Hundert Jahre Revolution - Orlando Figes - E-Book

Hundert Jahre Revolution E-Book

Orlando Figes

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Beschreibung

Eine glänzend geschriebene Geschichte Sowjetrusslands – von den Wurzeln des Bolschewismus bis zum Putsch gegen Gorbatschow 1991. Laut Orlando Figes erstreckt sich die Wirkung der Russischen Revolution von 1917 über die Jahrzehnte der Diktatur bis in die Gegenwart. So waren die Sowjetführer bis zuletzt überzeugt, dass sie die von Lenin begonnene Revolution fortsetzten und auf ihre Ziele hinarbeiteten: eine kommunistische Gesellschaft des materiellen Überflusses für das Proletariat und ein neuer kollektiver Menschentyp. In einem historischen Moment, da in Russland unter Putin die autoritäre Staatstradition wiederauflebt, liefert Figes eine überzeugende Interpretation des russischen 20. Jahrhunderts.

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Hanser Berlin E-Book

Orlando Figes

HUNDERT JAHRE

REVOLUTION

Russland

und das 20. Jahrhundert

Aus dem Englischen

von Bernd Rullkötter

Hanser Berlin

Die englische Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel Revolutionary Russia, 1891–1991

bei Pelican, an imprint of Penguin Books, London

ISBN 978-3-446-24868-7

© 2014 Orlando Figes

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München ©Alexander Nemenov/AFP/GettyImages (Moskau, 21. August 1991)

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

       Einleitung        Einleitung

  1.  Der Beginn

  2.  Die »Generalprobe«

  3.  Letzte Hoffnungen

  4.  Krieg und Revolution

  5.  Die Februarrevolution

  6.  Lenins Revolution

  7.  Bürgerkrieg und die Entstehung des Sowjetsystems

  8.  Lenin, Trotzki und Stalin

  9.  Das Goldene Zeitalter der Revolution?

10.  Der große Umschwung

11.  Stalins Krise

12.  Kommunismus auf dem Rückzug?

13.  Der Große Terror

14.  Revolution für den Export

15.  Krieg und Revolution

16.  Revolution und Kalter Krieg

17.  Der Anfang vom Ende

18.  Reifer Sozialismus

19.  Der letzte Bolschewik

20.  Urteil

       Danksagung

       Anmerkungen

       Weiterführende Literatur

       Register

EINLEITUNG

Mein Ziel ist es, die russische Revolution als großes Ganzes zu beschreiben und hundert Geschichtsjahre in Form eines einheitlichen revolutionären Zyklus darzustellen. Nach dieser Betrachtungsweise beginnt die Revolution im 19. Jahrhundert (genauer gesagt, im Jahr1891, als die Öffentlichkeit derart heftig auf die Hungerkrise reagierte, dass sie zum ersten Mal auf einen Kollisionskurs mit der Autokratie geriet) und endet mit dem Zusammenbruch des Sowjetregimes im Jahr 1991.

Es mag seltsam erscheinen, die Revolution über 100 Geschichtsjahre hinweg zu schildern. Die meisten kurzen Bücher zum Thema konzentrieren sich auf die Jahre unmittelbar vor und nach 1917. Um aber die Ursprünge der Revolution, ihren brutalen Charakter und ihren tragischen Verlauf von der Freiheit zur Diktatur zu verstehen, muss man die zaristische Vergangenheit gründlicher ins Auge fassen, und um ihre bleibenden Folgen wahrzunehmen, muss man sie im breiteren Kontext der Sowjetgeschichte untersuchen. Viele Themen der ersten Kapitel über die Zarenzeit – das Fehlen eines politischen Gegengewichts zur Macht des Staates, die Isolation der gebildeten Schichten vom gewöhnlichen Volk, die ländliche Rückständigkeit und Armut, die zahlreiche Bauern auf der Suche nach einem besseren Leben in die Industriestädte trieben – werden in den späteren Kapiteln, über 1917 und das Sowjetregime, erneut auftauchen.

Wann endete die russische Revolution? Historiker haben unterschiedliche Daten gewählt, je nach ihrem eigenen Schwerpunkt, und alle Angaben lassen sich natürlich rechtfertigen. Manche beenden ihre Darstellung 1921 mit dem Abschluss des Bürgerkriegs, als der bewaffnete Widerstand gegen die Bolschewiki endgültig niedergeschlagen wurde, und mit der Konsolidierung der Sowjetdiktatur. Andere identifizierten das Ende mit dem Tod Lenins im Jahr1924, so wie ich in meinem Buch Die Tragödie eines Volkes (auf das ich mich hier wiederholt beziehe), weil die Grundinstitutionen, wenn auch nicht die Praktiken, des stalinistischen Regimes zu diesem Zeitpunkt etabliert waren. Ein oder zwei haben sich für 1927 entschieden, das heißt für die Niederlage Trotzkis und der Linken Opposition, oder für1929, also für den Anbruch einer neuen revolutionären Umwälzung in Form der Zwangsindustrialisierung und -kollektivierung des Ersten Fünfjahresplans, womit sie die stalinistische Wirtschaft als wesentliche Folge von 1917 in den Raum stellen.

Eine der einflussreichsten Historikerinnen der Sowjetperiode, Sheila Fitzpatrick, ließ ihre kurze Geschichte der Revolution Mitte der 1930er Jahre ausklingen, in einer Zeit des »Rückzugs« von den utopischen Zielen, als sich der wirtschaftliche Strukturwandel von Stalins Revolution zu einem permanenten System verfestigt hatte. Wie sie später einräumte, wollte sie so darauf hinweisen, dass der Große Terror von 1937/38 ein »monströses Postskriptum« der Revolution – eine durch die Kriegsfurcht des Regimes zu erklärende Verirrung – gewesen sei, wohingegen er in Wirklichkeit ein Teil der Revolution war, die größte in einer Reihe von Terrorwellen, die sich nur auf die bereits 1917 entstandenen Unsicherheiten des Sowjetregimes zurückführen lässt. Den Großen Terror aus einer Geschichte der russischen Revolution auszusparen, gab Fitzpatrick zu, wäre das Gleiche wie eine Darstellung der Französischen Revolution von 1789 ohne die Schreckensherrschaft (1793/94), für die sie in erster Linie bekannt sei.1

Der Große Terror war nicht die letzte Welle von Gewalt im Sowjetstaat. Die Bevölkerung der Gulag-Arbeitslager, die Solschenizyn im Zentrum des bolschewistischen Experiments ansiedelte, erreichte ihren Höchststand nicht1938, sondern erst 1952. Deshalb ist es nicht sehr sinnvoll, eine Geschichte der Revolution mit dem Abschluss des Großen Terrors zu beenden. Andererseits hat es genauso wenig Sinn, sie 1939 oder 1941 abzubrechen. Der Zweite Weltkrieg unterbrach die Revolution nicht, sondern er intensivierte und erweiterte sie. Der Bolschewismus kam während des Kriegs voll zur Geltung, denn mit seiner militärischen Disziplin und seinem Opferkult, seiner Bereitschaft, Menschenleben auf dem Weg für seine Ziele preiszugeben, und seiner Fähigkeit, die Massen mit Hilfe seiner Planwirtschaft zu militarisieren, war er für den Kampf wie geschaffen. Die Revolution wurde durch den Krieg erneuert und gestählt. Durch die Rote Armee und die NKWD-Einheiten verschärfte das Sowjetreich die Kontrolle über seine Grenzgebiete in der Westukraine und im Baltikum, säuberte Städte und Dörfer und schickte nationalistische Rebellen, repatriierte sowjetische Soldaten und »Kollaborateure« mit den Deutschen zu Hunderttausenden in den Gulag. Mit Waffengewalt exportierten die Bolschewiki die russische Revolution nach Osteuropa: zuerst 1939/40 und abermals 1945.

Der Kalte Krieg ist in diesem Sinne als Fortsetzung des internationalen Bürgerkriegs zu sehen, den die Bolschewiki 1917 einleiteten. Die weltweiten Ambitionen der Revolutionsführer blieben im Wesentlichen unverändert – von ihren ersten Versuchen, die Sowjetmacht 1920 durch ihren Einmarsch in Polen auf Europa auszudehnen, bis zu ihrem letzten ausländischen Abenteuer in Afghanistan nach 1979. Lenins Machtübernahme hatte auf dem Gedanken beruht, dass die Revolution in einem rückständigen Agrarstaat wie Russland nicht allein überleben könne, sondern auf die Unterstützung durch Revolutionen in den weiter fortgeschrittenen Industriestaaten oder in Ländern angewiesen sei, die ihm die zur Industrialisierung erforderlichen Ressourcen zu liefern vermochten. Ein Konflikt auf Leben und Tod zwischen dem Sozialismus und den kapitalistischen Mächten sei unvermeidlich, solange der Kapitalismus existiere. In dieser Hinsicht waren Stalin, Chruschtschow, Breschnew und Andropow, wenn auch nicht Gorbatschow, sämtlich Leninisten.

Bis ans Ende ihres Regimes glaubten die Sowjetführer, dass sie die von Lenin begonnene Revolution fortsetzten. Gewiss änderten sich ihre Herrschaftsmethoden im Lauf der Zeit, besonders nach Stalins Tod, als sie auf den Einsatz von Massenterror verzichteten, doch sie sahen sich stets als Lenins Erben, die auf dieselben utopischen Ziele hinarbeiteten wie die Gründer des Sowjetstaats: eine kommunistische Gesellschaft des materiellen Überflusses für das Proletariat und einen neuen kollektiven Menschentyp. Insofern meine ich, dass es überzeugende Argumente dafür gibt, die Revolution als einheitlichen, 100 Jahre dauernden Zyklus zu behandeln, der mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems im Jahr 1991 endete.

Innerhalb dieses längeren Zyklus beabsichtige ich, den Aufstieg und Fall der Revolution in drei Generationsphasen zu erklären. Die erste entspricht der Lebenszeit der Altbolschewiki, die zumeist in den 1870er oder 1880er Jahren geboren und, falls sie nicht bereits tot waren, durch den Großen Terror ausgelöscht wurden. Ihre utopischen Ideale und ihre asketische Parteikultur der militärischen Einheit und Disziplin waren durch Jahre des Kampfes im konspirativen Untergrund geprägt worden. Ihre revolutionäre Macht erlangten sie aber infolge der Katastrophe des Ersten Weltkriegs – die scheinbar gleichzeitig den Wert eines Menschenlebens untergrub und die Möglichkeit eröffnete, das Wesen der Menschheit mit Hilfe der von ihr bewirkten Vernichtung umzugestalten –, und sie erreichten den Höhepunkt ihres destruktiven Furors im Bürgerkrieg, aus dem die Bolschewiki nicht bloß siegreich hervorgingen, sondern bestärkt in ihrer Überzeugung, dass sie jede Festung stürmen könnten. Von den Schlachtfeldern zurückgekehrt, machten sie sich daran, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Sie waren freilich nicht in der Lage, das Problem des Bauerntums – genauer, der Kleinbauernfamilien, die drei Viertel der Bevölkerung des Landes ausmachten und die Wirtschaft dominierten – mit seinen individualistischen Einstellungen, den patriarchalischen Bräuchen und seiner Bindung an die altrussische Welt des Dorfes und der Kirche zu überwinden. Nach Ansicht vieler neuer Parteianhänger, nämlich der Bauernsöhne und -töchter, welche die »rückwärtsgewandten« Dörfer verlassen hatten, um ein besseres Leben zu finden, konnte die Revolution das bäuerliche Russland gar nicht schnell genug vertreiben.

Hier lagen die Wurzeln der stalinschen »Revolution von oben«, der zweiten Phase des in diesem Buch dargestellten Zyklus, die mit dem Fünfjahresplan von 1928–1932 begann. Die Modernitätsvision des Stalinismus verlieh den utopischen Hoffnungen der Bolschewiki neuen Auftrieb. Sie mobilisierte eine neue Generation von Enthusiasten: junge ehrgeizige Arbeiter, Funktionäre und Techniker, die um die Jahrhundertwende geboren und im Einklang mit Sowjetwerten ausgebildet worden waren. Diese Menschen setzten Stalins hastige Kollektivierungs- und Industrialisierungsmaßnahmen durch und rückten infolge der Säuberungen der 1930er Jahre an den Platz der alten Eliten. Die Kollektivierung war die wirkliche Revolution der Sowjetgeschichte – der völlige Umsturz einer bäuerlichen Lebensweise, die sich über viele Jahrhunderte entwickelt hatte – und ein Desaster, von dem sich das Land nie erholte. Es handelte sich um einen sozialen Holocaust, einen Krieg gegen die Bauern, der Millionen von arbeitsamen Familien aus ihren Heimen vertrieb und sie über die ganze Sowjetunion verstreute. Diese nomadische Bevölkerung wurde zum Arbeitskräftereservoir der sowjetischen industriellen Revolution; sie füllte die Großstädte sowie die Baustellen und Arbeitslager des Gulag.

Die in den 1930er Jahren von Stalin errichtete industrielle Infrastruktur blieb bis zum Ende des Sowjetsystems bestehen. Seine Fünfjahrespläne wurden überall auf der Welt zum Vorbild für kommunistische Entwicklungsprojekte. Sie galten als Ursache des sowjetischen Militärsiegs von 1945 und als Rechtfertigung und Grundlage für alles, was die Oktoberrevolution laut Sowjetpropaganda vollbracht hatte. Diese Leistungen forderten jedoch einen enormen menschlichen Preis – viel höher, als wir ihn uns vor der Öffnung der Archive nach 1991 vorgestellt hatten, und so hoch, dass wir über den moralischen Charakter des stalinistischen Regimes auf eine Weise nachdenken müssen, die bis dahin den Historikern des Nationalsozialismus vorbehalten war.

Chruschtschows Rede, mit der er Stalins Verbrechen anprangerte, markiert den Beginn der dritten und letzten Phase der Revolution. Das Sowjetsystem erholte sich nie von der Glaubenskrise, die Chruschtschows Enthüllungen auf dem 20. Parteitag im Jahr 1956 ausgelöst hatten. In den folgenden dreißig Jahren war die Parteileitung uneins in der Frage, in welchem Maße sie auf Stalins Vermächtnis, abgesehen von seiner Rolle als Kriegsherr, aufbauen oder überhaupt seinen Einfluss anerkennen konnte. Das Land war gespalten zwischen Stalins Opfern und denen, die sein Andenken ehrten oder Stolz auf die sowjetischen Errungenschaften unter seiner Führung empfanden. Die Rede aber war das Schlüsselerlebnis für eine jüngere Generation (die schestidesjatniki oder »Leute der 60er«), die sich mit den Jahren des chruschtschowschen »Tauwetters« identifizierte, darunter ein Jura-Absolvent der Moskauer Universität von 1955 namens Michail Gorbatschow, dessen Ideen von einer sozialistischen Erneuerung durch Chruschtschows Entstalinisierungsprogramm gesät wurden.

Die Herausforderung für alle späteren Sowjetführer bestand darin, den Volksglauben an die Revolution, die allmählich zu einem fernen historischen Ereignis wurde, aufrechtzuerhalten. Das Problem stellte sich besonders akut bei der Generation der nach 1945 Geborenen, denn sie hatte nicht einmal einen persönlichen Bezug zum »Großen Vaterländischen Krieg«, dem zweiten legitimierenden Hauptmythos der UdSSR nach der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution«. Besser ausgebildet und anspruchsvoller als die Generation der Stalin-Epoche, interessierten sich die sowjetischen Babyboomer der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weniger für die Geschichte und die Ideen der Revolution als für westliche Musik, Filme und Kleidung. Wurde der Untergang des Sowjetsystems dadurch unvermeidlich? Ist jede Revolution dazu bestimmt, ihre Energie einzubüßen und an Altersschwäche zu sterben, wenn sie so lange lebt wie die Sowjetunion? Die chinesische Antwort auf das Problem (in Form einer Liberalisierung der Wirtschaft innerhalb des Einparteienstaats) hätte der Sowjetführung unter Andropow und Gorbatschow eine kurzfristige Alternative bieten können, obwohl zweifelhaft ist, ob eine ökonomische Modernisierung das System auf lange Sicht gerettet hätte (die Sowjetbevölkerung hatte vergessen, wie man arbeitet). Am Ende aber war es Gorbatschows Einsatz für eine politische Reform – eine Überzeugung, die in seinen leninistischen Idealen wurzelte –, welcher das System zum Einsturz brachte.

2017 werden die Medien der Welt über die Revolution anlässlich ihrer Hundertjahrfeier nachdenken. Es ist ein guter Zeitpunkt für den Rückblick auf 1917. Eine Generation nach seinem Kollaps können wir das Sowjetregime klarer erkennen, und zwar nicht bloß als Teil der Politik des Kalten Kriegs oder der Sowjetologie, sondern als Geschichte, als eine Abfolge von Ereignissen mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende.

Die Distanz der Rückschau ermöglicht uns, die Revolution aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und abermals die großen Fragen zu stellen: Warum Russland? Warum Lenin? Warum Stalin? Warum scheiterte sie? Und was bedeutete das alles? Die Beschäftigung mit solchen Fragen lohnt sich zu Beginn der nächsten hundert Jahre genauso sehr wie im Lauf des vergangenen Jahrhunderts.

Aus heutiger Sicht stellt sich die Revolution ganz anders dar als noch 1991. Der Kommunismus wirkt heute mehr denn je wie eine Erscheinung aus einem verflossenen historischen Stadium. Der Kapitalismus mag seine Krisen durchmachen, aber außerhalb Nordkoreas hält niemand das sowjetische Planwirtschaftsmodell für eine lebensfähige Alternative, nicht einmal mehr China oder Kuba. Russland als Weltmacht ist viel schwächer geworden. Der Verlust seines Reiches und seines grenzüberschreitenden Einflusses war so dramatisch, dass man sich fragt, wie es die Sowjetunion und Osteuropa so lange zusammenhalten konnte. Ungeachtet seiner jüngsten Intervention in der Ukraine ist Russland nicht länger die aggressive Bedrohung, die es einst für den Westen darstellte, wenngleich es auf seine Nachbarstaaten aus der ehemaligen Sowjetunion anders wirken mag. Es zettelt keine ausländischen Kriege mehr an. Wirtschaftlich gesehen, ist es nur noch ein blasses Abbild des Kraftzentrums, das es unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg war. Siebzig Jahre Kommunismus haben es ruiniert. Und doch ist die autoritäre Staatstradition in Russland auf eine Art wiedererwacht, mit der man vor zwanzig Jahren nicht gerechnet hätte. Diese Wiederauferstehung, die sich auf Putins Rückforderung der sowjetischen Vergangenheit gründet, macht es notwendig, dass wir den Bolschewismus – seine Vorgeschichte und sein Erbe – von Neuem im langen Bogen der Geschichte betrachten.

1DER BEGINN

Nach einem Jahr der Wetterkatastrophen sahen sich die Bauern Südostrusslands im Sommer 1891 einer Hungersnot ausgesetzt. Die im vorherigen Herbst gesäten Samen hatten kaum gekeimt, als die Fröste einsetzten. Wenig Schnee war gefallen, so dass die Sprösslinge während des strengen Winters keinen Schutz gehabt hatten. Der Frühling brachte staubige Winde mit sich, die den Mutterboden fortbliesen, und dann, bereits im April, begann der lange trockene Sommer. Hundert Tage lang blieb jeglicher Regen fern. Brunnen und Teiche trockneten aus, die verbrannte Erde barst, Wälder wurden braun, und Vieh verendete am Straßenrand.

Im Herbst breitete sich das Hungersnotgebiet vom Ural bis zur Ukraine aus; es umfasste eine Fläche von der doppelten Größe Frankreichs mit einer Bevölkerung von 36 Millionen Menschen. Die Bauern wurden schwach und zogen sich in ihre Hütten zurück. Sie lebten von »Hungerbrot« aus Roggenhülsen, gemischt mit Gänsefuß, Moos und Baumrinde, welche die Laibe gelb und bitter werden ließ. Diejenigen, die noch genug Kraft hatten, packten ihre spärlichen Habseligkeiten und flohen, wohin sie konnten, bis ihre Karren die Straßen blockierten. Und dann schlugen Cholera und Typhus zu, denen bis Ende 1892 eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel.

Die Regierung reagierte schwerfällig auf die Krise. Zuerst vergruben ihre Mitglieder den Kopf im Sand, sprachen euphemistisch von einer »schlechten Ernte« und warnten die Zeitungen davor, Artikel über die »Hungersnot« zu drucken, was viele jedoch trotzdem taten (ohne das Wort zu benutzen). Dies genügte, um die schockierte und besorgte Allgemeinheit zu überzeugen, dass die Regierung sich verschworen hatte, die Wahrheit zu verbergen. Man erzählte sich, die starrsinnige Bürokratie halte Hilfsmaßnahmen zurück, bis »statistische Beweise« dafür vorlägen, dass die bedürftige Bevölkerung keine andere Möglichkeit habe, sich zu ernähren. Die öffentliche Empörung wurde aber vor allem dadurch geschürt, dass die Regierung ein Verbot von Getreideexporten bis Mitte August hinauszögerte, das heißt bis mehrere Wochen nach dem Anfang der Krise, so dass sich Händler beeilten, ihre Auslandsaufträge zu erfüllen, und Lebensmittel, die man den hungernden Bauern hätte zuteilen können, über die Grenzen verschwanden. Auch dann hatte sich das Finanzministerium dem Ausfuhrverbot weiterhin widersetzt. Seine Wirtschaftspolitik (Erhöhung der Steuern auf Konsumgüter, damit die Bauern gezwungen waren, mehr Getreide zu verkaufen) war in den Augen der Öffentlichkeit die Hauptursache für die Hungersnot. Die unglücklich formulierte amtliche Parole lautete: »Vielleicht essen wir nicht genug, aber wir werden exportieren.«1

Da die Regierung der Situation nicht Herr wurde, bat sie die Bürger um Hilfe. Dies sollte sich als historischer Moment erweisen, denn nun brach sich eine mächtige neue Welle gesellschaftlicher Aktivitäten und Debatten Bahn, welche die Regierung nicht kontrollieren konnte und die bald von philanthropischen auf politische Belange übergriff.

Die Resonanz war gewaltig. »Vertreter der Öffentlichkeit« gründeten Hunderte von Komitees, um Geld für die hungernden Bauern aufzubringen. Tausende wohlmeinender Bürger schlossen sich den Hilfsmannschaften der Semstwos an. So bezeichnete man vom liberalen Adel dominierte Selbstverwaltungseinheiten, die seit ihrer Gründung im Jahr 1864 »gute Werke« für die ländliche Bevölkerung (Bau von Schulen und Krankenhäusern, landwirtschaftliche Hilfe und Finanzierung, Sammlung von statistischen Angaben über das Bauernleben) verrichtet hatten. Berühmte Schriftsteller wie Tolstoi und Tschechow (der auch Arzt war) legten die Feder nieder, um bei den Hilfsaktionen mitzuwirken. Tolstoi machte die Gesellschaftsordnung, die orthodoxe Kirche und die Regierung für die Hungersnot verantwortlich: »Alles geschieht um unserer Sünden willen. Wir haben uns von unseren Brüdern abgesondert, da hilft nur das eine – Reue, und daß wir unser Leben ändern und die Mauern zwischen uns und dem Volk niederreißen.«2 Seine Botschaft fand Widerhall im Gewissen der Liberalen, die sowohl von Gefühlen der Entfremdung gegenüber den Bauern als auch von Schuld wegen ihrer eigenen Privilegien geplagt wurden.

Die russische Gesellschaft wurde durch die Hungersnot politisiert und organisierte sich seit 1891 stärker, um der Regierung Widerstand bieten zu können. Die Semstwos erweiterten ihre Aktivitäten mit dem Ziel, die ländliche Wirtschaft wiederzubeleben. Ärzte, Lehrer und Ingenieure gründeten Fachverbände und verlangten mehr Einfluss auf die Politik. In Zeitungen und Zeitschriften, an Universitäten und in wissenschaftlichen Gesellschaften kam es zu hitzigen Debatten über die Ursachen der Krise. Dabei wurden Marx’ Gedanken über die kapitalistische Entwicklung in der Regel als überzeugendste Erklärung für die Verarmung der Bauern akzeptiert. Das globale Marktsystem spalte die Bauern in Reich und Arm, die industrielle Fertigung schwäche die bäuerlichen Handwerke, und ein landloses Proletariat bilde sich heraus. Die sozialistische Bewegung, die in den 1880er Jahren überwiegend geruht hatte, erwachte infolge dieser Debatten wieder zum Leben. Mit den Worten von Lydia Dan, die 1891 noch eine Jugendliche war und später zu den Gründern der bedeutendsten russischen marxistischen Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SD), gehören sollte, erwies sich die Hungersnot als wesentlicher Markstein für die Geschichte der Revolution, denn sie habe der Jugend ihrer Generation gezeigt, »dass das russische System völlig bankrott war. Es schien, als stehe Russland am Abgrund.«3

Wann beginnt eine »revolutionäre Krise«? Trotzki lieferte eine Antwort, indem er unterschied zwischen den objektiven Faktoren (menschliches Elend), die eine Revolution ermöglichen würden, und den subjektiven Faktoren (menschliches Einwirken), die sie auslösen könnten. Im russischen Fall reichte die Hungersnot allein nicht aus. Sie führte nicht zu Bauernaufständen, und selbst wenn solche Unruhen ausgebrochen wären, hätten sie, für sich genommen, keine große Bedrohung für den zaristischen Staat dargestellt. Vielmehr waren es die Erwartungen der Oberschicht – und die Weigerung des Zaren, Kompromisse mit ihr zu schließen –, durch welche die Hungersnotkrise revolutionär wurde.

Als Nikolaus II. 1894 nach dem verfrühten Tod seines Vaters Alexander III. den Thron bestieg, legten ihm die progressivsten Semstwo-Führer des Landes eine Liste ihrer politischen Forderungen vor. Sie wollten eine Nationalversammlung einberufen lassen, um die Semstwos an der Regierungsarbeit zu beteiligen. Doch in einer Rede, welche die öffentliche Meinung empörte, tat Nikolaus solche »sinnlosen Träume« ab und unterstrich sein »entschlossenes und unnachgiebiges« Festhalten am »Prinzip der Autokratie«, dessen Bewahrung er in seinem Krönungseid gelobt hatte. Die Oberhoheit des Zaren sei absolut, uneingeschränkt durch Gesetze oder Parlamente, Bürokraten oder Öffentlichkeit, und seine persönliche Herrschaft werde nur durch sein Gewissen vor Gott beeinflusst.

Nikolaus glaubte, es sei seine heilige Mission, der autokratischen Herrschaft seines Vaters nachzueifern, aber es mangelte ihm an dessen gebieterischer Persönlichkeit und den erforderlichen Fähigkeiten für eine effektive Regierung. Bei seiner Thronbesteigung war er erst 26 Jahre alt, und nach dem Tod seines Vaters hatte er geweint: »Was soll nur aus mir werden und aus Rußland? Ich bin nicht darauf vorbereitet, Zar zu sein, und wollte nie einer werden. Ich weiß nichts über das Geschäft des Regierens. Ich weiß nicht einmal, wie ich mit den Ministern reden soll.«4

Wären die Umstände und seine eigenen Neigungen anders gewesen, hätte Nikolaus die Monarchie vielleicht dadurch retten können, dass er sie im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft, als noch die Aussicht bestand, liberale Hoffnungen zu erfüllen und die Revolutionäre zu isolieren, in Richtung eines Verfassungsmodells veränderte. In England, wo es für einen erfolgreichen Monarchen genügte, ein »guter Mann« zu sein, hätte er einen vortrefflichen Souverän abgegeben. Jedenfalls war er seinem Cousin und physischen Doppelgänger Georg V., der als Muster eines konstitutionellen Königs diente, nicht unterlegen. Er war sanftmütig, hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und ein vollendetes Anstandsgefühl, womit er für die zeremoniellen Aufgaben eines Verfassungsmonarchen ideal geeignet gewesen wäre. Als Kaiser und Autokrat aller Reußen, Zar von Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Kasan, Astrachan, Polen, Sibirien, des Taurischen Chersoneses, Georgien usw., usw. war er jedoch in eine andere Welt hineingeboren worden. Familientradition und Druck durch die konservativen Verbündeten der Krone zwangen ihn, machtvoll und entschlossen zu regieren und seine »göttliche Autorität« gegenüber der Opposition zu behaupten.

Hier lagen folglich die Wurzeln des Zusammenbruchs der Monarchie, nicht in der Unzufriedenheit der Bauern oder in der Arbeiterbewegung, auf die sich marxistische Gelehrte und Sozialhistoriker so lange konzentrierten, und nicht in nationalistischen Abspaltungen an der Peripherie des Reiches, sondern in dem wachsenden Konflikt zwischen einer dynamischen öffentlichen Kultur und einer verknöcherten Autokratie, die den politischen Forderungen der Allgemeinheit nicht entgegenkam oder sie auch nur verstand.

Das Russische Reich war vor den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine relativ stabile Gesellschaft gewesen, unbelastet durch die Revolutionen, welche die anderen Monarchien Europas 1848/49 erschütterten, als Bakunin es »den letzten Despotentrost« nannte. Seine gewaltige Armee schlug die polnischen Aufstände von 1830 und 1863 nieder, die wichtigste nationalistische Herausforderung für die imperiale Herrschaft des Zaren, und seine Polizei erschwerte die Tätigkeit der winzigen, eng miteinander verbundenen Kreise von Radikalen und Revolutionären, die zumeist in den Untergrund getrieben wurden.

Der Macht des Zaren stand nur ein schwaches Gegengewicht in Form des Landadels gegenüber. Der russische Adel hing jedoch stark vom Militär- und Beamtendienst ab, was seinen Grundbesitz und seine gesellschaftliche Stellung betraf. Auch gab es keine wirkungsvollen öffentlichen Gremien, welche der Autokratie die Stirn hätten bieten können, denn die meisten Institutionen (Organe der Selbstverwaltung, Berufsverbände, wissenschaftliche und künstlerische Vereinigungen) waren vom Staat geschaffen worden. Der Monarch ernannte sogar die obersten Amtsträger der orthodoxen Kirche.

Die Kirche hatte vor allem das ländliche Russland weiterhin fest unter Kontrolle. In vielen Dörfern war der Pope einer von wenigen, die lesen und schreiben konnten. In Gemeindeschulen brachte die orthodoxe Geistlichkeit den Kindern bei, nicht nur lokalen Respektspersonen, sondern auch dem Zaren und seinen Vertretern Loyalität, Ehrerbietung und Gehorsam zu erweisen.

Ungeachtet seiner autokratischen Ansprüche machte sich der zaristische Staat auf dem Lande allerdings kaum bemerkbar und konnte viele grundlegende Aspekte des Bauernlebens nicht in den Griff bekommen, wie die Hungersnot gezeigt hatte. Im Gegensatz zu dem mythischen Bild, das die Revolutionäre von einem allmächtigen zaristischen Regime malten, war die mangelnde Verwaltung der Ortschaften in Wirklichkeit die Hauptschwäche des Systems. Auf 1000 Einwohner des Russischen Reiches kamen Ende des 19. Jahrhunderts lediglich 4 Staatsbeamte, verglichen mit 7,3 in England und Wales, 12,6 in Deutschland und 17,6 in Frankreich. Die reguläre Polizei, im Unterschied zu ihrer politischen Abteilung, war nach europäischen Maßstäben zahlenmäßig äußerst klein. Bei einer Landbevölkerung von 100 Millionen Menschen verfügte Russland im Jahr 1900 lediglich über 1852 Polizeisergeanten und 6874 Polizeiwachtmeister. Nachdem die Bauern durch die Leibeigenenbefreiung von der Direktherrschaft durch ihre Grundeigentümer entbunden worden waren, blieben sie in der Realität zumeist sich selbst überlassen.

Trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft drückte deren Erbe die Bauern auch noch in den folgenden Jahrzehnten nieder. Der größte Teil des Ackerlands blieb im Privatbesitz der Adligen, die es zu Preisen, die im späteren 19. Jahrhundert mit dem Bevölkerungszuwachs steil anstiegen, an die Bauern verpachteten. Dabei blieben Letztere aus der offiziellen Rechtssphäre ausgeschlossen. Ihre Angelegenheiten wurden vom Gewohnheitsrecht der Dorfgemeinschaft (mir oder obschtschina) geregelt. Dieses Recht hielt in den meisten Gebieten Russlands an der alten bäuerlichen Wertvorstellung fest, dass das Land einzig und allein Gott gehöre und dass jede Familie befugt sei, sich davon zu ernähren, indem sie es mit ihrer eigenen Arbeit bestelle. Nach diesem Prinzip – das Land solle in den Händen derjenigen sein, die es bebauten – stand den Gutsherren ihr Land nicht rechtmäßig zu, und die hungernden Bauern waren mit ihrem Bemühen, es ihnen wegzunehmen, durchaus im Recht. Somit herrschte ein ständiger Konflikt zwischen dem kodifizierten Recht des Staates, das dem Schutz der Grundeigentümer diente, und dem Gewohnheitsrecht der Bauern, mit dem diese ihre eigenen Übergriffe verteidigten: Wilderei und Weiden ihres Viehs auf dem Boden des Gutsherrn, Holzfällerei in dessen Wald, Fischfang in dessen Teichen und so weiter.

Adlige Amtsrichter waren für die juristische Verwaltung der Landgebiete verantwortlich. Noch 1904 hatten sie die Macht, betrunkene Bauern nach Randalierereien oder wegen unbefugten Betretens eines Grundstücks auspeitschen zu lassen. Die psychologischen Folgen dieser körperlichen Züchtigung – 43 Jahre nach der »Befreiung« der Leibeigenen – können kaum überschätzt werden. Ein Bauer, der ausgepeitscht wurde, weil er vor dem Amtsrichter nicht den Hut abgenommen und sich verbeugt hatte, fragte später: »Was bedeutet ein armer Bauer für einen hohen Herrn? Nicht einmal so viel wie ein Hund … Der kann wenigstens zubeißen, während der Bauer sanft und bescheiden ist und alles hinnimmt.«5

Der Zwangsaspekt der Autorität trat überall zutage: in den Beziehungen zwischen Offizieren und Gemeinen bei den Streitkräften, zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, zwischen bäuerlichen Familienoberhäuptern und ihren Frauen und Kindern. Laut einem russischen Sprichwort wurde eine Frau durch regelmäßige Prügel besser, und »für einen Mann, der geschlagen worden ist, müssen zwei ungeschlagene angeboten werden«. Zu Weihnachten, am Dreikönigsfest und zur Fastnacht brachen enorme und manchmal tödliche Kämpfe, die von Saufgelagen begleitet wurden, zwischen unterschiedlichen Dorfteilen oder sogar zwischen ganzen Dörfern aus. Wie immer man diese Gewalttätigkeit erklärt – mit der Kultur der Bauern, ihren rauen Lebensumständen oder der Schwäche der Rechtsordnung –, sie sollte 1917 beim Umsturz der Obrigkeit eine wichtige Rolle spielen.

Das zaristische System war der Urbanisierung sowie der Entwicklung einer modernen Marktwirtschaft nicht gewachsen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts so viele demokratische Neuerungen mit sich brachten. Vor allem die 1890er Jahre bedeuteten eine Wende: Auf dieses Jahrzehnt können wir die Entstehung einer Bürgergesellschaft, einer öffentlichen Sphäre und Ethik – sämtlich in Opposition zum Staat – datieren.

Tief greifende soziale Änderungen spielten sich ab. Die alte Hierarchie der Stände (soslowija), welche die Autokratie geschaffen hatte, um die Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen auszurichten, zerbröckelte allmählich, während ein neues und dynamischeres System – zu kompliziert, um es mit »Klassenbegriffen« zu beschreiben – Gestalt anzunehmen begann. Als Bauern oder gar als Leibeigene geborene Männer stiegen zu Kaufleuten, Ingenieuren und Grundeigentümern auf (wie der fiktionale Lopachin, der den Kirschgarten in Tschechows Drama erwirbt). Kaufleute wurden zu Adligen. Die Söhne und Töchter von Adligen waren vermehrt in den freien Berufen zu finden, und die soziale Mobilität beschleunigte sich durch die Verbreitung des Hochschulwesens (zwischen 1860 und 1914 erhöhte sich die Zahl der Universitätsstudenten in Russland von 5000 auf 69.000, 45 Prozent davon Frauen). Öffentliche Meinungsäußerungen und gesellschaftliche Tätigkeit fanden in jenen Jahren immer mehr praktische Anwendungsmöglichkeiten, denn die Zahl der Tageszeitungen stieg von 13 auf 856 und die der öffentlichen Einrichtungen von 250 auf über 16.000.

Diese Änderungen trugen auch zum Aufstieg der nationalistischen Bewegungen am Rand des Reiches bei. Bis zur Entwicklung von Dorfschulen und Kommunikationsnetzen blieb der Nationalismus eine elitäre städtische Aktivität für Muttersprachenrechte an Schulen und Universitäten, in literarischen Publikationen und im Amtsbereich. Außerhalb der Städte war sein Einfluss begrenzt, denn die Bauern nahmen ihre Nationalität kaum zur Kenntnis. »Ich wusste nicht, dass ich Pole war, bevor ich anfing, Bücher und Zeitungen zu lesen«, erinnerte sich ein Bauer nach 1917.6 In vielen Gegenden, etwa in der Ukraine, in Weißrussland und im Kaukasus, herrschte ein solches Völkergemisch, dass kaum mehr als ein lokal geprägtes Identitätsgefühl im Bewusstsein der Menschen haften bleiben konnte. »Wenn man den durchschnittlichen Bauern in der Ukraine nach seiner Nationalität fragte«, meinte ein britischer Diplomat, »würde er antworten, er sei griechisch-orthodox. Hakte man nach, ob er Russe, Pole oder Ukrainer sei, würde man wahrscheinlich hören, er sei Bauer, und wenn man wissen wollte, welche Sprache er spreche, würde er sagen, es sei die ›Heimatsprache‹.«7

Das Wachstum der nationalistischen Massenbewegungen hing von der Verbreitung ländlicher Schulen und Institutionen ab, beispielsweise den Bauernbünden und -genossenschaften, sowie von der Erschließung ferner Landstriche durch Straßen und Eisenbahnen, Postdienste und Telegrafen. All das vollzog sich sehr rasch in den Jahrzehnten vor 1917. Die erfolgreichsten Bewegungen verknüpften den Kampf der Bauern um Land (zumal wenn es ausländischen Gutsherren, Beamten und Kaufleuten gehörte) mit der Forderung nach Muttersprachenrechten, die den Bauern uneingeschränkten Zugang zu Schulen, Gerichten und Verwaltung ermöglichen sollten.

Ein solches Vorgehen war der Schlüssel zum Erfolg der ukrainischen nationalistischen Bewegung. Bei den Wahlen vom November 1917 zur Konstituierenden Versammlung, dem ersten demokratischen Abstimmungsprozess in der Geschichte des Landes, sollten sich 71 Prozent der ukrainischen Bauern für die Nationalisten entscheiden – ein erstaunlicher Aufschwung des politischen Bewusstseins innerhalb nur einer Generation. Die Bewegung organisierte die Bauern bei ihrem Ringen mit ausländischen (überwiegend russischen und polnischen) Grundbesitzern und mit den »fremdartigen Einflüssen« der Städte (die von Russen, Juden und Polen dominiert wurden). Es war kein Zufall, dass Bauernaufstände zuerst – 1902 – in den Regionen um die Provinz Poltawa ausbrachen, wo die ukrainische nationalistische Bewegung die größten Fortschritte erzielt hatte.

Überall in Russland brachte die Modernisierung – der Städte und Massenkommunikationsmittel, der Geldwirtschaft und vor allem der Dorfschulen – eine Generation junger und besser ausgebildeter Bauern hervor, die den Umsturz der patriarchalischen Dorfwelt anstrebten. Die Alphabetisierung der Bevölkerung stieg von 21 Prozent im Jahr 1897 auf 40 Prozent am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die höchsten ländlichen Raten verzeichnete man unter jungen Männern in stadtnahen Gegenden (9 von 10 bäuerlichen Rekruten der kaiserlichen Armee aus den beiden Provinzen Petersburg und Moskau galten bereits 1904 als lese- und schreibkundig). Die Verbindung zwischen Alphabetisierung und Revolution ist ein bekanntes historisches Phänomen. Die drei großen Revolutionen der europäischen Neuzeit – die englische, die französische und die russische – fanden sämtlich in Gesellschaften statt, in denen sich die Alphabetisierungsrate 50 Prozent näherte. Die Lese- und Schreibfähigkeit fördert die Verbreitung frischer Ideen und ermöglicht den Bauern, neue Technologien und bürokratische Fertigkeiten zu meistern. Die Ortsaktivisten der russischen Revolution stammten in erster Linie aus dieser nunmehr besser ausgebildeten schreibkundigen Generation. Sie waren die Nutznießer der rasanten Entwicklung des ländlichen Schulwesens in den letzten Jahrzehnten des alten Regimes, und ihre Zahl hatte derart zugenommen, dass sie die neuen Ideen an ihre noch analphabetischen Mitbürger weitergeben konnten. Durch seine verspäteten Bemühungen, das einfache Volk zu erziehen, trug das zaristische Regime mithin dazu bei, sein eigenes Grab zu schaufeln.

In einer Untersuchung ländlicher Schulkinder kurz nach 1900 fand man heraus, dass fast die Hälfte einen »Fachberuf« in der Stadt anstrebte, während weniger als 2 Prozent in die Fußstapfen ihrer bäuerlichen Eltern zu treten beabsichtigten. »Ich möchte Verkäufer werden«, sagte ein Schuljunge, »weil ich keine Lust habe, durch den Schlamm zu waten. Ich möchte so sein wie Leute, die sauber gekleidet sind und als Ladenverkäufer arbeiten.«8 Für diese Jugendlichen war der Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg häufig gleichbedeutend mit einer Beschäftigung in der Stadt. Praktisch jede städtische Tätigkeit schien anziehend zu sein, verglichen mit der Mühsal und Eintönigkeit des Bauernlebens. Die Heranwachsenden sahen im Dorf eine »finstere« und »rückständige« Stätte des Aberglaubens und der lähmenden Armut – eine Welt, die Trotzki das Russland der »Ikonen und Küchenschaben« nannte – und sie betrachteten die Stadt und deren moderne Werte als Chance, Unabhängigkeit und Selbstachtung zu erlangen. Dies war die Grundlage, auf die sich der Bolschewismus stützen sollte. Das Fußvolk der Partei rekrutierte sich hauptsächlich aus solchen Bauernjungen, und ihre modernisierende Ideologie beruhte auf deren Ablehnung des Bauernmilieus. Die Revolution würde jene dörfliche Welt hinwegfegen.

Millionen Bauern wurden durch Armut, Übervölkerung und die steigenden Bodenpachten gezwungen, in die Städte zu ziehen oder in ländlichen Fabriken und Bergwerken zu arbeiten. Im letzten halben Jahrhundert des alten Regimes erhöhte sich die Stadtbevölkerung des Reiches von 7 auf 28 Millionen. In den 1890er Jahren verzeichnete man das steilste Wachstum, da die Folgen der Hungersnotkrise mit dem beschleunigten Programm der Industrialisierung und des Eisenbahnbaus zusammenfielen, das Graf Witte, Finanzminister seit1892, vorantrieb.

Die Zuwanderung der Bauern in die Städte folgte einem gewissen Muster: Zuerst kamen die jungen, dann die verheirateten Männer, nach ihnen die unverheirateten Mädchen, dann die verheirateten Frauen mit ihren Kindern. Daraus lässt sich ableiten, dass die Bauern versuchten, ihre scheiternden Höfe so lange wie möglich zu bewirtschaften. Junge Bauern schickten in Bergwerken und Fabriken verdientes Geld in ihre Dörfer, wohin sie selbst zur Erntezeit zurückkehrten (das heißt, sie »plünderten die Bargeldwirtschaft«, wie es in sich entwickelnden Gesellschaften üblich ist). Es herrschte ein ständiges Hin und Her zwischen Stadt und Land. Man kann in gleichem Maße über die »Verbäuerlichung« der russischen Städte wie über das Verschwinden des Agrarbauerntums reden.

In den Fabriken herrschten schreckliche Zustände. Laut Witte waren die »mit der Genügsamkeit des ländlichen Lebens aufgewachsenen« Arbeiter »viel leichter zufriedenzustellen« als ihre Pendants in Europa oder Nordamerika, weshalb ihre »niedrigen Löhne dem russischen Unternehmertum als glückliches Geschenk erschienen«.9 Es gab kaum Fabrikgesetze zum Schutz der Arbeiter. Die von den Briten in den 1840er und den Deutschen in den 1880er Jahren erzielten Fortschritte blieben für russische Arbeiter um die Jahrhundertwende unerreichbar. Die beiden wichtigsten Fabrikgesetze – das eine von1885, das Nachtarbeit für Frauen und Kinder verbot, und das andere von1897, das den Arbeitstag auf elfeinhalb Stunden beschränkte – mussten der Regierung mühsam abgerungen werden. Kleine Produktionsstätten waren von der Gesetzgebung ausgenommen, obwohl sie wahrscheinlich die Mehrheit der Arbeitskräfte des Staates und mit Sicherheit den größten Teil der industriell tätigen Frauen beschäftigten. Um 1914 stellten Letztere 33 Prozent der industriellen Arbeitskräfte, und in Bereichen wie dem Textilwesen und der Lebensmittelverarbeitung bildeten sie eine deutliche Mehrheit. Die Aufsichtsbehörden, die dafür sorgen sollten, dass die Fabriken die Vorschriften erfüllten, hatten keine effektive Macht, weshalb sie von den Arbeitgebern ignoriert wurden. Unbelüftete Produktionsstätten waren voll von Giftschwaden. In die Werkstätten hatte man so viele gefährliche Maschinen hineingestopft, dass sich häufig Unfälle ereigneten, doch den meisten Arbeitern wurde ein gesetzliches Recht auf Versicherung verwehrt, und wenn sie ein Auge oder eines ihrer Gliedmaßen verloren, durften sie höchstens mit ein paar Rubel Entschädigung rechnen. Arbeiterstreiks waren illegal, und bis 1905 gab es keine gesetzlich anerkannten Gewerkschaften.

Viele Fabrikbesitzer behandelten ihre Arbeiter wie Leibeigene. Diese wurden am Fabriktor nach Diebesgut durchsucht und wegen geringfügiger Regelverstöße mit Geldstrafen belegt oder sogar ausgepeitscht. Die Arbeiter sahen sich durch das »Leibeigenensystem« in ihrer Würde herabgesetzt, und »respektvolle Behandlung« wurde in den Streiks und Protesten, die nach 1905 ausbrachen, zu einer entscheidenden Forderung.

Russische Arbeiter waren die streikwilligsten in Europa. Drei Viertel der Fabrikarbeiterschaft traten im Lauf des Jahres 1905 in den Ausstand. Historiker haben viel Zeit darauf verwendet, die Ursprünge dieser Militanz zu erklären. Fabrikgröße, Fachkenntnis und Bildungsgrad, die Zahl der Aufenthaltsjahre in der Stadt und der Einfluss der revolutionären Intelligenzija – all diese Faktoren sind in zahllosen Monographien akribisch untersucht worden, wobei jeder Autor hoffte, die maßgebliche Formel zu entdecken, welche die »Arbeiterrevolution« in Russland in Gang setzte. Die größten Meinungsverschiedenheiten betreffen die Folgen der Urbanisierung.

Manche argumentieren, die am stärksten verstädterten Arbeiter, diejenigen mit dem höchsten Kompetenz- und Bildungsniveau, seien zum Fußvolk der Revolution geworden. Andere meinen jedoch, dass die neu Zugewanderten – die, wie Trotzki es einmal ausdrückte, »dem Pflug entrissen und geradewegs an den Fabrikhochofen geschleudert« wurden10 – häufig die unberechenbarsten und gewalttätigsten Revolutionäre gewesen seien, da sie die spontanen ländlichen Formen der Rebellion ihrer neuen, feindseligen industriellen Umgebung angepasst hätten.

Es steht außer Zweifel, dass die bäuerlichen Zuwanderer der städtischen Arbeiterklasse ein explosives Element hinzufügten. Häufig nahmen Arbeitsunruhen die Form von Tumulten, Pogromen, Plünderei und Maschinenstürmerei an oder man beförderte Vorgesetzte aus der Fabrik hinaus, um sie anschließend in eine Senkgrube oder einen Kanal zu werfen. Solche Aktionen lassen sich in Verbindung mit einer entwurzelten und desorganisierten Bauernmenge bringen, der es schwerfiel, sich der neuen städtischen Welt und der Fabrikdisziplin anzupassen. Gleichwohl ginge die Annahme zu weit, dass derart »primitive« Handlungen – oder die für sie verantwortlichen Neulinge – der wesentliche Faktor für den verstärkten Kampfgeist der Arbeiter gewesen seien. In den 1890er Jahren wurden Streiks zur Hauptform des industriellen Protests, und sie erforderten eine disziplinierte Organisation, die nur von den besten und belesensten Fachkräften aufgebaut werden konnte.

Hier hob sich Russland deutlich von Europa ab, wo dieser Arbeitertypus zumeist am wenigsten revolutionär war und wo die ihn repräsentierenden Parteien in die Parlamente einzogen. Kaum etwas deutete darauf hin, dass sich in Russland eine solche »Arbeiteraristokratie« oder gar ein Parlament herausbildete, dessen Mitgliedschaft sie anstreben konnte. Die Drucker kamen am ehesten für diese Rolle in Frage, doch auch sie standen unerschütterlich hinter den Marxisten und anderen revolutionären sozialistischen Parteien. Wären sie in der Lage gewesen, eigene legale Gewerkschaften zu gründen, hätten die Arbeiter möglicherweise den gleichen Weg der gemäßigten Reform beschritten wie die europäischen Arbeiterbewegungen. Aber durch die russische politische Situation wurden sie zu extremen Verhaltensweisen getrieben. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Führung durch den revolutionären Untergrund zu verlassen. Folglich wurde die aufrührerische Arbeiterbewegung in hohem Maße von der zaristischen Regierung geschaffen.

Die Hungerkrise erweckte die revolutionären Parteien zu neuem Leben, denn sie verschaffte ihnen Anhänger nicht nur aus der Arbeiterschaft, sondern auch aus dem breiter werdenden Spektrum von liberalen Freiberuflern, Studenten, Schriftstellern und anderen Mitgliedern der Intelligenzija – einer Schicht, die sich durch ihre Verpflichtung gegenüber »dem Volk« und ihren Einsatz für ebenjenes definierte. Ihr Engagement hatte eine moralische Grundlage, denn es stützte sich auf die kompromisslose Ablehnung der Autokratie und die Bereitschaft, am demokratischen Kampf gegen sie teilzunehmen.

Es kam zu einem Wiedererwachen der Volkstümlerbewegung, das seinen Höhepunkt 1901 in der Gründung der Sozialrevolutionären Partei (SR) fand. Das Volkstümlertum hatte seine Wurzeln in der Mission der Intelligenzija, nach der Befreiung der Leibeigenen von 1861 das Schicksal der Bauern zu verbessern und sie in eine demokratische Bewegung gegen die Autokratie einzubeziehen. Seit den 1870er Jahren hatten sich die Volkstümler (Narodniki), welche die bäuerliche Lebensweise idealisierten, aufs Land begeben, um die dortigen Bewohner zu erziehen und zu organisieren; manche von ihnen (sie nannten sich Volkswille, Narodnaja wolja) griffen aus Frustration in wachsendem Maße zu Gewalt und Terror, weil die Bauern nicht ihrem revolutionären Ruf folgten. Nach Meinung der Volkstümler konnte die Dorfgemeinschaft zur Basis einer sozialistischen Gesellschaft werden, so dass Russland einen anderen Weg zum Sozialismus beschreiten werde als der Westen, wo die kapitalistische Entwicklung die Bauernschaft zerstöre und wo die marxistischen Revolutionshoffnungen auf der industriellen Arbeiterklasse ruhen würden. Im Unterschied zu den Marxisten vertraten die Volkstümler den Standpunkt, dass das bäuerliche Russland direkt zu einer sozialistischen Gesellschaft voranschreiten könne, ohne zuerst das kapitalistische Geschichtsstadium durchlaufen zu müssen.

Durch die Hungerkatastrophe wurde diese Meinung untergraben. Teils eine Folge des Steuerdrucks auf die Bauern, mit dem die Industrialisierung bezahlt werden sollte, legte die Krise den Gedanken nahe, dass die Bauernschaft als Klasse (einschließlich ihrer Lebensweise) durch die Zwänge der kapitalistischen Entwicklung buchstäblich ausstarb. Allein der Marxismus schien die Ursachen der Hungersnot erklären zu können, indem er aufzeigte, wie die kapitalistische Wirtschaft ländliche Armut hervorrief. Dadurch wurde er in den 1890er Jahren rasch zum Glaubensbekenntnis der russischen Intelligenzija. Sozialisten, die zuvor gezögert hatten, wurden durch die Krise zum Marxismus bekehrt, da sie einsahen, dass der volkstümlerische Glaube an das Bauerntum keine Hoffnung mehr bot. Selbst liberale Denker wie Pjotr Struwe stellten fest, dass ihre marxistischen Leidenschaften durch die Hungersnot entfacht wurden. Er kommentierte: Sie »ließ mich zu einem überzeugteren Marxisten werden als die Lektüre von Marx’ Kapital«.11

Auch die Sozialrevolutionäre wurden von diesem intellektuellen Trend mitgerissen. Unter der Leitung von Viktor Tschernow, einem Jura-Absolventen der Universität Moskau, akzeptierte die Partei die marxistische Sicht der kapitalistischen Entwicklung auf soziologischer Ebene, während sie auf politischem Gebiet weiterhin dem Glauben der Volkstümler anhing, dass Arbeiter und Bauern, die sie als »arbeitendes Volk« bezeichnete, durch Armut und Opposition gegen die Regierung vereint würden.

Marx’ Kapital war bereits 1872 in Russland veröffentlicht worden. Es handelte sich um die erste ausländische Publikation des Buches, nur fünf Jahre nach der deutschen Originalausgabe und fünfzehn Jahre vor der englischen Version. Die zaristischen Zensoren hatten sie in der irrtümlichen Annahme genehmigt, dass »sehr wenige Personen in Russland« die schwergewichtige »Kritik der Ökonomie« lesen und »noch weniger sie verstehen« würden.12 Wider Erwarten sollte Marx’ kritische Untersuchung des kapitalistischen Systems in Russland eher zur Revolution führen als in all jenen westlichen Gesellschaften, an die sich seine Schriften vorrangig richteten.

Die Intelligenzija wurde vom »wissenschaftlichen« Charakter des Marxismus angezogen – er galt, mit Lidia Dans Worten, als »Pfad der Vernunft«, da er »objektive Lösungen« für Elend, Armut und Rückständigkeit anzubieten habe – sowie von seiner Verheißung, dass Russland dem kapitalistischen Westen ähnlicher werden könne. »Uns fesselte sein europäisches Wesen«, erinnerte sich ein altgedientes Mitglied der Bewegung in Russland. »Der Marxismus kam aus Europa. Er roch und schmeckte nicht nach heimischem Schimmel und Spießbürgertum, sondern war neu, frisch und erregend. Er stellte uns in Aussicht, dass wir kein halb asiatisches Land bleiben, sondern Teil des Westens mit seiner Kultur, seinen Einrichtungen und sämtlichen Eigenschaften eines freien politischen Systems werden würden. Der Westen war unser Leitbild.«13

Dies mag der Grund für den Reiz gewesen sein, den der Marxismus auf die Juden ausübte. Sie spielten eine auffällige Rolle in der sozialdemokratischen Bewegung und stellten viele ihrer Führer (Trotzki, Martow, Axelrod, Kamenew und Sinowjew, um nur einige zu nennen). Wo das Volkstümlertum auf dem bäuerlichen Russland hatte aufbauen wollen – das heißt auf einem Land der Pogrome und der Diskriminierung gegen Juden –, verwies der Marxismus auf eine moderne westliche Vision des Staates. Er versprach, die Juden in eine universelle Freiheitsbewegung – nicht bloß in die Befreiung der Bauern – einzubinden, die auf den Prinzipien des Internationalismus beruhen werde.

Auch der junge Lenin ließ sich erst im Anschluss an die Hungersnotkrise endgültig zur marxistischen Hauptströmung bekehren. Im Gegensatz zu dem Sowjetmythos, wonach er sich schon in seiner Kindheit als ausgereifter marxistischer Theoretiker präsentierte, trat der Führer der bolschewistischen Revolution erst spät in die Politik ein. In seinem letzten Schuljahr wurde er von seinem Direktor Fjodor Kerenski (wie es eine Ironie des Schicksals wollte, dem Vater Alexander Kerenskis, seines Erzrivalen im Jahr 1917) als Musterschüler gepriesen: »Weder im Gymnasium noch außerhalb desselben wurde bei Uljanow ein einziger Fall beobachtet, wo er in Wort oder Tat bei den Leitern und Lehrern des Gymnasiums eine abfällige Meinung über sich hervorgerufen hätte!«14

Lenins Vater war ein liberaler Dienstadliger des Typs, den sein Sohn später verachten würde. Die adlige Herkunft des Revolutionsführers erwies sich als peinlich für seine sowjetischen Hagiographen, doch sie lieferte den Schlüssel zu seiner herrischen Persönlichkeit. Sie lässt sich an seiner Intoleranz gegenüber Kritik durch Untergebene ablesen und an seiner Neigung, die Massen lediglich als Menschenmaterial für seine revolutionären Pläne zu betrachten (während der Hungersnot setzte er sich dafür ein, den Bauern jegliche Hilfe zu verweigern, um eine Revolution wahrscheinlicher werden zu lassen). Wie Maxim Gorki 1917 schrieb: »Lenin ist ›Führer‹ und russischer Adliger, und gewisse seelische Eigenschaften dieses ins Nichts verschwundenen Standes sind ihm nicht fremd; deshalb hält er sich für berechtigt, mit dem russischen Volk ein grausames Experiment zu machen, das schon im voraus zum Scheitern verurteilt ist.«15

Bevor Lenin sich mit Marx beschäftigte, war er bereits mit den Ideen der Narodnaja wolja ausgerüstet, also des terroristischen Flügels der Volkstümlerbewegung, der 1881 das Attentat auf Alexander II. begangen hatte. Lenins älterer Bruder Sascha, der Mitglied der Narodnaja wolja gewesen war, wurde 1887 wegen seiner Beteiligung an dem gescheiterten Mordanschlag auf Alexander III. hingerichtet. Laut einer Sowjetlegende sagte Lenin zu seiner Schwester Maria, nachdem beide über den Tod ihres Bruders unterrichtet worden waren: »Nein, den Weg werden wir nicht einschlagen. Unser Weg muss ganz anders sein.«

Damit wird angedeutet, dass sich Lenin bereits für die marxistische Sache (das »Wir« des Zitats) mit ihrer theoretischen Ablehnung des Terrors zugunsten der Organisation der Arbeiterklasse entschieden hatte. Das ist jedoch Unsinn, denn Maria war damals erst neun Jahre alt. Und obwohl es zutreffen mag, dass die Hinrichtung Saschas als Katalysator für Lenins Mitwirkung in der revolutionären Bewegung diente, legte er, wie sein Bruder, als Erstes eine Vorliebe für den Volkswillen an den Tag. Lenins Marxismus, der sich nach 1889 allmählich entwickelte, blieb durchdrungen vom jakobinischen Geist der Terroristen und ihrem Glauben an die überwältigende Bedeutung der Machtübernahme.

Lenin wurde in erster Linie durch das »Jakobinertum« des Revolutionstheoretikers Pjotr Tschatschew (1844–1886) beeinflusst, der sich in den 1870er Jahren für die Machtergreifung und die Errichtung einer Diktatur durch eine disziplinierte und hoch zentralisierte Avantgarde ausgesprochen hatte. Es sei unmöglich, einen sozialen Umbruch mit demokratischen Mitteln zu erzielen, da die kapitalistischen Entwicklungsgesetze besagten, dass die reicheren Bauern den Status quo unterstützen würden. Tschatschew betonte, dass ein Staatsstreich so rasch wie möglich eingeleitet werden müsse, da es vorläufig keine nennenswerte soziale Kraft gebe, die sich für die Regierung engagieren wolle. Wenn man dagegen abwarte, könne eine solche Kraft entstehen.

Sämtliche Hauptkomponenten von Lenins Ideologie leiteten sich nicht nur von Marx, sondern auch von Tschatschew und von der Narodnaja wolja her: sein Nachdruck auf der Notwendigkeit einer »disziplinierten Avantgarde«; seine Überzeugung, dass Aktionen (der »subjektive Faktor«) den objektiven Geschichtsverlauf ändern könnten (und dass insbesondere die Übernahme des Staatsapparats eine soziale Revolution bewirken könnte); seine Verteidigung von Terror und Diktatur; seine Verachtung für Liberale und Demokraten (und auch für Sozialisten, die Kompromisse mit ihnen schlossen). Zudem brachte er eine unverkennbar russische Dosis konspirativen politischen Denkens in eine marxistische Dialektik ein, die sonst passiv geblieben wäre: gefesselt durch die Bereitschaft, auf eine durch objektive Bedingungen gereifte Revolution zu warten, statt diese durch politische Eingriffe auszulösen. Nicht der Marxismus machte Lenin zum Revolutionär, sondern Lenin fügte dem Marxismus eine stärkere revolutionäre Komponente bei.

Lenin war für den Kampf geschaffen und widmete sich voll und ganz der revolutionären Sache. »Das ist mein Leben!«, gestand er der französischen Sozialistin (und seiner Geliebten) Inessa Armand 1916. »Ein Feldzug nach dem anderen.«16 Hinter dem Berufsrevolutionär verbarg sich kein »privater Lenin«. Abgesehen von vereinzelten Liebschaften, lebte er wie ein Provinzbuchhalter mittleren Alters, der die Zeitpunkte für Essen, Schlaf und Arbeit genau festgelegt hatte. Lenin besaß einen stark puritanischen Charakterzug, der später in der politischen Kultur seiner Herrschaft zum Ausdruck kam. Er unterdrückte seine Emotionen, um seine Entschlossenheit zu kräftigen und die »Härte« zu fördern, die der erfolgreiche Revolutionär seiner Meinung nach benötigte: die Fähigkeit, Blut für die Ziele der Revolution zu vergießen. Sentimentalitäten hatten in Lenins Leben keinen Platz. »Ich kann die Musik nicht oft hören«, bekannte er einmal nach einer Aufführung von Beethovens Appassionata. »Sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln … Aber heutzutage … muss man die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen.«17

Im Jahr1893, nach seiner Ankunft in der Hauptstadt St. Petersburg, rückte Lenin viel näher an die herkömmliche marxistische Einstellung heran, nach der sich Russland erst am Beginn seines kapitalistischen Stadiums befand, weshalb eine demokratische Bewegung der Arbeiter im Bündnis mit der Bourgeoisie zur Niederschlagung der Autokratie erforderlich sei, bevor eine sozialistische Revolution ausbrechen könne. Von einem Staatsstreich oder Terror war keine Rede mehr. Erst nach der Errichtung einer »bürgerlichen Demokratie« und der Gewährung von Rede- und Versammlungsfreiheit für die Arbeiter könne die zweite, sozialistische Phase der Revolution einsetzen.

Hier war der Einfluss des im Schweizer Exil lebenden marxistischen Theoretikers Georgi Plechanow maßgeblich. Er umriss als Erster die zweistufige revolutionäre Strategie. Durch sie erhielten die russischen Marxisten endlich eine Antwort auf die Frage, wie eine Gesellschaft, die gerade erst in die kapitalistische Phase eintrat, zu einem postkapitalistischen Stadium übergehen könne. Nun hatten sie eine Basis für ihren Glauben, dass sie trotz des Verzichts auf die Machtergreifung – die laut Plechanow unweigerlich zu einem »Despotismus in kommunistischer Form« führen würde – zum Sozialismus voranschreiten konnten.

Marxistische Gruppen machten sich daran, die Arbeiter mit Hilfe von Propaganda auf die kommende Revolution vorzubereiten. Manche gut geschulten Facharbeiter neigten allerdings eher dazu, ihr Leben innerhalb des kapitalistischen Systems zu verbessern, als dieses umzustürzen. Sie wurden bestärkt durch eine marxistische Vereinigung – die sogenannten Ökonomisten –, die sich bemühte, die Arbeiterbewegung von revolutionären Zielen abzulenken. Lenin führte den Angriff auf den Ökonomismus mit der Brutalität, die zum Merkmal seiner Rhetorik werden sollte. Die Taktik der Ökonomisten werde, wie er darlegte, den Sozialismus und die Revolution zunichtemachen; diese könnten sich nur unter der zentralisierten politischen Führung einer straff gegliederten Avantgardepartei nach Art des Volkswillens durchsetzen. Um das Polizeiregime besiegen zu können, müsse die Partei gleichermaßen zentralisiert und diszipliniert sein. Sie habe sich dem zaristischen Staat als ebenbürtig zu erweisen.

Im Rahmen seiner Polemik gegen die Ökonomisten veröffentlichte Lenin ein Pamphlet, das während der Revolution von 1917 zum Leitfaden für die Bolschewiki und zum Grundsatztext des internationalen Kommunismus werden sollte. Die Auswirkungen von Was tun? – speziell das Diktum, dass die einfachen Parteimitglieder gezwungen werden sollten, den Befehlen der Führung nach militärischem Muster zu gehorchen – wurden nicht in vollem Maße zur Kenntnis genommen, als der Text 1902 erstmals erschien. »Keiner von uns konnte sich vorstellen«, berichtete später eine Sozialdemokratin, »dass es eine Partei geben könnte, die ihre eigenen Mitglieder verhaften lässt.«18

Die Einzelheiten bildeten sich erst auf dem 2. Parteitag heraus, der von August 1903 an in London (im Communist Club in der Charlotte Street 107*) stattfand. Das Ergebnis war eine Spaltung der Partei in zwei separate SD-Fraktionen. Die Ursache wirkte trivial: Es ging um die Definition der Parteimitgliedschaft. Lenin wollte nur Personen aufnehmen, die aktiv in der Parteiorganisation mitwirkten, während Martow bereit war, jeden zum Mitglied zu machen, der mit der Parteisatzung übereinstimmte. Hinter dieser Debatte verbargen sich zwei konträre Ansichten über das Wesen der Partei: Sollte sie eine militärisch-revolutionäre Avantgarde (straff kontrolliert von einem Führer wie Lenin) oder eine breit gefächerte Organisation im westlich-parlamentarischen Stil (mit einer eher lockeren Führung) sein? Bei der Abstimmung errang Lenin eine knappe Mehrheit, wonach seine Anhänger sich selbst als »Bolschewiki« (Mehrheitler) und ihre Gegner als »Menschewiki« (Minderheitler) bezeichneten. Im Rückblick war es unklug von den Menschewiki, diese Bezeichnungen zu akzeptieren, denn dadurch belasteten sie sich mit dem permanenten Erscheinungsbild einer Minderheitspartei, was sich als bedeutender Nachteil für ihren Konkurrenzkampf mit den Bolschewiki erweisen sollte.

* Heute ironischerweise die Zentrale der globalen Werbeagentur Saatchi and Saatchi.

2DIE »GENERALPROBE«

An einem heiteren Sonntagmorgen marschierten die langen Kolonnen der Demonstranten über das Eis hinweg in Richtung des Zentrums von St. Petersburg. Die Glocken der Kirchen läuteten, und ihre goldenen Kuppeln funkelten in der Sonne. In den vorderen Reihen gingen die festtäglich gekleideten Frauen und Kinder, die dort platziert worden waren, um die Soldaten vom Schießen abzuhalten. An der Spitze der längsten Kolonne schritt die bärtige Gestalt von Pater Gapon in einer langen weißen Soutane; er trug ein Kruzifix. Gapon hatte sich einen Namen als Priester in den Arbeiterbezirken der Hauptstadt gemacht. Er erklärte seinen Anhängern mit schlichten, an die Bibel angelehnten Worten, dass der Zar vor Gott verpflichtet sei, die Wünsche »des Volkes« zu erfüllen, wenn es sich mit einem Bittgesuch an ihn wende. Die Petition, die er für die Demonstranten aufgesetzt hatte und die dem Zaren überreicht werden sollte, begann folgendermaßen:

Majestät, wir Arbeiter und Bewohner von St. Petersburg verschiedener Stände, unsere Frauen, unsere Kinder und unsere betagten hilflosen Eltern sind zu Dir, Gossudar, gekommen, um Gerechtigkeit und Schutz zu suchen. Wir sind verelendet, wir werden unterdrückt, über unsere Kraft mit Arbeit belastet, verächtlich behandelt … Wir ersticken unter der Despotie und Rechtlosigkeit.1

Hinter Gapon trug man ein Porträt des Zaren und ein großes weißes Spruchband mit der Aufschrift: »Soldaten, schießt nicht auf das Volk!« Rote Fahnen, die Banner der Revolutionäre, waren von den Organisatoren des Marsches verboten worden.

Während sich die Kolonne dem Narwa-Tor näherte, wurde sie von einer Kavallerieschwadron angegriffen. Einige Demonstranten liefen davon, doch die meisten bewegten sich weiter auf die Infanteriereihen zu, deren Gewehre direkt auf sie gerichtet waren. Zwei Warnsalven wurden in die Luft gefeuert, bevor die Soldaten aus kürzester Entfernung eine dritte Salve auf die unbewaffneten Demonstranten abgaben. Menschen schrien und stürzten zu Boden, doch die Soldaten, die nun ihrerseits in Panik gerieten, schossen pausenlos weiter in die Menge. Vierzig Personen wurden getötet und Hunderte verwundet, während sie zu fliehen versuchten. Gapon wurde im Getümmel umgerannt, aber er rappelte sich auf, schaute fassungslos auf das Gemetzel und stammelte: »Es gibt keinen Gott mehr. Es gibt keinen Zaren!«2

In anderen Stadtteilen kam es zu ähnlichen Massakern. Auf dem Palastplatz hatte man eine mächtige Kavallerieeinheit und mehrere Kanonen vor dem Winterpalais postiert, um weitere 60.000 protestierende Menschen aufzuhalten. Die Gardisten versuchten, die Menge mit Peitschen und der Breitseite ihrer Säbel zu zerstreuen, aber als dies misslang, brachten sie ihre Gewehre in Anschlag. Beim Anblick der auf sie gerichteten Waffen fielen die Demonstranten auf die Knie, nahmen ihre Mützen ab und bekreuzigten sich. Ein Hornsignal ertönte, und das Feuer begann. Danach, als die Gewehre verstummt waren und die Überlebenden auf die Toten und Verwundeten blickten, trat der entscheidende Moment ein, der Wendepunkt der Revolution, an dem die Stimmung von Unglauben in Wut umschlug. »Ich beobachtete die Gesichter um mich herum«, erinnerte sich ein Bolschewik in der Menge, »und ich entdeckte weder Furcht noch Panik. Nein, der ehrerbietige und beinahe flehentliche Ausdruck war Feindseligkeit, sogar Hass gewichen. Ich sah diesen Ausdruck von Hass und Rache buchstäblich auf jedem Gesicht – Alt und Jung, Männer und Frauen.«

Innerhalb von Sekunden war der Volksmythos vom »guten Zaren«, der das Regime durch die Jahrhunderte aufrechterhalten hatte, zerstört. Wenige Augenblicke nach den Schüssen wandte sich ein alter Mann an einen 14-jährigen Jungen und sagte mit wuterfüllter Stimme: »Denke daran, Sohn, denke daran und schwöre, dass du es dem Zaren heimzahlst. Hast du gesehen, wie viel Blut er vergossen hat, hast du es gesehen? Dann schwöre, Sohn, schwöre!«3

Es folgte eine Welle von Streiks und Demonstrationen gegen die Massaker des »Blutsonntags«, wie man die Ereignisse vom 9. Januar 1905 später nannte.** Allein in jenem Monat legten mehr als 400.000 Beschäftigte überall im Land die Arbeit nieder. Es war der größte derartige Protest der russischen Geschichte, aber den Streiks fehlte eine straffe Organisation. Die Forderungen wurden planlos formuliert, und die sozialistischen Parteien waren immer noch viel zu schwach (sie wurden aufmerksam von der Polizei beobachtet, und ihre Anführer befanden sich im Exil), als dass sie eine maßgebliche Rolle hätten spielen können. Die Arbeiter allein konnten jedoch keine Revolution auslösen.

In erster Linie war es die Reaktion der liberalen Mittelschicht und des Adels, welche die Ereignisse des Blutsonntags zu einer revolutionären Autoritätskrise für die zaristische Regierung werden ließ. Seit 1903 hatten sich liberale Freiberufler und Semstwo-Aktivisten für politische Reformen eingesetzt, beispielsweise für die Einberufung einer Nationalversammlung. Gemeinsam hatten sie einen Befreiungsbund gebildet, von dessen Bittschriften an den Zaren Pater Gapon beeinflusst worden war.

Am Blutsonntag wurde der Autorität des Zaren nicht der erste Schlag zugefügt. Die militärische Erniedrigung Russlands in einem Krieg mit Japan hatte breite Bevölkerungsteile gegen Nikolaus aufgebracht, was die Kampagne des Befreiungsbundes stärkte. Der Schock, den Russland erlitt, als die Nachricht von Niederlagen gegen die Japaner eintraf, kann kaum überbewertet werden, denn es war das erste Mal, dass ein asiatisches Volk eine neuzeitliche europäische Macht besiegt hatte. Im Januar 1904 hatte der Krieg mit einem verheerenden japanischen Überraschungsangriff auf die zaristische Flotte in der Mandschurei begonnen. Der Zorn der Japaner war durch die aggressive Wirtschaftspolitik Russlands im Fernen Osten und durch den Bau der Transsibirischen Eisenbahn, der sich der Vollendung näherte, entfacht worden. Trotz dieses anfänglichen Rückschlags rechneten die Russen mit einem mühelosen Sieg. Auf russischen Regierungsplakaten wurden die Japaner als kümmerliche, schlitzäugige und gelbhäutige Äffchen dargestellt, die in panischer Angst vor der riesigen weißen Faust eines kräftigen russischen Soldaten flohen. Die Liberalen ließen sich von der patriotischen Stimmung mitreißen und behaupteten, Russland verteidige die europäische Zivilisation vor der »gelben Gefahr, den neuen, mit moderner Technik ausgerüsteten Mongolenhorden«. Die Semstwos wurden wieder aktiv und schickten Sanitätsbrigaden an die mandschurische Front.

Wäre der Krieg gewonnen worden, hätte das Regime vielleicht politisches Kapital aus dem patriotischen Überschwang schlagen können. Aber es fiel den russischen Streitkräften schwer, einen Krieg in fast 10.000 Kilometer Entfernung zu führen. Das größte Problem bestand in der schieren Inkompetenz des Oberkommandos, das sich starr an die Militärdoktrinen des 19. Jahrhunderts klammerte und Tausende von russischen Soldaten opferte, indem es hoffnungslose Bajonettangriffe auf gut verschanzte Artilleriestellungen anordnete (ein Fehler, den es zwischen 1914 und 1917 wiederholen sollte).

Während sich die Kriegssituation verschlechterte, wandten sich die Liberalen gegen die Regierung und nutzten deren verpfuschten Feldzug als patriotisches Argument für politische Reformen. Auch die wichtigsten Industriellen des Landes, die sich früher auf den Schutz des Staates verlassen hatten, schlossen sich dem Chor der Kritiker an, da sie unter den wirtschaftlichen Nachteilen des Krieges litten. Die Regierung war so unpopulär geworden, dass im Juli1904, als Wjatscheslaw von Plehwe, der reaktionäre Innenminister, durch die Bombe eines Terroristen zerfetzt wurde, kaum ein Wort des öffentlichen Bedauerns zu hören war. Im Gegenteil, in Warschau feierten Menschenmengen Plehwes Ermordung sogar auf den Straßen.

Bestürzt über das Attentat, hatte der Zar beabsichtigt, Plehwe durch einen weiteren Hardliner zu ersetzen, doch schlechte Nachrichten von der Front und die Stärke der inländischen Opposition bewogen ihn schließlich, einen Liberalen zu berufen: den Fürsten Mirski, der sich selbst als »Semstwo-Mann« bezeichnete. Ermutigt durch Mirskis Ernennung, trafen sich 103 Semstwo-Repräsentanten zu einem Kongress in St. Petersburg und verabschiedeten eine Zehn-Punkte-Resolution über politische Reformen, darunter die Einberufung eines gesetzgebenden Parlaments. Der Kongress, der illegal in verschiedenen Palästen stattfand, war de facto die erste Nationalversammlung der russischen Geschichte. Damals verglich man ihn mit den französischen Generalständen von 1789. Bürgerliche Gesellschaften und Verbände hielten Sitzungen ab, um die Kongressbeschlüsse zu unterstützen. Der Befreiungsbund organisierte eine Reihe von Banketten (nach dem französischen Vorbild von 1847/48), an denen die Semstwo-Anhänger teilnahmen und Trinksprüche auf die Freiheit und eine Verfassung ausbrachten.

Mirski legte dem Zaren eine sorgfältig formulierte Zusammenfassung der Semstwo-Resolutionen in der Hoffnung vor, ihn für ein Programm gemäßigter Reformen zu gewinnen. In dem Papier war nur von einem beratenden (nicht von einem gesetzgebenden) Parlament die Rede sowie davon, dass Semstwo-Delegierte dem Reichssrat, einem vom Zaren ernannten legislativen Beratungsorgan, angehören sollten. Selbst das aber war schon zu viel für Nikolaus, der jegliche politische Reform als »schädlich für die Menschen« ablehnte, »die Gott mir anvertraut hat«. Am 12. Dezember gab der Zar ein Dekret heraus, in dem er versprach, die Rechtsstaatlichkeit zu stärken, die Pressebeschränkungen zu mildern und die Befugnisse der Semstwos zu erweitern. Kein Wort jedoch über das kontroverse Thema einer parlamentarischen Körperschaft. Als Mirski von dem Inhalt des Dekrets erfuhr, überkam ihn die Verzweiflung. »Alles ist schiefgegangen«, klagte er einem Kollegen gegenüber. »Bauen wir also Gefängnisse.«4

Wenn es ein einzelnes wiederkehrendes Thema in der Geschichte Russlands während der letzten Jahrzehnte des alten Regimes gibt, so ist es das der Notwendigkeit von Reformen und des Scheiterns aufeinanderfolgender Regierungen, sie gegen den Widerstand des Zaren durchzusetzen. Mirskis Initiative bot wahrscheinlich die größte Chance für die Regierung, eine Revolution abzuwenden. In einer Autoritätskrise besteht die beste Überlebenschance eines Regimes darin, rasch genug Zugeständnisse zu machen, um den gemäßigten Flügel der Opposition zufriedenzustellen und ihn von der restlichen Bewegung abzuspalten.

Mit dem Blutsonntag endete die Chance des Zaren, die politischen Zügel in der Hand zu behalten. Durch die Ereignisse wurden die Liberalen nach links getrieben, so dass eine radikalere, vereinigte Opposition gegen die Regierung entstand. Die gebildete Gesellschaft war empört über das Massaker. Studenten traten in den Streik und machten ihre Universitätsgelände zu Zentren der politischen Agitation.

Ende Februar war die Regierung genötigt, praktisch alle höheren Lehranstalten bis ans Ende des Studienjahres zu schließen. Berufsverbände organisierten sich auf nationaler Ebene zu einem Bund der Bünde, dem sich später ein Frauenverband für Gleichberechtigung und ähnliche Vereinigungen für höher qualifizierte Berufe (zum Beispiel Eisenbahnarbeiter und -angestellte) angliederten. Dadurch erhielt die Intelligenzija eine direkte Verbindung zu den Massen.