Eine Kalorie kommt selten allein - Reiner Calmund - E-Book + Hörbuch

Eine Kalorie kommt selten allein Hörbuch

Reiner Calmund

4,6

Beschreibung

Reiner Calmund ist unverkennbarer Genussmensch

„Als Kind wurde ich in Esskur geschickt, weil ich so dünn war.“ Reiner Calmund ist bekennender Genussmensch mit viel Freude am kleinen Bisschen mehr. Und er steht zu seinen Kilos, Leugnen wäre ohnehin zwecklos. „Eine Kalorie kommt selten allein“ besteht aus amüsanten, originellen und humorvollen Geschichten rund ums Rundsein. „Das Dumme ist ja, dass die Kalorien nie als Single daherkommen. Die tauchen immer gleich im Rudel auf.“

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Zeit:3 Std. 28 min

Sprecher:Reiner Calmund

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Für meine MutterFür meine Frau Sylvia – Liebchen und PartnerFür meine Kinder Andrea, Sandra, Marcel, René und Maurice

Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortEinleitungAls Schwergewicht im AlltagCopyright

Vorwort

Einfach ein gutes Bauchgefühl

Welcher Mann gibt sich nicht gerne Illusionen hin? Herkules, Cupido, Vitali oder Wladimir – wer will nicht wie Adonis sein? Ausgestattet mit Sixpack und Bizeps, mit Knackarsch und wohlgeformten Oberschenkeln!

Das ist die Liga, aus der ich mich längst verabschiedet habe. Illusionen gebe ich mich seit Jahrzehnten nicht mehr hin. Ein Blick in den Spiegel genügt, die Muskeln sind gut verborgen, der Winterspeck ist auch im Sommer da.

Ich steh’ zu mir –und zu dem Dicken da im Spiegel.

Und trotzdem: Ich ruhe in mir. Habe ja Platz ohne Ende. Ich habe mich seelisch eingerichtet in meinem Körper und lasse mir gerne sagen: »Calli, du bist ein Pfundskerl. Echt, pur, authentisch. Mit Charakter, Ecken, Kanten!« Nein, stopp: »Mit Charakter, Falten, Rundungen – auf jeden Fall ein Junge aus dem Leben!«

Der Mann, den ich morgens und abends im Spiegel sehe, ist der Mann, den ich kenne, dem ich vertraue, der meine Sünden mit mir teilt – die kulinarischen etwas zu öffentlich, man kann es nicht ändern. Ich steh’ zu mir – und zu dem Dicken da im Spiegel.

Vielleicht ist es ja dieses Bewusstsein, das mir so häufig ein »gutes Bauchgefühl« beschert. Das mich morgens so angenehm wach werden lässt. Ich habe einen Grund, mich zu freuen. Wer kann das schon von sich behaupten, wenn er die Augen aufschlägt? Egal ob bei mir zu Hause vor den Toren Kölns, im Hotel in München, Berlin, Bangkok oder Melbourne, ich habe viele Gründe, mich zu freuen: drei Brötchen, vier Spiegeleier, einen Joghurt, Schinken, eine Mango, die Papaya. Und es geht weiter: Nach dem Frühstück folgt ein zweites Frühstück, drei Gänge zu Mittag, Kaffee und Kuchen, Abendessen, Mitternachtssnack – das Leben ist schön!

Die Muskeln wollen Nahrung haben, die Nerven sowieso. Dass ich genau genommen ein Pensum schlucke, das mich eine mittlere Hungerkatastrophe locker überleben ließe – wen stört’s?

Mich!

Na ja, manchmal! Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie Ihre Stimme auf Band hören? Der erste Impuls: Da spricht doch ein anderer! Garantiert, das ist immer der erste Gedanke. Der zweite: Höre ich mich echt so blöd an? Und sofort wird diese Frage weitergeleitet an den Partner. Es folgt die Beruhigungspille: »Nein, das geht jedem so. Du klingst wie immer!« Gerne gehört, aber nicht ganz geglaubt.

Und erst die Fotos! Sie sind schlimmer als jede Stimme vom Band, peinigender als jeder Spiegel. Kein schneller Blick und danach ist gut. Nein, ein Schnappschuss aus dem letzten Urlaub, ein bleibender Beweis. Ein Kumpel hat ihn verbrochen und viele andere mehr. Ohne Hintergedanken. Und ohne Anstand. Blaues Meer. Sanfte Wellen. Weißer Strand. Und ich.

Weißer Wal!

Um Gottes willen! Gerade habe ich noch beruhigend auf mich und meine Kilos eingeredet. Und jetzt springt mich das schlechte Gewissen an wie eine Katze in Panik. Eingefroren von der kalten und unbestechlichen Linse, megascharf gebrannt auf den Vier-Gigabyte-Chip, in HD übertragen auf den Handybildschirm, knapp 150 Kilo in ein paar Tausendstelsekunden eingefangen – er lacht mich an: Moby Dick!

Was für ein Glück. Nie werde ich ertrinken! Greenpeace wird immer an meiner Seite sein. Die »Tagesschau« wird live berichten. n-tv und N24 werden das »Breaking-News«-Band durchlaufen lassen: »Rettet die Wale! In der Hauptrolle: Reiner Calmund!«

Das ist der Trost, ein schwacher. Denn ich lebe in der Realität. Mit zu viel – mit viel zu viel – Kilos auf den Rippen. Am Spiegel husche ich vorbei, weil nicht sein kann, was nicht sein soll. Oder muss. Oder darf.

Den Spiegel könnte ich zertrümmern, wäre aber eine schlechte Lösung. Ein kaputter Spiegel – das bedeutet sieben Jahre Pech oder sieben Jahre schlechten Sex. Warum eigentlich sieben Jahre?

Das Foto könnte ich zerreißen. Bringt aber nix in Zeiten digitalisierter Urlaubsfreuden. Wo früher ein belastendes Negativ zerschnitten oder angekokelt wurde, muss heute ein Chip zerstört werden. Und auf dieser Welt befindet sich hundertprozentig irgendwo so ein Hungerhaken in Schlabbershirt und zerrissener Jeans, der das Ding rekonstruiert.

Spiegel oder Foto – für blöd lasse ich mich nicht verkaufen. Ich bin zu dick. Da hilft kein Charme, kein Scherz, kein Witz, kein Quatsch-die-Kilos-runter.

Der Ringkampf, den Verstand, Gefühl und Bauch in der Folge miteinander austragen, ist kurz und schmerzhaft. Am Ende reißt der Mattenrichter unter dem Gejohle der tausend imaginären Gaffer dem Verstand den Arm in die Höhe: »Einstimmiger Punktsieg – die Vernunft gewinnt, Calli muss abnehmen!«

Genau! Abnehmen! Das ist die Lösung!

Oder?

Ich mag alles.Nur keinen Hunger.

Nein. Abnehmen ist Mist. Wie Alkohol für den Schwachen. Du hast einen Rausch, dein Selbstbewusstsein nimmt den Fahrstuhl nach ganz oben, du freust dich einen Fackelzug, legst dich mit einem seligen Grinsen hin – und wachst am Morgen mit tödlichen Kopfschmerzen auf.

Ich mag alles. Nur keinen Hunger. Aber ich mag das Foto auch nicht. Und ich mag es nicht, länger als ein paar Millisekunden vor dem Spiegel zu stehen. Ich kann auch nichts auf einen Doppelgänger schieben. Sie kennen das sicher. Sie gehen durch den Bahnhof oder den Flughafen. Auf einmal kommt Ihnen eine rassige schwarzhaarige Frau mit einem Wahnsinnsdekolleté entgegen. »Frau Pooth, bitte ein Autogramm«, stammeln Sie, da lacht das Persönchen und stellt sich vor: »Maria Kaminski aus Bottrop!« Mich verwechselt keiner mit irgendwem. Und keiner wird mit mir verwechselt. »Calli«, tönt es durch den Bahnhof, den Flughafen, das Stadion – durch ganz Deutschland. Und was nach Calli aussieht, das ist auch Calli.

Also: Doch abnehmen! Nein sagen. Entsagen. Nur nicht versagen. Lösungen finden – das ist das Gebot der Stunde. Ein bisschen Sport, Bewegung schadet nicht. Viel Sauna, schwitzen hilft immer. Und anders ernähren, bewusster vielleicht. Nicht direkt weniger essen, anders eben. Ausgewählter. Besonnener. Nicht mehr täglich sündigen, nur noch wöchentlich. Okay, drei- oder viermal wöchentlich.

Bei uns in Köln sagt man: »Luure mer ens. Et hätt noch immer joot jejange.« Das ist also das Motto, unter dem mein Vorsatz geboren wird, vernünftiger mit meinem Körper umzugehen. Irgendwie schaffe ich das schon. Vielleicht. Denn mein Leben steht rein ernährungstechnisch unter einem ganz anderen Motto: »Reiner Calmund: Viel essen ohne abzunehmen« oder: »Eine Kalorie kommt selten allein«.

Einleitung

Wie alles begann

»Der Junge ist zu dünn! Der Junge muss in Kur!« Das waren die Sätze, die belegen: Ich war nicht immer so dick. Davon zeugen außerdem die Fotos eines jungen blonden Mannes, dessen größtes Problem viel eher und ganz offensichtlich ab dem 40. Lebensjahr das schüttere Haupthaar war. Die Körperfülle spielte – zumindest damals noch – überhaupt keine Rolle. Okay, ich hatte nicht gerade eine Figur wie eine Hundehütte – ein Knochen an jeder Ecke und sonst nichts. Doch es war deutlich die Zeit, bevor ich den Ball verschluckte, wie ich es heute gerne ausdrücke, erst den Fußball, dann den Medizinball!

Völlig unglaublich mutet die Geschichte an, wenn ich sie von Beginn an erzähle. Mitte der 1950er Jahre, ich war gerade eingeschult worden – eine raue Zeit, der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war in vollem Gange, aber längst nicht abgeschlossen. Wir Kinder spielten auf der Straße, auf Trümmerfeldern, Schotterwiesen und im Wald. Der Fußball bestand oft genug aus Blech oder aus Lumpen, für einen richtigen Ball reichte es meist nicht. Wenn doch, zerschlissen wir ihn im Handumdrehen.

Mit den Jungs aus der Nachbarschaft spielte ich »Räuber und Gendarm«, stundenlang Gut gegen Böse. Fernsehen gab es so gut wie nicht, die Verlockungen der Stadt, wie Kino oder Milchbar, sie existierten nicht, weil die Stadt für uns unerreichbar schien. Wir lebten in unserer kleinen Welt. Autos waren eine absolute Rarität, Fahrräder oder Roller ebenso Mangelware bei uns in Brühl-Heide.

In dieser Zeit blieb ich ständig in Bewegung, da hatten die Kalorien keine Chance. Tatsächlich konnte ich gar nicht so viel essen, wie ich verbrannte. Ohnehin hing der Brotkorb sehr hoch bei uns zu Hause. Meine Mutter hatte im Krieg und in den Jahren danach praktisch alles verloren – die Eltern, den Bruder, später noch den Mann. Meinen Vater zog es, wie damals so viele traumatisierte Soldaten der Landstreitkräfte, in die Fremdenlegion. Er fiel 1954 in Vietnam.

Doch ich, im November 1948 geboren, hatte das Glück eine Mutter zu haben, die sich weigerte, ein trauriges Schicksal ergeben hinzunehmen. Sie kämpfte wie eine Löwin für ihren kleinen Reinhold, wie ich ja eigentlich heiße, und ackerte wie ein Pferd für unser Wohlergehen. So wurde und blieb sie mein Vorbild bis heute.

Ich lebte in diesen Jahren nach dem Krieg mit meiner Mutter bei einer Frau Haas in Brühl. Ihr Haus war verschont geblieben, die Behörden wiesen uns ihr als Untermieter zu. Wir bezogen ein Zimmer, Toilette lag über den Hof, die Wirtin war rau, aber herzlich, und sie wurde bald zu einer Art Ersatzoma für mich, wenn meine Mutter einen ihrer zahllosen Jobs als Putzfrau erledigte.

Reiner Calmund ist zu dünn!Das Kind muss aufgepäppelt werden!

Insgesamt hatten wir in diesen Jahren zu viel zum Sterben, aber zu wenig, um auch nur halbwegs gut zu leben. Und die eher tröpfelnde Kalorienzufuhr reichte jedenfalls nicht, um jenen »Rheinbraun«-Arzt zu besänftigen, der mich irgendwann ein, zwei Jahre später – meine Mutter hatte inzwischen neu geheiratet, und wir waren schon in unser neues Haus nach Frechen ge-zogen – untersuchte. Mein Stiefvater malochte für die »Rheinbraun«, die regelmäßig auch die Kinder der Arbeiter zur Vorsorgeuntersuchung bat, und bei mir kam der Arzt zum eingangs bereits erwähnten Ergebnis: »Der Junge ist zu dünn. Das ist ja ein richtiger Hungerhaken. Der Junge muss in Kur! Sofort!«

Ein Herz und eine Seele:der zwei Jahre alte Reinhold und seine Mutter.Kämpfernaturen untersich.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Reiner Calmund ist zu dünn! Das Kind muss aufgepäppelt werden! Jetzt staunen Sie, oder? Die Geschichte der Dickleibigkeit muss neu geschrieben werden.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich musste für sechs Wochen nach Iversheim bei Bad Münstereifel. Ein kleines, idyllisches Örtchen in den »kölschen Alpen«, knapp eine Autostunde von zu Hause entfernt. Der Befehl des Betriebsarztes war klar formuliert: Ein paar Kilo mehr mussten auf die spitzen Rippen. Die Aufbaukost, das sage ich gleich, war alles andere als vergnügungssteuerpflichtig. »Matschepampe« würde mein jüngster Enkel Kennet heute das nennen, was uns damals missmutige Nönnchen und strenge Fräuleins Tag für Tag sechs Wochen lang vorsetzten. Glatt zurückgekämmtes graues Haar, Kasernenhofton und auch mal ein lockeres Händchen, wenn wir Kinder ausnahmsweise mal zu laut oder zu frech waren – die Damen machten ihrem Geschlecht wenig Ehre. Und die Köche des Instituts ihrem Berufsstand ebenso wenig. Ihren Spezialrezepten verdankten wir wahre Perlen des Missgenusses: geschmacklosen Grießbrei, fiesen Haferschleim, klobige Kartoffelpampe, klebrigen Milchreis und vor allen Dingen pappige Gerste in allen möglichen Variationen, sei es Püree, Suppe oder was auch immer. Es war, mit Verlaub, eine Qual.

Zum Verdauen absolvierten wir kilometerlange Märsche, fein aufgereiht in Zweierreihen, stets ein Lied auf den Lippen und völlig gelangweilt. Freude? Fehlanzeige! Kein Fangenspielen, kein Verstecken, und wenn wir Fußball gekickt hätten, wären wir wohl exkommuniziert worden.

Bei all dem halbflüssigen Zeug kam ich mir vor wie in einer Klinik für Zahnlose. Was für ein Feiertag war es da, als meiner Mutter von der sonst so gestrengen Heimleitung ein Besuch bei ihrem kleinen Reiner erlaubt wurde. Trotz aller Erlebnisse und schöner Erinnerungen seither, dieser Tag hat auch heute noch seinen festen Platz in meinen »Top Ten« der wunderbarsten Momente überhaupt.

Was machte diesen Tag so schön? Warum hatte ich das Gefühl, gerade ein entscheidendes Tor im WM-Finale geschossen zu haben?

Es fing schon morgens an, als nach der Messe eine Nonne auf mich zukam und mir mit Leichenbittermiene mitteilte, die Heimleitung habe einem Besuch von Mutter und Vater zugestimmt. Dies sei eine gänzlich ungewöhnliche Vergünstigung, schnarrte sie und noch etwas von »einem wichtigen Grund«.

Nach dem Mittagsschlaf durfte ich raus! Von halb zwei bis fünf bekam ich Ausgang! In mir jubelte alles, aber ich vibrierte auch ein wenig vor Sorge. Was sollte der wichtige Grund sein? Auf jeden Fall würde ich kein Auge zubekommen. Ich schlich direkt aus dem großen Schlafsaal zur Toilette und kletterte hoch zum Fenster. Wenn ich erwischt worden wäre, hätten meine Eltern umsonst auf mich gewartet. Unverrichteter Dinge hätten sie wieder abziehen müssen.

Sie ließ mich kreisen wie einen Propeller. Auch dies ein Beleg dafür, wie schlank ich damals war.

Ich hockte also mit pochendem Herzen knapp eineinhalb Stunden am Fenster, guckte mir die Augen aus dem Kopf und wartete. Den schwarzen Ford mit der Weltkugel auf der Kühlerhaube, der kurz vor halb zwei um die Ecke bog, nahm ich gar nicht wahr. Deshalb schaute ich umso verblüffter drein, als meine Mutter und mein Stiefvater plötzlich ausstiegen. Ein eigenes Auto! Ich rannte blitzschnell von der Toilette über den Gang raus auf den Hof und flog meiner Mutter in die Arme. Sie ließ mich kreisen wie einen Propeller. (Auch dies ein Beleg dafür, wie schlank ich damals war …)

Platzend vor Stolz erklärte mir mein Stiefvater das neue Auto. Heute ist mir bewusst, sie wollten die Freude über das frisch errungene Statussymbol mit ihrem Reiner teilen. Es war äußerst ungewöhnlich für eine Arbeiterfamilie, sich einen Wagen anzuschaffen in diesen Tagen. Knapp zwei Jahre vorher besaß in meinem Geburtsort Brühl-Heide nur der Dorfarzt einen fahrbaren Untersatz. Rund 4500 Mark kostete der gebrauchte Ford damals, bei einem Monatsverdienst beider Erwachsener von insgesamt etwa 700 Mark eine Herkulesanschaffung – wir hatten ja auch noch den Hauskredit abzubezahlen, wenn der sich auch auf heute lächerlich anmutende rund 50 Mark monatlich belief. Und das für ein Haus mit Einliegerwohnung und knapp 600 Quadratmeter großem Grundstück! Oma und Opa hatten, dies erfuhr ich später, noch ein paar Mark (oder mehr) aus dem Sparstrumpf dazugetan.

Wie meine Mutter es geschafft hatte, den sauertöpfischen Nonnen beizubringen, dass diese Anschaffung ein wichtiger Anlass sei, mich für ein paar Stunden aus dem Heim zu entführen – das blieb ihr Geheimnis. Ich danke ihr noch heute dafür.

Zusammen fuhren wir nach Bad Münstereifel, und dort wartete bereits das nächste Highlight auf mich. Wir parkten vor einem heimeligen Café in der Kurstadt, und ich entschädigte mich für wochenlange Getreidekost. Als ich das Angebot in der Glastheke sah, bekam ich große Augen und schwor mir, von jedem Kuchen ein Stück zu essen. Doch die Augen waren größer als der Magen, der offenbar nichts mehr gewohnt war, nach Wochen des Darbens. Zwei Tassen Kakao mit Sahne, eine knusprige Waffel mit Kirschen und Sahne, ein Stück Apfelkuchen mit Sahne – und schon war Feierabend. Nichts ging mehr rein. Aber ich schwor mir insgeheim, alles nachzuholen.

Die Rückfahrt nach Iversheim geriet zum Triumphzug. Meine Leidensgenossen aus dem Heim warteten schon auf mich, viele klebten mit den Nasen am Fenster. Als sie das Auto sahen, konnten sie es kaum fassen, und als ich ihnen dann auch noch erzählte, was ich im Café weggeputzt hatte, bekamen sie Ohren wie Segel. Dass mein Stiefvater mir noch fünf Mark zugesteckt und mich damit zum reichsten Heimkind gemacht hatte, verschwieg ich wohlweislich. Ich wollte es nicht übertreiben. Neid kann seltsame Reaktionen auslösen, das war mir schon damals klar. Von dem »Heiermann« habe ich übrigens 3,75 Mark gleich wieder ausgegeben. Nein, nicht für Eis und nicht für Kuchen. Ich schenkte meiner Mutter und der Oma jeweils eine Holzscheibe mit Rinde, versehen mit einem gemalten Gruß aus der Kurstadt Bad Münstereifel. Ein Geschenk, das mitten ins Herz traf: Bei beiden hing das Souvenir bis zu ihrem Tod im Flur.

Das Fazit der Kur aus heutiger Sicht: Die »Bräute Christi« hatten keinen Feinschmecker aus mir machen können. Dafür weckten sie unbewusst eine andere Lust in mir, die schnell zur Sucht wurde: die Naschlust!

Das Pfund Süßigkeiten zwischendurch gehörte fortan bei Calli dazu, gespeist durch die ständige Sorge, es könnte nochmal wochenlang »Matschepampe« geben.

Heute weiß ich: Nur der ständigen Bewegung als Räuber, Gendarm oder Fußballer hatte ich es damals zu verdanken, dass ich nicht schon als Kind hoffnungslos in die Breite ging. Denn mittlerweile hatte es noch eine schicksalhafte Begegnung in meinem Leben gegeben. Und auch daran trug die »Rheinbraun« ihren Anteil.

Das Energieunternehmen gehörte zu den größten Arbeitgebern im Landkreis Köln. Ergiebige Braunkohlevorkommen wurden über Tage mithilfe riesiger Schaufelradbagger (rund 200 Meter lang und bis 100 Meter hoch) abgebaut, die meisten Väter fanden Beschäftigung in den Brikettfabriken. Weil die einheimischen Arbeitskräfte nicht reichten, suchte man schon damals in der Fremde. Die erstreckte sich seinerzeit allerdings lediglich bis hinter den »Weißwurstäquator«. »Fremdarbeiter« aus Bayern kamen an den Rhein, Thilo Sarrazin hätte seine helle Freude an der Integration dieser Menschen gehabt. Und so wie später Italiener, Spanier, Türken, Griechen oder Portugiesen, brachten auch die Bayern ihre Rezepte mit.

Die Liebe ging bei mir schon damals durch den Magen.

Und weil die Familie Peter und Sofia Dietrich aus dem Bayerischen Wald zur Untermiete bei den Calmunds wohnte, gab es dort plötzlich regelmäßig Dampfnudeln mit Vanillesoße, Apfelstrudel, Kaiserschmarrn und Knödel, mal herzhaft, mal süß – aber immer herrlich lecker. Es kamen all die deftigen Gerichte auf den Tisch, die aus Bayern erst Bayern machen und die jede bayerische Hausfrau so wunderbar zubereiten kann. Und die sich der kleine Reiner fleißig wie ein Schaufelradbagger einverleibte.

Die Liebe ging bei mir schon damals durch den Magen. Peter und Sofia waren unglaublich freundliche und warmherzige Menschen, mit denen wir später sogar gemeinsam in Urlaub fuhren. Genauer gesagt, in unseren ersten Urlaub überhaupt. Der führte uns in den Bayerischen Wald, direkt an die tschechische Grenze, in einen Ort mit dem seltsamen Namen Neukirchen beim Heiligen Blut. Ausflüge in die nähere Umgebung führten uns unter anderem nach Bayerisch Eisenstein, direkt gegenüber lag Böhmisch Eisenstein. Für mich war das gelebter Geschichtsunterricht, denn ich lernte den Eisernen Vorhang kennen, noch bevor die Berliner Mauer stand und der Todesstreifen Deutschland trennte.

Diese Auswüchse des Kalten Krieges konnten jedoch den Einfluss der böhmischen auf die bayerische Küche nicht verhindern. Und in mir, Reiner Calmund, wuchs zusammen, was zusammengehört: Rindfleischsuppe, Leberknödelsuppe, ofenfrischer Krustenbraten und all die Nachspeisen. Der erste Schritt auf dem Weg zum Gourmet war getan, auch dank meines Stiefvaters, der offensichtlich schon in den 1950ern ein Bio-Fan war. »Wir fahren nur Restaurants mit eigener Schlachterei an. Da wissen wir, was wir bekommen«, lautete während dieser Ferien seine Devise, und schnell guckten wir uns ein Stammlokal aus. Der »Gasthof Späth« in Neukirchen bot einen Mittagstisch für 1,75 bis 1,90 Mark, die teuren Ausnahmen standen mit 2,20 bis 2,30 Mark auf der Extrakarte.

Die neue Küche brachte neue Erkenntnisse. So zum Beispiel, als wir »Diverse Würstchen« bestellten und kurze Zeit später jeweils zwei der nur wenig mehr als daumengroßen Wiener, Debrecziner und Nürnberger vor uns standen. Ich griff zu und protestierte auch nicht, als mein Stiefvater und Peter Dietrich sich ebenfalls bedienten. Als wir fertig waren, strahlte ich meine Mutter mit fettigem Mund an: »Klasse, dass die vor den richtigen Würstchen noch welche zum Probieren bringen.« Ich war eben nur die großen Knacker gewohnt, die es bei uns daheim zum Kartoffelsalat gab. Meine Mutter hatte ein Einsehen und bestellte mir noch eine Portion – nur für mich alleine!

Dieser Urlaub machte übrigens einen Frühaufsteher aus mir. Zunächst unwillig gehorchte ich dennoch am ersten Morgen der Aufforderung zum Brötchenholen. Ich lief also zur Bäckerei, bestellte eine Tüte voll Semmeln und bekam zu meiner großen Verwunderung und Freude von der freundlich lächelnden Verkäuferin nach dem Bezahlen noch ein Stück Gebäck zugesteckt. Logisch, dass ich mich fortan jeden Morgen freiwillig zum Brötchenholen meldete.

Diese Ferien in traumhafter Idylle (inklusive Plumpsklo, das bei der preiswerten Privatunterkunft über den Hof lag) prägten mich in mancherlei Weise. Da war die Nähe zu den »bösen Kommunisten«, die mich – obwohl ich noch ein kleiner Junge war – die Situation der Menschen, die direkt am Eisernen Vorhang lebten, besser verstehen ließ. Bedrückend war das. Andererseits gab es auch eine tiefe Frömmigkeit dort in Neukirchen beim Heiligen Blut. Das kleine Örtchen war ein Zentrum der Rosenkranzherstellung. Fleißige Hausfrauen stellten die Perlenschnüre in Heimarbeit her. Ablenkung von alledem fand man im Lichtspielsaal, wo ich mir die ersten Heinz-Erhardt-Filme anschaute. Ein Mann, über den ich heute, ein halbes Jahrhundert später, noch lachen kann. Er ist und bleibt für mich der größte Komiker deutscher Zunge. Und gefallen haben mir auch die »Zenzis« im Strandbad am Arbersee – ich war noch klein, aber besaß bereits viel Sinn fürs Appetitliche – in jeder Beziehung.

Kulinarisch eindrucksvoll war diese Zeit für mich nicht minder. Nachdem in Iversheim die Naschlust geweckt worden war, sorgten Sofia und Peter Dietrich dafür, dass aus Reiner Calmund nun ein Genießer wurde.

Naschen (wollen) und genießen (können) – welch verhängnisvolle Kombination!

Mit mir und dem Hunger ist das wie beim Wettrennen zwischen Hase und Igel: Überall wo ich hinkomme, ist der Hunger schon da.

Zwar begann damals noch nicht das Dickwerden, aber meine Kalorienzufuhr wurde zusehends unregelmäßiger und üppiger. Mutters Sieben-Tage-Tätigkeit im »Café Breuer« in Frechen – morgens als Putzfrau, vormittags als Verkäuferin, nachmittags als Serviererin – sorgte für tagtäglichen Nachschub an Gebäck. Ich konnte mittlerweile sogar wählerisch sein. Mohnkuchen mochte ich beispielsweise nicht. Meine Favoriten waren Nussecken, Amerikaner und Obstkuchen.

Es war die Zeit, in der ich als sogenanntes »Schlüsselkind« viel allein war. Damit teilte ich das Schicksal vieler Kinder, deren Eltern berufstätig waren. Das von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard initiierte Wirtschaftswunder nahm Fahrt auf, und die Familie Calmund beteiligte sich rege am Aufschwung.

Aber es war auch die Zeit der Eigeninitiative. Verspürte ich etwa Lust auf etwas Süßes, und meine Mutter war noch nicht zu Hause, ging gerne mal die Fantasie mit mir durch. Diese Tatsache bescherte eines schönen Tages meiner Mama eine völlig zerstörte Pfanne und mir ein paar Backpfeifen. Karamellbonbons wollte ich mir selbst machen, »Rahmkamellsche«, wie man in Köln sagt. (Wunderschön besungen übrigens vom legendären Volksschauspieler Willy Millowitsch in »Ich bin ene kölsche Jung«.)

Ich experimentierte also mit jeder Menge Butter und nicht viel weniger Zucker. Die Pfanne schmolz fast bei diesen Versuchen, mir Kalorien zuzuführen. Und als meine Mutter, eigentlich die Geduld in Person, die klebrige Bescherung abends vorfand, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Eine andere meiner konkurrenzlosen Lieblingsspeisen hieß »Galetta«, ein schnell anzurührender Pudding von Dr. Oetker, meinem Lieblingsakademiker. Milch in die Schüssel, Tüte aufreißen, Pulver rein und schön gerührt – am Ende hatte ich einen locker-luftig-leichten Schokopudding in der Schüssel. Einfacher ging’s nicht für den hungrigen Teenager mit Blutgruppe Nutella.

Jahrzehnte später hatte ich übrigens mal das Vergnügen, in die Versuchsküche des Unternehmens nach Bielefeld eingeladen zu werden, als Dank dafür, dass ich in einer Fernsehdokumentation deutscher Dynastien den heute noch populären »Galetta« als eine der Lieblingsspeisen meiner Kindheit präsentiert, gerührt und natürlich probiert hatte. Mir lief in jeder Sekunde dieses überaus informativen Besuchs das Wasser im Mund zusammen – mehr als 30 Sorten Pudding in allen Geschmacksrichtungen umschmeichelten meinen Gaumen. Ich probierte die gesamte Produktpalette durch. Und hätte mich an diesem Tag jemand dort eingesperrt und den Schlüssel in einem riesigen Pudding verschwinden lassen – ich hätte nichts dagegen gehabt, ihn zu suchen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Diese Sache hätte ich gerne ausgelöffelt. Einfach unglaublich!

Müsste ich heute den Moment benennen, in dem mein Schicksal als Dickerchen seinen unaufhaltsamen Lauf nahm, dann fällt mir dieses Fußballspiel ein, in dem ich mir einen Knochenabriss im Sprunggelenk zuzog. Ich war keine 19 damals, und es war einer der ersten Einsätze im Seniorenteam meines Vereins Frechen 20. Es sollte gleich der Letzte werden. Die Verletzung, heute sicherlich ein Klacks angesichts der medizinischen Möglichkeiten, stellte sich damals als nicht reparabel heraus, meine Karriere war beendet, bevor sie begann. Selbst für die Kreisklasse langte es nicht mehr, wie ich mir bei einem schmerzhaften Comeback-Versuch bei Franken Lövenich, dem Verein, bei dem mein Stiefvater Vorsitzender war, eingestehen musste.

Ich habe eine Rechts-Links-Schwäche:Was ich mit rechts esse,nehme ich mit links zu.

Jetzt war sie eingeschränkt, die Beweglichkeit, und damit natürlich auch die Bewegung. Vorbei die Zeiten des ständigen Trainings und der optimalen Verbrennung. Die Kalorien hatten ihren natürlichen Feind verloren, Taille, Bauch und Kinn waren ihren Attacken hinfort schutzlos ausgeliefert. Unaufhaltsam bewegte ich mich ab jetzt in Richtung überbordender Pfundskerl, und es dauerte nicht mehr lange, und ich brauchte viel weniger Wasser als vorher, um eine Wanne bis an den Rand vollzukriegen. Ich musste mich nur rechtzeitig reinsetzen.

Es war die Zeit, als aus dem Sportler Reiner Calmund zunächst der Trainer, dann der Funktionär wurde. Dazu kamen meine Jobs als Lehrling bei einem Lebensmittelunternehmen (is’ klar!!!), dann die Bundeswehrzeit mit ihrer herrlich geschmacklosen Dampfkost. Schließlich folgte das Studium der Betriebswirtschaft, finanziert durch meine Jobs als Möbelverkäufer und Sportredakteur (zunächst für die »Neue Rhein Zeitung« und dann für die »Kölnische Rundschau«). Es war eine tolle Zeit, so unbeschwert wie ungesund. Gegessen wurde meist, was in die Tüte kam. Zuhause blieb die Küche kalt, Calli ging zum »Wienerwald«. Und extra für mich – so schien es mir – eröffnete dann auch einige Zeit später eine amerikanische Fast-food-Kette ihre erste Filiale in Köln. Es blieb wenig Gelegenheit, sich um gesundes Essen zu kümmern. Ich zog die Kalorien an wie ein Magnet die Eisenspäne. Ich konnte in Deckung gehen, wie ich wollte, sie fanden mich. Ich ging dermaßen auseinander, so viel Hefe hätte ich gar nicht verputzen können, stattdessen frönte ich unregelmäßigen und viel zu häufigen Arbeitsessen.

Calli der Erfolgstrainer: 1970 alsfrischgebackener Mittelrheinmeister mit der B-Jugend vonFrechen 20. Ein schlanker 22-Jähriger, aber schon ein echter Sieger-Typ.

Dies ist die Stelle, an der ich mal festhalten will: Es gibt keine medizinische Entschuldigung für meine Figur. Es gibt keine Drüsenerkrankung, keine Erbkrankheit, und niemand – sieht man vom erwähnten »Rheinbraun«-Arzt ab – hat mich je zur Nahrungsaufnahme gezwungen. Meine Mutter trägt ebenso wenig Schuld wie jede einzelne meiner drei Frauen. Sollte es an einem Gen liegen, dann vielleicht am »Gerne-zum-Kühlschrankgehen-Gen« oder am »Lasst-uns-doch-schnell-was-essen-gehen-Gen«. Ich allein trage die Verantwortung für jedes einzelne meiner Kilos. Ausreden gibt’s nicht!

Der Umstand des Selbsterweiterns (im Gegensatz zum Selbstverstümmeln der Magermodels etwa) wurde also durch mein multifunktionales Leben befeuert. Als Trainer und Funktionär hatte ich jede Menge Besprechungen, die man heute »Meetings« nennt. Hätte es diesen Begriff bereits damals gegeben, ich hätte ihn »Meatings« geschrieben, denn Fleisch gehörte bei diesen Gelegenheiten in der Regel immer auf den Teller. Mehr noch als Süßigkeiten ist es bis heute ein Grundnahrungsmittel für mich. Ich bekenne offen: Oft nutzte ich die Treffen als Alibi, ich schob klagend Termine vor und freute mich wie Jeck aufs nächste warme Essen. Der Funktionär musste schließlich funktionieren.

Der sportliche Erfolg, den der Trainer Reiner Calmund errang, lieferte ebenfalls eine Menge Möglichkeiten, unauffällig zur Mahlzeit zu rufen. Und wenn keiner kam, aß ich eben allein.

Für den einen oder anderen Titel, den ich mit meinen Teams holte, wurden zur Belohnung vom Vereinsboss Mannschaftstouren spendiert. Meist ging es nach Spanien, gerne nach Mallorca. Da machten wir manche Nacht zum Tage, doch für mich gab es immer feste Regeln: Vor »Girls, Girls, Girls« gab es »Steaks, Steaks, Steaks«. Und von der Ankunft bis zum Abflug hieß es »Pasta la vista!«.

Zuhause – ich war ja längst verheiratet und Vater einer wunderbaren Tochter – jammerte ich wegen der Belastung und der ständigen Besprechungen. Saß ich einmal gemütlich im Lokal, war von Stöhnen natürlich keine Rede mehr. Höchstens noch vom lustvollen Stöhnen, weil das Schnitzel so saftig, die Pommes so knusprig und der Nachtisch so lecker waren.

Es waren die Jahre, in denen sich meine Körpermitte deutlich veränderte. Ich konnte essen und essen – ich wurde nicht größer. Bald schon hätte ich zwei Meter haben müssen, um das Idealgewicht zu erreichen. Aber was sollte ich machen – die Kalorien, sie kamen eben selten allein…

Als Schwergewicht im Alltag

Tiramisu

Guten Freunden gibt man ja nicht nur gern ein Küsschen, guten Freunden tut man auch mal einen Gefallen. Als ich 2010 mit der D-Jugendmannschaft von Viktoria Frechen an einem Sonntag für die Dreharbeiten zur ZDF-Serie »Callis kleines Fußballmärchen« in Dortmund bei Trainer Jürgen Klopp war, bat mich ein mir gut bekanntes Elternpaar, ihren Filius nach dem Dreh beim BVB bei der Tante des Jungen abzuliefern. Sie kämen später nach, wären dort zur Geburtstagsfeier eingeladen.

Als ich in die schmucke Reihenhaussiedlung in Dortmund-Lütgendortmund einbog, parkte und den Kleinen zu seiner Tante brachte, überkamen mich gleich Kindheitserinnerungen. Aus allen Fenstern duftete es nach Sonntagsbraten, fast wie früher, nur irgendwie feiner.

Ich klingelte und schwöre heute noch: Ich wollte den Jungen nur abliefern und gleich weiterfahren. Doch es passierte genau das, was Reiner Calmund immer passiert: Jeder Mensch auf dieser Welt denkt, dass ich hungrig bin. Dass ich gleich zusammenbreche, total unterzuckere und mein Leben aushauche, wenn ich nicht binnen kürzester Zeit eine Fuhre Kalorien zu mir nehme.

»Kommen Sie rein, Herr Calmund. Nur ganz kurz«, ermunterte mich der Onkel des Jungen und schob nach: »Meine Frau hat Tiramisu gemacht, das müssen Sie unbedingt probieren. Es hat ewig gedauert, aber jetzt müsste es lange genug im Kühlschrank sein.«

Also zog ich die Schuhe aus, und ab ging’s auf Socken ins Esszimmer, man will ja nicht unhöflich sein und fremden Leuten die Bude versauen.

Die Gastfreundschaft der Familie erschlug mich fast: »Espresso? «

»Klar, danke. Nein, ohne Zucker!« Dann kam das Tiramisu. In der deutschen Übersetzung bedeutet der Name dieser wunderbaren Nachspeise aus Mascarpone, Eigelb, Eiweiß, kaltem Espresso, Kakaopulver, Biskuit und ein bisschen Zucker: »Zieh mich hoch!« Doch für mich war nach dem ersten Löffel klar: »Bitte, lass mich hier sitzen! Und zwar bis die Schüssel leer ist!«

Der Hausherr und seine charmante Frau unterhielten und bedienten mich – und zwar reichlich. Noch ein Espresso, dazu ein Wasser. Und immer wieder: Tiramisu.

Aus dem »Probieren Sie mal!« war ein freundliches und stetiges »Noch ein bisschen?« geworden. Immerhin, auch der Hausherr lebte nach dem Motto: »Probieren geht über Studieren« und löffelte fleißig mit. Mir fiel dabei gleich ein passender Sinnspruch ein: »Was du heute kannst entsorgen, das kühle nicht bis morgen.«

Was mir während unserer Völlerei vollkommen entging: Plötzlich war die Hausfrau weg.

Minuten später kratzte mein Gastgeber die Schüssel aus. »So, noch ein letztes Löffelchen!« Wir plauderten weiter über dies und das, dann machte ich mich so langsam auf die Socken. Der freundliche Mann brachte mich zur Tür, ich lobte wortreich die Süßspeise und bedankte mich für die spontane Gastfreundschaft.

Als ich zum Auto ging, kam mir die Hausherrin entgegen – mit einem Riesentablett voller Kuchen aus der Konditorei.

»Komisch«, schoss es mir durch den Kopf. »Die kann doch super backen. Wieso kauft die denn beim Konditor ein?«

Sekunden später folgte die Erleuchtung. Ich saß im Auto, und meine Bekannten riefen an, fragten, ob alles glatt gelaufen sei. »Ach du je«, fiel es mir siedend heiß ein. »Die Leute kriegen ja Besuch! War das Tiramisu am Ende womöglich gar nicht allein für den liebenswürdigen Herrn Gastgeber und mich gedacht?«

Ozonloch

Der Kleine steht vor mir und schaut mich treuherzig aus großen Augen an. Es ist der Sohn meines Freundes, ein aufgewecktes Kerlchen, gut erzogen, aber eben ein Kind. Und wie das bei 10-jährigen Bengeln so ist, sie schießen ab und zu mal übers Ziel hinaus. Ich bin vorbereitet.

Er schaut mich also an, mustert mich eingehend und sagt im Brustton der Überzeugung: »Calli, du kommst nie in den Himmel! «

»Wieso?«, frage ich zurück. Was habe ich angestellt? Ich erinnere ihn an vergangene Großtaten: »Ich habe dir doch eben noch ein Eis spendiert. Kannst du nicht ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Nein«, sagt er, und sein Gesichtsausdruck bekommt etwas Professorales. Richtig altklug stiert er mich an. Wie ein Versuchsobjekt, wie eine Mega-Amöbe unter einem Riesenmikroskop.

»Also«, dränge ich. »Warum soll ich nicht in den Himmel kommen?«

Dazu muss ich sagen, dass mich das Thema nicht kaltlässt. Als ehemaliger katholischer Messdiener und Rheinländer durch und durch, pflege ich natürlich meine ganz spezielle Beziehung zu dem Herrn, der über uns wohnt. Und wenn hier unten alles mal vorbei ist, würde ich schon gerne zu ihm ins Penthouse ziehen. Zumindest ins Esszimmer, wenn in der guten Stube kein Platz mehr sein sollte, dank all der Scheinheiligen und Steinewerfer, die ohne Sünde sind.

Und jetzt kommt da dieser Knirps, und meine Illusionen drohen zu zerplatzen wie eine Seifenblase. Ich bohre nochmals nach. »Nun spucks schon aus! Warum nicht?« Langsam werde ich ungehalten. Klar, ich war nicht immer fair. Hab’ oft fünf gerade sein lassen. Aber ich habe doch keinen wirklich verletzt. Kein Leben zerstört. Und bei den meisten habe ich sowieso alles wiedergutgemacht. Wenn ich früher mal einen rausgeschmissen habe, dann wurde der in der Regel am nächsten Tag wieder eingestellt. Oft mit besserem Gehalt. Wenn ich einen mal so richtig zusammengeschissen hatte, dann lud ich den binnen kurzer Zeit zum Versöhnungsessen ein. War ja auch für mich von Vorteil.

Warum, zum Teufel, sollte ich also nicht in den Himmel kommen?

Der Kleine guckt wieder so von unten nach oben. Seine Mundwinkel zucken. Und dann platzt es aus ihm heraus: »Du kannst nicht in den Himmel. Du bist zu dick! Du passt nicht durchs Ozonloch!«

Blödmann!

Ein Süppchen in Ehren

Suppen! Zu einer ordentlichen Mahlzeit, das weiß jeder anständige Deutsche, gehört eine Suppe. Ich liebe Suppen – nicht nur, aber ganz besonders. Sie sind leicht verdaulich, trotzdem sättigend, heiß und vielfältig.

Nehmen wir die Tom Yam Goong. Eine thailändische Spezialität, in ganz Asien verbreitet und deshalb die meist gegessene Suppe der Welt. Kaffir Limettenblätter, Scampis, Koriander, Zitronengras, Galgant, Pilze, Thai-Chili, Fischsoße – alles Gute dieser Welt kommt in diese Suppe. Lässt man die Scampis weg und nimmt stattdessen Hühnerfleisch, wird aus der Tom Yam Goong die Tom Ka Gai, in die man noch Kokosmilch gibt. Auch lecker.

Genauso wie die chinesische Wan-Tan-Suppe, die italienische Minestrone oder die französische Bouillabaisse. Nicht zu vergessen ist auch die deutsche Rindfleischsuppe mit Nudeln oder die bayerische mit Leberknödeln, ganz zu schweigen von der schwäbischen Hochzeitssuppe.

Suppen! Mir geht es dabei weniger um die Einlage als vielmehr um die reine gehaltvolle Flüssigkeit. Meine Bestellung einer Suppe endet immer mit: »Nur die Brühe!«

Jedem das Seine,Hauptsache es gibt genug davon!

In Thailand muss ich das den Kellnern immer dreimal sagen, die wollen nicht glauben, dass einer Tom Yam Goong ohne Scampis isst. Aber in der Brühe konzentriert sich eben der Geschmack jeder einzelnen Zutat. Alles andere ist eigentlich nur ablenkende Beigabe, macht, logisch, im Zweifelsfall dick und gehört deshalb für mich ins Hauptgericht.

Ein Mann und seineLieblingssuppe: die thailändische »Tom YamGoong«. Um die auchzu Hause richtig hinzubekommen, lernt Callivon den Profis in Asien.Perfektionist bis insDetail.

Eine gute Suppe muss flüssig sein, man muss sie im äußersten Falle schlürfen dürfen (wie es die Asiaten gerne tun) oder den Rest, der partout nicht auf den Löffel passt, aus der Schale trinken. Deshalb gilt: Suppen nie aus dem Teller essen, immer aus einer tiefen Schale. Sieht am Ende besser aus.

Dicke Menschen mögen Suppe. Auch deshalb, weil Suppe ihnen vorgaukelt, etwas Gesundes zu sich zu nehmen, etwas Leichtes. Wenn ich mir die Tom Yam Goong ohne Einlage bestelle, dann schmecke ich jede einzelne Zutat raus, dann wächst die Vorfreude auf das, was danach kommt – den Hauptgang. Wenn ich mir die Suppe auf der Zunge zergehen lasse, dann weiß ich: »Jetzt geht es gleich los!«

Wenn ich mich dann aber, nach dem Genuss dieser herrlichen Vorspeise, anschaue, dann weiß ich: »Es geht schon wieder los.« Denn, wie gesagt, Suppe ist flüssig, und für Dicke sind flüssige Speisen Gift – zumindest was die Optik angeht. Denn unglücklicherweise besitzen Suppen die Eigenschaft, sich auf der Strecke vom Löffel bis zum Mund selbständig zu machen. Und der Bauch, der ist nun mal im Weg.

Da kleckert nix zwischen leicht gespreizten Beinen auf den Stuhl oder im günstigsten Fall auf den Boden. Es bleibt hängen, auf der Brust, auf dem Bauch. Das klingt dann so: »Schlüüüüürf. Platsch! Mist, wo ist bloß die Serviette?!«

Unzählige Hemden hängen zuhause in meinem Kleiderschrank, zugegeben, es sind beinahe unanständig viele. Doch fast keines von ihnen ist nach dem Essen einer leckeren Suppe ohne Signatur geblieben, ohne mein ganz spezielles Zeichen: den Suppenfleck. Ein Merkmal, das schonungslos offenbart, dass sich die Gesetze der Schwerkraft durchgesetzt haben, gegen den allzu drängenden Wunsch nach Genuss. Wieder einmal war die Sehnsucht größer, als die Motorik es gestattete. Da soll noch einer sagen, Suppen seien preiswert. Dem schicke ich die Rechnungen von meiner Hemdenreinigung.

Klamotten und Zelte, Adler und Elefanten

Ich bin kein Neidhammel. Der liebe Gott hat mich, dafür danke ich ihm, mit diesem Charakterzug nicht gestraft. Ob einer mehr Geld hat als ich, ein größeres Haus oder das dickere Auto – ich gönne es ihm. Ich muss allerdings beichten: Eine Ausnahme gibt es. Je runder ich wurde, desto neidischer wurde ich auf die Typen, die alles von der Stange kaufen konnten, die in der Umkleide verschwanden, rauskamen und aussahen, als hätte ein Maßschneider in der Kabine gesessen und ihnen etwas auf den Leib geschneidert. Mit vollen Tüten verließen sie den Laden, ich blieb mit dickem Hals zurück. Denn von der Stange kann ich schon seit vielen Jahren nichts mehr kaufen. Keine Chance. Zu eng, zu lang, zu kurz – herkömmliche Konfektion ist tabu, das ist ein Preis, den ich für meine Esslust zahlen muss.

Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein. Okay, es ist nicht meine, aber sie könnte es sein:

Ein junger Mann ging zum Schneider und ließ sich seinen ersten Anzug machen. Stolz wie Oskar war der Knabe. Er kam nach Hause, führte das Machwerk seiner Mutter vor. Die schaute erst wohlwollend, dann zunehmend kritisch: »Nee Junge, das geht nicht. Da hinten wölbt sich eine dicke Falte.«

Der Jüngling ging zurück zum Schneider: »Können Sie da was machen?«

Der Mann lief dreimal um seinen Kunden herum, schüttelte den Kopf, zog an dessen linkem Arm, an dessen rechtem Arm und sagte schließlich: »Na ja, aufschneiden funktioniert nicht. Aber wenn du den linken Arm ein bisschen nach hinten drehst, dann ist die Falte weg.«

Wenig später war der junge Kerl zurück bei seiner Mutter.

Reiner Calmund und ein Elefantenbaby am Strand von Phuket 2006 – zwei Freunde der Geselligkeit und der üppigen Formen.

Sie musterte ihn – und fand wieder was zu monieren. »Der Knick an der Hüfte muss weg, das sieht sonst unmöglich aus!«

Er trottete ab zum Schneider. Der umkreiste ihn erneut dreimal. »Tja, was soll ich da groß rumschnipseln?«, erklärte er dann. »Das wird viel zu teuer. Geh einfach an der rechten Seite ein bisschen in die Beuge. Aber lass den linken Arm hinten.«

Der Jüngling tat, wie ihm geheißen. Unterwegs kam er an zwei älteren Damen vorbei. Angesichts seines schlackernden Ganges, dem zurückgebogenen Arm und der eingeknickten Hüfte bedachten sie ihn mit mitleidigen Blicken. »Guck mal, der arme Junge. Wie schief der gebaut ist«, näselte die eine.

Antwortete die andere: »Ja, ja. Schlimm. Aber einen tollen Schneider hat der! Keine Falte im Anzug!«

Ganz so hat es sich in meinem Leben natürlich nicht zugetragen. Trotzdem: Normale Geschäfte kommen für mich wie gesagt schon lange nicht mehr in die Tüte. Aber ich will nicht klagen. Die Leute machen sich ja Gedanken um Menschen wie mich. Es wird besser und besser, die Auswahl größer und größer, tatsächlich muss nicht alles maßgeschneidert sein. Und wenn ich bei der Firma »Adler« (für die ich deshalb auch gerne Testimonial bin) in die Abteilung »Big Fashion« gehe, dann finde ich immer was Lockeres, Leichtes, Legeres. Die freuen sich, einem Dickerchen wie mir was Passendes verkaufen zu können. Gerne posaune ich dann laut und deutlich durch den Laden: »Ich geh’ schon mal vor in die Elefantenabteilung!« – statt zu »Big fashion«. Gerne setze ich auch noch einen drauf: »Okay, ich hab’ ein paar Kilos runter – die Zelte tun’s im Moment auch!« Meinen Kompromissvorschlag »Dick ist chic« findet mancher Modefreak und Zeitgeist nicht wirklich lustig: Günther Jauch, dem Aushängeschild seriöser Berichterstattung, beschlug die Brille, als ich ihm in einer Sendung die Vorzüge meiner Figur recht drastisch schilderte: »Besser auf einem Dicken gemütlich gewabbelt, als auf einem Knochengerüst ungemütlich gerappelt.«

Mein Körper und ich,wir waren und sind gut befreundet.Manchen Kumpel zog es in die Ferne –ihn nur in die Breite.

Doch auch für die Hersteller von XXL-Mode ist meine Leibesfülle eine Herausforderung, die sie an die Grenzen ihres Könnens bringen kann. Für ein maßgeschneidertes Hemd für Reiner Calmund muss die Firma »van Laack« doppelt so viel Material und Arbeitszeit einkalkulieren wie für Otto Normalfigur.

Sie müssen sich das so vorstellen: Wer mir ein Hemd näht, muss mir eigentlich zwei in einem machen. Denn wenn ich stehe, soll es passen, und wenn ich sitze ebenso. Keinesfalls darf es um den Bauch herum spannen. Hier aber beginnt das Problem: Der stehende Calmund verteilt sich im Hemd definitiv anders als der sitzende Calmund. Die Schneider dieser Welt müssen mit ihrer Kunst verhindern, dass beim Sitzen die Knopfzwischenräume weiter aufgehen, als die guten Sitten es gestatten. Sie dürfen aber auch nicht dermaßen gebremst werden, dass die Knöpfe wie Revolverkugeln durch den Raum schießen. Stellen Sie sich vor, ich setze mich an die Tafel, und mein Gegenüber kriegt direkt mal einen Knopf in die Suppe gepfeffert. Und wenn er/sie dann entgeistert aufblickt, sieht er/sie geradewegs auf mein smartes Bäuchlein – Mahlzeit!

Dem beträchtlichen Aufwand (und meiner Tierliebe) ist es übrigens auch geschuldet, dass ich mir zum Münchener Oktoberfest nie eine Lederhose gekauft habe. Warum sollten für mein Vergnügen gleich zwei Hirsche dran glauben?

Aber immerhin – es gibt sie ja, die Hoffnungsschimmer am Horizont, die Vorreiter für modische Übergrößenmode. Für mich und meine Frau, die mich jedes Mal beim Shoppen so geduldig wie liebevoll unterstützt, sind sie gern besuchte Anlaufstellen – Geschäfte, die sich entweder auf Übergrößen spezialisiert oder eigene Abteilungen für Dicke geschaffen haben.

Diese Läden stehen ausnahmslos für Qualität, anders könnten sie nicht überleben. Denn Dicke sind pingelig. Wer so lange suchen muss, der will nicht gleich drei Wochen später was Neues kaufen müssen. Nein, die Shops für Dicke können sich sehen lassen.

Wehe, ich kam früher in einen Laden, in dem Dicke wie Dünne einkaufen gingen, mehr Dünne als Dicke meistens.

Ich kann mich heute noch über die Gesichter beömmeln. Distinguierte Herren hier, dauergewellte, blauhaarige Damen da, immer in der Nähe der Rolltreppe, immer sprungbereit. Kaum war der neue Kunde da, kam der kurze, abschätzige Blick, und dann ging’s ran an das Opfer: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Ein Hemd ist mehr als ein schlichtes Stück Stoff. Das richtige Bauchgefühl ist entscheidend für eine innige Beziehung, die Luft und Platz zumAtmen lässt.

Wo der eine Kunde ein eher unfreundliches »Danke! Ich guck mich nur um« rausraunzte (ehrlicher wäre gewesen: »Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!«), schlüpfte der andere verschüchtert und unsicher direkt in das Opfer-Lammfell – um eine Stunde später garantiert mit viel weniger Kohle und viel zu viel überflüssigen Klamotten in die Tiefgarage zu stiefeln.

In einer Welt, in der Dicksein uncool ist, in der Hungerhakenmodels den Trend vorgeben und Muskelpakete ohne Hirn und Herz das Schönheitsideal darstellen, werden King-Size-Modelle wie ich noch immer häufig schräg angesehen. Tritt man trotzdem selbstbewusst auf, sind Herr Bügelfalte und Frau Steppnaht erst recht irritiert. Ich habe mich immer gerne selbst auf die Schippe genommen. Warum schämen? Weil ich mehr auf die Waage bringe als der Durchschnitt? Mir ist das egal. Solange der Arzt nicht Alarm schlägt! Mein Körper und ich, wir waren und sind gut befreundet. Manchen Kumpel zog es in die Ferne – ihn nur in die Breite.

Wobei ich zugeben muss: Es ist nicht immer extraklasse einfach ein Schwergewicht zu sein, sondern manchmal einfach extra aufwändig. So bin ich wahrscheinlich der einzige Mann weltweit, der mehr Hemden besitzt als seine Frau Schuhe und Taschen.

Das aber liegt daran, dass ich mehr Diäten hinter mir habe, als ein Erstklässler zählen kann. Und dann passiert Folgendes: Sagen wir, ich habe ein passendes Hemd. Wenig später steige ich um auf Salat. Nein, nicht Kartoffel- oder Nudelsalat. Grünfutter. Oder gedünstetes Gemüse. Oder Hühnerbrüstchen statt Rib-Eye-Steak. Ziehe ich das durch und lasse die Finger ein paar Tage von den Süßigkeiten, dann nehme ich – ratzfatz – ab. Das merke ich zuerst am Kragen. Der wird weit und weiter. Schlabbert um den Hals, dass ich aussehe wie ein Truthahn. Der Rest geht, sitzt ein bisschen lockerer, ist noch akzeptabel. Aber der Hals!

»Nee, geht nicht. Du brauchst neue Hemden!«, urteilt meine Frau. Das heißt also: etwas enger am Hals, etwas weniger Stoff um die Hüften. Mir fehlen zehn Kilo. Ich fühle mich leicht wie eine Feder und attraktiv wie George Clooney für Füllige.

Wohin mich Glücksgefühle im Allgemeinen führen, brauche ich nicht zu betonen. Ich rufe meine Kumpels an: »Ich habe abgenommen. Echt! Kommt, wir gehen essen. Ich erklär’ euch die Diät.« So oder ähnlich spielen sich die Szenen ab. Ich verliere ein bisschen an Gewicht, platze vor Stolz und muss das unbedingt mit irgendjemandem beim Essen besprechen.

Kurze Zeit später hat sich der Fall schon erledigt, die Kilos sind wieder drauf und haben noch ein paar befreundete Pfunde mitgebracht. Wieder merke ich das zuerst am Kragen. Der wird eng und enger. Kurze Zeit später klafft am Bauch der Stoff zwischen den Knöpfen auf. Und ich frage meine Frau: »Liebchen,

1. AuflageOriginalausgabe Oktober 2011

© Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Barbara Rabus MK · Herstellung: IH

eISBN 978-3-641-06524-9

www.mosaik-verlag.de

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