Eine handvoll Kurzgeschichten - Dirk Mengwaßer - E-Book

Eine handvoll Kurzgeschichten E-Book

Dirk Mengwaßer

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Beschreibung

Eine kleine Sammlung der ersten Kurzgeschichten. Die berühmten ersten Schritte, die hoffentlich zu etwas Größerem führen.

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Seitenzahl: 60

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Inhaltsverzeichnis

Der Fluss

Der Menschenfresserkaktus

Das kann ich morgen auch noch machen

Dusty Stars

Lukretia

Der Fluss

In der Ferne hörte Judith einen Raben krächzen. Er musste irgendwo dort in den Bäumen am Ufer sitzen, dachte sie, während sie schwungvoll das Paddel ins tiefblaue Wasser stieß. Ein Schwarm kleiner Fische stob hastig zu beiden Seiten aus, nur um sich gleich darauf wieder ums Boot herum zu tummeln. Gemächlich fuhr sie in der Mitte des breiten Flusses dahin, frei von all ihren Sorgen, die sie daheim gelassen hatte. Die Sonne lachte ihr entgegen und versprach, dass dies ein schöner Tag werden sollte. Wie lange sie schon unterwegs war, wusste Judith mittlerweile gar nicht mehr, so sehr genoss sie die Ruhe und schwelgte in ihren Erinnerungen.

Bereits als Kind hatte sie es geliebt, gemeinsam mit ihrem Vater stundenlang über Flüsse und Seen zu paddeln. Vor ihrem inneren Auge tauchte sein Bild aus längst vergangenen Tagen auf. Das lockige, schwarze Haar wüst und zerzaust, darunter die tiefen, blauen Augen, die sie sanft und liebevoll anschauten und dazu seine stets zu einem Lächeln geformten Lippen. Selbst auf dem Sterbebett hatte er Judith noch sanft angelächelt. Von plötzlichem Schmerz durchbohrt wischte sie sich die Tränen mit dem Ärmel ihrer Strickjacke aus den Augen. "Dieser verdammte Krebs", schluchzte sie leise vor sich hin und ihr lief ein eisiger Schauer den Rücken herunter, als sie sich an ihren eigenen, bösartigen Tumor erinnerte. Die letzten Monate waren für sie die reinste Qual gewesen. Aber die Schmerzen, die Chemotherapie, die ständige Übelkeit und der sterile Geruch von Krankenhäusern zählten jetzt nicht mehr, nicht bei dem atemberaubenden Anblick, den dieser Fluss ihr bot. Judith atmete dreimal tief durch. Wie friedlich es hier doch war. Sie fühle sich so lebendig und ausgeglichen wie lange nicht mehr.

Vorne an der Flussbiegung konnte Judith eine Gestalt am Ufer sehen. War es ein Reh, das seinen Durst am Strom stillte, oder ein Angler? Sie war noch zu weit entfernt, um es mit Gewissheit sagen zu können. Judith fühlte sich ein wenig erschöpft und unterdrückte ein leichtes Gähnen. Sie legte das Paddel neben sich ins Boot, um sich ein Stück mit dem Strom treiben zu lassen.

Ein leichter Windstoß ließ die Blätter der großen Trauerweiden am Ufer rascheln und fuhr Judith hauchzart durch ihr langes, blondes Haar. Irritiert zwirbelte sie eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger. Dabei wanderte Ihr Blick erneut zur Flussbiegung. Der Schatten war verschwunden.

Judith schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Kraftvoll und heiß brannte sie auf Judiths Haut. Die Strahlen durchdrangen ihre geschlossenen Lieder und hinterließen ein wirres, von Rottönen geprägtes, Farbenspiel auf der Netzhaut. Fast unmerklich glitt ihr rechter Arm ins eiskalte Wasser und Judith begann verträumt damit kleine Kreise im Wasser zu ziehen. Das letzte mal, als sie sich so unbeschwert gefühlt hatte, tanzte sie, vom warmen Sommerregen durchnässt, mit Thomas auf einer Bergwiese in den Alpen. Die Kühe auf der Weide schienen sich nicht weiter an diesen beiden Verrückten zu stören, viel zu saftig schmeckte doch das frisch duftende Gras. Wie lange mochte dieser letzte gemeinsame Urlaub nun zurückliegen? Drei Jahre, oder doch schon Vier? Judith konnte es nicht mehr mit Gewissheit sagen, wann sie sich getrennt hatten, aber dieser letzte Augenblick des Glücks hatte sich fest in ihr Gedächtnis gebrannt.

Judith senkte ihren Kopf und öffnete die Augen. Sie bemerkte, dass sie der Flussbiegung schon ein gutes Stück näher gekommen war und nun konnte sie auch die Gestalt von vorhin wieder sehen. Es hatte den Anschein, als sei sie im Begriff erneut im Wald zu verschwinden. Getrieben von ihrer Neugier, ruderte Judith näher ans Ufer. Jetzt konnte sie auch ganz deutlich erkennen, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte, und sie schien sich umzudrehen, um Judith zu winken. Je näher sie dem Schatten kam, desto vertauter kam ihr diese Silhouette vor.

Ob es vielleicht Thomas war? Zumindest war er ein leidenschaftlicher Angler und von der Größe her könnte es auch passen. Aber es wäre schon ein seltsamer Zufall, sich nach all den Jahren, nun hier, mitten in der Wildnis, wieder zusehen. Judith erwiderte zaghaft den Gruß und hielt weiter auf den kleinen Steg zu, der jetzt zwischen dem Rohrschilf deutlich zu erkennen war. Wieder raschelten die Blätter am Ufer und diesmal glaubte Judith die Stimme ihrer Mutter darin zu hören. Sie klang traurig und voller Schmerz. Leise wisperte sie: "Judith, bleib hier!" Es kam Judith so vor, als wäre ihre Mutter ganz in ihrer Nähe und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie konnte den sanften Druck förmlich spüren und glaubte den flüchtigen Duft ihres süßen Parfüms zu riechen. Was sollte sie nun tun? Wäre es klüger, die Gestalt am Ufer nicht weiter zu beachten und die Fahrt fortzusetzen? Aber irgendetwas war an dieser Gestalt so anziehend, dass Judith gar nicht anders konnte, als sich ihr weiter zu nähern. Am Ufer stand ein Mann von stattlicher Statur und irgendwie wirkte er für Judith fremd und vertraut zugleich. Sein Gesicht, unter seinem schwarzen Haarschopf, konnte sie durch den Schatten der nahen Bäume allerdings noch nicht erkennen, als sie endlich ihr kleines Boot am Steg festgemacht hatte.

Unsicher stieg sie aus und ging langsam auf den wartenden Fremden zu, der sich immer noch nicht aus den Schatten herausgewagt hatte. Judith blieb am Ende des Steges stehen und fixierte die Gestalt. "Hallo. Thomas, bist Du das?", sagte sie, erhielt aber keine Antwort. Trotz des sonnigen Tages überkam Judith ein leichtes Frösteln, während sie dem Unbekannten so gegenüber stand. Langsam wurde ihr die Sache mulmig und sie wollte sich gerade umdrehen, um zum Boot zurückzukehren, als sich die Gestalt endlich aus dem Schatten heraus bewegte. Judith erstarrte vor Schreck. Der Fremde trat an sie heran und nahm sie herzlich in die Arme. Liebevoll gab der Mann seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. Wieder hörte Judith den Raben krächzen, diesmal ganz nah.

- Ende -

Der Menschenfresserkaktus

"Schön hast Du es hier", stöhnte Isabelle, während sie gemeinsam mit Maike einen mannshohen Kaktus in einem, für Jochens Geschmack, hässlichen Terrakottatopf in seinen Hausflur hievte. Bernd machte nicht die geringste Anstalt, den beiden zu helfen und stand, mit in die Hüften gestemmten Armen, vor Jochens Bauernhaus und bewunderte die hundert Jahre alte Fassade.

"Danke", erwiderte Jochen, "wartet, ich helfe Euch." Jochen packte unter den Topf und gemeinsam schleppten sie die schwere Topfpflanze ins geräumige Wohnzimmer. Jochen schaute sich das Mitbringsel genauer an und kam zu dem Schluss, dass nicht nur der Topf hässlich war. Der wuchtige, grüne Kaktus hatte zwar die typische Form, wie man sie aus Wildwestfilmen und Comics kannte, mit zwei stacheligen Auswüchsen, die mit etwas Phantasie, als Arme durchgehen konnten, aber der Rumpf wirkte sehr schwulstig und knorrig und es sah fast so aus, als hätte der Kaktus ein grimmig drein schauendes Gesicht.