sie in das »euch« mit eingeschlossen hatte, zur Begrüßung kurz den Kopf.
»Danke, geht so«, antwortete Katharina. Ihr Blick war in der ersten Reihe bei den vielen Spaghettischachteln hängen geblieben.
»Die sollen jetzt mal Spaghetti essen. Die sind viel leichter zu verdauen«, kommentierte Maria ihre schwerpunktmäßige Anordnung.
»Das ist ihnen doch zu kompliziert. Die Leute essen viel lieber Makkaroni«, erwiderte Katharina.
»Dann werden sie es eben lernen«, brummte Maria.
»Das möchte ich sehen«, schmunzelte Katharina. Bevor sie sich weiter mit Marias Laune befasste, eilte sie erst mal schnurstracks nach hinten in das Büro. Im Verkaufsbereich durfte sich kein Hund aufhalten. Wehe, jemand vom Dorf bekäme das mit, und erst recht die Geschäftsleitung! Dann könnten sie alle einpacken. Ihren Job wären sie los.
Lenny schlich seinem Frauchen nur unwillig hinterher. Den Kopf hielt er dabei nach oben gereckt, um sich möglichst lange die würzigen Düfte, die von der Wursttheke herüberzogen, um die feuchte Nasenspitze wehen zu lassen. Er wusste jedoch ganz genau, dass im Büro sein Platz war. Von dort führte nämlich eine Hintertür nach draußen, durch die er schnell mal verschwinden konnte, wenn es nötig wurde – was nach Lennys Geschmack leider viel zu selten der Fall war. Dann zog er nämlich los, in Erinnerung an die ersten acht Monate seines Lebens, die er als Straßenköter verbracht hatte, und tauchte manchmal erst am nächsten Morgen wieder vor der Haustür des Bungalows auf. Da saß er meist, erschöpft von neuen unerzählten Geschichten, und wartete, bis die Tür aufging und er Katharinas Hände auf seinem von vielem Hundesabber verklebten Fell spürte. Und jedes Mal war er dankbar und glücklich, dass sie ihm so viel mehr durchgehen ließ, als ihr Verstand ihr riet.
Maria sah, wie Katharina hinten im Büro ihren Mantel auszog und darunter ein Hosenanzug zum Vorschein kam, der ihre schlanke Figur betonte, und wie immer kam sie sich selbst ziemlich plump vor.
»Was ist denn heute passiert?«, rief Katharina durch die offene Tür und trat in den Raum.
»Nichts. Nichts Besonderes«, brummte Maria. »Einfach alles.«
Sie hatte keine Lust, von Tinas überraschenden Plänen zu erzählen. Es würde sie nur noch trauriger machen. Stattdessen straffte sie ihre Schultern, richtete sich ein wenig auf und fragte: »Sag mal, hast du eigentlich dein Gehalt schon gekriegt?«
»Ich? Nee. Keine Ahnung.«
»Meins ist noch immer nicht auf meinem Konto. Das habe ich vorhin gerade online gecheckt. Ist doch eine Sauerei!«
Aha, dachte Katharina. Das war also der Grund für die schlechte Laune, und sie bot an: »Ich kann ja gleich mal bei meiner Bank nachfragen, ob es schon da ist.«
»Wenn du meinst. Aber wieso soll es auf deinem Konto sein, wenn es auf meinem noch nicht ist?«
»So was kann schon mal passieren«, rief Katharina.
Maria sagte nichts weiter, sondern machte sich wieder an ihre Arbeit, während Katharina im Büro sogleich bei ihrer Bank anfragte. Niemand sollte wissen, dass sie, Maria Brandner, keinen Kredit mehr bekam. Das hatte ihr der Angestellte der Sparkasse gestern am Telefon eröffnet. Ihr, die in den dreißig Jahren, in denen sie dort Kunde war, immer Wort gehalten hatte. Aber das wusste der junge Mann ja nicht. Das wusste Herr Franz, doch der war inzwischen in Rente. Die Bank habe ihre Strategie geändert, hatte er ihr mitgeteilt. Kredite würden heute nur noch von ganz oben genehmigt. »Ganz oben« hieß so hoch oben, dass man von dort den einzelnen Menschen nicht mehr wahrnehmen konnte. Das hatte Maria deutlich zu spüren bekommen. Dabei hatte sie gar keinen größeren Kredit gewollt, nur eine kleine Überziehung, um einhundert Euro. Sie hatte den Telefonhörer aufgelegt und sich geschämt.
Draußen kam Pfarrer Gandl des Weges, und Maria drehte sich schnell um. »Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«, hatte er vor einiger Zeit in seiner Sonntagspredigt laut kundgetan und sie dabei so angesehen, als wäre sie schuld, dass Manfred die Scheidung eingereicht hatte. Maria hatte daraufhin gleich ihren letzten Zehneuroschein in den Klingelbeutel gelegt. Genützt hatte ihr das nicht viel, denn die Worte hatten sich in ihre Seele eingebrannt.
Katharina regte sich auf. Natürlich hatte sie auch noch kein Geld bekommen. Es ging ihr dabei nicht um die vierhundert Euro, die sie, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, für »überflüssigen Luxus« ausgeben konnte, wie Peter alles nannte, was über Aldi und Co. hinausging. Es ging ihr um die anderen, die in diesem Laden einen Fulltime-Job ausübten und dieses Geld wirklich brauchten. So ging man einfach nicht mit Menschen um! Sie betrachtet Lenny. Und ihr wurde warm ums Herz, und wie so oft beschlich sie der Gedanke, dass Hunde doch die besseren Menschen waren.
Eines stand jedenfalls fest. Hätte Lenny sich nicht bemerkbar gemacht, hätte es an diesem Morgen noch viel mehr Ärger gegeben.
Der goldfarbene Langhaar-Korsen-Mix richtete sich auf seiner Decke nämlich ganz plötzlich auf, steuerte auf die Hintertür zu, sprang daran hoch, drückte die Klinke mit einem Hieb der rechten Vorderpfote herunter und war verschwunden.
Nur deshalb konnte Katharina schon gleich von Weitem die kleine, schmächtige Gestalt ausmachen, die geradewegs auf den Laden zusteuerte: Hans Meier, der Bereichsleiter der Lebensmittelkette, war im Anmarsch. »Meier kommt!«, rief sie Maria zu, die sogleich einen kurzen Blick durch das Schaufenster nach draußen warf, sich wieder umdrehte und die Augen verdrehte. Meier hatte ihnen heute noch gefehlt! Was machte der denn um diese Zeit hier? Normalerweise kam Hans Meier niemals vor dem Zwölf-Uhr-Läuten den Weg von Landshut, wo die Zentrale Niederbayerns saß, hier hoch.
Als er den Laden betrat, konnten beide Frauen an seiner ernsten Miene sofort erkennen, dass es Probleme gab. »Grüß Gott, die Damen«, begann Hans Meier und ließ seine Augen über den gesamten Laden schweifen.
Katharina und Maria grüßten synchron zurück und verharrten gespannt. Je länger Herr Meier sein Schweigen ausdehnte, desto mehr wuchs bei beiden das schlechte Gewissen. Sicher hatte er erfahren, dass sie den Hund im Büro hielt, war Katharinas erster Gedanke, während Maria mit Herzklopfen für die vielen Male büßte, bei denen sie Lebensmittel auf Pump mitgenommen, sie später aber auch bezahlt hatte. Bis auf die von gestern, die waren noch offen.
Katharina folgte seinem Blick von der Kassentheke aus. Alles im Laden war so, wie es sein sollte, die mannshohen Regale, die den zwanzig Meter langen Raum durch die Länge trennten, waren picobello eingeräumt. Die Wurst hatte Maria bereits frisch ausgelegt, da gab es auch nichts zu bekritteln, und die Wandregale waren ordentlich bestückt – bis auf das Fach mit den Nudeln, aber da war Maria gerade dabei, die Penne und Makkaroni nach vorne neben die Spaghetti zu schieben.
Hans Meier seufzte schwer. Und wenn er so seufzte, war das kein gutes Zeichen. Maria schob die letzte Schachtel auf den Stapel und meinte: »Bin nicht einmal dazu gekommen, die Nudeln gescheit einzuräumen. Sie haben Glück. Gerade war hier noch die Hölle los.«
Meier sagte nichts.
Katharina besann sich ihrer guten Erziehung. »Kaffee?«, fragte sie höflich.
»Warum nicht? Gute Idee«, antwortete Hans Meier, nun schon etwas entspannter. »Trinken wir einen Kaffee zusammen.«
Aha. Lenny schien es jedenfalls nicht zu betreffen. Zuversichtlich eilte Katharina in die Teeküche.
Kurz darauf saßen sie zu dritt in dem kleinen Büro um den Schreibtisch herum. Hans Meier hatte sich hinter den Tisch gesetzt, in Chefposition, eine Stellung, die ihn sogleich größer erscheinen ließ.
Nachdem er den ersten Schluck Kaffee mit Milch und viel Zucker getrunken, das Aroma gelobt und die Tasse wieder abgestellt hatte, räusperte er sich, um dann ohne Umschweife gleich zur Sache zu kommen. »Es tut mir leid, meine Damen. Wie Sie wissen, ist die wirtschaftliche Situation in ganz Deutschland ziemlich angespannt. Die Kleinpreis-AG blieb zum Glück bisher von der Krise verschont.«
Katharina nahm seine Worte nicht so richtig wahr. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einer zweimal zusammengefalteten Decke, die vor dem Schreibtisch und nun direkt zu Hans Meiers Füßen lag, von deren dunkelblauer Wolle sich deutlich goldfarbene Hundehaare abhoben. Hoffentlich bemerkte er sie nicht!
Maria war die Hunddecke egal. Sie strengte sich an, aus seiner Miene zu lesen, und plötzlich wusste sie, dass sein Lächeln der Beschreibung auf einer Mogelpackung glich, denn zum zweiten Mal an diesem Tag beschlich sie eine schlimme Vorahnung.
»Doch nun hat die Gesellschaft beschlossen, ein paar Filialen zu schließen«, hörte sie Hans Meier sagen, und noch bevor er weiterredete, wusste sie Bescheid.
»Leider ist dieser Laden auch davon betroffen. Die Umsätze entsprechen bei Weitem nicht den Erwartungen. Natürlich bekommen Sie sowie Ihre Kolleginnen das alles auch noch schriftlich mitgeteilt. Ich wollte Ihnen das nur persönlich mitteilen, weil wir all die Jahre ein gutes Verhältnis hatten. Ich bin einfach untröstlich, dass ich nichts dagegen tun konnte.«
So zerknirscht wie er das sagte, war Maria nahe dran, ihm sogar zu glauben – trotzdem, was nützte es ihr und den anderen? Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf. Sie dachte an ihren alten Vater, an Tina, an das Haus mit seinen hohen Unterhaltungskosten, und ihr wurde schwindelig. Für einen Moment musste sie die Augen schließen und tief durchatmen.
Katharina schaute von Maria zu Hans Meier und wieder zu Maria. Hatte sie richtig gehört?
Lena hatte eine Niesattacke. Ausgerechnet jetzt, da sie dabei war, sich die Wimpern zu tuschen. Es schmerzte in ihrem Hals, es brannte in den Lungen, ihre Augen juckten, und ihre Nase drohte, jeden Moment zu platzen. Und alles nur wegen ein paar Graspollen, die ihr ein kalter Windstoß beschert hatte! Jetzt wohnte sie schon ganz oben, im einzigen hohen (genau gesagt vierstöckigen) Haus des Dorfes, einer Bausünde aus den Siebzigern, und noch immer gelangten die Pollen zu ihr. Der Bauer hatte die Wiese vor ihrem Haus letzte Woche gerade noch rechtzeitig gemäht, bevor die Schlechtwetterfront über Niederbayern hereingebrochen war. Wären die Temperaturen jetzt sommerlicher, würde es ihr noch viel schlechter gehen, und sie müsste wieder diese Antihistamine nehmen, die sie so müde machten, dass sie nicht einmal mehr Lust hatte auszugehen.
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