Eine gute Frau - Maria Frensborg - E-Book

Eine gute Frau E-Book

Maria Frensborg

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Beschreibung

Helenas Mann Jonas hat für die Osterferien eine Reise nach Mallorca organisiert. Die Kinder Juni und Elmer sind begeistert, Helena kocht vor Wut. Nach Mallorca fliegen? F L I E G E N ? Mitten in der Klimakrise? Aber Helena hat noch ganz andere Probleme. In der aktivistischen Gruppe, in der sie sich engagiert, sind alle tätowiert und benutzen Wörter, die sie nicht versteht. Junis Bildschirmzeit macht ihr Sorgen, der sechzehnjährige Elmer bringt sie aus der Fassung, indem er plötzlich mit einem genderneutralen Pronomen angesprochen werden möchte. Und dann muss sie auch noch befürchten, dass Jonas sich in die jüngere Nachbarin verguckt hat. Als Helena am Tag der geplanten Abreise den Badeanzug ihrer Tochter nirgends finden kann, trifft sie eine kopflose Entscheidung, und ihr Leben droht vollends aus dem Ruder zu laufen.

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Seitenzahl: 287

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Maria Fransborg

Eine gute Frau

Roman

Aus dem Schwedischen von Karoline Hippe

Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2021 unter dem Titel Dag före röd dag bei Kaunitz-Olsson.

Diese Ausgabe erschien durch Vermittlung der agentur literatur Gudrun Hebel, Berlin.

 

© der deutschsprachigen Ausgabe

2023 Arche Literatur Verlag, ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© 2021 Maria Frensborg

Alle Rechte vorbehalten

 

www.arche-verlag.com

Facebook: ArcheVerlag

Instagram: arche_verlag

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-144-1

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

 

 

 

Eine gute Frau

 

 

 

Sie hat einen Fensterplatz bekommen. Das Flugzeug hebt ab, und ihr wird klar, dass man leicht auf die Idee kommen könnte, es sei ihr gutes Recht, dort zu sitzen. Es fühlt sich so selbstverständlich, so allgemeingültig an, ein Kernphänomen, ein ganz und gar natürlicher Vorgang. Der exakte Moment, in dem das Flugzeug den Boden unter sich zurücklässt, fühlt sich an, als würde sich etwas lösen – ein Stöpsel, der endlich gezogen wird, ein Milchzahn, der endlich ausfällt.

Sie schließt die Augen, ertappt sich dabei, wie sie nach Jonas’ Hand tastet. Ab nach Hause.

Woche 9

Sonntagabend

Der Himmel brennt rosa,

ein beinahe geschmackloses Schauspiel

Die Jahreszeit draußen vor dem Fenster ist ziemlich eindeutig. Helena gefällt ihre Wechselhaftigkeit, vor allem jetzt, Anfang März, wenn der Frühling noch zusammengefaltet ist, in Erwartung wärmerer Tage. Kleine Blätterknospen, jung und unberührt.

Jealous of youth, der Neid auf die Jugend – darum geht es in diesem Smiths-Song, den sie manchmal vor sich her summt. Aber mit ihr hat das nichts zu tun, sondern mit einem Schulleiter, der seit den Sechzigern denselben staubigen Anzug trägt. Sie trällert den Song im Treppenhaus, als sie nach dem Training die Stufen zur Wohnung hinaufsteigt, ein bisschen zu laut vielleicht, sie will gehört werden, trifft die Töne ziemlich präzise und ihre Stimme trägt, vor allem in den Tiefen, sie hätte in eine Indie-Band gesteckt werden können. Aber jetzt soll es so klingen, als dächte sie, sie wäre allein.

Jonas hat gekocht, der Duft von Kreuzkümmel dringt bis in den Flur. Er hat teure Tulpen mit fransigen weiß-grünen Blütenblättern gekauft, den Tisch gedeckt und sogar Servietten rausgelegt. Beunruhigt küsst sie ihn auf die Wange.

Gibt’s was zu feiern?

Er lacht nur, trocknet sich die Hände an der Schürze ab, stellt den Topf auf einen Untersetzer.

Die Kinder kommen an den Tisch gerannt, als er sie ruft, sie sind auch neugierig. Was hat Jonas ihnen verraten, bevor sie nach Hause gekommen ist? Wissen sie mehr als sie?

Nun sag schon, Papa!

Jonas schmunzelt, genießt es sichtlich, Herr über die Neuigkeiten zu sein, die alle wissen wollen, er bindet sich die Schürze ab und grinst sie der Reihe nach an, nein, noch dürfen sie es nicht erfahren.

Erst wird gegessen!

Die Tulpen sind wunderschön, aber Helena hasst sie, hasst es, dass er so schnell neue gekauft hat, nachdem die letzten verwelkt waren. Als wären sie irgendein Gebrauchsgegenstand. Wie Toilettenpapier oder Butter. Sie will nicht sagen: Was für schöne Tulpen. Nein, sie weigert sich. Wendet sich stattdessen Elmer zu, fragt ihn, wie sein Nachmittag so war. Bekommt eine Standardantwort, gut, alles in Ordnung. Juni steht auf und langt nach dem Ketchup, Helena holt Luft, um zu protestieren, überlegt es sich aber doch noch anders, lässt die entweichende Luft zu einem Seufzer werden. So viel Zucker im Ketchup, aber Schluss mit dem unnötigen Gerede über Kalorien, das hatte sie sich schon damals im Geburtshaus vorgenommen, als sie sah, dass es ein Mädchen war.

Eine Mädchenmama. Wie soll sie dem Anspruch gerecht werden, Tag für Tag ein kompetentes, mental stabiles feministisches Vorbild zu sein?

Und endlich erzählt er, was los ist, nachdem alle vom Essen probiert haben: Bonus von der Firma. Kohle, dickes Portemonnaie.

Sie feiern Geld. Jonas grinst, seine Wangen schwellen an, fast wie bei einem Frosch. Sie schaut weg.

Wollt ihr mir nicht gratulieren?

Sie gratulieren.

Dann kann ich ja neue Lautsprecher kriegen, sagt Juni.

Jonas beugt sich runter zu Junis Stuhl, fummelt hinter ihren Knien herum, was passiert jetzt, kommt da noch mehr?

Nee, nee, keine Lautsprecher, aber schaut mal unter eure Sitzkissen.

Gehorsam heben sie ihre Popos an, tasten unter die Sitzkissen, finden bedruckte A4-Blätter, der Länge nach gefaltet. Flugtickets. Mallorca.

Papa, du bist der Beste! Juni fällt ihm um den Hals, drückt ihm sogar einen Kuss auf. Elmer ist zögerlicher, schielt zu Helena, versucht, ihren Blick zu deuten, fragt:

Wann fahren wir?

Ostern! Jonas zückt sein Handy und zeigt ihnen Bilder: Farne, Moose, Nebel, Treppen, rote Erde, rote Wege, Aloe vera, Fanta Exotic.

Juni zieht ihre Socken aus, tanzt barfuß auf dem Teppich, die Hände in die Luft gestreckt, und singt aaaall inclusive zur Halleluja-Melodie aus Händels Messias. Jonas lacht, wann hat sie das denn gelernt?

Es ist ein kurzer Flug. Jetzt sieht Jonas wieder zu Helena. Lauert da eine Angst hinter seiner vergnügten Fassade, oder ist es nur ihr Wunschdenken, projiziert sie ihr eigenes emotionales Chaos auf ihn? Vielleicht ist er tatsächlich so kindisch glücklich, wie er scheint. Wie eine Kuh, denkt sie. Oder ein Labrador.

Ein Fünftel einer Thailand-Reise, fährt er fort. Ist doch toll, oder?

Die Wut presst sich gegen ihre Zähne, Helena atmet durch die Nase, traut sich nicht, den Mund zu öffnen, wendet den Blick ab.

Sie haben schon vor einer Weile darüber gesprochen, aber nichts beschlossen, das sieht sie auch ein, es wurde keine Entscheidung getroffen, kein Konsens zu diesem Thema erzielt. Sie weiß, dass Jonas sich wünscht, gemeinsam zu verreisen, alle vier. Etwas Größeres erleben, den Kindern die Welt zeigen. Die Bretagne ist schon lange her. Und sie hat kein nachdrückliches und eindeutiges Nein ausgesprochen, sondern jedes Mal, wenn die Frage aufkam, abgewiegelt und vom Thema abgelenkt. Oder ehrlicher formuliert: das Problem vor sich hergeschoben wie ein schweres, unförmiges Möbelstück.

Jonas, wir müssen reden. Nach dem Essen, lass uns einen Spaziergang machen. Helena moduliert ihre Stimme, versucht, sich zu beherrschen, jetzt neutral klingen, neutrale Helena, bloß nicht die Kinder erschrecken.

Aber wir werden doch verreisen, oder? Juni zieht heftig an ihrem Ärmel. Mama? Wir verreisen doch?

Helena gibt sich Mühe, sich gemäßigt auszudrücken: Wir haben noch nie darüber gesprochen, Papa und ich. Ich wusste nichts davon, und ich halte nicht so viel davon zu fliegen.

Wir verreisen auf jeden Fall. Ganz ruhig, Süße. Jonas streicht Juni übers Haar, den Blick auf Helena gerichtet: Jetzt guck, was du angerichtet hast!

Helena erwidert seinen Blick: Idiot! Jonas wird nicht gewinnen, diesmal nicht, nein, nie wieder. Sie ist jetzt stärker und wird sich mit Händen und Füßen wehren, stellvertretend für all die tausend Male, in denen sie sich seinem Willen gebeugt und ihn hat entscheiden lassen; es ist, als wäre in ihr unbemerkt ein Widerstand herangewachsen, wie ein gutartiger Tumor.

Ich nehm auch das Geld, sagt Elmer und zuckt mit den Schultern. Wär okay für mich.

Aber sie kann ihm ansehen, dass er Bock hat, Elmer will auch verreisen. Alle wollen, außer ihr, der Spielverderberin, die lieber zu Hause bleibt und bei Pisswetter auf Roggenknäckebrot herumnagt.

Oder … sie lässt es einfach geschehen. Fährt mit, gibt die Kontrolle ab, entscheidet sich für den Spaß und lässt die Limokorken knallen. Einen Flug pro Jahr kann man schon machen, hat irgendjemand geschrieben. Mehr ist nicht gut fürs Klima.

Sie weiß, dass das nicht stimmt, nicht mal eine Reise pro Jahr, nein, gar keine einzige Reise mehr, wenn man nicht von der Zukunft stehlen will, von Elmers und Junis Zukunft. Trotzdem likt sie Posts vom anderen Ende der Welt, von Freundinnen und ihren rot lackierten Zehennägeln und Felsen und Stränden und Cocktailgläsern. Habt viel Spaß! Oh, ich freu mich für euch! Genießt die Zeit! Badet für mich mit! Grüße ans Meer! Prost!

Nein, das geht nicht. Die Rebellion jault in ihr auf wie eine E-Gitarre, ein lautes Solo:

Einen Teufel wird sie tun, sie fliegen zu lassen!

 

Jonas und Helena kümmern sich gemeinsam um den Abwasch, bevor sie sich zu ihrem Spaziergang aufmachen, tun dabei so, als wäre alles in Ordnung. Juni bekommt extra Bildschirmzeit und sitzt mit Kopfhörern auf dem Sofa, versunken in diese andere Welt, in der Jonas und Helena nichts zu suchen haben, in dieser virtuellen Scheißwelt, in der ein Dopaminkick auf den nächsten folgt. Elmer verschwindet in seinem Zimmer. Dann klingelt es an der Wohnungstür. Jonas wischt sich die Hände an den Oberschenkeln ab und macht auf, während Helena die Zahnarzttermine an der Kühlschranktür neu arrangiert, ein Ohr Richtung Flur gespitzt.

Jonas: Ja, hej, komm rein!

Frauenstimme: Hej! Entschuldigung, störe ich?

Jonas: Nein, nein, überhaupt nicht. Wir sind gerade mit dem Essen fertig. Und dem Abwasch. (lacht)

Frauenstimme: (lacht) Jaha, schön. Ja, also, ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich eine Party schmeiße. Demnächst irgendwann, Datum steht noch nicht genau fest. An irgendeinem Samstag.

Jonas: Hui! Das klingt ja toll! (lacht)

Frauenstimme: (lacht) Ja, nicht wahr? Wer sagt schon Nein zu einer Party, oder?

Jonas: Eben! (lacht)

Frauenstimme: (lacht) Tja, äh, und ich wollte also Bescheid sagen, dass es etwas lauter werden kann, wegen der Musik und so.

Jonas: Was? Musik? Auf einer Party? (lautes Lachen)

Frauenstimme: (lacht) Also, was ich sagen will … Also statt wütend zu werden und mit dem Besenstiel an die Decke zu klopfen oder so, könntet … könntet ihr ja einfach runterkommen und ein bisschen tanzen. Wie klingt das?

Jonas: Das ist also … eine Einladung?

Frauenstimme: Tjaa … (gedämpftes Lachen) Müsst ihr wissen. Aber jetzt seid ihr schon mal vorgewarnt. Und wir werden nach elf leise machen, versprochen.

Es ist die Nachbarin, die mit diesen Lippen und dem Stoffbeutel. Helena, jetzt im Flur, kann sie nicht sehen, nur Jonas’ Profil im Dielenspiegel; er fährt sich mit der Hand durchs Haar und fragt, ob es sich um eine Einladung handle. Und bevor die Nachbarin geht, berührt er ihren Oberarm wie selbstverständlich, als wären sie einander schon einmal begegnet.

Jonas kommt zurück in die Küche. Helena, die wieder am Spülbecken steht, fragt: Wer war das?

Was? Äh … na ja, die von unten, antwortet er, und sie muss wieder an einen Labrador denken, während sie sein Lächeln studiert und wahrnimmt, wie sein Blick ihrem nur für eine winzige Sekunde ausweicht.

Die Hübsche?

Jonas schnaubt und sagt: Wie albern du bist.

Dann gehen sie hinaus. Auf der Treppe nimmt Jonas ihre Hand. Sie tragen beide Fingerhandschuhe, es ist schon wärmer geworden, und wie schön wäre es jetzt, folgsam zu sein. Sanft und feminin. Positiv. Als Liebespaar spazieren gehen und über die Reise fantasieren, die ihnen bevorsteht.

Was hast du dir dabei gedacht?, platzt es aus ihr heraus, als sie am Spielplatz vorbei sind. Die Schaukeln hängen still, ihre Sitze noch immer von einer Schneekruste bedeckt. Hast du ernsthaft geglaubt, ich würde mich freuen? Bist du so bescheuert?

Offenbar. Jonas lächelt wohlwollend in die Plusgrade hinein, aber es ist windig und es ist dunkel und Helena friert. Sie versucht, ihre Hand aus seiner zu befreien, doch Jonas hält sie fest. Sie wird sich mit einem Ruck lösen müssen, wird gezwungen sein, ein Statement zu setzen.

Ich wollte nie wieder fliegen.

Wie jetzt? Er bleibt stehen, stellt sich vor sie. Nie wieder?

Eigentlich hat sie sich noch nicht wirklich entschieden, tastet sich nur langsam vor, schüttelt den Kopf.

Aber du willst mir doch jetzt nicht sagen, dass das Gleiche für die Kinder gilt. Sie müssen fliegen dürfen. Oder zumindest selbst entscheiden.

Sagt wer?

Jetzt bist du albern, sagt Jonas. Sein Wohlwollen verschwindet plötzlich, ohne Vorwarnung, seine Augen verengen sich. Sie merkt sich den Wendepunkt für später, genau hier und jetzt ist es passiert.

Helena will weitergehen, aber Jonas steht wie angewurzelt da, ihre Hand fest umklammert: Du, wir entscheiden beide gleichermaßen über die Kinder.

Sie steckt in seinem Griff fest. Er ist nicht hart, aber auch nicht locker, er hält sie, als wäre ihre Hand ein Fahrradlenker oder eine Schneeschaufel. Immer noch steckt sie in seinem Griff fest, und natürlich könnte sie sich leicht befreien, aber sie hasst es, wie er versucht, die Kontrolle zu behalten. Deshalb schlägt sie zu. Eine offene Handfläche langt zu und trifft ihn am gepolsterten Jackenärmel.

Genau zwischen zwei Straßenlaternen sind sie stehen geblieben, die Schatten fallen verwaschen und konturlos auf den Kiesweg. Jonas’ Miene verfinstert sich, und er packt fester zu.

Helena, du schlägst mich nicht. Hast du verstanden?

Lass mich los. Sonst mache ich es noch mal. Lass mich gehen, sage ich. Du verdammter Idiot. Genauso fährt sie ihn an. Außerdem schlägt sie noch einmal zu, über die Grenze des Vernünftigen hinaus, stärker als je zuvor, weit entfernt von ihrem gewöhnlichen Umgang miteinander. Helena sieht, wie sich Jonas in ein Reptil verwandelt, als er zischt: Wag es nicht.

Sie spuckt neben seine Schuhe auf den Boden, dreht sich auf dem Absatz um und rennt davon. Matsch spritzt unter ihren Füßen auf. Alles, was sie braucht, hat sie zu Hause gelassen: Handy, Kreditkarte, Autoschlüssel, Jobschlüssel, Monatsticket.

Vorwärts, sie läuft in den schwarzen Lederstiefeln, die nicht zum Laufen gedacht sind, ihre Schritte klingen hart und holprig, ohne Ziel eilt sie geradewegs über die Kreuzungen, gräbt sich durch die leeren Straßen, vorbei an dreistöckigen Häusern, fünfstöckigen Häusern, angetrieben von Wut und Scham. Auf der kurzen Fußgängerzone vor der U-Bahn wird sie langsamer. Es ist mies, ihr Verhalten, so kindisch, und draußen vorm Supermarkt sitzt eine Bettlerin, eine bettelnde Person, als gäbe es nicht schon genug Elend. Wie jung sie ist, mit nichts als einer dünnen Decke über den Knien. Kann die wirklich gegen die klirrende Kälte helfen, hätte Helena normalerweise überlegt, aber jetzt nicht. Sie macht einen großen Bogen um die bettelnde Person herum, will fliehen, will in Ruhe weinen. Die Wut in ihr ist frisch, hat sich noch nicht in Trauer verwandelt. Sie tritt gegen einen rußigen Schneeklumpen, der sich nicht bewegen will, stattdessen verwandelt sich die Energie in einen demütigenden Schmerz in ihrem Fuß.

Immer mehr Menschen, Helena überquert den belebten Hägerstensvägen und biegt ab, geht auf eine kleine Anhöhe zu. Sie schnappt nach Luft, ist beinahe verschwitzt, ihre Hände hingegen fühlen sich immer noch kalt an, obwohl sie Handschuhe trägt. Wohin soll sie jetzt? An wen kann sie sich wenden mit diesem verheulten Gesicht?

Und da wächst das Gebäude vor ihr aus dem Boden, unübersehbar seine hohen, von innen beleuchteten Chorfenster. Nur für einen Moment, denkt sie und öffnet das Tor. Es ist nicht Sofia, die Kirche ihres Vaters, die sie am ersten Advent und an Weihnachten besucht, da wäre sie jetzt nie reingegangen, nein, das hätte sie ganz bestimmt bleiben lassen. Aber der Geruch ist vertraut, das Gefühl von Nähe und Distanz, sie weiß, wie es hier läuft, wo man sitzt und welche Abschnitte man betreten darf. An diesem Ort ist sie sicher. Sicher und sauer.

Scheiße. Wie ist sie ausgerechnet hier gelandet?

Das hohe Gewölbe, die riesigen Glasmalereien, die Bilder, die Symbolik, die mächtigen Orgelpfeifen. Helena schließt die Augen, kann die überwältigende Architektur nicht auf sich wirken lassen, nicht jetzt, sie versucht, Ruhe zu finden, saugt den Duft eines Gesangbuches aus der hintersten Sitzreihe ein, aber ihre Nase ist verstopft. Stattdessen zählt sie Atemzüge, immer noch ziemlich trübe alles, aufgewirbelt, ihre Gefühle müssen sedimentieren, die Wut sinkt auf den Meeresgrund.

Vor allem ist es der Schlag, den will sie rational abwägen und von oben betrachten, dokumentarisch, wie soll man ihn einordnen? Wie eine Geste, mit der sie durch die Jahrhunderte patriarchalischer Unterdrückung hindurchpflügte? Oder hat sie grundlos zugeschlagen, wie eine Hysterikerin?

Und dieser Kommentar, du verdammter Idiot, so nötig und so …, so … unnötig, so unbeherrscht. Unappetitlich. Das ging nach hinten los, ein Tritt in die falsche Richtung, ins eigene Gesicht, denn wer verdammter Idiot sagt, ist immer unterlegen. Sie ist ihm unterlegen. Er hat jetzt die Oberhand.

Vergib mir, denn ich habe gesündigt. Was bedeutet das überhaupt, wenn man seine Taten nicht wirklich bereut?

Nein, er kann sie nicht mit nach Mallorca nehmen. Aber die Kinder dürfen nicht zu Spielbällen werden. Jetzt ist sie wieder erschüttert, die Emotionen wirbeln im Wasser auf, wie Steinchen und Schlick, die Wut ist getrübt, die Tränen stecken ihr im Hals. Sie lieben einander doch so sehr.

Liebe?

Sie tupft sich die Nase mit einem zerknitterten Wochenblatt ab, darauf Informationen zu Orgelkonzert, Fastensonntag, Fastenbrechen, Taizé-Gebet, Kollekte. Anschließend schiebt sie den Zettel in ihre Jackentasche. Sie schließt die Augen, legt sich die Worte zurecht, formuliert klare Sätze und schickt sie in Gedanken auf den Weg, fast wie ein Gebet, hilf mir, aber keiner antwortet, es fühlt sich einfach lächerlich an, und was hat sie eigentlich erwartet? Eine Offenbarung? Hier, in der hintersten Ecke dieses Backsteinkolosses?

Das Gebet ändert nicht Gott, es verändert die Betende. Wer hat das gesagt? C.S. Lewis vielleicht? (Hockt sie hier und ist religiös?) Plötzlich wird sie von der Lust ergriffen, Unsinn zu reden, sich über sich selbst lustig zu machen, um diese Peinlichkeit zu entschärfen. Vielleicht sollte sie ihre Zunge vor die untere Zahnreihe schieben und laut lallen:

Da dadada dada da, da dadada da.

Dann versucht sie es mit dem Gedanken an eine Umarmung, eine schlichte Umarmung. Keine Umarmung von einem abstrakten Gott, einem luftigen Nichts, nein, eine konkrete, mit Armen aus Fleisch und Blut. Aber will sie das wirklich, in den Arm genommen werden? Jedenfalls nicht von Jonas, nicht jetzt. Und sie kann nicht nach Hause gehen, sie will noch bleiben; Jonas muss sich zuerst Sorgen machen, er muss verstehen, was er zu verlieren hat, die große Lücke spüren, die sie hinterließe, wenn sie nie zurückkehrte.

Es ist schon vorgekommen, dass Helena an Jonas’ Tod gedacht hat. Probegedacht, nur um mal in sich reinzuhorchen. Morgens niemand da, abends niemand da, niemand, den man während der Mittagspause per Messenger mit einer praktischen Frage oder mit unzähligen Herzen bombardieren kann. Hinterher hat sie Erleichterung verspürt. Nicht weil er in Wirklichkeit noch am Leben ist, sondern weil sie ihn jedes Mal wiederhaben will, weil sich ein Abgrund auftäte, wenn er verschwände. Und auch ein Schuldgefühl hat sich eingestellt, weil sie Jonas diesem schwindelerregenden Gedankenexperiment aussetzt.

Wie spät es wohl sein mag? Acht? Halb neun vielleicht? Ob Juni schon ins Bett gegangen ist? Sofort steht Helena auf, sie muss nach Hause, zeigen, dass es sie noch gibt, auch wenn sie hier noch nicht fertig ist.

Sie rutscht auf glatten Sohlen über den glitschigen Asphalt, stolpert den steilen Hügel hinunter und überquert mit schnellen Schritten die dicht befahrene Straße. Zwei Häuser weiter, wo sie niemand mehr sieht, beginnt sie zu laufen, durch dasselbe Viertel zurück, vorbei an Fünfzigerjahreklinker und Sechzigerjahreputz, vorbei an Hinterhöfen, vorbei am flachen Kindergartengebäude, den vertrauten Birken und ausgesprengten Felswänden.

Wieder zu Hause im vierten Stock lehnt sie sich gegen Junis falsch geschriebenes Keine-Wärbung-Schild an der Wohnungstür und schnappt ein paar Sekunden lang nach Atem. Ihr Puls hämmert gegen ihre Stirn. Dann tritt sie in die Diele, in eine kompakte Stille. Was ist passiert?

Aus dem Badezimmer kommt Jonas mit einer Zahnbürste im Mund, verkehrt herum, die falsche Seite nach außen, als würde er eine blöde Pfeife rauchen. Ein kurzer Blick, er sieht nicht böse aus, sie bückt sich, schnürt ihre Stiefel auf, hängt ihre Jacke an den Haken und geht direkt in das Zimmer mit der gelben Tapete, wo Juni mit einem Buch auf dem Bauch im Bett liegt.

Mama! Juni reißt ihren Kopf herum. Wo warst du denn?

Ihr Schlafanzug ist viel zu klein. Und auch viel zu kindisch mit den Rüschen und den sich aufbäumenden und in schier endloser Wiederholung auf den Stoff gedruckten Einhörnern, komisch, dass sie sich noch nicht geweigert hat, ihn zu tragen, sieht ihr gar nicht ähnlich, sonst steht sie doch so auf Schwarz und silberne Nieten. Ist ein bisschen out of character, dieser Schlafanzug, würde Helena Jonas jetzt gern zuflüstern, sie hätten zusammen feixen können, aber das ging ja gerade nicht.

Helena lächelt, lässt sich auf der Bettkante nieder.

Musste nur ein bisschen nachdenken.

Habt ihr euch gestritten?

Zärtlich streicht sie ihrer Tochter über den Kopf, über den Hals und das rotblonde Haargestrüpp; versucht, eine beruhigende, angemessene Antwort zu formulieren, aber Juni ist schneller:

Mama, habt ihr?

Mach dir keine Sorgen, wir vertragen uns gleich wieder.

Papa hat gesagt, du warst sauer.

Ja, schon. Aber jetzt ist es wieder besser. Helena steht auf und zieht das Rollo herunter.

Ich bleib noch so lange wach, bis ihr euch wieder vertragen habt. Juni klappt ihr Buch zu und setzt sich auf, die Beine lang von sich gestreckt, den Rücken gerade. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und macht einen Schmollmund. Sie hat Jonas’ Züge, seine schmalen, hellroten Lippen. Helena betrachtet den kleinen Körper, der so nachdrücklich verkündet, dass er Konflikte nicht duldet. Sie hat etwas an sich, was Helena als Kind gefehlt hat, eine Unbändigkeit.

Es ist gleich halb zehn. Du gehst jetzt schlafen, morgen ist Schule, weißt du. Und Papa und ich werden uns bald wieder vertragen. Mach dir keine Sorgen.

Papaaa! Komm maaal!

Helena legt ihren Finger auf eine Beule an ihrer Augenbraue, nur ein kleiner Pickel, eine Pustel, nichts Schlimmes. Drückt den Nagel dagegen, drückt den Schmerz heraus.

Als Jonas den Raum betritt, hat er Schaum im Mund und spricht kaum verständlich, das Kinn nach oben gereckt, er muss ausspucken.

Juni wiederholt ihre Drohung: Ich bleibe so lange wach, bis ihr euch wieder lieb habt.

Wir haben unsch lieb. Jonas legt seinen Arm um Helena, hält sich die andere Hand unters Kinn, um den tropfenden Speichel aufzufangen. Nisch wahr?

Sie kann nur nicken. Sie hat nichts für Lügen übrig, und doch lügt sie.

Wir haben uns wieder lieb. Gute Nacht, mein Liebling. Gute Nacht. Helena blinzelt, versucht, das Lächeln auf ihre Augen zu übertragen, ehe sie lischt, küsst, schließt. Noch ein letztes Gute Nacht durch den Türspalt hindurch. Bis morgen, Süße.

Müdigkeit überkommt sie, drückt sich wie ein schweres Gewicht auf ihren Körper. Nein, sie hat jetzt keine Lust mehr, sich den Kopf zu zerbrechen, nicht wegen der Reise, nicht wegen des Streits. Außerdem ist es echt noch lange hin, stellt sie fest, als sie die Blätter im Familienkalender zählt, noch fast acht ganze Wochen bis Ostern.

Woche 10

Anfang März

Etwas wärmer als gewöhnlich

bewölkter Himmel, keine Sterne

Manchmal denkt Helena, zum Beispiel jetzt, als sie nach einer weiteren ermüdenden Reisediskussion mit ihren Kolleginnen über den Buckel der Götgata flaniert, dass sie zu dem einen Bevölkerungsprozent gehört, das mit einem besonderen Blick geboren wird, mit Augen, die klarer sehen als andere. Dass die Menschen um sie herum – natürlich nicht alle, ist ja klar, aber die meisten – Schutzmembranen haben, Filter, die es ihnen ermöglichen, Dinge erst mal auf sich wirken zu lassen, sich weiterzuentwickeln, ohne sich ständig zu reflektieren. Wie sonst ist zu erklären, dass es die Klima-Veganerin, Secondhand-Fanatikerin und Müllsortiererin Novin, unsere edle Sozialdemokratin, übers Herz gebracht hat, einen New-York-Urlaub anzutreten? Und Jonas, der es besser hätte wissen müssen – wie soll man sein Verhalten entschuldigen?

Abwehrmechanismen natürlich, aber Helena sieht es eher so, dass ihre eigene Funktionsweise eine Spur neben normalen Denkmustern liegt. Oder es ist einfach ihre Fähigkeit zur Verdrängung, die schlechter funktioniert als bei anderen; sie war noch nie sehr gut darin, sich selbst zu belügen. Und das hat nichts mit Gutmenschentum zu tun. Nein, es liegt an ihrem filterlosen Blick, oder vielleicht orientiert sie sich schlicht an scharfer Logik. Dem IPCC-Bericht zufolge, dessen Erkenntnisse auf 6981 wissenschaftlichen Artikeln beruhen, sollte man im Namen der Konsequenz weder Fleisch essen noch fliegen. Egal wie sehr man Bock hat auf Ferien oder Frikadellen, eine Tube Sonnencreme im November, einen Macchiato im MoMA oder Mittelmeerwellen.

Möglicherweise – so versucht sie ein andermal zu argumentieren – kann man hier und da kleine Ausnahmen machen. Es hätte rein gar keine Auswirkungen, wenn sie beim nächsten Lunch mit Maja ein Filet Mignon bestellte. Außerdem – wie schön wäre es doch, nicht diese anstrengende Trulla zu sein, die die Riesengarnelen oder die übertriebenen Plastikverpackungen anderer Leute kommentiert. Und im Großen und Ganzen hätten kleine Ausnahmen sehr wenig Einfluss auf den Allgemeinzustand der Welt. Aber warum sollte man? Sie versteht den Sinn dahinter nicht, wenn man im Grunde doch weiß, dass man sich gerade falsch verhält, wie soll man die Dinge dann genießen?

Sie sind gestern nicht Arm in Arm eingeschlafen, sondern jeder auf seiner Seite des Bettes. Nicht im offenen Krieg, eher in einem vorübergehenden Waffenstillstand, Wirbelsäule an Wirbelsäule. Wie konnte er die Reise buchen, ohne mit ihr zu reden? In ihrem Inneren schießt die Wut wie eine Flamme hoch. Wie konnte er glauben, dass sie das glücklich machen würde?

Helena geht Richtung Mariatorget. An Tagen, an denen sie nicht Rad fährt, nimmt sie die U-Bahn zur Arbeit, aber heute will sie zu Fuß nach Hause gehen, ihre Gedanken schweifen lassen und die klare Luft im Gesicht spüren. Der Plan ist, einen Umweg via Södermalm zu machen. Sie bleibt unter der burgunderfarbenen Markise der alten Buchhandlung stehen, betrachtet zunächst die Kugellampen und die hohen Regale durch das Schaufenster, bevor sie ihr eigenes Spiegelbild im Glas bemerkt. Sofort fällt ihr auf, wie garstig sie aussieht, irgendetwas sitzt nicht richtig; sie zerrt an der großen Mütze herum, zieht sie ein Stück tiefer in die Stirn, streicht die Jacke glatt, die unter dem einen Schulterriemen ihres Rucksacks Falten geschlagen hat. Besser so? Ja, ein bisschen. Ein paar Sekunden zu spät entdeckt sie, dass der Mann an der Kasse in ihre Richtung schaut. Rasch geht sie weiter, beschämt und bedröppelt. Sie hätte gern länger bei den Büchern verweilt.

Auf der anderen Seite des Medborgarplatsen sitzt ein Bettler. Nein, falsch: eine bettelnde Person. Helena weiß, dass Worte wichtig sind, dass es wichtig ist, wie sie einen Menschen beschreiben. Manchmal vermeidet sie Themen aus Angst, jemandem auf die Füße zu treten.

Eine neurodiverse Person? Oder: Hat er eine bipolare Störung? Dunkelhäutig? Schwarz? BIPoC? Sie weiß nicht automatisch, was richtig ist, es ist ihr noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen, aber sie weiß, wie wichtig es ist, die Dinge zu benennen, und sie möchte, dass Elmer ihre Meinung teilt. Elmer, der die Worte behindert und Autist in den Mund nimmt, wenn er von seinen verpeilten Freunden spricht, vor allem weil er weiß, wie sehr es sie, seine viel beschäftigte, politisch korrekte Mutter, nervt, aber trotzdem, und dann ist da ja auch noch Juni, die voller Begeisterung all das Unpassende und Aufregende, das vom großen Bruder kommt, aufschnappt und nachplappert.

Helena überquert die Betonplatten des Platzes, während sie dem verbotenen Gedanken nachgeht: dem Wunsch, zu mehr als einer marginalisierten Gruppe zu gehören, weil es dann auf manchen Ebenen einfacher wäre. Nicht bloß eine Frau sein, sondern auch eine Person mit Behinderung? Etwas Kleines, was den Alltag nicht wesentlich beeinträchtigt. Eine leichte Zerebralparese? Ein abgetrennter linker Arm? Oder doch besser Eltern aus der Arbeiterklasse? Eine kettenrauchende Mutter und ein Vater, der sein Gefühlsleben unterdrückt?

Vor elf Jahren, bevor sie Juni bekamen, wollte Helena adoptieren. Dann wäre sie jetzt Mutter eines dunkelhäutigen Kindes, wenn das der richtige Begriff ist, und niemand hätte behaupten können, dass sie bei der Hautfarbe unangebrachte Terminologie verwende. Schon anstrengend, wenn andere diese Macht haben; wenn sie selbst jederzeit diejenige sein kann, die ins Fettnäpfchen tritt.

Vor dem Falafelstand in der Mitte des Platzes lässt sie sich folgenden Gedanken durch den Kopf gehen: Sie als privilegierte Person hat immer noch eine Art Nachteil. So selten hat sie die Deutungshoheit, und andere können sich jederzeit über sie ärgern, wenn sie die falschen Worte wählt. Und das ist ihr gutes Recht.

Jonas wollte nicht adoptieren. Sie erinnert sich nicht an seine Gründe, warum er so dagegen war, nur an den entsetzten Blick, jedes Mal, wenn die Sache zur Sprache kam, wie er das Thema wechselte, das Zimmer wechselte, es eilig hatte oder sofort wichtige Anrufe tätigen musste.

Aber komm schon, denk nach, warum noch mal? Wo die Welt doch voller Kinder ist, die keine Eltern haben?

Sie googelte Waisenhäuser in Südafrika, informierte sich über HIV-Medikamente und besondere Bedürfnisse. Außerdem ging es um den Kohlendioxidausstoß.

Das ist das Schlimmste, was man dem Klima antun kann. Kinder kriegen. Ist dir das klar, Jonas? Der ökologische Fußabdruck ist größer als bei jeder Thailandreise. Hörst du überhaupt zu?

Es endete mit einem Kompromiss, wenn Kompromiss das richtige Wort ist. Sie spendeten fünftausend Kronen an UNICEF für die Aktion Kinder der Welt, und dann wurde Juni geboren, nach neunzehn Stunden harter Arbeit. Am deutlichsten erinnert Helena sich an die Lampe auf dem Fensterbrett, Achtzigerjahre, aprikosenfarben, mit plissiertem Schirm, und dass sie als Erstes nach Wasser gefragt hatte, bevor sie darum bat, das Kind zu sehen.

Helena kommt jetzt näher, und die bettelnde Person hockt ganz still in der Kälte. Hen sieht klein aus, wahrscheinlich eine Frau.

Gestern nahm sie einen Hunderter aus ihrem Portemonnaie und gab ihn einer Person, die mit Klebeband zusammengehaltene Flip-Flops ohne Socken trug. Hat sie noch was davon? Also nicht die Bettlerin, die bettelnde Person, sondern sie, Helena. Wie lange hält der Effekt einer guten Tat an?

Und dann ist da noch der Text dieser Kulturfrau mit der schönen Frisur – Helena bewundert sie sehr, ihr erstes Buch war magisch, jetzt kommt sie gerade nicht auf den Namen –, aber dieses Essay, das sie vor einer Weile geschrieben hat, was soll man davon halten? »Alles andere als glasklar«, lautete die Überschrift, die – ja, sie weiß – oft von jemand anderem kommt, von der Ressortleitung, nicht von der Verfasserin selbst. Denn die Botschaft des Texts war einfach glasklar: Gebt kein Geld an Bettler. Das sagt die Kulturtante und Philanthropin, obwohl sie in Rumänien gewesen ist und mit Roma-Vertreterinnen und Helfern gesprochen hat.

Dann gibt es andere Stimmen der Gegenwart, in anderen Bubbles: Gebt. Jemand streckt eine Hand aus. Das könntest auch du sein oder ich, wenn das Schicksal es anders gewollt hätte, schau nicht weg, wende den Blick nicht ab von deinem hungrigen Bruder, deiner Nachbarin. Was auch immer du willst, das die Leute für dich tun, musst du für sie tun.

Seht ihn euch an, diesen Menschen, ecce homo.

Wie zusammengekrümmt sie dasitzt, aber unser Geben hält sie halt weiterhin auf der Straße. Helena blickt stur geradeaus, als sie vorbeigeht. Oder nein, sie nickt ihr zu, grüßt und lächelt, denn auch das ist wichtig. Vielleicht sogar wichtiger als Geld ist es, Menschlichkeit zu spenden, behaupten zumindest einige.

Dann entdeckt sie, dass es sich um einen Müllsack handelt. Nicht um einen Menschen. Es ist nur ein schwarzer Sack voller Klamotten.

Helenas erste Reaktion ist eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Enttäuschung einerseits: Hätte sie sich entschieden, ein paar Münzen zu geben, hätte sie theoretisch eine gute Tat vollbringen können, die ihr nun entgeht. Andererseits: Erleichterung, um diese Begegnung herumgekommen zu sein.

Dann kommt die Scham, sie schämt sich wirklich für ihre Entscheidung, sie will Gutes tun. Mindestens einen Zwanziger hätte sie lockermachen sollen, einen kleinen Becher Kaffee bei 7-Eleven, ein bisschen Wärme und Würde. Aber wie albern wäre es, wenn sie einen Geldschein vor einen Müllsack auf den Boden legen würde?

Nein, sie muss weiter Richtung Mariatorget, auch nach diesem Misserfolg. Verdammte Scheiße.

Hallo? Jemand zu Hause?

Helena lässt die Schlüssel in die Raku-Schale auf dem Flurschränkchen fallen, die Jonas ihr zu ihrem zehnten Hochzeitstag bei Blås & Knåda für einen ziemlich kranken Preis gekauft hat. Sie hat ihm nie verraten, dass sie die Schale im Laden besser fand als hier bei ihnen zu Hause.

Hallo?

Die Küche ist leer, das Wohnzimmer auch, die Tür zu Elmers Zimmer ist geschlossen. Vorsichtig schiebt sie sie auf. Manchmal, wenn er sie nicht kommen hört, hat sie Gelegenheit zu sehen, was auf seinem Bildschirm passiert.

Heute ist er auf der Hut, klickt das offene Fenster weg, alles wird zu Text.

Tja. Elmer sieht auf, beinahe schlaftrunken. Er richtet die schwarze Wollmütze, fährt sich mit der Hand übers Gesicht, legt den Zeigefinger auf eine Ausbuchtung zwischen seinen Augen. Er hat mehr Pickel, als sie in diesem Alter hatte, aber nur auf der Stirn, ständig verdeckt von seinem Pony und der Mütze.

Hej, na? Alles klar?

Er nickt, grinst abwesend, mit den Gedanken noch halb woanders. Alles schick, Muttern. Gut. Und du so?

Ihr wird ganz warm. Empathisch ist er, ihr Sohn. Fragt immer zurück, erinnert sich an Details, kümmert sich.

Gut. Gut, danke. Hab eine Artikelreihe verkauft. Also ja, alles prima. Sie verzieht das Gesicht zu einer albernen Grimasse, streckt die Zunge heraus und macht ein Peace-Zeichen, denn sie ist keine gewöhnliche Mutter. Sie ist witzig, thirty-something, jedenfalls noch keine vierzig, sie darf manchmal noch Bein zeigen. Sie könnten Geschwister sein, Elmer und sie, das hat ein älterer Herr vor dem Supermarkt vor nicht allzu langer Zeit behauptet. Blinder alter Sack, hat Elmer geflucht, der ist doch völlig lost.

Willst du Kaffee und Kuchen?

Will er nicht, er hat schon Müsli mit Dickmilch gegessen. Und dann muss sie sich vom Acker machen, er will sie nicht mehr dahaben, der Moment ist vorbei, das Fenster schließt sich. Sie kann es ihm ansehen.

Ruf nach mir, wenn du mich vermisst, sagt sie und lacht ha ha ha.

Sie schiebt die Tür wieder zu, nimmt seinen Pullover von der Stuhllehne in der Küche, atmet seinen Duft ein. Setzt Teewasser auf. Schaltet den Herd an.

Die Zeitung liegt auf dem Tisch, aber sie hat sie heute Morgen schon gelesen, beide Teile. Stattdessen greift sie zu ihrem Handy. Zuerst die übliche Runde: Facebook, Instagram, Mails, Nachrichten von Dagens Nyheter, Svenska Dagbladet, Guardian, Aftonbladet, wieder Mails. Dann googelt sie Jonathan Safran Foer Nicole Krauss. Sie weiß, dass die kein Paar mehr sind, Jonathan und Nicole, aber es gibt da noch etwas, das sie herausfinden will. Sie selbst glaubt, zumindest auf manchen Fotos, Nicole Krauss zu ähneln (die Lücke zwischen den Vorderzähnen, das markante Kinn, die Nase, die eher Intelligenz als Eitelkeit ausstrahlt), aber sie kann niemanden fragen, ob das stimmt. Natürlich nicht. An anderen Tagen googelt sie Siri Hustvedt Paul Auster oder Zadie Smith Nick Laird, tangiert ganz leicht etwas, das ihr hätte gehören können, wenn die Dinge nur anders gewesen wären. Siri ist noch immer strahlend schön, obwohl natürlich vor allem der Intellekt zählt.

Weder Zadie Smith noch Jonathan Safran Foer nutzen soziale Medien, hat sie gelesen, und auch sie will damit aufhören. Sie weiß, was mit dem Gehirn passiert, dass anklickbarer Text die Konzentration stört, dass das Verhalten von der Jagd nach leeren Dopamin-Kalorien gesteuert wird. Sie versteht die Konzepte dahinter, weiß, was sich hinter intermittierender Verstärkung und verringerter Melatoninausschüttung verbirgt, das alles hat sie auch Elmer erzählt. Mit dem Smartphone in der Hand ist sie das gefangene Tier und der Mensch außerhalb des Käfigs gleichermaßen. Immer wieder registriert sie, wie sie angelockt wird und wie sie in die Falle tappt.