Eine Insel - Karen Jennings - E-Book

Eine Insel E-Book

Karen Jennings

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Beschreibung

Der Leuchtturmwächter Samuel lebt seit zwanzig Jahren allein auf einer Insel vor der südlichen Küste Afrikas. Abgesehen von dem Schiff, das alle zwei Wochen anlegt, um ihn zu versorgen, hat er kaum Kontakt zur Außenwelt. Dann findet er am Strand einen bewusstlosen Geflüchteten und nimmt ihn bei sich auf. Je länger sich Samuel um den Mann kümmert, desto mehr Erinnerungen kommen in ihm hoch, an Unterdrückung, Freiheitskampf, dem Verlust seiner Familie und dem Regime eines grausamen Diktators, und sein jahrzehntealtes Trauma droht die Beziehung zu seinem Schützling zu zerstören.

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Seitenzahl: 226

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Das Buch

Der Leuchtturmwächter Samuel lebt seit vielen Jahren allein auf einer Insel vor der südlichen Küste Afrikas. Abgesehen von dem Schiff, das alle zwei Wochen anlegt, um ihn zu versorgen, hat er kaum Kontakt zur Außenwelt.

Samuels einsame Existenz wird unterbrochen, als er eines Tages einen bewusstlosen jungen Mann am Strand findet, einen Geflüchteten, den das Meer angespült hat. Er nimmt ihn bei sich auf, gibt ihm zu essen und zu trinken, versorgt seine Wunden. Doch je länger sich Samuel um den Mann kümmert, desto mehr Erinnerungen an sein früheres Leben auf dem Festland kommen in ihm hoch – ein Leben, das geprägt war von Unterdrückung, Freiheitskampf, dem Verlust seiner Familie und dem Regime eines grausamen Diktators. Dieses jahrzehntealte

Trauma droht die Beziehung zu seinem Schützling zu zerstören.

Karen Jennings EINEINSEL ist ein kraftvoller, soghaft erzählter Roman, der auf bewegende Art und Weise die großen Themen unserer Zeit verhandelt: das Trauma von Rassismus und Kolonialismus, Flucht und Vertreibung sowie den Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung.

Die Autorin

Karen Jennings, geboren 1982, hat bereits vier Romane und einen Gedichtband veröffentlicht. EINEINSEL ist das erste ihrer Bücher, das auf Deutsch erscheint. Der Roman war 2021 für den Booker Prize, eine der höchsten literarischen Auszeichnungen überhaupt, nominiert und wird nun in achtzehn Sprachen übersetzt. Karen Jennings lebt in Kapstadt.

Karen

Jennings

Eine

Insel

Roman

Aus dem Englischen

von Regina Rawlinson

Blessing

Das Buch erscheint unter dem Titel ANISLAND bei Holland House Books, Newbury

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Karen Jennings

Copyright © 2022 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin,

nach einem Entwurf von Anna Kochman

Umschlagabbildungen: Kehan Chen/Getty Images (Ozean),

Georgijevic/Getty Images (Mann)

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

978-3-641-29286-7

www.blessing-verlag.de

Erster Tag

Zum ersten Mal lag ein Ölfass am Kiesstrand der Insel. Dabei war im Laufe der Jahre alles Mögliche angespült worden – zerfetzte Hemden, Taue, kaputte Plastikdeckel von Lunchboxen, geflochtene Zöpfe aus täuschend echt aussehendem Kunsthaar. Leichen. So auch heute wieder. Hingestreckt neben dem Fass, die eine Hand danach gereckt, als hätten beide, Leiche und Fass, die Reise zusammen angetreten und wollten nun nicht mehr voneinander lassen.

Durch eines der kleinen Fenster im Leuchtturm hatte Samuel, als er am Morgen vorsichtig nach unten gestiegen war, zunächst nur das Fass entdeckt. Er musste beim Treppensteigen gut aufpassen. Die alten Steinstufen waren die reinsten Stolperfallen – glatt und in der Mitte stark ausgetreten. Wo der Beton es zuließ, hatte er Eisengriffe montiert, aber auf dem Rest der Treppe musste er sich mit ausgebreiteten Armen an den Wänden entlangtasten, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Das Fass war aus Plastik, blau wie ein Blaumann, und während Samuel zum Strand hastete, dümpelte es vor ihm in der Dünung. Die Leiche sah er erst, als er unten angekommen war. Er machte einen Bogen darum und besah sich das Fass aus der Nähe. Es war so dick wie ein Präsident und hatte, soweit er erkennen konnte, weder Risse noch Löcher.

Er hob es vorsichtig an. Es war leer, das Spundloch dicht. Trotz des geringen Gewichts war es erstaunlich unhandlich. Mit seinen knotigen Händen würde es Samuel nicht gelingen, es über den steinigen Strand, die Felsen und auf dem sandigen Weg durch Gestrüpp und Gräser nach oben, bis zu seinem kleinen Haus neben dem Leuchtturm zu bugsieren. Wenn er es schaffte, sich das Fass mit einem Seil auf den Rücken zu binden, bräuchte er die alte Holzschubkarre nicht zu holen, die mit ihrem halb zersplitterten Rad überall hängen blieb und dauernd umkippte, weil sie so schwer war.

Ja, das Fass huckepack zu nehmen wäre wohl die beste Lösung. Anschließend würde er aus dem Sammelsurium aus morschen Planken und Planen im Hof seine rostige Bügelsäge ausgraben, das Blatt abschmirgeln und so gut wie möglich schleifen, das Fass oben aufsägen und an die Hausecke stellen, wo immer die Regenrinne überlief, um darin Wasser für den Gemüsegarten zu sammeln.

Samuel ließ das Fass los. Es taumelte auf dem unebenen Untergrund hin und her und klatschte gegen den Arm des Toten. Den hatte er völlig vergessen. Er seufzte. Es würde ihn den ganzen Tag kosten, die Leiche zu beseitigen. Den ganzen Tag. Erst abtransportieren und dann begraben – wobei auf der felsigen Insel mit der dünnen Sandschicht ein Begräbnis sowieso nicht infrage kam. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Toten mit Steinen zu bedecken, wie er es seit Jahren mit allen angespülten Leichen machte. Aber dieser Tote war ein ziemlich großer Brocken. Nicht von der Breite her, aber von der Länge. Doppelt so lang wie das Fass, als hätte ihn der Seegang durch die Mangel gedreht.

Er hatte kräftige Arme, unverhältnismäßig kräftig im Verhältnis zu seinem nackten Oberkörper mit der scharf hervortretenden Wirbelsäule und den deutlich sichtbaren Rippen. Auf den Schulterblättern kräuselten sich feine schwarze Härchen, genau wie unten auf dem Rücken, am Bund der grauen Denim-Shorts. Die gleichen Löckchen, zu klein für einen Mann seiner Größe, fanden sich auch an den Beinen und Zehen, an den Unterarmen und auf den Fingern. Samuel war verwirrt. Solche Haare hatte sonst nur ein neugeborenes Tier oder ein Baby, das zu lange im Mutterleib gewesen war. Was war das für ein Geschöpf, das der Ozean hier auf den Steinen geboren hatte?

Während die Vormittagssonne höher stieg, überzogen sich die ersten Löckchen mit silbrigen Salzkristallen. Auch das Kopfhaar des Toten war grau, grau vom Sand. An der Stirn und dem einen geschlossenen Auge, das Samuel sehen konnte, klebten Sandkörner. Der Rest des Gesichts war gegen die Schulter gepresst.

Samuel knurrte unwillig. Die Leiche musste warten. Das Fass ging vor. Wenn das Meer den Toten am nächsten Morgen nicht wieder mitgenommen hatte, konnte er immer noch ein paar Felsbrocken spalten, bis er genügend kleinere Steine beisammenhatte, um ihn zuzudecken.

Im dreiundzwanzigsten Jahr als Leuchtturmwärter war es seine zweiunddreißigste Leiche. Zweiunddreißig namenlose Leichen, die keiner haben wollte. Anfangs hatte Samuel die Leichen noch gemeldet, als die Regierung neu und der Versprechungen viele waren, als nach einem Vierteljahrhundert der Diktatur das Chaos herrschte und man noch versuchte, die Toten und Vermissten zu finden. Beim ersten Mal waren Beamte gekommen, ausgestattet mit Klemmbrettern und einem Dutzend Leichensäcken, und hatten die Insel nach verscharrten Opfern abgesucht, nach zwischen den Felsen eingeklemmten Überresten, nach Knochen und Zähnen, im kiesigen Sand zu Bröckchen zerfallen.

»Sie verstehen«, erklärte die Frau, die das Sagen hatte, während sie am Absatz ihres Lackschuhs eine Schramme inspizierte. »Wir haben es versprochen. Wir müssen alle finden, die unter dem Diktator gelitten haben, um als Nation voranschreiten zu können. Außerhalb der Hauptstadt haben meine Kollegen auf einer Wiese ein Grab mit mindestens fünfzig Leichen entdeckt. Ein anderer Kollege ist im Wald auf die Überreste von sieben Erhängten gestoßen. Die noch an den Bäumen hingen, nach all der Zeit! Wer weiß, wie viele wir hier bei Ihnen finden? Sicher jede Menge, davon bin ich überzeugt. Die Insel eignet sich ideal als Deponie.«

»Meinen Sie?«

»Aber ja, sehen Sie sich doch um.« Sie machte eine weit ausholende Geste. »Meilenweit keine Menschenseele. Nicht einer, der etwas sieht oder hört oder tut.« Sie beugte sich zu ihm, senkte die Stimme. »Man munkelt, dass es geheime Lager gegeben haben soll, ähnlich wie Konzentrationslager, Todescamps für Dissidenten. Natürlich wissen wir noch nicht, ob das wirklich der Wahrheit entspricht. Wir haben bis jetzt keine Beweise dafür gefunden, aber meinen Sie nicht auch, dass man sich so etwas durchaus hier vorstellen könnte? Ein Camp für Todgeweihte?«

Weil Samuel nicht antwortete, wandte sich die Frau von ihm ab und rief einem Mann aus dem Team etwas zu, tippte auf ihre Armbanduhr. »Weitersuchen«, sagte sie, nachdem er den Kopf geschüttelt hatte. Sie drehte sich wieder zu Samuel um. »Erst wenn wir die Toten gefunden haben, kann der Heilungsprozess beginnen. Für die Nation, für uns alle. Vorher können sich die Wunden nicht schließen. Aber dafür brauchen wir die Leichen.«

Als sich ihre Mitarbeiter nacheinander mit leeren Händen bei ihr einfanden, die angespülte Leiche als einzige Ausbeute des Tages, lief sie, ohne sich zu verabschieden, zum Boot – ein überstürzter Abschied. Samuel hörte nie wieder etwas von ihr, genauso wenig wie von ihrer Abteilung. Weder erfuhr er, was aus seinem Toten geworden noch wer er gewesen war.

Monate oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr später fand er drei kleine Leichen. Ein Junge, ein Mädchen, ein in eine Decke gewickeltes Baby lagen nebeneinander am Strand. Damals funktionierte das Funkgerät des Leuchtturms noch, und er hatte seinen Fund ans Festland durchgegeben. Die Frau rief ihn zurück, ihre Stimme klang statisch abgehackt.

»Was für eine Hautfarbe haben sie?«

»Wie bitte?«

»Was für eine Hautfarbe? Die Leichen. Was für eine Hautfarbe?«

Er schwieg.

»Ich muss es wissen. Sind sie dunkler als wir – also dunkelhäutiger? Sind sie dunkler als Sie und ich?«

»Ich glaube schon.«

»Und der Gesichtsschnitt? Sind die Gesichter länglicher? Was für Wangenknochen haben sie?«

»Ich weiß nicht. Es sind Kinder. Sie sehen aus wie Kinder.«

»Hören Sie, wir haben alle Hände voll zu tun. Mit echten Verbrechen. Mit tatsächlichen Gräueltaten, ja? Wir können nicht jedes Mal auf die Insel kommen, wenn irgendwelche Ausländer auf der Flucht ertrinken. Die gehen uns nichts an.«

»Und was soll ich mit ihnen machen?«

»Das ist uns egal. Wir wollen sie jedenfalls nicht haben.«

Damals hatte er bereits angefangen, den Gemüsegarten hinter dem Haus anzulegen. Von seinem Lohn hatte er auf dem Festland Mutterboden, Saatgut und Stecklinge bestellt und zum Schutz der jungen Pflänzchen rundum eine Trockenmauer gebaut. Dafür hatte er auf der Insel alle ziegelgroßen Steine eingesammelt und so lange auf- und ineinandergeschichtet, bis die Konstruktion hoch und lang genug war. Danach ließ er sich einen Vorschlaghammer kommen und rückte damit den großen Steinen und Felsbrocken an der Küste zu Leibe. Die Trümmer benutzte er ebenfalls als Baumaterial. Ganz allmählich veränderte sich die Gestalt der Insel. Ein Hubschrauberpilot, der regelmäßig darüber hinweggeflogen wäre, hätte bemerkt, wie sich die kleinen Buchten nach und nach verbreiterten und aus scharf gezackten Linien sanfte Biegungen wurden.

Samuel zog die Mauer hoch, bis die ganze Insel dahinterlag. In diese äußere Schutzwand baute er die Leichen ein. Meistens durchsuchte er sie vorher, ob sie irgendwelche Papiere bei sich hatten, doch er fand nie etwas Brauchbares in ihren Taschen. Höchstens einmal, in der Faust eines alten Mannes, ein zu Brei zerquetschtes Bündel Geldscheine. Samuel begrub ihn mit dem Geld. Er mauerte die Toten möglichst weit von seinem Häuschen entfernt ein, damit ihn der Verwesungsgeruch nicht erreichen konnte. Trotzdem zogen sie Möwen an, die wochenlang kreischend über der Stelle kreisten und versuchten, pickend zu ihnen vorzudringen. Mit der Zeit lernte er, die Hohlstellen im Fuß der Mauer zu verstärken, sodass sie unten etwas ausbeulte. Trotzdem gelangten manchmal Möwen in das Loch und pickten an den Leichen herum. Wo die Toten ungestört blieben, sank oft die Mauer über ihnen ein.

Samuel stupste und stieß die Leiche neben dem Fass mit dem Fuß an. Dadurch bewegte sich der Arm, der Kopf rollte auf die Seite, und plötzlich war das Gesicht ganz zu sehen. Kurz klappten die Augen auf. Aus der Kehle kam ein Knurren, und die Finger der ausgestreckten Hand zuckten, tippten auf einen Kiesel.

Samuel wich erschrocken zurück. »Hallo«, sagte er leise. »Hallo.«

Der Mann regte sich nicht mehr, aber in seinem Hals sah Samuel jetzt das Blut pochen, ein gleichmäßiges Pulsieren, während das Meer fauchend über die Steinchen und wieder zurück lief.

Samuel zählte mit. Fünfzig Schläge. Zweihundert, Dreihundertfünfzig. Bei fünfhundert drehte er sich zu dem Plastikfass um, schlang mühsam die Arme darum und hievte es hoch. Blind stolperte er den Strand hinauf. Jenseits der Flutmarke legte er das Fass auf die Seite, keilte es mit Steinen fest und ging noch einmal zu dem Mann zurück. Nachdem er wieder hundert Pulsschläge gezählt hatte, machte er sich auf den ausgetretenen Pfaden, die sich nie veränderten, auf den Weg den Inselberg hinauf.

Als er zurückkehrte, waren die Möwen da. Aus wenigen Metern Entfernung stürzten sie, heiser krächzend, immer wieder mit gesenktem Kopf blitzschnell auf den Mann zu. Als sich eine von ihnen flügelschlagend bis zu seinem rechten Bein vorwagte und versuchsweise in seine Shorts hackte, kam Samuel den sandigen Weg herunter, die schwere Schubkarre vor sich herschiebend.

»Weg da! Verschwindet! Weg mit euch!«

Die Vögel flogen auf, aber nicht sehr hoch, während Samuel sich durch die Felsen hinunter auf den Kiesstrand mühte. Neben dem Mann blieb er stehen. Er nahm ein Seil aus der Schubkarre und wickelte es zweimal um die Mitte des Fasses, zweimal um die Längsachse. Dann band er es an einem hohen Felsblock fest. Auf dieser Seite der Insel gab es keine Bäume, nur trockenes, blattloses Gestrüpp, das bei der leisesten Berührung zerbrach.

Er ging zu dem Mann zurück, schob ihm die Hände unter die Arme und versuchte, ihn zur Schubkarre zu ziehen, aber er bewegte sich nicht vom Fleck. Wahrscheinlich hing er irgendwo fest. Ächzend zog und riss Samuel an ihm. Bald taten ihm die Arme weh, sein Kreuz brannte. Ein loser Stein riss ihm den Fuß weg, und er stürzte mit einem Aufschrei nach hinten um. Der Mann landete auf ihm. Nasse Ausländerhaare, Ausländerschweiß, Ausländeratem. Er wälzte ihn von sich herunter, stand auf. Die langen, drahtigen Achselhaare des Mannes rissen in Büscheln aus, als Samuel an ihm herumzerrte. Sie blieben an seinen verschwitzten Handgelenken und Unterarmen kleben und krochen ihm unter die Fingernägel. Bevor er den nächsten Versuch unternahm, spülte er Hände und Arme im Meer ab.

Als er es nach mehreren Minuten geschafft hatte, den Mann mit den Schultern auf die Schubkarre zu wuchten, musste er, mit dem Gesäß ans Holz gelehnt, erst einmal wieder zu Atem kommen. Schließlich ging er auf die andere Seite und zerrte den Oberkörper ganz hoch. Die Haut blieb an dem splitternden Holz hängen, der Kopf rollte gegen einen der Griffe, die Arme hingen über den Rand hinunter. Er packte sie in die Karre, quetschte sie hinein. Nun ragten nur noch die Beine steif heraus – ein komischer Anblick.

Ihm selbst zitterten inzwischen die Beine. Und die Hände. Er hockte sich einen Augenblick in den Sand, blickte über das Wasser bis zu dem Nebel am Horizont. Der Gedanke war schon da, bevor er ihn aussprach: »Ich bin alt.« Wie erschrocken über die Worte, rappelte er sich hastig auf, packte die rissigen Fersen des Mannes und drückte, bis die Knie nachgaben und Ober- und Unterschenkel ein Dreieck bildeten. Dann stemmte er die Füße rechts und links in die Ecken der Karre, nahm ein zweites Seil und flocht es so lange um und über den Mann, bis Füße, Knie und Arme gefesselt waren. Der große Körper lag da wie ein Stück Holz, wirkte geschrumpft und verformt.

Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme kippte und wippte er hin und her und stupste mit dem Kopf gegen Samuels Hand, während die Karre über die Steine rumpelte. Das Rad fuhr sich bei jeder Umdrehung fest. Wenn er den Ruck schon vorher kommen sah, räumte er das Hindernis vorsorglich aus dem Weg und besah sich den Schaden am Rad, bevor er die Karre weiterschob.

Einmal stöhnte der Mann auf, und Samuel wartete vergeblich darauf, ob er die Augen öffnen würde. Weiter ging es durch den nassen Sand des vom Wasser ausgespülten Hohlwegs zwischen den Felsen, der so eng war, dass die Seiten der Schubkarre daran entlangschleiften und sich der Mann das Knie blutig schürfte.

Schließlich hatten sie den Felstunnel und damit auch fast den Strand hinter sich und vor sich nur noch die steile Böschung mit dem lockeren grauen Sand. Prompt blieb das Rad wieder stecken. Die Schubkarre ließ sich keinen Schritt mehr vorwärtsschieben. Samuel konnte nicht mehr, er ließ die Karre stehen. Er hatte alles versucht. Mehr konnte er nicht tun. Er würde den Mann losbinden und ihm, wenn er aufwachte, etwas zu essen und Wasser bringen, vielleicht sogar eine Decke. Das musste wirklich reichen.

Er gab sich doch noch einmal einen Ruck. Er wendete die Schubkarre im weichen Sand und zog sie rückwärts den Weg hinauf. Seine Arme fühlten sich dünn wie Papier an, als könnte es sie jederzeit zerreißen. Wieder blieb das Rad hängen, wieder landete er auf den Knien. Er bestand nur noch aus Sand. Sand in den Schuhen, in den Taschen, in den Falten seiner Hände. Er startete einen allerletzten Versuch.

Von der Inselmitte her wehte ein Windhauch, eine sanfte Brise durch gelbe Gräser, und dann erreichte er einen festen Weg, gesäumt von kleinen rosa Blumenpolstern und gründornigem Unkraut. Darüber erhob sich der Leuchtturm.

Ehemals weiß, zuletzt frisch verputzt Mitte des letzten Jahrhunderts, bevor die Kolonialmacht das Land seiner Unabhängigkeit und sich selbst überlassen hatte, war die Farbe längst abgeblättert und der Turm grau geworden. Der Rost des altersschwachen Eisengeländers der Plattform, die um das Lampenhaus herumlief, hatte orangefarbene Streifen an der Außenwand hinterlassen. Der Boden der Plattform bestand aus lockeren Planken, zwischen denen immer wieder Löcher klafften. Wenn Samuel am Fuß des Turms stand und direkt nach oben sah, rahmten die übrig gebliebenen Bretter ein Stück Himmel ein, je nach Uhr- oder Jahreszeit mit Wolken, Sternen, Sonne oder Mond. Falls er sich stark genug fühlte, wagte er sich alle zwei Wochen auf die Plattform hinaus. Er klammerte sich an allem fest, was nicht wackelte, und putzte die Scheiben der Laterne mit einem nassen Lappen, den er um einen Stock gewickelt hatte, zuletzt erst vor ein paar Tagen. Ihm war schwindelig, wenn er wieder nach unten stieg, der Mund stand ihm halb offen, und sein Blickfeld war schwarz verengt. Heute spiegelten die Scheiben den wolkenlosen Himmel, die scharfen Strahlen der Mittagssonne.

Auf halber Höhe hatte sich kürzlich ein tiefer Riss von der Länge her fast verdoppelt und führte nun einmal ganz um den Turm herum. Keiner würde sich darum kümmern, genauso wenig wie um den Verputz, das Geländer, die Planken oder das Funkgerät.

Am Fuß des Turms wuchsen kurze, struppige Bäume, die Stämme und Äste vor dem vorherrschenden Wind nach Westen geneigt, sodass es aussah, als wären sie auf der Flucht; und so manches Mal, wenn er morgens aus dem Haus kam, hätte es Samuel kaum verwundert, wenn sie sich tatsächlich über Nacht davongemacht hätten.

Als er sich dem von der Mauer eingefassten Hof näherte, hob lautes Gegacker an. Er schob die ausrangierte Falltür, die ihm als Tor diente, beiseite und sagte gutmütig: »Ist ja gut, Mädels. Ihr könnt jetzt den Schnabel halten. Ich bin wieder da. Ich bin hier.«

Weil sie sich Hoffnung auf Futter machten, stürzten die Hühner, sieben an der Zahl, auf ihn zu.

»Nein, ich hab nichts für euch. Verschwindet, jetzt haut schon ab«, sagte er, während er die Schubkarre die letzten paar Meter schob. Er zog sie über die Schwelle ins Haus, zerrte sie durch die kleine dunkle Diele, vorbei an den Kleiderhaken, Anoraks, Hüten und abgetretenen Stiefeln, ins Wohnzimmer.

Eine kleine Henne lief ihm hinterher, die alte mit den roten Federn, die mit ihren Artgenossinnen nicht gut auskam. Samuel fehlte die Kraft, sie wieder hinauszuscheuchen, auch wenn die Hühner ganz genau wussten, dass sie im Haus nichts verloren hatten. Er kniete sich hin, damit sie zu ihm kam. Sie pickte in seinen leeren Händen herum und ließ sich von ihm den Rücken streicheln, während er die kahlen Stellen an ihrer Brust und an den Beinen betastete, wo sie attackiert worden war. Die Wunden waren verheilt. Bald würden hoffentlich auch die Federn nachwachsen.

»Also dann«, sagte er nach einer Weile und setzte sie wieder auf dem Boden ab.

Er band die Seile los. Dann kippte er die Schubkarre vorsichtig zur Seite, bis der Mann auf dem abgewetzten Teppich landete. Samuel ordnete seine Arme und Beine, streckte seinen Hals, untersuchte das Knie, das aufgehört hatte zu bluten, holte ein altes Kissen und legte es ihm unter den Kopf. Das Huhn kam gackernd näher und trippelte einmal von oben bis unten an dem Mann entlang.

Samuel ging in die Küche, trank zwei Gläser Wasser und setzte sich an den Tisch, auf dem noch Krümel vom Frühstück und die Reste eines Brotlaibs lagen. Samuel backte in seinem alten Gasofen zweimal in der Woche ein Brot. Er hatte sich das Brotbacken im Laufe der Jahre selbst beigebracht und so lange getüftelt, bis er ein Rezept kreiert hatte, mit dem er zufrieden war. Er fegte mit breiter Hand über den Tisch, wischte sich die Krümel in die offene Hand und versuchte, mit leisen Geräuschen die Henne anzulocken. Doch die interessierte sich nicht für ihn, sondern trippelte leicht aufgeplustert um den Mann auf dem Fußboden.

»Dummes Ding.« Er beugte sich, ohne aufzustehen, über das Waschbecken und warf die Krümel hinein. »Das tut dir nachher noch leid, wenn du dich mit den anderen ums Futter streitest.«

Das Huhn hatte sich wieder beruhigt. Es lag neben den Beinen des Mannes, die Augen fielen ihm zu. Samuel sah sich den Fremden näher an. Breiter Mund, schmaler Unterkiefer. Er hatte keinerlei Gesichtsbehaarung, noch nicht einmal Augenbrauen. War vielleicht so um die Mitte dreißig, hätte aber durchaus auch älter oder jünger sein können. Einen Fingerbreit vom Ohrläppchen entfernt, pochte sein Puls. Wieder zählte Samuel unwillkürlich mit. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs.

Wie lange würde der Mann wohl noch leben? Wie lange in Samuels Haus auf Samuels Teppich liegen? Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Würde das jetzt so weitergehen? Mit der dauernden Unruhe in seinen vier Wänden? In dem Heim, das seit mehr als zwei Jahrzehnten Einsamkeit nur ihm gehörte? Würde es so bleiben? Mit diesem Atem, diesem Pulsschlag, dieser Jugend, diesem Leben, die sich das kleine Häuschen aneigneten, in Boden und Wände eindrangen? Seine Kehle schnürte sich zusammen, panisch rang er nach Atem.

Er redete sich Mut zu. Für den nächsten Tag erwartete er das Versorgungsschiff, das alle zwei Wochen kam. Wenn es da war, würde er ihnen den Mann übergeben. Sie mussten ihn mitnehmen. Sie hatten die Pflicht dazu.

Als wollte der Mann auf dem Fußboden ihn und seine Gedanken verhöhnen, trat auf seiner Stirn eine Ader hervor, vor Leben fast berstend.

Samuel sprang auf und stolperte durch die Tür nach draußen. Er wollte das Fass holen. Wenn er zurückkam, war der Mann hoffentlich tot.

Nachdem er sich das Fass, das er huckepack trug, vom Rücken losgebunden und es in den Hof gestellt hatte, musste er sich kurz an der Mauer abstützen. Seine Beine wollten nicht mehr. Fast hätte er sich erst einmal ein paar Minuten auf den kalten Boden gesetzt, aber dann riss er sich zusammen und drückte die Schultern durch. Beim Anblick der offenen Tür, die in die dunkle Diele führte, ging er nicht weiter zum Haus, sondern stapfte zum Leuchtturm.

Die tief stehende Sonne schien ihm grell ins Gesicht. Blinzelnd schirmte er mit der Hand die tränenden Augen ab. Dabei rauschte es ihm seltsam in den Ohren, einer Mischung aus Hitze und Atem gleich, und er konnte nicht anders, als sich zu der offenen Tür umzudrehen.

Für ihn hörte es sich so an, als seufzte das Haus. Als söge es die Inselluft durch die Tür in sich ein und atmete die verbrauchte Luft aus dem Inneren wieder aus.

Der Mann lebte noch. Das war der einzige Gedanke, zu dem Samuel fähig war. Er konnte nur an den Atem des Mannes denken. Nicht an seine eigene Erschöpfung und an die Schmerzen, nicht an seinen Hunger, ja, noch nicht einmal an seinen Wunsch, selbst im Haus zu sein, auf der Couch zu liegen und vielleicht bei einem Nickerchen wieder zu Kräften zu kommen.

Aber er konnte das keuchende Loch nicht betreten. Wenn er auch nur einen Fuß hineinsetzte, würde er ersticken, es wäre sein Tod.

Etwas regte sich in ihm. Etwas entfaltete sich, öffnete sich nach außen, wurde größer und größer, bis es seine Brust, seine Arme, seine Kehle bedeckte. Bis er mürbe war und ächzte. Er fasste sich ins Gesicht, doch er fühlte nur raspelnde Stoppeln und darunter papierdünne Haut.

Nein, er konnte das Haus nicht betreten. Aber zum Strand konnte er auch nicht mehr, nicht auf seinen müden Beinen. Selbst wenn er es sich zugetraut hätte, wäre er nicht wieder runtergegangen. Jetzt nicht mehr, nachdem der Strand ein Ort des Grauens geworden war.

Es regte und entfaltete sich weiter in ihm, es zerrte an ihm, machte ihn so dünn und gestaltlos, dass ihn der Wind jeden Augenblick hätte hochheben und wegtragen können.

Im Hof warteten die Hühner gackernd auf die abendliche Fütterung. Samuel ging zum Futterkasten, der neben dem Haus stand, klappte den schweren Deckel hoch und griff nach der Emailtasse, die oben auf den Körnern lag. Sie war armeegrün und hatte einen kreisrunden Rostfleck, der bis rauf zum Rand und darüber hinaus reichte. Auch am Boden, am Griff und an anderen Stellen zeichneten sich kleine Verfärbungen ab. Gegen den Widerstand der Körner tauchte Samuel die Tasse in den Kasten, bis sie sich gefüllt hatte und schwer geworden war. Mit seinen dicken Fingern, die nach den Anstrengungen des Tages stark angeschwollen waren, sah es so aus, als hielte ein Riese ein Tässchen aus einem Teeservice für Kinder in der Pranke. Er streute das Futter aus und holte noch zwei, drei weitere Portionen aus dem Kasten, bis die Fütterung beendet war. Die Hühner pickten die Körner so eifrig aus dem Staub, als hätten sie die Insekten und Würmer, nach denen sie den ganzen Tag gescharrt hatten, völlig vergessen.

Ihm knurrte der Magen; er hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Er warf sich ein paar Körner in den Mund. Sie schmeckten nach Staub, nach dem hölzernen Kasten, in dem sie aufbewahrt wurden. Um sie zu kauen, fehlten ihm mittlerweile die Zähne, also lutschte er sie, ließ sie von Backentasche zu Backentasche wandern.

Solange es noch hell war, musste er die Eier einsammeln. Er suchte unter den Büschen, in Kuhlen, im Hühnerstall, aber er fand nur drei. Zwischen einigen Steinen lagen die Überreste eines weiteren, die Schale zerbrochen und mit Dotter bekleckert. Eierschalenscherben fanden sich auch auf der Mauer und neben dem Weg. Wie viele mochten die Möwen wohl noch geraubt haben? Die kleine rote Henne legte schon länger nicht mehr. Sie war zu alt und zu krank. Früher hätte er ihr einfach den Hals umgedreht, sie gekocht und gegessen. Er bekam sowieso nicht oft genug Fleisch auf den Teller. Aber jetzt hielt ihn jeden Tag etwas anderes davon ab, und er redete sich ein, dass sie bloß mehr Futter, mehr Ruhe brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen.