Eine Geschichte Russlands - Orlando Figes - E-Book
SONDERANGEBOT

Eine Geschichte Russlands E-Book

Orlando Figes

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

SPIEGEL-Bestseller Die große, fesselnde Geschichte Russlands für unsere Zeit Mitreißend, prägnant und menschlich berührend erzählt Orlando Figes die Geschichte Russlands. Dabei entfaltet er das große Panorama der russischen Seele: von unsterblichen Mythen über die großartigen kulturellen Leistungen bis zur Weltmachtpolitik des 20. Jahrhunderts und unserer Gegenwart. Eine unerlässliche Lektüre für alle, die dieses uns noch immer fremde und rätselhafte größte Land der Erde verstehen wollen. In einer packenden Reise durch die Zeit erzählt Orlando Figes, wie die Russen sich selbst erlebten und wie sie sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neu erfanden: Er ergründet ihre Anfänge als Jäger und Sammler und schildert das Leben der Bauern Russlands im ersten nachchristlichen Jahrtausend. Souverän lässt er die Jahrhunderte der Monarchie und deren Ende Revue passieren – das Zarenreich, den Totalitarismus nach der Oktoberrevolution 1917 und die Perestroika Gorbatschows bis hin zu Wladimir Putins Krieg. Feinsinnig deutet der Autor die Mythen, Ereignisse und Ideologien der langen russischen Geschichte, die das Denken und Handeln des größten Landes der Erde geleitet und der Stützung von Regimen bis heute gedient haben: die Notwendigkeit einer Autokratie, um den riesigen russischen Raum zu beherrschen; die Verehrung des »Heiligen Zaren«; der Glaube an einen russischen kollektivistischen Geist; und das Schwanken zwischen Russlands europäischem und eurasischem Charakter. Eine brillant geschriebene Gesamtdarstellung: Meisterhaft versteht es Figes, die zentralen Aspekte und Facetten der russischen Geschichte so herauszuarbeiten, dass sich ihre ganze innere und äußere Dramatik offenbart – von den Anfängen bis zum Krieg in die Ukraine. »Orlando Figes ist ein herausragender Historiker und Schriftsteller, der die ferne Geschichte so nahebringt, dass man ihren Herzschlag spüren kann.« Karl Ove Knausgaard »Erstaunlich ... Orlando Figes ist ein ausgezeichneter Historiker, der wissenschaftliche Details mit glänzender Lesbarkeit verbindet.« Daily Mail »Orlando Figes ist ein ebenso souveräner wie subtiler Autor mit einem scharfen Blick für Details.« The Times »Dieses hochaktuelle Buch ist eine unerlässliche Lektüre für alle, die das heutige Russland und seine Kriege mit der Ukraine, seinen Nachbarn, Amerika und dem Westen verstehen wollen.« Anne Applebaum, Autorin von Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine  »Eine beeindruckende Gesamtdarstellung, die uns das heutige Russland erschließt.« The Guardian  »Eine erhellende Reise in die Geschichte Russlands. Eindrucksvoll und mit großem Können erzählt Orlando Figes das Werden des russischen Selbstverständnisses und wie die Geschichtsmythen der Vergangenheit das autokratische Russland bis heute prägen.« The Observer  »Ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung und ein bedeutender Beitrag zu einem tieferen Verständnis der gegenwärtigen Krise.« Adam Tooze, Autor von Ökonomie der Zerstörung  »Wer Putins Russland, seine Geschichte und Mythen verstehen will, muss Figes' ausgezeichnete Darstellung lesen.« Anthony Beevor, Autor von Stalingrad  »Ein großartiges Buch, die maßgebliche Darstellung der 1000-jährigen Geschichte Russlands – von einem der Meister der Geschichtsschreibung.« Simon Sebag Montefiore, Autor von Am Hof des Roten Zaren  »Ein einzigartiges und bedeutendes Buch. Orlando Figes' ausgezeichnete Prosa bringt uns die Geschichte und Kultur Russlands so nahe, dass wir ihren Herzschlag spüren. Seine brillante Darstellung ermöglicht uns ein tieferes Verständnis sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit.« Philippe Sands, Autor von Rückkehr nach Lemberg

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 645

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Orlando Figes

Eine Geschichte Russlands

Aus dem Englischen übersetztvon Norbert Juraschitz

Klett Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:»The Story of Russia« bei Bloomsbury Publishing, London

© Orlando Figes, 2022

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: © Rothfos & Gabler, Übernahme des Originalcovers von Bloomsbury Publishing, London

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98455-2

E-Book ISBN 978-3-608-11972-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Eins

Ursprünge

Zwei

Der Einfluss der Mongolen

Drei

Zar und Gott

Vier

Zeit der Wirren

Fünf

Russland blickt nach Westen

Sechs

Napoleons Schatten

Sieben

Ein Reich in der Krise

Acht

Das revolutionäre Russland

Neun

Der Krieg gegen das alte Russland

Zehn

Vaterland

Elf

Ende

Tafelteil

Anhang

Dank

Anmerkungen

Einleitung

Kapitel 1: Ursprünge

Kapitel 2: Der Einfluss der Mongolen

Kapitel 3: Zar und Gott

Kapitel 4: Zeit der Wirren

Kapitel 5: Russland blickt nach Westen

Kapitel 6: Napoleons Schatten

Kapitel 7: Ein Reich in der Krise

Kapitel 8: Das revolutionäre Russland

Kapitel 9: Der Krieg gegen das alte Russland

Kapitel 10: Vaterland

Kapitel 11: Ende

Register

Für Stephanie.Wiederum. Immer.

Einleitung

An einem kalten, grauen Novembermorgen im Jahr 2016 versammelte sich eine kleine Menschenmenge auf einem vom Schnee frei geräumten Platz vor dem Moskauer Kreml. Sie waren gekommen, um der Enthüllung eines Denkmals für den Großfürsten Wladimir(1) beizuwohnen, Herrscher der Kiewer Rus(1), »der erste russische Staat«, von 980 bis 1015. Die wichtigsten religiösen Oberhäupter Russlands – der Patriarch von Moskau(1) und der ganzen Rus, der katholische Erzbischof von Moskau, der Großmufti, der Oberrabbiner und das Oberhaupt der buddhistischen Sangha – waren allesamt in ihren farbenprächtigen Roben anwesend. Der Legende nach wurde Wladimir auf der Halbinsel Krim(1) getauft, damals Teil des Byzantinischen Reichs(1), und leitete damit die Bekehrung seines Volkes zur östlichen Orthodoxen Kirche(1) ein.

Die Bronzestatue, mit einem Kreuz in der einen und einem Schwert in der anderen Hand, ragte gut zwanzig Meter hoch auf. Es war das letzte einer langen Reihe gigantischer Denkmäler für Wladimir, die allesamt seit dem Sturz des Kommunismus(1) im gleichen kitschigen »russischen« Nationalstil aus dem 19. Jahrhundert gestaltet wurden. Andere russische Städte – Belgorod(1), Wladimir(1), Astrachan(1), Bataisk(1) und Smolensk(1) – hatten mit staatlichen Mitteln und öffentlichen Spenden bereits Denkmäler für den Großfürsten aufgestellt. Die Moskauer Statue wurde vom Kultusministerium, einer Gesellschaft für Militärgeschichte und einem Motorradclub finanziert.[1]

Ein anderer Wladimir, Präsident Putin(1), hielt die Eröffnungsansprache. Sogar beim Sprechen schaffte er es, gelangweilt zu wirken. Allem Anschein nach wollte er die Zeremonie so schnell wie möglich hinter sich bringen – womöglich hatte sie aus diesem Grund früher als geplant begonnen –, als der russische Filmregisseur Fjodor Bondartschuk(1), der lautstark die kürzlich erfolgte russische Annexion der ukrainischen(1) Krim begrüßt hatte, Wladimir Wladimirowitsch ans Mikrofon bat. Mit eintöniger Stimme las Putin von seinem Blatt ab und wies auf den Symbolcharakter des Datums der Enthüllung hin, den 4. November: Russlands Tag der nationalen Einheit. Der Großfürst habe, verkündete er, »die Ländereien Russlands gesammelt und verteidigt, indem er einen starken, vereinten und zentralisierten Staat gründete und auf diese Weise unterschiedliche Völker, Sprachen, Kulturen und Religionen in eine riesige Familie aufnahm«. Laut Putin gehörten die drei heutigen Länder, die ihre Ursprünge auf die Kiewer Rus(2) zurückführen können – Russland, Belarus(1) und die Ukraine(2) –, dieser Familie an. Sie waren demnach ein einziges Volk oder eine Nation, mit den gleichen christlichen Grundsätzen, der gleichen Kultur und Sprache. Diese Aussage wurde von Patriarch Kyrill(1), der als Nächster sprach, wiederholt. Wenn Großfürst Wladimir(2) beschlossen hätte, ein Heide zu bleiben oder nur selbst konvertiert wäre, dann »gäbe es kein Russland, kein großrussisches Reich, kein heutiges Russland«.

Natalja Solschenizyn(1), die Witwe des Schriftstellers(1), hielt die dritte und letzte Rede, eine kurze Ansprache in einer anderen Tonlage. Die traumatische Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert habe, sagte sie, das Land gespalten, und »von allen unseren Meinungsverschiedenheiten ist keine stärker entzweiend als unsere Vergangenheit«. Sie schloss mit einem Aufruf, »unsere Geschichte zu achten«, was keineswegs lediglich hieß, stolz auf sie zu sein, sondern »aufrichtig und mutig das Böse zu verurteilen, es nicht zu rechtfertigen oder unter den Teppich zu kehren, um es zu verheimlichen«.[2] Putin(2) wirkte gequält.

Die Ukrainer(3) waren empört. Sie haben eine eigene Statue des Großfürsten Wolodymyr(3), wie sie ihn nennen. Sie wurde im Jahr 1853 aufgestellt, hoch über dem rechten Ufer des Dnjepr(1) mit Blick auf Kiew(1), die ukrainische(4) Hauptstadt. Nur wenige Minuten nach dem Ende der Zeremonie in Moskau(2) postete der offizielle Twitter-Account der ukrainischen(5) Regierung ein Bild der Kiewer Statue mit folgendem Tweet auf Englisch: »Don’t forget what [the] real Prince Volodymyr monument looks like.« Also eine Erinnerung an das »echte« Monument für Fürst Wolodymyr. Der ukrainische(6) Präsident Petro Poroschenko(1), der im Zuge der Maidan-Revolution(1) 2014 gewählt worden war, warf dem Kreml vor, sich die Geschichte der Ukraine anzueignen und verglich dessen »imperiales« Verhalten mit der russischen Annexion der Krim, eines Teils der souveränen Ukraine, kurz vor seiner Wahl.[3]

Kiew(2) und Moskau(3) stritten sich bereits seit mehreren Jahren um die Figur Wolodymyrs/Wladimirs(4). Das Denkmal in Moskau sollte ursprünglich einen Meter höher als das in Kiew sein. Während Putin(3) und sein nationalistisches Regime Wladimir als den Gründer des modernen russischen Staates in Beschlag nahmen, erklärten die Ukrainer(7) Wolodymyr zu ihrem eigenen Gründer, dem »Schöpfer des mittelalterlichen europäischen Staates Rus-Ukraine«, wie Poroschenko(2) den Großfürsten in einem Erlass von 2015 zur Tausendjahrfeier von dessen Tod genannt hatte (die Tatsache, dass der Begriff »Ukraine« in schriftlichen Quellen erst Ende des 12. Jahrhunderts auftauchte – und selbst dann nur im Sinne von okraina, einem alten russischen Wort für »Peripherie« oder »Grenzland« –, wurde kurzerhand übergangen). Wenige Monate später fügte Poroschenko hinzu, Wolodymyrs Entscheidung, die Kiewer Rus(3) taufen zu lassen, sei »nicht nur eine kulturelle oder politische Entscheidung, sondern eine europäische Entscheidung« gewesen, durch die Kiew in die Sphäre der christlichen Zivilisation von Byzanz(2) eingetreten sei.[4] Die Botschaft war klar: Die Ukraine wollte Teil Europas sein, keine russische Kolonie.

Beide Seiten beriefen sich auf die Geschichte der Kiewer Rus(4) – ihre gemeinsame Geschichte –, um Narrative der nationalen Identität, die sie für ihre eigenen nationalistischen Zwecke nutzen konnten, neu zu illustrieren. Historisch gesehen hat es selbstverständlich wenig Sinn, im 10. Jahrhundert (oder genaugenommen zu einem beliebigen Zeitpunkt im Mittelalter) von einem »Russland« oder einer »Ukraine(8)« als Nation oder Staat zu sprechen. Somit handelt es sich bei dem Streit um Wolodymyr/Wladimir(5) nicht um einen echten historischen Streit, sondern um zwei miteinander unvereinbare Gründungsmythen(1).

Die Version des Kreml – dass die Russen, die Ukrainer(9) und die Weißrussen(2) alle ursprünglich eine Nation gewesen seien – wurde heraufbeschworen, um den eigenen Anspruch auf eine »natürliche« Interessensphäre (gleichbedeutend mit einem Recht auf Einmischung) in der Ukraine und in Weißrussland zu untermauern. Wie viele Russen seiner Generation, die die sowjetische Sichtweise der Geschichte eingetrichtert bekamen, erkannte Putin(4) die Unabhängigkeit der Ukraine nie wirklich an. Noch im Jahr 2008 sagte er dem US-Präsidenten(1), die Ukraine sei »kein richtiges Land«, sondern ein historischer Teil Großrusslands, eine Grenzregion, die das Moskauer Kernland vor dem Westen schütze. Nach dieser imperialen Logik hatte Russland das Recht, sich gegen westliche Vorstöße in die Ukraine zu wehren. Russlands Annexion der Krim, der Beginn eines langen Krieges gegen die Ukraine, leitete sich von dieser zweifelhaften Deutung der Landesgeschichte ab. Die Invasion war Russlands Antwort auf den »Putsch« in Kiew(3), wie der Kreml die Maidan-Revolution(2) nannte, der als Volksaufstand gegen die prorussische Regierung Viktor Janukowitschs begonnen hatte. Denn Janukowitsch(1) hatte die Verhandlungen mit der Europäischen Union(1) um ein Assoziierungsabkommen auf Eis gelegt. Unterdessen benutzte Poroschenko(3) seinerseits den Mythos(2) einer »europäischen Entscheidung« der Ukraine, um den Volksaufstand zu legitimieren, der ihn an die Macht gebracht hatte, sowie die spätere Unterzeichnung des Abkommens mit der EU. Das Volk der Ukraine hatte mit dem »Euromaidan« seine »europäische Entscheidung« getroffen.

»Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit«, schreibt George Orwell(1) in 1984.[5] Diese Maxime trifft auf Russland stärker als auf jedes andere Land der Welt zu. Zur Sowjetzeit, als der Kommunismus(2) das sichere Schicksal war und die Geschichte entsprechend angepasst wurde, um dieses Ziel widerzuspiegeln, kursierte ein Witz, der womöglich auf Orwell anspielte: »Russland ist ein Land mit einer klaren Zukunft; nur die Vergangenheit ist unberechenbar.«

Kein anderes Land hat seine eigene Geschichte so häufig neu erfunden; keines hat eine Geschichte, die so sehr der Wechselhaftigkeit der geltenden Ideologien unterworfen war. Geschichte ist in Russland politisch. Lehren aus der Geschichte des Landes zu ziehen, ist stets die wirksamste Methode gewesen, um einen Streit um die künftige Richtung und politische Maßnahmen zu gewinnen. Alle großen Debatten um den Charakter und das Schicksal des Landes waren von Fragen nach der Geschichte geprägt. Der Streit zwischen den Westlern und den Slawophilen, der das russische Geistesleben im 19. Jahrhundert dominierte, war letztlich ein Streit um die Geschichte. Für diejenigen, die im Westen nach Inspiration suchten, hatten die von Peter dem Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts eingeführten, verwestlichenden Reformen Russland gestärkt; doch laut den Slawophilen waren die ursprüngliche Kultur und die Traditionen Russlands, sein nationaler Zusammenhalt dadurch untergraben worden, dass Peter den Russen fremdartige, westliche Methoden aufgezwungen hatte.

Heute spielt die Geschichte bei solchen Debatten eine wichtigere Rolle als je zuvor. In Putins(5) System, wo es keine Spaltung in linke und rechte Parteien gibt, geschweige denn widerstreitende Ideologien, um die Debatte zu prägen, und nicht einmal allgemein anerkannte Bedeutungen für Schlüsselbegriffe wie »Demokratie« oder »Freiheit«, wird der Diskurs der Politik durch Vorstellungen von der Vergangenheit des Landes definiert. Sobald das Regime einer Episode aus der russischen Geschichte eine Bedeutung verleiht, ist dieses Thema automatisch politisiert. Das ist nichts Neues. Sowjetische Historiker waren damals sogar noch stärker Geiseln des Wechsels der Parteilinie, vor allem unter Stalin(1), als die Geschichte manipuliert, fingiert und gefälscht wurde, um dessen eigene Bedeutung zu steigern und die Rivalen in Verruf zu bringen. Manche wurden gezwungen, ihre Forschung zu »korrigieren«, während andere mit ansehen mussten, dass ihre Schriften aus den Bibliotheken entfernt wurden, oder nie wieder publizieren durften.

Sogar schon vor 1917 wurde die Geschichtsforschung sorgfältig zensiert. Es ging dabei nicht nur darum, die Veröffentlichung von Ideen und Fakten zu verhindern, die politisch gefährlich sein konnten (alles, was die Autokratie in einem ungünstigen Licht erscheinen ließ), sondern auch darum zu gewährleisten, dass die offizielle Version der Landesgeschichte nicht in einer Weise unterminiert wurde, welche die derzeitige Politik hinterfragen würde. Ukrainische Historiker wurden wegen ihrer mutmaßlichen Sympathie für europäische Grundsätze besonders aufmerksam beobachtet. Es war ihnen weder erlaubt, auf Ukrainisch zu publizieren, noch nationale Gefühle für die Ukraine(10) zu fördern oder gar einen Groll gegen Russland zu schüren.[6]

Jenseits solcher dominierenden Narrative ist die Geschichtsschreibung in Russland seit ihren Anfängen in den mittelalterlichen Chroniken eng mit mythischen Vorstellungen verflochten gewesen: den Mythen(3) des »Heiligen Russland«(1), des »heiligen Zaren(1)«, der »russischen Seele«, Moskaus als »drittem Rom« und dergleichen mehr. Diese Mythen wurden grundlegend für das russische Verständnis der eigenen Geschichte und des nationalen Charakters. Sie haben auch häufig die westliche Politik und Haltung gegenüber Russland geleitet – und fehlgeleitet. Um das heutige Russland zu verstehen, müssen wir diese Mythen von ihrer Hülle befreien, ihre historische Entstehung erklären, und ausloten, inwiefern sie die Handlungen und Identität des Landes beeinflussten.

Michael Cherniavsky(1), der große Kulturhistoriker russischer Mythen, lieferte eine überzeugende Erklärung für deren außerordentliche Macht und Zählebigkeit über viele Jahrhunderte hinweg:

Viele haben bereits beobachtet, dass Mythen(4), statt sich der Realität anzunähern, tendenziell in einem direkten Widerspruch zu ihr stehen. Und die russische Realität war gewiss so »unheilig«, dass sie die wohl »heiligsten« Mythen(2) von allen hervorbrachte. Je größer die Macht der Regierung, desto extremer war der erforderliche Mythos, um sie zu rechtfertigen und die Unterwerfung unter sie zu entschuldigen; je größer das Elend des russischen Volkes, desto extremer fiel der eschatologische Sprung aus, den der Mythos zu bieten hatte, um das Elend zu rechtfertigen und zu transzendieren.[7]

Viele Schriftsteller haben das Bedürfnis des russischen Volkes nach transzendentalen Mythen(5) beobachtet, die ein besseres Russland versprachen. In Dostojewskis(1) Romanen, wo Leid und Rettung so häufig thematisiert werden, taucht es als das Wesen des russischen Charakters auf. Mit der Beständigkeit dieser Mythen lässt sich vieles in der Geschichte Russlands erklären: die anhaltende Kraft des orthodoxen Glaubens; die Sehnsucht der Menschen nach einem (2)heiligen Zaren(1), der Verkörperung ihrer Ideale, der sie vom Unrecht befreit; ihre Träume, den Himmel auf Erden, eine revolutionäre Utopie aufbauen zu können, selbst wenn sich dieser Traum als der Albtraum des stalinistischen(1) Regimes entpuppte.

All das soll erklären, warum dieses Buch Eine Geschichte Russlands heißt. Es handelt ebenso von den Ideen, Mythen(6) und Ideologien, die die Geschichte des Landes prägten, von den Methoden der Russen, ihre Vergangenheit zu deuten, wie es von den Ereignissen, Institutionen, sozialen Gruppen, Künstlern, Denkern und Führern handelt, die diese Geschichte gestaltet haben.

Das Buch beginnt im ersten Jahrtausend, als die russischen Ländereien von slawischen Stämmen besiedelt wurden, und endet mit Putin(6) im dritten Jahrtausend, wobei es die Mythen der russischen Geschichte untersucht, mit deren Hilfe er sein autoritäres Regime stärkt. Die zugrundeliegende These lässt sich vereinfacht so ausdrücken: Russland ist ein Land, das von Ideen, die in der fernen Vergangenheit verwurzelt sind, zusammengehalten wird, und von Geschichten, die ständig umgeschrieben und umfunktioniert wurden, um den aktuellen Bedürfnissen zu entsprechen und die eigene Zukunft neu vorzustellen. Wie die Russen dazu kamen, ihre Geschichte zu erzählen – und sie dabei neu zu erfinden –, ist ein wesentlicher Aspekt ihrer Geschichte. Das ist zugleich das Fundament, das dieser Darstellung zugrunde liegt.

Der Kult um Großfürst Wladimir(6), den »Aposteln gleich«, wie er genannt wurde, ist eine Illustration dieser Neuerfindung der Vergangenheit. Man weiß so gut wie nichts über ihn. Es gibt keine zeitgenössischen Dokumente, nur später geschriebene Chroniken von Mönchen, hagiographische Legenden seiner Bekehrung, die als heiliger Mythos(7) dienten, um seine Nachfahren, die Herrscher der Kiewer Rus(5), zu legitimieren. Doch erst viel später, seit dem 16. Jahrhundert, bekam der Kult um seine Person eine größere Bedeutung, als Iwan IV.(1) (»der Schreckliche«) ihn als Basis seines eigenen Etikettenschwindels propagierte, dass er als Zar(2) Moskaus der einzige legitime Nachfolger der Kiewer Herrscher und der Kaiser von Byzanz(3) sei. Der Mythos wurde als Teil des russischen Kampfes gegen (1)(1)Polen-Litauen(1) eingesetzt, das Landstriche besaß, die einst zur Kiewer Rus(6) gehört hatten. Seit Iwans(2) Herrschaft wurde Wladimir(7) als »der erste russische Zar(3)« angepriesen, der heilige »Sammler des russischen Landes«, nach einem legendären Narrativ, dessen Zweck es war, die Wurzeln des wachsenden Moskauer Reiches bis zur Kiewer Rus(7) und gar zu Byzanz(4) als dessen heiligem Fundament zurückzuverfolgen.[8]

Dieser Gründungsmythos(8) war für die Romanows(1) von elementarer Bedeutung. Immerhin hatten sie keine Abstammung von den Kiewer Fürsten vorzuweisen, auf die sie ihre zerbrechliche Dynastie hätten stützen können, die 1613 nach den Jahren der Wirren etabliert wurde. Um symbolisch ein Kiewer Vermächtnis zu schaffen und Moskaus Anspruch auf die Herrschaft in der Ukraine(11) zu stärken, ließ Michail(1), der Stammvater der Dynastie, die Überreste Fürst Wladimirs(8) (bis auf den Schädel) von Kiew(4) nach Moskau(4) schaffen, wo sie bis 1917 in der (1)Mariä-Entschlafens(1)-Kathedrale (Uspenski Sobor) des Kreml blieben. Als das russische Reich wuchs und sich im 18. Jahrhundert den größten Teil der Ukraine einverleibte, wurde der Kult um Wladimir zum Brennpunkt seines Rechtfertigungsmythos. Das Leben des Fürsten wurde als Symbol für die heiligen Ursprünge des Reichs und die vereinigte »Familie« oder »Nation« der Russen verehrt: die Großrussen, die Kleinrussen (Ukrainer) und die Weißrussen(3), wie sie in diesem imperialen Diskurs genannt wurden. Das war die beabsichtigte russische Bedeutung des Kiewer Monuments für Wladimir(9), als es im Jahr 1853 enthüllt wurde, auch wenn sie am Ende des 19. Jahrhunderts von ukrainischen(12) Nationalisten bereits angefochten wurde, die, wie Poroschenko(4), die Statue als ihr Eigentum beanspruchten: als Symbol ihrer europäischen Identität.[9]

Neben den Mythen(9), die Russlands Vergangenheit prägten, gibt es eine Reihe wiederkehrender Motive in der Geschichte Russlands. Diese Motive spiegeln die strukturellen Kontinuitäten der russischen Geschichte wider – geografische Faktoren, Glaubenssysteme, Herrschaftsformen, politische Ideen und gesellschaftliche Bräuche – , die für ein sachkundiges Verständnis des heutigen Russland immer noch so wichtig sind. Die zeitgenössische russische Politik wird allzu häufig ohne Kenntnis der Vergangenheit des Landes analysiert. Um zu begreifen, was Putin(7) wirklich für Russland und die allgemeine Welt bedeutet, müssen wir verstehen, in welchem Verhältnis seine Herrschaft zu den langfristigen Mustern der russischen Geschichte steht und was es für Russen heißt, wenn er an jene »traditionellen Wertvorstellungen« appelliert.

Diese tiefen strukturellen Kontinuitäten werden in meiner Darstellung deutlich werden, doch es ist lohnenswert, sich eine oder zwei gleich zu Beginn zu vergegenwärtigen: Die erste ist am offensichtlichsten: Russlands riesige Größe und Geografie. Warum wurde Russland überhaupt so groß? Wie gelang es ihm, sich so weit über ganz Eurasien auszudehnen und sich so viele verschiedene Nationalitäten einzuverleiben (die erste sowjetische Volkszählung 1926 erkannte 194 an)? Wie wirkte sich die Größe Russlands auf die Entstehung des russischen Staates aus? Zarin Katharina die Große behauptete im 18. Jahrhundert, dass ein so großes Land von einer Autokratie regiert werden müsse: »Lediglich die Schnelligkeit der Entscheidung in Angelegenheiten, die aus fernen Regionen vorgebracht wurden, vermag die Langsamkeit wettzumachen, die durch diese großen Entfernungen verursacht wurde. Jede andere Regierungsform wäre nicht nur schädlich, sondern absolut verheerend für Russland.«[10] Aber war das wirklich zwangsläufig so? Gab es keine anderen Formen der repräsentativen oder lokalen Verwaltung, die an die Stelle eines autokratischen Staates hätten treten können?

Russland entwickelte sich auf einem flachen und offenen Territorium ohne natürliche Grenzen. Seine Lage machte es für Invasionen anfällig, aber auch offen für den Einfluss der umliegenden Mächte – Chasaren(1), Mongolen(1), Byzantiner(5), Europäer und Osmanen(1) –, deren Beziehungen zu Moskau(5) vom Handel definiert wurden. Als der russische Staat stärker wurde – ein Prozess, den wir ab dem 16. Jahrhundert datieren können –, lag das Hauptaugenmerk auf der Verteidigung der eigenen Grenzen. Diese Priorität brachte bestimmte Muster der Entwicklung mit sich, die die Landesgeschichte prägten.

Sie erforderte die Unterordnung der Gesellschaft unter den Staat und unter dessen militärische Anforderungen. Soziale Klassen wurden geschaffen und gesetzlich so definiert, dass sie dem Staat als Steuerzahler und Militärbedienstete(1) von Nutzen waren. Das bedeutete ferner eine Politik der territorialen Ausdehnung, um Russlands Grenzen zu sichern. Von dem Aufstieg Moskowiens(1), oder Moskaus(6), dem Gründungskern des russischen Staates, bis zu Putins(8) Kriegen in der Ukraine(13) zeigt die Geschichte, dass Russland dazu neigt, die eigene Sicherheit zu stärken, indem es seine Nachbarländer schwach lässt und Kriege jenseits der eigenen Grenzen führt, um feindliche Mächte auf Abstand zu halten. Heißt das, Russland sei seinem Wesen nach expansionistisch, wie so viele Kritiker in der heutigen Zeit behaupten? Oder sollte seine Tendenz, nach außen zu drängen und die Räume ringsum zu kolonisieren, eher als Defensivreaktion betrachtet werden, weil man es für notwendig hielt, zum Schutz in der offenen Steppe(1) Pufferstaaten zu besitzen?

Das Wesen der Staatsmacht ist das zweite Thema, das schon hier angesprochen werden sollte. Katharina die Große hatte die Angewohnheit, Russland mit den absolutistischen Staaten Europas zu vergleichen. Aber der russische Staat war nicht wie diese. Er hatte sich zu einer erblichen oder persönlichen Autokratie entwickelt, in der der Staat (gossudarstwo) durch die Person des Zaren(4)(gossudar) als souveränem Herrscher oder Besitzer der russischen Ländereien verkörpert wurde. Im mittelalterlichen Europa gestattete die Rechtsauffassung der »zwei Körper des Königs« – die Trennung seiner sterblichen Person vom heiligen Amt der Monarchie – die Entwicklung einer abstrakten und unpersönlichen Auffassung des Staates.[11] Doch dazu kam es in Russland nicht. Seit der Herrschaft Iwans IV.(3) wurden Zar(5) und Staat als Einheit angesehen: vereint im Körper eines einzigen Wesens, das als Mensch und Herrscher ein Werkzeug Gottes war.

Die Sakralisierung der Autorität des Zaren(6), ein Vermächtnis von Byzanz(6), war gleichzeitig Stärke und Schwäche des russischen Staatswesens. Der Mythos(10) des Zaren(7) als heiliger Akteur war auf der einen Seite unerlässlich für den Kult des (3)heiligen Zaren(8), der die Monarchie bis ins 20. Jahrhundert hinein stützte, als dieser Mythos durch die repressiven Maßnahmen von Nikolaus II.(1) gegen Volksaufstände zerstört wurde. Auf der anderen Seite konnte derselbe Mythos von Rebellen genutzt werden, um die Macht des Zaren(9) zu unterwandern, wie etwa bei Kosakenaufständen(1) im 17. und 18. Jahrhundert. In der Vorstellung des Volkes war der heilige Zar(4) derjenige, der dem Volk Wahrheit und soziale Gerechtigkeit (prawda(1)) schenkte. Aber wenn er Unrecht brachte, dann konnte er nicht der »echte Zar(10)« sein – womöglich war er der vom Satan geschickte Antichrist, um das Werk Gottes im »russischen heiligen Land«(3) zu zerstören, und als solchem musste man ihm Widerstand leisten. Indem sie beanspruchten, dass sie dafür kämpften, den echten Zaren(11) wieder auf den Thron zu setzen, gelang es den Anführern der Kosaken(2), eine große Gefolgschaft um sich zu scharen, die den Staat erschütterte.

Vergleichbare Vorstellungen von Wahrheit und Gerechtigkeit sollten auch die russische Revolution von 1917 tragen. Der Mythos(11) des heiligen Zaren(5) wich dem Führerkult Lenins(1) und Stalins(2), deren Statuen auf jedem Platz auftauchten. Putins(9) Regime geht auf diesen monarchischen Archetyp der Herrschaft zurück und gibt sich den Anschein von Stabilität, die auf »russischen Traditionen« basiert.

Der Putin(10)-Kult ist nicht in Stein gemeißelt. Es gibt keine Statuen von ihm auf öffentlichen Plätzen. Aber einige Augenzeugen munkelten bei der Enthüllung des Moskauer Monuments von Fürst Wladimir(10), dass eine Statue seines Namensvetters, des russischen Präsidenten, in Kürze an der Kremlmauer auftauchen werde.

Eins

Ursprünge

Jedes Land hat eine Geschichte seines Ursprungs. Manche berufen sich auf göttliche oder altertümliche Mythologien, Geschichten, die sie mit heiligen Schöpfungsakten oder uralten Zivilisationen in Verbindung bringen, doch die meisten, zumindest in Europa, haben im Allgemeinen Gründungsmythen(12), die im 18. oder frühen 19. Jahrhundert erfunden wurden. Das war eine Zeit, in der nationale Historiker, Philologen und Archäologen danach trachteten, ihre Nationen bis zu einer urzeitlichen Ethnie – möglichst homogen, unveränderlich, mit der ganzen Saat des modernen Nationalcharakters – zurückzuverfolgen. Deren Spuren waren ihrer Meinung nach in den verschiedensten Überresten enthalten, die sie von den ersten Völkern auf ihren Territorien zu finden vermochten. Die Kelten, die Franken, die Gallier, die Goten, die Hunnen und die Serben(1) – sie alle haben als Urvölker moderner Staaten gedient, obwohl sie in Wirklichkeit komplexe soziale Gruppen waren, die sich im Laufe der Jahrhunderte großer Wanderungen über den ganzen europäischen Kontinent herausgebildet hatten.[1]

Die Ursprünge Russlands sind dafür ein Musterbeispiel. Kein anderes Land ist bezüglich der eigenen Anfänge so gespalten. Keines hat seine Geschichte so häufig abgeändert. Das Thema ist untrennbar mit dem Mythos(13) verbunden. Der einzige schriftliche Bericht, der uns vorliegt, die Powest wremennych let (Erzählung längst vergangener Jahre), auch als die Nestorchronik(1) bekannt, wurde von dem Mönch Nestor(1) und anderen Mönchen in Kiew(5) zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfasst. Sie berichtet, wie im Jahr 862 die kriegerischen slawischen Stämme Nordwest-Russlands vereinbarten, die Rus(1), einen Stamm der Wikinger(1), einzuladen, über sie zu herrschen: »Unser Land ist groß und hat Überfluss, aber es ist keine Ordnung in ihm. So kommt, Fürsten zu sein und über uns zu herrschen!«[2] Drei Brüder, die Rus, kamen in Langbooten mit ihren Sippen. Sie wurden von den Slawen(1) akzeptiert. Zwei der Brüder kamen um, doch der dritte, Rjurik(1), herrschte weiter über Nowgorod(1), die wichtigste der nördlichen Handelsstädte, bis zu seinem Tod im Jahr 879. Sein Sohn Oleg(1) folgte ihm nach. Drei Jahre später eroberte Oleg, nach dieser Darstellung, Kiew; und die Kiewer Rus(8), der erste »russische« Staat wurde gegründet.

Die Nestorchronik(2) liest sich eher wie ein Märchen, nicht wie ein Werk der Geschichtsschreibung. Es handelt sich um einen charakteristischen Gründungsmythos(14) – eigens verfasst, um die politische Legitimität der Rjurikiden(1), der Kiewer Herrscherdynastie, als Gottes auserwählte Akteure für die Christianisierung des Landes zu etablieren. Ein großer Teil davon ist fiktiv – Geschichten, die aus mündlich überlieferten Heldenliedern und erzählerischen Versepen (auf Russisch byliny genannt), nordischen Sagen, slawischer Folklore, alten byzantinischen(7) Annalen und religiösen Texten zusammengestückelt wurden. Nichts davon kann als historische Tatsache gelten. Wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Rjurik(2) überhaupt existierte. Es könnte sich um Rörik(1) handeln, den Neffen, Sohn oder möglicherweise Bruder des dänischen Monarchen Harald Klak(1), der um diese Zeit lebte. Doch es gibt keinerlei Hinweise, die ihn mit Kiew(6) in Verbindung bringen, folglich könnte der Gründer der Dynastie ein anderer Wikingerkrieger(2) gewesen sein oder eine allegorische Figur.[3] Den Kiewer Mönchen ging es weniger um die Wahrhaftigkeit ihrer Chronik als um religiöse Symbolik und Bedeutung. Die Zeitspanne der Chronik ist biblisch. Sie zeichnet die Geschichte der Rus(2) seit Noah(1) im Buch Genesis nach und behauptet, sie seien Nachkommen von dessen Sohn Japheth(1) gewesen; demnach wäre die Kiewer Rus(9) als Teil des göttlichen Plans geschaffen worden.[4]

Die Nestorchronik(3) stand im Mittelpunkt einer Debatte um die Ursprünge Russlands, die bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückreicht, als die Geschichtsschreibung in Russland noch in den Anfängen steckte. Die neue akademische Disziplin wurde von Deutschen(1) dominiert. Zu ihnen zählte Gerhard Friedrich Müller(1) (1705–​1783), der im Alter von zwanzig Jahren in die Fakultät der neu gegründeten Petersburger Akademie der Wissenschaften eintrat. Müller war der Begründer der ersten Reihe von Dokumenten und Artikeln zur russischen Geschichte, der Sammlung russischer Geschichte (1732–​1765), die auf Deutsch veröffentlicht wurde, um eine europäische Leserschaft, die so gut wie nichts über Russland und dessen Geschichte wusste, zu informieren. Im Jahr 1749 erreichte Müllers Karriere ihren Höhepunkt, als er den Auftrag bekam, der Zarin Elisabeth(1) zu ihrem Namenstag einen Vortrag zu halten. Seine Lesung hatte den übersetzten Titel »Herkunft des Volkes und des Namens der Russen«.

Darin fasste Müller(2) die Erkenntnisse anderer deutscher Gelehrter zusammen, die nach ihrer Interpretation der Nestorchronik(4) zu dem Schluss gelangt waren, dass Russland seinen Ursprung den Wikingern(3) oder Warägern(3) verdanke. Die Rus, so Müller, seien Skandinavier gewesen, deren Stammesname von Ruotsi abgeleitet sei, einem Begriff, den die Finnen(1) benutzten, um die Schweden(1) aus Roslagen zu bezeichnen. Allerdings war damals nicht der geeignete Zeitpunkt, um auch nur im Entferntesten anzudeuten, dass Russland von den Schweden oder anderen Ausländern gegründet worden sei. Der Sieg Russlands im jüngsten Krieg gegen Schweden (1741–​1743) hatte die patriotischen Empfindungen aufgeputscht, die die Vergangenheit des Landes einbezogen. Der von Müller bei der Akademie eingereichte Vortrag wurde dort scharf kritisiert. Ein Untersuchungsausschuss wurde einberufen, um zu prüfen, ob der Vortrag gehalten werden konnte – wenn nicht am Namenstag der Zarin(2), dem 5. September, so womöglich am siebten Jahrestag ihrer Krönung am 25. November –, ohne Russland »in Verruf« zu bringen. Michail Lomonossow(1), Russlands erster großer Universalgelehrter, war der Wortführer der Kritik an dem Deutschen(2) und warf ihm vor, er wolle absichtlich die Slawen(2) schlecht machen, indem er sie als Wilde darstelle, die außerstande seien, sich als Staat zu organisieren. Die Rus(4), erklärte er nachdrücklich, seien keine Schweden gewesen, sondern baltische Slawen, Nachkommen aus dem iranischen Stamm der Roxolanen, deren Geschichte bis zu den Trojanischen Kriegen zurückreiche. Lomonossows Kritik war, neben einem persönlichen Groll gegen den Deutschen, von verletztem Nationalstolz geprägt. Er behauptete zu Unrecht, Müller sei außerstande, russische Dokumente zu lesen, deshalb seien ihm schwere Fehler unterlaufen und er könne, wie alle Ausländer, die Landesgeschichte eigentlich gar nicht kennen, weil er kein Russe sei.

Es folgte eine sechsmonatige akademische Debatte. Am 8. März 1750 untersagte der Untersuchungsausschuss Müllers(3) Vortrag und beschlagnahmte sämtliche gedruckten Kopien davon, auf Russisch ebenso wie auf Latein. Lomonossow(2) nahm persönlich an dieser Aktion teil. Der Deutsche wurde auf einen niedereren Posten degradiert und von der Arbeit im Staatsarchiv ausgeschlossen, angeblich um das russische Zarenreich vor der »Besudelung« der russischen Geschichte zu schützen. Müllers akademische Karriere konnte diesen Rückschlag nie ganz wettmachen, aber er veröffentlichte viele Bücher, darunter Origines gentis et nominis Russorum (1761), das die Ideen seines Vortrags weiter ausführte. Die zuerst in Deutschland veröffentlichten Origines erschienen in Russland erst 1773, ein Jahrzehnt nach Lomonossows Alter russischer Geschichte, einem Buch, das zur Widerlegung von Müllers These geschrieben wurde.[5]

Die Diskussion um Russlands Ursprünge ist noch heute nicht zu Ende. Der sogenannte Normannenstreit (weil die Wikinger(4) Normannen waren) ist politisch und ideologisch außerordentlich stark aufgeladen. Im Kern geht es um die Frage, ob Russland von Russen oder von Ausländern gegründet wurde.

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurde Müllers(4) »Normannentheorie« an der St. Petersburger(1) Akademie, wo deutschstämmige Historiker überwogen, zunehmend akzeptiert. Sie verbreiteten die Theorie, dass Rjurik(3) einem germanischen Stamm aus Skandinavien angehört habe und dass Russland als Staat und Kultur folglich von Germanen gegründet worden sei. Katharina die Große (selbst aus Deutschland(3) stammend) billigte diesen Standpunkt, weil er zu verstehen gab, dass die Russen europäischer Herkunft seien – eine Sichtweise, die sie selbst in ihren vielen Schriften propagierte. In deutschen Händen ging die normannistische These bisweilen mit rassistischen Haltungen gegenüber den Slawen(3) einher. Charakteristisch ist die folgende Passage aus einer Studie der Nestorchronik(5) von August Ludwig von Schlözer(1) im Jahr 1802:

Menschen waren schon da [in Russland], wer weiß, seit wann und woher? aber Menschen ohne Staat, die wie das Wild ihrer Wälder lebten […] ohne allen Verkehr mit der Südlichen Welt waren, und daher auch von keinem etwas cultivirteren Südeuropäer beobachtet und beschrieben werden konnten.[6]

Die Normannentheorie fand bei den Verteidigern der Autokratie Gefallen, da sie andeutete, dass die streitsüchtigen slawischen(4) Stämme nicht imstande seien, sich selbst zu regieren. Allen voran stützte sich Nikolai Karamsin(1), der erste große Schriftsteller und Historiker Russlands, in seiner Geschichte des russischen Reiches (von 1818 bis 1829 in zwölf Bänden veröffentlicht) stark auf Schlözers(2) Werk. Vor der Gründung einer fremden Fürstenherrschaft, so erklärte Karamsin, hätte das russische Volk »die Vortheile einer wohlgeordneten Regierungsform nicht« gekannt. »Es duldete keine Herrscher, keine Sklaven in seinem Lande, und es hielt wilde uneingeschränkte Freiheit für das höchste Gut des Menschen.«[7]

Diese Ansichten wurden im 19. Jahrhundert von Philologen und Archäologen infrage gestellt. Häufig getrieben von nationalem Stolz auf Russlands alte slawische Kultur suchten sie nach Hinweisen, die dessen fortschrittliches Gesellschaftsleben im ersten Jahrtausend untermauerten. Die Antinormannisten, wie sie genannt wurden, argumentierten, dass die Rus(5) nicht aus Skandinavien gekommen (sie wurden weder in altnordischen Quellen noch in den Sagen erwähnt), sondern Slawen(5) gewesen seien. Deren Name sei, so ihre These, in griechischen Quellen seit dem 2. Jahrhundert und in arabischen(1) seit dem 5. Jahrhundert aufgetaucht. Die Heimat der Rus, behaupteten sie, liege in der Ukraine(14) und werde durch slawische Flussnamen (Ros, Rossawa, Rusna, Rostawzja und dergleichen mehr) gekennzeichnet. Ausgrabungen ihrer Siedlungen enthüllten, dass die Orte in einem Kreis zur Verteidigung errichtet wurden, in krassem Gegensatz zu den offenen Siedlungen der Wikinger(5); außerdem hatten sie durch die Verbindungen zu hellenistischen, byzantinischen(8) und asiatischen Zivilisationen lange vor dem Eintreffen der Wikinger bereits einen hohen Grad materieller Kultur erworben.

Das Schicksal der Antinormannisten wechselte im Einklang mit dem Einfluss des Nationalismus auf den russischen Staat. Sie erreichten unter Stalin(3) ihre Blütezeit, insbesondere nach 1945, als ein großrussischer Chauvinismus, der durch den Sieg über NaziDeutschland Auftrieb erhalten hatte, im Mittelpunkt der sowjetischen Ideologie stand. Die Ethno-Archäologie der frühen slawischen Siedlungen wurde sehr stark politisiert. Der Staat steckte Unsummen in Ausgrabungen, mit dem Ziel, ein »slawisches Heimatland« nachzuweisen, das sich von der Wolga(1) im Osten bis an die Elbe im Westen erstreckte, von der Ostsee(1) im Norden bis an die Ägäis und ans Schwarze Meer(1) – mit anderen Worten: der Raum, den Stalin(4) im Kalten Krieg als sowjetische »Einflusssphäre« beanspruchte. Die Vorstellung, dass Russland seine Ursprünge einer fremden Macht – gar »germanischen« Wikingern(6) – verdanke, war unzulässig. Gelehrte, die es gewagt hatten, entsprechende Andeutungen zu machen, wurden von der Partei gezwungen, ihre Werke zu überarbeiten.[8]

Die sowjetische Sichtweise der Ursprünge Russlands war folglich mit einem Konzept der Ethnizität verflochten, nach dem die Ethnie als uralter Kern der nationalen Identität betrachtet wurde, der ungeachtet der Veränderungen in der Gesellschaft während der ganzen Geschichte Bestand hatte. Zu einer Zeit, in der westliche Gelehrte zu der Ansicht gelangten, dass ethnische Gruppen moderne intellektuelle Konstrukte seien, quasi erfundene Kategorien, die vielschichtigen sozialen Gruppen übergestülpt wurden, analysierten ihre sowjetischen Kollegen sie als urtümliche Einheiten, die durch die Biologie definiert seien. Über die Studie der Ethnogenese verfolgten sie das heutige Russland bis zu einem einzigen Volk in der Eisenzeit zurück und behaupteten, die Russen seien Nachfahren dieser uralten Slawen(6).

Dieser Ansatz tauchte nach dem Zerfall der Sowjetunion, als russische, ukrainische(15) und weißrussische Nationalisten miteinander um den ethnischen Anspruch auf die Abstammung von dem Kiewer Erbe wetteiferten, mit noch stärkerer Macht wieder auf. Dazu gehörte auch Putins(11) Absicht mit seiner Rede bei der Enthüllung des Moskauer Denkmals für Fürst Wladimir(11). Indem er Russlands Vermächtnis von Kiew(7) bekräftigte, beschwor er den alten imperialen Mythos(15) herauf, dass die Russen, Ukrainer(16) und Weißrussen(4) historisch gesehen ein Volk seien, drei ethnische Untergruppen einer einzigen Nation. Damit legte er eine »natürliche« Einflusssphäre für das heutige Russland in den ursprünglichen »Ländereien der Vorväter« fest. Die Geschichte ist selbstverständlich weit vielschichtiger – selbst wenn auch sie eine Art Erzählung ist.

Russland bildete sich in den Waldländern und Steppen(2) zwischen Europa und Asien heraus. Es gibt keine natürlichen Grenzen, weder Meere noch Gebirgsketten, die sein Gebiet bestimmten, das während der ganzen Geschichte von Völkern aus beiden Kontinenten besiedelt war. Der Ural(1), der angeblich die Grenze zwischen dem »europäischen Russland« und Sibirien(1) bildet, bot russischen Siedlern keinen Schutz gegen die Nomadenstämme aus der asiatischen Steppe. Es handelt sich um eine Reihe hoher Gebirgsketten, die von breiten Pässen durchbrochen sind. An vielen Stellen gleichen sie eher Hügeln. Bezeichnenderweise kennt die russische Sprache nur ein Wort für »Hügel« oder »Berg«: gora. Es ist ein Land auf einer flachen Ebene.

Zu beiden Seiten des Ural(2) erstreckt sich das gleiche Terrain: eine weite Steppe(3), über elf Zeitzonen hinweg von der Grenze Russlands im Westen bis an den Pazifik(1) im Osten. Dieses territoriale Kontinuum besteht aus vier Bändern oder Zonen, die mehr oder weniger parallel von einem Ende zum anderen verlaufen. Die erste dieser Zonen, rund ein Fünftel der Landmasse Russlands, liegt über dem Polarkreis, wo die baumlose Tundra(1) jedes Jahr acht Monate lang von Schnee und Eis bedeckt bleibt. Nomadische Rentierjäger, Pelz- und Walrossjäger(1) waren die einzigen Völker, die diese Regionen bevölkerten – bis ins 20. Jahrhundert hinein, als die Entdeckung von Kohle, Gold, Platin und Diamanten im Permafrostboden zur Besiedelung der arktischen Zone über den Gulag(1) führte, wo heute zwei Millionen Russen leben. Die meisten sind Nachkommen von Gulag-Häftlingen.

Weiter im Süden stoßen wir auf die Waldzone der Taiga(1), den größten Nadelwald der Welt, der sich von der Ostsee(2) bis zum Pazifik(2) erstreckt. Er besteht aus Kiefern, Fichten und Lärchen, durchsetzt von Mooren, Seen und gemächlich fließenden Flüssen, die bis ins 19. Jahrhundert der schnellste Verkehrsweg in dieser Zone waren.

Die Nadelwälder weichen Mischwäldern und offenen baumbestandenen Steppen(4) südlich von Moskau(7), wo die fruchtbare Schwarzerde stellenweise mehrere Meter tief ist. Dieses dritte Band Russlands, die sogenannte zentrale Landwirtschaftszone, ist am westlichen Ende, wo sie in die ungarische Ebene übergeht, breit, wird im Osten bei Sibirien(2) jedoch schmaler, wo die Taiga(2) an ihre Stelle tritt. Die fruchtbare Zone wurde seit dem 16. Jahrhundert von den Russen erobert.

Schließlich kommen wir ganz im Süden zur pontischen Steppe(5), den semiariden Grasländern und Savannen, die von der Nordküste des Schwarzen Meer(2)s im Westen bis zum Kaspischen Meer(1) und nach Kasachstan(1) im Osten reichen. Dieses Gebiet eroberten die Russen erst ab dem 18. Jahrhundert von den nomadischen Turkstämmen(1). Es bildet die religiöse Trennline zwischen Russland und der muslimischen(1) Welt.

Die ersten dokumentierten Siedler in den Ländereien, die als die Kiewer Rus(10) bekannt wurden, waren die Slawen(7), auch wenn es seit der Mitte des ersten Jahrtausends in den nördlichen Waldgebieten finnougrische Stämme wie die Esten(1) gab. Laut der von den meisten Historikern erzählten Version waren die Slawen gezwungen, vor Turkstämmen, die mit Hilfe ihrer überlegenen Militärmacht die Kontrolle über die Grasländer im Süden erlangten, in die Wälder im Norden zu fliehen. Die Slawen breiteten sich in den großen urtümlichen Wäldern in kleinen Gruppen aus, fällten Bäume und verbrannten deren Überreste, um in dem Ascheboden zu säen (die Methode der Brandrodung). Der Ackerbau in der nördlichen Waldzone war mühsam. Ein strikter Gemeinschaftssinn war für das Überleben unerlässlich. Man brauchte Arbeitsgruppen zum Fällen der Bäume und zum Säen und Ernten in der kurzen Vegetationsperiode zwischen dem Tauwetter und den Springfluten im April und dem Einsetzen der Winterkälte im Oktober. Der Ackerboden ist karg, sandig, dünn und liegt auf Gestein. Von den Getreidesorten konnte man hier nur Roggen anbauen, und die Erträge waren niedrig. Doch die Wälder boten den Bauern(1) andere Mittel, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten: Pelze, Honig, Wachs, Fische, Holz.

Die Slawen(8) lebten in Siedlungen, die von Wällen aus Holz umgeben waren. Ihrem Wesen nach demokratisch organisiert, wurden sie von Versammlungen der erwachsenen Männer regiert (die Byzantiner(9) betrachteten diese Demokratie als »Unordnung und Anarchie«).[9] Als Meister der Axt waren die Slawen geschickt darin, aus Baumstämmen Häuser, Langboote und Kanus anzufertigen, was hieß, dass sie imstande waren, ihren Lebensunterhalt auch mit Fischen und Handel entlang der Flüsse zu bestreiten. Ihre Zahl wuchs, sodass finnougrische Stämme(1) gezwungen waren, sich tiefer in die Wälder zurückzuziehen. Gegen Ende des ersten Jahrtausends hatten die Slawen eine langlebige, anpassungsfähige Bauernkultur(2) entwickelt, die auf dem Gemeinwohl und einem Durchhaltevermögen basierte, das die Russen während eines Großteils ihrer Geschichte charakterisierte.

Die Wikinger(7) kamen nicht, wie in England(1), zum Plündern nach Russland (dafür war Russland viel zu arm), sondern um dessen unzählige Wasserwege für den Fernhandel zwischen Europa und Asien zu nutzen. Der Name Rus(6) wurde höchstwahrscheinlich von dem altnordischen Wort róa abgeleitet, das »rudern« bedeutet. Das legt die Vermutung nahe, dass die Rus als Schiffer bekannt und aus ethnischer Sicht wahrscheinlich sehr divers waren. Sie waren kein von einer gemeinsamen ethnischen Herkunft vereinter Stamm, sondern eine Armee, die auf einem gemeinsamen Geschäftsmodell basierte. In ihren Langbooten segelten sie von der schwedischen Ostküste bis an die Mündung der Newa(1), dem Ort des heutigen St. Petersburg(2). Von dort ruderten sie die Newa aufwärts bis zu einem wichtigen Handelsposten am Ladogasee(1), wo sie von den Slawen(9) und anderen Völkern des Nordens Sklaven und kostbare Pelze bekamen (im Wortschatz der Wikinger(8) wurden die Worte »Slawe« und »Sklave« zu Synonymen). Die Fracht wurde über die Flüsse Dnjepr(2), Don(1) und Wolga(2) nach Süden transportiert, über das Schwarze Meer(3) und das Kaspische Meer(2) bis zu den Märkten von Byzanz(10) und dem (2)arabischen Kalifat(1), wo für Sklaven und Pelze viel Geld gezahlt wurde. Die Rus(7) kehrten mit Silbermünzen, Glasperlen, Metallwaren und Schmuck zurück – Artefakten, die von Archäologen aus den Gräbern bei Alt-Ladoga(1) geborgen wurden. Der Ort gilt als die erste Wikingersiedlung(9), die bis ins 8. Jahrhundert zurückdatiert wird. Die Gräber enthielten darüber hinaus Lederschuhe, Kämme aus Knochen und Geweih, Runenamulette und hölzerne Stäbe, wie sie auch in Skandinavien zu finden sind.[10]

Die Rus(8) wurden rasch sesshaft und assimilierten sich an die slawische Bevölkerung. Siedlungen wie Alt-Ladoga(2) waren multiethnische Gemeinschaften mit einer Kriegerelite der Wikinger(10) sowie slawischen und finnischen Bauern(3) und Handwerkern. Die Rus nahmen die slawische Sprache, Namen, Bräuche und religiösen Rituale an, ein Assimilationsprozess, der durch die gemeinsame Konversion zum Christentum(1) im 10. Jahrhundert beschleunigt wurde. Aus diesem Grund gibt es kaum skandinavische Spuren in der russischen Sprache oder Ortsnamen in Russland – ein deutlicher Gegensatz zu dem starken Wikingereinfluss auf Sprache und Ortsnamen in England(2) ebenso wie in Deutschland(4).[11]

Die Rus(9) machten auf die Araber(3), die ihnen begegneten, einen starken Eindruck. Ibn Fadlan(1) traf bei Itil(1) an der Wolga(3) in der Nähe des Kaspischen Meeres(3) im Jahr 921 eine Gruppe von Kaufleuten:

Ich habe die Rusiya gesehen, als sie bei ihren Handelsfahrten (hierher) gelangt waren und am Flusse Atil gelagert hatten. Ich habe (niemals) Leute mit einem vollkommeneren Körperbau gesehen als sie. Sie sind (groß) wie Dattelbäume, blond und rot (d. h. blutvoll, sodass) sie weder Qurtaqs noch Haftane [Kaftane] (zu) tragen (brauchen), vielmehr trägt der Mann bei ihnen ein Gewand, welches (nur) die Hälfte seines (Körpers) umhüllt und eine von seinen Händen frei lässt. Jeder von ihnen hat eine Axt, ein Schwert und ein Messer bei sich und alle diejenigen, welche wir erwähnt haben, trennen sich nicht von ihnen (den Waffen). […] Jede ihrer Frauen hat auf den beiden Brüsten eine Büchse aus Eisen, Silber, Kupfer oder Gold, nach Maß und nach Wert des Vermögens ihres Mannes befestigt; bei jeder Büchse befindet sich ein Ring, bei dem sich ein Messer ebenfalls auf der Brust befestigt befindet. Um den Hals tragen (die Frauen) Halsringe aus Gold und Silber. […] Als größter Schmuck gilt bei ihnen die grüne Glasperle (Koralle) aus Ton, welcher sich auf den Schiffen befindet. Sie handeln um sie […] und reihen sie für ihre Frauen zu Halsbändern.[12]

Atil oder Itil(2) war der türkische Name für die Wolga(4) und zugleich die Hauptstadt des Staats der Chasaren(2), oder Khaganats,– ein multikonfessionelles Handelsimperium mit einer türkischen Kriegerelite an der Spitze, das sich damals vom Aralsee bis zu den Karpaten und vom Kaukasus(1) bis zu den Waldländern an der oberen Wolga erstreckte. Es verfügte über eine geordnete Regierung, wirksame Methoden der Steuereintreibung und militärische Macht, um die Handelsrouten auf den Flüssen vor nomadischen Stämmen zu schützen, von denen damals die Polowzer(1) (auch Kiptschaken oder Kumanen genannt) die gefährlichsten waren. Das als eine Reihe verstreuter Siedlungen um die Mitte des ersten Jahrtausends gegründete Kiew(8) hatte sich zu einer Festung der Chasaren entwickelt, die den Dnjepr(3) an der Handelsroute zwischen der Ostsee(3) und Byzanz(11) kontrollierte.

Der Einfluss der Chasaren(3) auf die Entstehung der Kiewer Rus(11) ist allerdings umstritten. Manche Gelehrte gehen davon aus, dass die Chasaren eine wichtigere Rolle als die Wikinger(11) oder die Slawen(10) spielten.[13] Byzantinische und arabische Autoren(4) beschrieben die Rus(10) als Vasallen des Khaganats, die über Eheschließungen mit ihm verbunden waren. Die ersten Herrscher der Rus nannten sich selbst Khagane, was die Vermutung nahelegt, dass sie ihre Autorität von den Chasaren ableiteten. Mit Sicherheit unterhielten sie bessere Beziehungen zu den Chasaren, als von den mittelalterlichen Chroniken eingeräumt wird, die ein Bild endloser Überfälle und Gewalt seitens der türkischsprachigen Chasarenstämme gegen friedliche russische Siedler zeichnen. Im 19. Jahrhundert stützten sich Historiker Russlands ganz auf diese Chroniken. Sie erzählten eine Version der Anfänge der Nation als heldenhaften Kampf von Ackerbauern(4) der nördlichen Waldländer gegen die Reitervölker der asiatischen Steppe(6). Dieser nationale Mythos(16) wurde für die europäische Selbstidentität der Russen so grundlegend, dass man sich schon durch die Andeutung, ihre Vorfahren seien von den asiatischen Kulturen der Steppe beeinflusst worden, dem Vorwurf des Verrats aussetzte. In Wahrheit kam es nicht allzu häufig zu Überfällen der Steppenvölker, und es gab lange Phasen der friedlichen Koexistenz, des Handels, der Kooperation, des gesellschaftlichen Verkehrs und sogar der Mischehen zwischen Slawen(11) und ihren nomadischen Nachbarn in der Steppe. Der Einfluss der Steppenvölker zeigte sich etwa in der Übernahme von deren Kleidung und Statussymbolen durch die Elite der Rus wie dem Tragen von Gürteln mit schweren Beschlägen und in kunstvoll verziertem Zaumzeug.[14] Wir dürfen uns die frühe Rus nicht als eine Geschichte der feindlichen Auseinandersetzung zwischen den Siedlern im Wald und den Nomaden der Steppe vorstellen, sondern als eine weitgehend friedliche Interaktion zwischen allen Völkern Eurasiens. Wir sollten sie uns vielleicht gar nicht in den Bahnen ethnischer Gruppen vorstellen, sondern als eine Handelsgemeinschaft diverser Gruppen: Slawen, Finnen(2), Wikinger(12) und Chasaren.[15]

Die Kiewer Rus(12) stieg auf, als die Macht der Chasaren(4) schwand. Die wachsende Militärmacht der Waräger(11) ermöglichte es ihnen, sich von der Zahlung von Abgaben an das Khaganat zu befreien; darüber hinaus gestattete sie es dem Staatswesen, die Rolle der Letzteren als Schutzmacht der nördlichen Grenze von Byzanz(12) zu übernehmen, eine Rolle, die sich in Form von Handelskonzessionen in Konstantinopel(1), der Hauptstadt des Reichs von Byzanz, gut bezahlt machte. Als ihre Macht wuchs, griffen die Krieger der Rus die tributpflichtigen Ländereien der Chasaren zwischen Wolga(5) und Dnjepr(4) an. Im Jahr 882 eroberten sie Kiew(9), das zur Hauptstadt der Kiewer Rus wurde.

Unter den ersten Fürsten der Rus(12) entwickelte sich Kiew zu einem bedeutenden Handelszentrum zwischen dem Schwarzen Meer(4) und der Ostsee(4). Im Bezirk Podol der Stadt haben Archäologen große Mengen byzantinischer Münzen, Amphoren und Gewichte gefunden, sowie die Überreste von Blockhäusern, die in einer Technik (ohne Nägel) erbaut wurden, die man mit dem russischen Norden in Verbindung brachte. Um die Bevölkerung und die Steuereinnahmen des neuen Staates zu vergrößern, ließ Großfürst Wladimir(12) ganze slawische Gemeinschafen aus dem Norden zwangsweise in Regionen um Kiew umsiedeln. Das war der Beginn einer langen Tradition massenhafter Siedlungsbewegungen, die vom russischen Staat durchgesetzt wurden.[16]

Die Begründung der Machtbasis in Kiew(10) brachte zwei wesentliche Veränderungen für die Rus(13) mit sich. Zum Ersten verlagerte sich das Augenmerk vom Fernhandel zum Geschäftszweig der Tributforderungen, durch das die Chasaren(5) so aufgeblüht waren, wie die Fürsten der Rus mit eigenen Augen gesehen hatten. Bislang von dem Khaganat kontrollierte Ländereien wurden nunmehr von Kiew mit Abgaben belegt, das wiederum Festungen und Städte baute, um seinen Herrschaftsbereich der westlichen Steppe(7) zu schützen. Zum Zweiten verschob sich der Haupthandelsstrom von der Wolga(6) und der muslimischen(2) Welt zum Dnjepr(5) und nach Byzanz(13). Diese Wende nach Süden wurde durch eine Reihe von Handelsverträgen zwischen der Kiewer Rus(13) und dem byzantinischen Reich untermauert. Jedem einzelnen Abkommen ging ein Angriff der Rus auf Konstantinopel(2) voraus, dessen Ziel es war, die Byzantiner zu zwingen, ihre Märkte zu öffnen und die Handelsbedingungen zu verbessern. Das erste dieser Abkommen aus dem Jahr 911 machte den Händlern der Rus großzügige Zugeständnisse.

Über Handelsbeziehungen und diplomatische Verbindungen wurde die heidnische Rus(14) in die christliche Zivilisation des byzantinischen Reichs(14) eingebunden. Fürstin Olga(1), die von 945 bis 960 in Kiew(11) als Regentin herrschte, ging mit gutem Beispiel voran. Sie ließ sich in Konstantinopel(3) taufen, wo sie ein Militärbündnis mit dem Kaiser festigte, indem sie für sich den gleichen Namen wie die amtierende Kaiserin Helena (Jelena auf Russisch) annahm. Ihr Sohn Swjatoslaw(1) blieb Heide, doch ihr Enkelsohn, der Großfürst Wladimir(13), konvertierte nicht nur selbst, sondern mit seinem ganzen Herrschaftsgebiet im Jahr 988 zur östlichen Orthodoxen Kirche(2).

Laut der Nestorchronik(6) war Wladimirs Taufe das Ergebnis seiner Suche nach dem wahren Glauben. Demnach empfing er Repräsentanten der benachbarten Staaten, die ihn allesamt dazu bewegen wollten, ihren Glauben anzunehmen. Als Erster kam der islamische(3) Gesandte der Wolga-Bulgaren(1), der Wladimir(14) mit dem Versprechen einer fleischlichen Befriedigung im Jenseits locken wollte (dabei hatte dieser Mann der Legende nach selbst 800 Frauen), diesen jedoch mit dem muslimischen(4) Verbot von Alkohol(1) völlig abstieß. (»Der Rus(14) ist das Trinken Freude, wir können ohne das nicht sein«, erklärte der Fürst.) Als Nächste kamen deutsche Gesandte des Papstes, gefolgt von einer chasarischen Delegation aus Rabbinern (die Herrscher der Chasaren(6) hatten im 9. Jahrhundert den jüdischen(1) Glauben angenommen). Keiner von ihnen beeindruckte Wladimir sonderlich. Zu guter Letzt kamen die Byzantiner(15). Ihre Argumente bewogen ihn, selbst Gesandte auszuschicken, damit sie die verschiedenen Konfessionen in ihrer Umgebung beobachteten. Unter den Wolga-Bulgaren(1) fanden sie nur »Trübsinn und großen Gestank«. In Deutschland(5) »sahen [sie] keinerlei Schönheit«. Doch in der Hagia Sophia(1) von Konstantinopel hätten sie nicht gewusst, »sind wir im Himmel gewesen oder auf der Erde«, berichteten sie über die Liturgie in der Basilika, »denn auf Erden gibt es einen solchen Anblick nicht oder eine solche Schönheit; und wir vermögen es nicht zu beschreiben. Nur das wissen wir, dass dort Gott bei den Menschen weilt. […] Wir aber können jene Schönheit nicht vergessen.«[17]

Wie die übrige Nestorchronik(7) ist auch diese Geschichte zweifelhaft. Wladimirs(15) Taufe hatte mehr mit Staatskunst und Diplomatie als mit der Ästhetik religiöser Riten zu tun. Die Annahme einer einzigen, einigenden Religion konnte dazu beitragen, den Kiewer Staat(15) zu legitimieren und dessen Autorität über sein ganzes multiethnisches Gebiet auszudehnen, in dem sich unzählige Glaubensrichtungen und heidnische Kulte gegen die fürstliche Herrschaft wehrten. Die Existenz einer problemlos übersetzbaren kirchenslawischen Literatur – die die Verbreitung der Lehren über ein großes Gebiet ermöglichte – verschaffte den orthodoxen Christen(2) einen klaren Vorteil gegenüber anderen Religionen, deren Schriften noch nicht auf Kirchenslawisch vorlagen. Der entscheidende Faktor war hier das Werk der Brüder Kyrill(1) und Method(1), der Missionare, die von dem byzantinischen Kaiser(16) im 9. Jahrhundert ausgesandt worden waren, um den christlichen Glauben unter den Slawen(12) auf dem Balkan(1) zu verbreiten. Sie hatten die griechischen Evangelien in die glagolitische Schrift übertragen (ein Vorläufer des Kyrillischen, das nach Kyrill von dessen Anhängern benannt wurde). Dieser Umstand ermöglichte es, eine christliche Messe in einer slawischen Sprache abzuhalten statt auf Griechisch, das die Bevölkerung nicht verstand.[18]

An diesem Punkt in der Nestorchronik(8) erfahren wir, dass sich Wladimir(16) auf der Krim taufen ließ, wohin er mit 6000 Kriegern gezogen war, um einen Aufstand gegen den byzantinischen Kaiser Basileios II.(1) niederzuschlagen. Der Lohn für diesen Dienst war die Hand Anna(1)s, der Schwester des Kaisers, nachdem er den christlichen Glauben angenommen hatte. Nachdem Wladimir den Aufstand niedergeschlagen hatte, so heißt es in der Chronik, habe er gedroht, Konstantinopel(4) anzugreifen, bevor Basileios seinen Teil der Abmachung einhielt und die Ehe geschlossen wurde. All das könnte durchaus nur eine Legende sein, eine Geschichte, die später von den Mönchen in Kiew(12) erzählt wurde, um Wladimir und damit auch die Kiewer Rus(16)als Byzanz(17) ebenbürtig darzustellen, statt als Vasall. Genauso wahrscheinlich ist, dass Wladimir den Aufstand im Auftrag der Byzantiner bekämpfte und dass er dafür vor dem Aufbruch zur Krim(2) den christlichen Glauben annehmen musste.[19] Statt eines Aktes der Selbstbestimmung, wie er von den heutigen Staaten Russland und Ukraine(17) gefeiert wird, könnte die Bekehrung Wladimirs zur östlichen Kirche ebenso gut auch die Unterwerfung seines Herrschaftsgebiets unter das Byzantinische Reich gewesen sein.

Durch die Taufe Wladimirs(17) geriet Russland in den kulturellen Einfluss von Byzanz(18). Das kam einer Revolution gleich, nicht nur im spirituellen Leben des Landes, sondern auch in der Kunst und Architektur, Literatur, Philosophie, in der Symbolsprache und in den Staatskonzeptionen.

Byzanz(19) war eine Universalkultur, ein »Commonwealth«, um den Begriff des großen anglo-russischen Gelehrten Dimitri Obolensky zu übernehmen. Seine Völker waren durch die duale Symbolkraft des Kaisers (auf Griechisch basileios oder zar auf kirchenslawisch) und des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel(5) vereint, der den Kiewer Metropoliten ernannte, das Oberhaupt der russischen Kirche.[20] Die Rolle von Byzanz war somit vergleichbar mit der Rolle Roms im lateinischen Westen. So wie die Lateiner Rom als das Zentrum ihrer Zivilisation ansahen, betrachteten die Russen Konstantinopel (das sie selbst Zargrad, also Kaiserstadt, nannten) als ihre spirituelle Hauptstadt.

Über Byzanz(20) waren die Russen mit den Griechen(1), Bulgaren(2), Serben(2), Albanern(1) und Rumänen(1) verbunden, die allesamt zur östlichen Orthodoxen Kirche(3) gehörten. Über die allgemeineren Verbindungen zum Christentum(3) traten sie auch in einen engeren Kontakt mit Europa und wurden sich ihrer selbst als Europäer, die einem gemeinsamen Glauben angehörten, bewusst. Wie Obolensky es ausdrückte: »Byzanz war keine Mauer, die zwischen Russland und dem Westen errichtet wurde; es war Russlands Tor nach Europa.«[21]

Auch wenn Wladimir(18) die Rus(15) zum christlichen Glauben bekehrte, so war es sein Sohn Jaroslaw(1), der von 1019 bis 1054 die meisten der ersten großen Kirchen als Großfürst von Kiew(13) bauen ließ. Nachdem er mit seinen Brüdern um den Thron gekämpft hatte, gelangte Jaroslaw zu der Ansicht, dass der Bau von Kirchen sein Ansehen steigern und seine Machtbasis in Kiew absichern würde. Die wichtigste war die Sophienkathedrale, die mit ihrer einfachen Kreuzform, griechischen Inschriften, gigantischen Fresken und farbenprächtigen Mosaiken eng ihrem Vorbild der Hagia Sophia(2) in Konstantinopel(6) nachempfunden wurde. Beherrscht wird der ganze Bau von dem riesigen feierlichen Antlitz von Christus Pantokrator, der aus der Zentralkuppel vom Himmel herabblickt. Darunter befinden sich Mosaike der Apostel, der Gottesmutter und der Eucharistie, der drei Wege, durch die der Heilige Geist auf die Erde kam und die die Fleischwerdung Christi dem Wesen nach symbolisieren.

Wie andere russische Kirchen auch hatte die Sophienkathedrale eine Reihe von Ikonen(1) auf einer niedrigen Abschirmung zwischen dem Altar und den Gläubigen. Später sollte sie durch eine hohe Ikonenwand, die Ikonostase, ersetzt werden, deren Schönheit ein zentrales Merkmal der Ostkirche ist. Für die Orthodoxen ist Sehen gleichbedeutend mit Glauben. Russen beten mit offenen Augen – den Blick starr auf eine Ikone gerichtet, die als Fenster zur göttlichen Sphäre dient.[22] Die Ikone ist der Brennpunkt der spirituellen Empfindungen des Gläubigen, ein heiliger Gegenstand, imstande Wunder zu wirken. Ikonen(2) weinen und bringen Myrrhe hervor. Sie gehen verloren und tauchen wieder auf, greifen in historische Ereignisse ein, um sie auf einen göttlichen Pfad zu leiten. In Russland hatten nicht nur Gemälde diesen Status, auch Holzschnitzereien, Mosaike und sogar Gebäude konnten Ikonen(3) sein.[23] Im Gegensatz zur westlichen christlichen Vorstellung, wo das Göttliche nur im Himmel existierte, war das Göttliche in Russland im weltlichen Dasein immanent. Hier waren die Wurzeln des utopischen Bewusstseins, das im Herzen der russischen Bauernreligion(5) lag: der Glaube an die Gewissheit, den Himmel auf Erden zu errichten, und insbesondere auf russischem Boden, nach dem frühchristlichen Mythos(17) des (4)heiligen Russlands, eines neuen Landes des Heils, wo Christus dereinst wiederkehren wird.

Ikonen(4) kamen aus Byzanz(21) nach Russland. Zu Anfang wurden sie von griechischen Künstlern gemalt und blieben im Stil streng griechisch. Erst ab dem 13. Jahrhundert tauchte ein stärker ausgeprägter russischer Stil auf. Diese einheimische Variante zeichnete sich durch eine schlichte Harmonie der Linien und Farben aus, durch anmutige Bewegungen und eine geschickte Verwendung der umgekehrten Perspektive (wodurch Linien an einem Punkt zusammenzulaufen scheinen, der sich vor dem Bild befindet), um den Betrachter einzubeziehen und in seinen Gebeten zu leiten, indem symbolisch ausgedrückt wird, wie die heilige Handlung der Ikone in einer Sphäre jenseits der Gesetze des irdischen Daseins stattfindet.[24]

Ein vergleichbarer Übergang zu russischen einheimischen Formen lässt sich in der Literatur beobachten. Kirchenslawisch wurde zur Grundlage einer Literatursprache in Russland. Da es auf dem südslawischen Dialekt basierte, der um Thessaloniki, wo (1)Kyrill(2) und Method(2) gelebt hatten, gesprochen wurde, folgte es einer griechischen Syntax – ein Einfluss, der ins Russische Einzug hielt. Doch der griechische Einfluss war nicht ganz dominant. In der Nestorchronik(9) ist eine ausgesprochen russische Ideologie enthalten.

Im Kern der Nestorchronik(10) steckt ein Mythos(18), der im russischen politischen Bewusstsein eine zentrale Rolle spielen sollte. Seine Grundlage ist das heilige Wesen des Fürsten, der als Märtyrer für das »heilige russische Land«(5) stirbt. Die Ursprünge dieser Vorstellung lassen sich bis zum Kult um (2)Boris und Gleb zurückverfolgen, die ersten Heiligen der russischen Kirche. Die beiden Brüder waren in den Nachfolgekriegen nach dem Tod ihres Vaters Wladimir(19) im Jahr 1015 umgekommen. Doch ihre Hagiographen, angefangen mit Nestor(2), stellten sie als »Leidensträger« (strastoterpzy) dar, die bereitwillig ihr Leben für das Heil des russischen Landes gelassen hätten, genau wie Christus es für Palästina(1) getan hatte. Ihr Opfer wurde von der Kirche als das Schmieden eines Bundes zwischen Gott und der frisch getauften Rus, einer neuen Terra Sancta, verehrt, der folglich eine besondere Gnade verliehen wurde (die Ursprünge der »heiligen Rus« und des »heiligen Russland«(6)). Für Boris und Gleb wurden Kirchen gebaut. Die beiden Heiligen(3) wurden auf Ikonen(5) verehrt. Klöster(1) und Städte wurden nach ihnen benannt (und viel später Dragonerregimente des Zaren(12), sowjetische Luftstützpunkte und U-Boote). Aus der Anbetung dieser »heiligen Fürsten« sollte sich der Kult des heiligen Herrschers in Russland entwickeln (wie auch der Kult der gefallenen Helden der Revolution, die als »Volksheilige« von 1917 verehrt wurden).[25] Von den 800 russischen Heiligen, die bis zum 18. Jahrhundert kanonisiert wurden, waren mehr als 100 Fürsten oder Fürstinnen gewesen.[26] Kein anderes Land der Welt hat aus den eigenen Herrschern so viele Heilige(4) fabriziert. In keinem anderen ist Macht so stark sakralisiert worden.

Der christliche Glaube breitete sich nur langsam in der Kiewer Rus(17) aus. Noch lange nach Wladimirs(20) Taufe waren heidnische Bräuche auf dem Land und in vielen Städten tief verwurzelt. Im Jahr 1071 etwa, als Geistliche nach Nowgorod(2) kamen und heidnische Götzen in den Fluss Wolchow warfen, kam es zu einem Volksaufstand. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und eine Holzkirche für die (5)Heilige Sophia(1) gebaut; doch es dauerte einige Zeit, bis die Nowgoroder die Amulette, die sie trugen, um böse Geister abzuwehren, gegen Kruzifixe und Ikonen(6) austauschten.

Heidnische Götzen waren keine Götter im griechischen Sinn, sondern Naturkräfte und Geister, die im täglichen Leben des einfachen Volkes auftauchten. Es gab Perun(1), den Gott für Blitz und Donner; Wolos(1), den Beschützer der Herden; Roschaniza(1), die Göttin der Fruchtbarkeit; Mokosch(1), die Göttin der Erde (später als Mutter Russland wiederauferstanden); Daschborg(1) und Chors(1), beides Sonnengötter. Mit der Ankunft des Christentums verschwanden diese Götter nicht einfach, sondern wurden in die neuen Glaubenssysteme und Rituale integriert. Heilige(6) und Naturgottheiten wurden in der christlich-heidnischen Religion der Bauern(6) häufig miteinander kombiniert. Poludniza(1), die alte heidnische Dämonin der Ernte, wurde durch das Aufstellen einer Garbe Roggen hinter einer Ikone besänftigt; aus Wolos(2) wurde (7)St. Wlasius; und Perun(2) wurde (8)zum heiligen Elias. Die Christianisierung der heidnischen Gottheiten wurde von der Orthodoxen Kirche(4) selbst praktiziert. Im Kern des russischen Glaubens steckt eine einzigartige Betonung des mütterlichen Wesens, die im lateinischen Westen nie wirklich Fuß fasste. Wo die katholische Tradition großen Wert auf die Unbeflecktheit der Madonna legte, unterstrichen die Russen hingegen ihre göttliche Mutterschaft (bogorodiza). Das spiegelt sich darin wider, dass russische Ikonen(7) sie tendenziell mit dem Gesicht in mütterlicher Hingabe eng an den Kopf des Kindes geschmiegt zeigen. Es könnte sich durchaus um ein bewusstes Bestreben seitens der Kirche handeln, die heidnischen Mutterkulte der Roschaniza und Mokosch abzulösen.[27]

Dieser »Zwieglaube« (dwojewerije) lässt sich an den Bestattungsriten der Russen während des Mittelalters erkennen. In der Region der Oberen Wolga(7) haben Archäologen beispielsweise Hügelgräber oder Erdhügel ausgegraben, in denen die Toten nach heidnischer Beisetzungspraxis sowohl mit heidnischen Amuletten als auch christlichen Artefakten wie Kreuzen und Ikonen(8) begraben lagen.[28] Heidnische Rituale wurden auf dem russischen Land noch Jahrhunderte lang praktiziert. Sowjetische Ethnographen entdeckten in den 1920er Jahren Hinweise darauf, und im Norden Russlands gibt es Gegenden, wo sie noch heute anzutreffen sind.

Seit Beginn seiner Herrschaft hatte Großfürst Wladimir(21) seinen Söhnen verschiedene Fürstentümer innerhalb seines Reiches zugeteilt. Jeder Fürst wurde mit einem Heer oder einer druschina aus ein paar Tausend Reitern versehen, an deren Spitze Krieger, die sogenannten Bojaren(1)